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GLEICHHEIT/3122: Das Amerikanische Sozialforum in Detroit


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Das Amerikanische Sozialforum in Detroit

Von David Walsh
23. Juni 2010
aus dem Englischen (22. Juni 2010)


Tausende Menschen werden ab Dienstag in Detroit am Amerikanischen Sozialforum teilnehmen. Es preis sich selbst als einen Ort an, an dem es darum gehe, "Lösungen für die wirtschaftliche und ökologische Krise im Sinne der Menschen" zu finden. Das Organisationskomitee schreibt: "Wir müssen deutlich machen, wie die Welt unserer Meinung nach aussehen soll, und wie wir das erreichen wollen."

Das US-Sozialforum wird offiziell vom pro-kapitalistischen Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO und von Organisationen aus dem Umfeld der Demokratischen Partei - einer der beiden großen Wirtschaftsparteien der USA - gesponsert und teilweise von Stiftungen und NGOs finanziert, die ein Interesse an der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung haben.

Das "Aussehen unserer Welt", wie es diese Kräfte gerne hätten, unterscheidet sich nicht sehr von dem, wie sie im Moment ist. Besorgt über die zunehmende Radikalisierung der Bevölkerung, versuchen die Gewerkschaften und Teile der sozialen Protestbewegungen die Energie und den Aktivismus der überwiegend jugendlichen Teilnehmer in der einen oder anderen Weise hinter der Obama-Regierung und den Demokraten zu sammeln.

Aber nur eine Bewegung mit einem internationalistischen und sozialistischen Programm, dem Millionen folgen, kann einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise zeigen, die eine historische Systemkrise ist.

Zweifellos sind viele Menschen, die am Sozialforum in Detroit teilnehmen - und sehr viele andere auch - der Meinung, dass die Welt dramatische Veränderungen braucht, und zwar schnell. Wie könnte das angesichts wirtschaftlichen Elends, industrieller und ökologischer Katastrophen und andauernder neokolonialer Kriege auch anders sein? Das kapitalistische System ist offenkundig gescheitert und bedroht die ganze Weltbevölkerung.

Aber um die Welt zu verändern, muss man sie zuerst verstehen. Man muss die Rolle durchschauen, die einflussreiche gesellschaftliche und politische Kräfte spielen.

Für jeden, das in Detroit ankommt, könnte es nützlich sein, zuerst einmal eine Rundfahrt durch die Stadt zu machen.

In den Arbeiterwohngebieten werden sie in vielen Straßen nur noch wenige bewohnte Häuser finden. Andere sind abgebrannt oder verbarrikadiert. Viele Läden und kleine Geschäfte wurden schon vor vielen Jahren aufgegeben. Fabriken sind dem Erdboden gleich gemacht worden oder rotten einfach vor sich hin. Auf den Dächern verlassener Wolkenkratzer im Stadtzentrum wachsen Bäume. Ganze Stadtteile erinnern an die Bilder aus dem vom Krieg verwüsteten Mittel- und Osteuropa im Jahre 1945.

Wer ist für diese Zerstörung verantwortlich? Eine Aufzählung der Schuldigen gibt Aufschluss.

An erster Stelle steht die amerikanische Wirtschafts- und Finanzelite, besonders die Großen Drei [GM, Ford, Chrysler] und ihre Mitverschwörer, die Großbanken und Wall Street Spekulanten. Jahrzehntelang hatten sie Milliardensummen aus dem Schweiß der hiesigen Autoarbeiter gepresst, aber sobald die Konkurrenz in Europa und Asien auftauchte, suchten sie in aller Welt billigere Arbeitskräfte und schlossen eine Fabrik nach der anderen. Sie verwandelten die Stadt, deren Arbeiter in den 1950er Jahren das höchste Pro-Kopf-Einkommen in den USA hatten, in ein Zentrum von Massenarbeitslosigkeit und Armut.

Für die Wall Street Banker sind Industrie und verarbeitendes Gewerbe Schnee von gestern. Schon seit Jahrzehnten konzentrieren sie ihre Zeit und ihre Anstrengungen auf parasitäre Finanzaktivitäten. 1980 wurden sechs Prozent der Profite in den USA in der Finanzwirtschaft generiert, 2008 waren es vierzig Prozent. Detroits verheerender Niedergang ist Folge und Ausdruck dieser Entwicklung.

Die Anzahl der Beschäftigten in der Stadt ging von 1970 bis 2009 um 440.000 zurück. Von 2000 bis 2009 allein ging sie um 50.000 zurück. 53 Prozent der Arbeitsplätze in der Auto- und Zulieferindustrie gingen in diesen neun Jahren verloren. 2008 waren nur noch 30.000 Einwohner in der Industrie beschäftigt.

Dieser Prozess der Deindustrialisierung und gesellschaftlichen Massenverelendung fand unter der Verantwortung der Demokratischen Partei statt. In einer korrupten Regierung nach der anderen füllen sich die Amtsinhaber selbst die Taschen und dienen den Interessen der Autoriesen und der Wirtschaft, während die Bevölkerung immer weiter in Elend und Unglück versinkt.

Eine gängige Methode, mit der die Demokraten die Menschen in Detroit betrügen, besteht darin, die Hautfarbe zum Thema zu machen. Seit 1974 hatte die Stadt nur noch schwarze Bürgermeister. Das Argument, das alle mögliche Nationalisten und Demagogen heute noch vorbringen, dass nämlich Schwarze die Interessen der schwarzen Mehrheit der Arbeiterklasse besser vertreten würden, hat sich als völlig falsch erwiesen. Bittere Erfahrung hat gezeigt, dass die Klassenzugehörigkeit alle anderen sozialen Kategorien überlagert.

In Detroit hat sich die Lage ständig verschlechtert, unabhängig von Hautfarbe und ethnischem Hintergrund der jeweiligen Politiker. Das gleiche trifft auf die arbeitende Bevölkerung im ganzen Land zu. Barack Obama ist heute der politische Repräsentant des amerikanischen Imperialismus, des unversöhnlichsten Feinds der globalen Arbeiterklasse und der Unterdrückten.

Die Gewerkschaften in den USA und besonders der AFL-CIO und die UAW haben bei Detroits Niedergang eine entscheidende und kriminelle Rolle gespielt, wie auch bei der Zerstörung der Lebensbedingungen der amerikanischen Arbeiterklasse insgesamt. Nach dem zweiten Weltkrieg festigten sie ihr antikommunistisches Programm und ihre Allianz mit der Demokratischen Partei. Seither verbindet die UAW das Schicksal der Autoarbeiter mit dem Schicksal der Autokonzerne. Diese Strategie hat sich als eine einzige Katastrophe erwiesen.

Die UAW zerfällt und hat aufgrund ihrer nationalistischen Haltung ("Kauft amerikanisch") und ihrer rechten Politik seit 1979 77 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Im Namen der "globalen Wettbewerbsfähigkeit" hat die Gewerkschaft eine Konzession nach der anderen und Werksschließungen akzeptiert und geholfen, sie durchzusetzen, viele davon in der Region Detroit-Flint. Neu eingestellte Autoarbeiter erhalten nur noch den halben Lohn.

Die Einnahmen der UAW, die inzwischen Anteile an der Autoindustrie besitzt, und die fetten Gehälter ihrer Funktionäre wurden dagegen kaum beeinträchtigt. Die UAW hatte 2009 ein Vermögen von 1,13 Milliarden Dollar. Die Gewerkschaften gehören zu den größten Feinden gesellschaftlichen Fortschritts, von revolutionärer Veränderung ganz zu schweigen.

In ihrer Werbung für das Sozialforum behauptet die UAW, die in Detroit versammelten Organisationen teilten die Sorge der Gewerkschaft "um Arbeiterrechte, wirtschaftliche Fairness und soziale Gerechtigkeit". Das ist ein obszöner Witz. Tatsächlich folgt die Gewerkschaft schon lange einem ganz anderen Dreiklang, nämlich: "Einkommen der Gewerkschaftsfunktionäre, wirtschaftliche Profitabilität und soziale Reaktion".

Obwohl viele Teilnehmer des Amerikanischen Sozialforums sicher den Wunsch nach Veränderung hegen, werden in Detroit politische Gruppierungen aus dem Dunstkreis der Demokratischen Partei, nationalistisch-separatistische Bewegungen und deren Verbündete und Sponsoren in den Gewerkschaften den Ton angeben. Gruppen wie die International Socialist Organization sorgen für den nötigen "linken" Deckmantel.

Hinter allen rhetorischen Verrenkungen wird eine eindeutige Botschaft stehen: Opposition gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Rassismus soll auf die Demokratische Partei und ihre unmittelbare Umgebung beschränkt bleiben. Alle versammelten Kräfte akzeptieren quasi selbstverständlich, dass die Obama-Regierung "fortschrittlich" sei und gegen die Republikanische Rechte "verteidigt" werden müsse.

Die Rubrik "Was wir glauben" auf der Web Site des US-Sozialforums gibt eine falsche Perspektive vor. Sie argumentiert, es gebe "eine strategische Notwendigkeit dafür, die Kämpfe der unterdrückten Gesellschaftsgruppen und Völker in den Vereinigten Staaten (besonders der Schwarzen, Latinos, Bewohner der asiatisch-pazifischen Inseln und der Ureinwohner) mit den Kämpfen der unterdrückten Länder der Dritten Welt zu vereinen".

Die "unterdrückte Gruppe" in den Vereinigten Staaten ist die Arbeiterklasse, ob schwarz, weiß, Latino oder welcher Hautfarbe oder Abstammung auch immer, und ihr Kampf muss mit dem Kampf der globalen Arbeiterklasse verbunden werden, darunter auch mit dem der erwachenden jungen chinesischen Arbeiterklasse.

Der amerikanische Kapitalismus unterdrückt eine Vielzahl von Bevölkerungsschichten, und gegen jeden Fall von Unterdrückung muss man sich wehren. Bürgerliche Demokratie ist immer ein Betrug, und das muss entlarvt werden. Aber dieses Dritte-Weltlertum ist schon längst durch die Ereignisse diskreditiert. Die Erfahrungen der 1960er und 1970er Jahre müssen studiert werden. Alle radikalen Tendenzen, die sich auf Hautfarbe und nationale Identität konzentriert haben, sind zu Helfern der amerikanischen Elite geworden und haben eine üble spalterische Rolle gespielt. Sie wirken in der einen oder anderen Weise als Anhängsel der Demokratischen Partei.

Genau wie das Weltsozialforum, aus dem es hervorging, soll das amerikanische Sozialforum nach den Absichten seiner Führer als Sicherheitsventil dienen. Es ist ein Versuch, den Ärger der Bevölkerung und besonders der Jugend gegen eine besondere Erscheinungsform des Kapitalismus, den "Neoliberalismus", die "Wirtschaftspolitik des völlig freien Marktes" usw. zu richten, anstatt auf das Profitsystem und den Klassenausbeutung selbst.

Das Weltsozialforum und seine verschiedenen Wiedergeburten genossen die Unterstützung bürgerlicher Regierungen, wie der in Brasilien, des Büros des französischen Präsidenten Jacques Chirac, sowie der Ford Foundation und des Rockefeller Brother Fund. Keiner von ihnen will das eigene Nest beschmutzen, sondern sie wollen Bedingungen schaffen, um das Schiff auf Kurs zu halten.

Wer gegen das bestehende System kämpfen will, muss sich dem sozialistischen Programm und der großen Herausforderung zuwenden, eine revolutionäre Bewegung aufzubauen und auszubilden, die tiefe Wurzeln in der internationalen Arbeiterklasse hat. Das ist kein Projekt, das schnellen Erfolg verspricht. Aber ohne diese Perspektive gibt es keine Möglichkeit, gegen die soziale Katastrophe und die Gefahr eines neuen Weltkriegs zu kämpfen, die durch das heutige System drohen.

Wir laden die Teilnehmer des amerikanischen Sozialforums diese Woche ein, die Informationstische der World Socialist Web Site und unseres Verlags Mehring Books zu besuchen und das Programm der Socialist Equality Party zu studieren.

Siehe auch:
London: Lehren aus dem Europäischen Sozialforum
(30. Oktober 2004)
http://www.wsws.org/de/2004/okt2004/esf-o30.shtml


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Quelle:
World Socialist Web Site, 23.06.2010
Das Amerikanische Sozialforum in Detroit
http://wsws.org/de/2010/jun2010/detr-j23.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2010