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GLEICHHEIT/3416: Die New York Times und WikiLeaks


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Die New York Times und WikiLeaks

Von Joseph Kishore
18. Dezember 2010


Bei der gegenwärtigen Hetzjagd auf WikiLeaks und ihren Gründer Julian Assange spielt die New York Times, die wichtigste Stimme des amerikanischen Liberalismus, eine besonders schmutzige Rolle.

Seit der Herausgabe der ersten Dokumente des US-Außenministeriums Ende vergangenen Monats hat die Times versucht, die Bedeutung der Enthüllungen herunterzuspielen. Sie hat weitgehend aufgehört, neue Artikel zu den Depeschen zu veröffentlichen und wenn doch etwas erscheint, dann nur auf den Innenseiten. Von Anfang an hat die Times ihre Berichterstattung auf die amerikanischen Interessen zugeschnitten. Die Enthüllungen bedeutender amerikanischer Verbrechen werden einfach ignoriert.

Was die Eskalation der internationalen Kampagne gegen Assange angeht, so hat die Times vorsätzlich dazu geschwiegen. Kein einziger Leitartikel befasst sich mit dem Aufruf des politischen und des Medien-Establishments in den USA, Assange zu töten und WikiLeaks zu einer terroristischen Vereinigung zu erklären. Dies kommt einer stillschweigenden Unterstützung für diese Kampagne gleich.

Die Rolle der Times als Gehilfe des Staates wurde am 29. November in schamloser Weise von Chefredakteur Bill Keller bestätigt, der auf Leserbriefe antwortete, in denen es hieß, die Times habe kein Recht, über die Geheimdokumente zu berichten.

Keller begann mit der Erklärung, dass er sich bei dem Gedanken "unwohl" fühle, dass die Redaktion der Times "sich für die Veröffentlichung von Informationen entscheiden könnte, die die Regierung geheim halten möchte." Das "Unwohlsein" eines Chefredakteurs bei der Ausübung dessen, was traditionell als eine der wesentlichsten Rollen der Medien angesehen wird, sagt viel aus über die wahre Funktion solcher Organe wie der New York Times.

"Es geht für uns im Krieg gegen den Terror um genauso viel wie für alle anderen", fuhr Keller fort. "Somit ist der Gedanke, dass unsere Berichterstattung die Gefahren, denen dieses Land ausgesetzt ist, erhöhen könnte, beängstigend und demütigend... Wenn wir im Besitz von Regierungsgeheimnissen sind, denken wir lange und intensiv darüber nach, ob wir sie enthüllen."

Keller akzeptiert hier rundheraus die Legitimität des "Kriegs gegen den Terror", der - wie er sehr wohl weiß - als allumfassender Vorwand für eine Reihe verbrecherischer Kriege benutzt worden ist. Die Times selber spielte bei der Legitimierung der Lügen zur Entfachung der Kriege in Afghanistan und im Irak eine entscheidende Rolle. Indem er erklärt, dass es für die Zeitung im "Krieg gegen den Terror" um genauso viel geht wie für alle anderen, erklärt Keller tatsächlich seine bedingungslose Unterstützung für die Interessen des amerikanischen Kapitalismus.

Bei der Abwägung über die Enthüllung von Informationen, so schreibt Keller, führe die Times "ausführliche und ernsthafte Diskussionen mit der Regierung." Kein Wort über die Presse als eine vom Staat unabhängige Institution. Dass die Times ihre Entscheidungen über Veröffentlichungen regelmäßig mit der US-Regierung abspricht, ist für ihn vollkommen normal.

In einem Abschnitt, der direkt von Orwell stammen könnte, schreibt Keller: "Wir stimmen von ganzem Herzen zu, dass Transparenz kein absolutes Gut ist. Pressefreiheit schließt auch die Freiheit ein, etwas nicht zu veröffentlichen. Das ist die Art von Freiheit, die wir regelmäßig praktizieren." (Hervorhebung hinzugefügt)

Für Keller besteht die Pressefreiheit nicht im Recht der Öffentlichkeit, Staatsgeheimnisse durch investigatives Nachforschen der Presse zu erfahren, sondern im Recht des Staates, dem amerikanischen Volk durch seine Verbindung zu den Medien "regelmäßig" Informationen vorzuenthalten. Es ist bereits bekannt, dass die New York Times entschieden hat, Geschichten, die mit inländischer Spionage und Folter durch die USA zu tun haben, zurückzuhalten. Wie viele weitere Verbrechen hilft die Zeitung zu verschleiern?

In Bezug auf die kürzlich veröffentlichten Dokumente fuhr Keller fort: "Wir haben bei der Publikation dieser Depeschen erhebliche Informationen zurückgehalten, von denen wir aufgrund unserer Meinung und nach Rücksprache mit Regierungsvertretern glaubten, dass sie Leben gefährden oder dem nationalen Interesse schaden könnten." Diese Bedingungen zur Vorenthaltung von Informationen gegenüber dem amerikanischen Volk - "dass sie Leben gefährden oder dem nationalen Interesse schaden könnten" - sind so allgemein, dass sie für alles herbeigezogen werden können.

Nicht nur hat die Times sich selbst zensiert, sie hat auch als verlängerter Arm der US-Regierung versucht, andere Organisationen mit Zugang zu den Dokumenten dazu zu bringen, sich ihrer Vorreiterrolle anzuschließen. In seinen Ausführungen vom 29. November erklärt Keller, dass die Times sich bemüht habe, die anderen im Besitz der Dokumente befindlichen Organisationen sowohl über "die Besorgnisse des Außenministeriums über bestimmte Enthüllungen, als auch über unsere eigenen Pläne, sensibles Material zu redigieren, zu informieren. Die anderen Nachrichtenorgane unterstützten diese Beschränkungen."

Für die Times ist die Herausgabe der Dokumente durch WikiLeaks ein Unglück. Keller würde es vorziehen, wenn diese Informationen - und auch früher durchgesickerte Informationen, die den verbrecherischen Charakter der US-Kriege im Irak und in Afghanistan dokumentieren - geheim gehalten würden. Da die Informationen aber ohnehin an die Öffentlichkeit gelangen würden, sah die Times ihre Rolle darin, sie zu sichten und sich als "Wächter" und Bewahrer von Staatsgeheimnissen zu gebärden.

Die Times hatte die Wahl, wie Keller schrieb, "die Geheimdokumente in dem Wissen zu ignorieren, dass sie sowieso überall gelesen und möglicherweise ohne die Entfernung gefährlicher Informationen publiziert und wahrscheinlich genutzt werden würden, um die verschiedensten Ansichten zu fördern [d.h. Ansichten, die der Politik der US-Regierung widersprechen]. Oder aber sie zu studieren, sie in den richtigen Zusammenhang zu stellen und Artikel, die sich darauf gründeten, zu publizieren, und das zusammen mit einer behutsam redigierten Auswahl von Dokumenten. Wir entschieden uns für den letzteren Kurs."

In einem vor kurzem gesendeten Interview der Sendung "Fresh Air" des National Public Radio war der Washingtoner Chefkorrespondent er New York Times, David Sanger, sogar noch direkter: "Wir filtern das Material, um niemandem zu schaden, weder Einzelpersonen, noch Operationen, die gerade im Gang sind (d.h. militärische und Spionage-Operationen) und so weiter... Hätten wir darauf gewartet, bis all dies im Internet erschien... hätten wir nicht genug Zeit gehabt, um so intensiv nachzudenken, wie wir es bei der Frage getan haben, was redigiert werden soll und was nicht."

Eine offenere Selbstverurteilung und Enthüllung der Times und der US-Medien als Ganze ist schwer vorstellbar. Der Zerfall des demokratischen Bewusstseins innerhalb des amerikanischen Medien-Establishments hat ein solches Ausmaß erreicht, dass solche Aussagen journalistischer Prostitution ohne jede Scham gemacht werden können. Die amerikanischen Medien sind nicht nur auf dem Schlachtfeld in den US-Militärapparat "eingebettet", sondern immer und überall.

Keller befindet sich in der Rolle eines staatlichen Agenten und die Times in der einer staatlichen Institution. Niemand, der diese Informationen gelesen und seinen Verstand noch beisammen hat, würde mit Informationen zur Times gehen, die der Regierung potentiell schaden könnten. Solch einem Besuch würde garantiert ein Anruf Kellers beim Außenministerium oder einem der US-Geheimdienste folgen.

Solche Äußerungen erscheinen Journalisten der vorangegangenen Generation als unvorstellbar. Selbst wenn Zeitungen sich früher auf Diskussionen mit der Regierung einließen - und das taten sie - wäre es undenkbar gewesen, dies offen zuzugeben.

Jedes Wort von Keller widerspricht der Haltung, die die Times in Beziehung auf die Pentagon-Papiere eingenommen hat. 1971 war die Times mit einer Klage der Regierung konfrontiert, die sie an der Veröffentlichung von Dokumenten hindern wollte, die Lügen und Verbrechen im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg aufdeckten. Die Zeitung weigerte sich, der Regierung zu enthüllen, über welche Dokumente sie verfügte. Sie hielt einen solchen Akt für eine Verletzung von Prinzipien, die für die Pressefreiheit und die Demokratie als Ganzes von zentraler Bedeutung sind.

Die Times-Dokumente der Regierung zur Inspektion vorzulegen, argumentierte der Anwalt der Zeitung, Floyd Abrams vor Gericht, wäre dasselbe, als ob man ihr erlauben würde, die Archive einer Zeitung zu durchkämmen, die den absoluten Schutz der Verfassung genießen."

Nachdem der Oberste Gerichtshof sich auf die Seite der New York Times geschlagen und die Veröffentlichung der Pentagon-Papiere erlaubt hatte, schrieb die Zeitung, dass die Entscheidung Auswirkungen hätte, die weit über die Pressefreiheit hinaus reichten. "Wir glauben", so erklärte die Times, "dass seine tiefere Bedeutung in der impliziten, aber unausweichlichen Schlussfolgerung liegt, dass das amerikanische Volk das Recht hat, über die politischen Entscheidungen seiner Regierung informiert zu werden.

Nicht nur, dass die Times dieses Recht heute für null und nichtig erklärt, sie sieht die Massenmedien - im Gegensatz zu Organisationen wie WikiLeaks - in der Rolle des Garanten der Geheimniskrämerei von Regierungen.

Der grundlegende Zerfall demokratischen Bewusstseins, den die New York Times - seit langem die wichtigste Stimme des bürgerlichen politischen Establishments - verrät, spiegelt eine Umwandlung der amerikanischen Gesellschaft wider. Eine staatlich kontrollierte Presse ist unabdingbare Begleiterscheinung bei der Herausbildung einer Wirtschaftsaristokratie.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 18.12.2010
Die New York Times und WikiLeaks
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2010