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GLEICHHEIT/3805: Jugendunruhen in Großbritannien - mehrjährige Gefängnisstrafen für Facebook-Eintrag


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Jugendunruhen in Großbritannien:
Mehrjährige Gefängnisstrafen für Jugendliche wegen Facebook-Eintrag

Von Robert Stevens
23. August 2011


In Großbritannien geht der Staat weiter hart gegen Arbeiterjugendliche vor: Vergangenen Dienstag verhängten Richter des britischen Strafgerichts Crown Court gegen zwei junge Männer langjährige Gefängnisstrafen, weil sie Kommentare auf Facebook veröffentlicht hatten.

Jordan Blackshaw (20) und Perry Sutcliffe-Keenan (22) waren selbst gar nicht an irgendwelchen Ausschreitungen beteiligt. Aber ein Strafgericht in Chester verurteilte sie zu vier Jahren Haft dafür, dass sie "vorsätzlich andere anstifteten, sich an strafbaren Handlungen nach Paragraph 44 und 46 des Serious Crime Act von 2007 zu beteiligen".

Blackshaw wurde verhaftet, nachdem er ein "Event" namens "Smash Down in Northwich Town" auf Facebook gemeldet hatte. Dem Gericht wurde gesagt, dieser Eintrag habe dazu aufgerufen, sich beim örtlichen McDonalds-Restaurant zur Randale zu treffen.

Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Ankündigung dieses Events habe eine Panikwelle in Northwich ausgelöst, wofür es keinerlei Beweise gibt. In Wirklichkeit kam es in dieser Stadt überhaupt nicht zu Ausschreitungen.

Wie sich herausstellte, observierte die Polizei mehrere Facebook-Seiten, entdeckte so Blackshaws Eintrag und ging darauf in das Restaurant, wo er verhaftet wurde.

Sutcliffe-Keenan erstellte am 9. August eine Facebook-Seite mit dem Titel "Die Aufstände von Warrington". Auch von dieser Seite wurde behauptet, sie habe "eine sehr reale Angst verbreitet", obwohl auch hier das Posting keinerlei Ausschreitungen verursachte. Sutcliffe-Keenan selbst entfernte die Seite innerhalb von 24 Stunden.

Richter Elgan Edwards, der Blackshaw und Sutcliffe-Keenan verurteilte, stützte sich dabei auf die rechte Hysterie, die zurzeit in England von der Regierung, allen parlamentarischen Parteien, der Polizei und den Medien geschürt wird. Edwards bezeichnete Blackshaw als "böse" und sagte zu ihm: "Dies passierte zu einem Zeitpunkt, als kollektiver Wahnsinn die Nation ergriffen hatte. Ihr Verhalten war äußerst beschämend, und der Titel der Nachricht, die Sie auf Facebook gepostet hatten, lässt einem das Blut gefrieren."

Das Schicksal von Blackshaw und Sutcliffe-Keenan zeigt, wie wenig sich die Regierung, Justiz und Polizei noch an demokratische Normen halten. Die beiden wurden am 9. August verhaftet. In nur einer Woche wurde ihr Fall verhandelt und drakonische Strafen gegen sie verhängt, ohne dass sie eine echte Chance auf ein faires Verfahren gehabt hätten.

Seitdem die Unruhen am 6. August begannen, wurden mehr als 2.770 Menschen in einer beispiellosen polizeilichen Rasterfahndung festgenommen. Über 1.200 von ihnen wurden bereits vor Gericht gestellt. Von diesen sind rund zwei Drittel ins Gefängnis zurück geschickt worden. Letztes Jahr wurden nur zehn Prozent der Untersuchungshäftlinge für vergleichbare Vergehen anschließend wieder ins Gefängnis geschickt.

In London allein wurden 1.733 junge Menschen verhaftet, von denen über tausend angeklagt wurden. Viele sind wegen Bagatelldelikten zu Haftstrafen von sechs Monaten verurteilt worden. Viele andere sind an die Crown Courts überstellt worden, die nationalen Strafgerichte, die für Randale bis zu zehn Jahren Haft verhängen können.

Ein 22-jähriger Mann erschien vor einem Amtsgericht in Manchester und wurde beschuldigt, während der Unruhen in der Stadt ein Waffelhörnchen mit zwei Kugeln Eis aus einer Konditorei gestohlen zu haben. Er wurde an das Strafgericht überstellt, was der Richter so begründete: "Ich habe die öffentliche Pflicht, Angelegenheiten dieser Art schnell und brutal zu behandeln."

Diese Femegerichte sind eine Verhöhnung der "Unabhängigkeit" der Justiz. Richter Andrew Gilbart QC am Crown Court in Manchester schickte vier Angeklagte für sechzehn Monate bis zwei Jahre ins Gefängnis und sagte: "Die Straftaten der Nacht vom 9. August ... stehen völlig außerhalb des üblichen Kriminalitätszusammenhangs. (...) Aus diesen Gründen halte ich das übliche Strafmaß für bestimmte Straftaten im Kontext des aktuellen Falls für zu schwach, so dass es gerechtfertigt ist, davon abzuweichen."

Zwei seiner jugendlichen Opfer wurden verurteilt, obwohl sie nichts gestohlen hatten, der eine wegen Hehlerei und der andere wegen "Diebstahls durch Auffinden".

Wie der Daily Mail berichtet, stellte Gilbart in der Öffentlichkeit eine "gleitende Skala der Strafmaße" vor; der zufolge Unruheanstifter zu mindestens acht Jahren, Ladendiebe zu vier bis sieben Jahren und Brandstifter zu drei bis sieben Jahren Haft verurteilt werden sollen. Auch wer behaupte, "verlassenes Diebesgut auf der Straße gefunden zu haben, muss bis zu vier Jahre Gefängnis erhalten", so Gilbart.

Solche Strafen sind nur allzu durchsichtig politisch motiviert. Sie werden im Auftrag der Regierung verhängt, um Arbeiter und junge Menschen einzuschüchtern.

Novello Noades, die Vorsitzende des Camberwell Green Amtsgerichts in London, sagte: "Unsere Anweisung [aus dem Justizministerium] lautet auf Freiheitsstrafe für alle an den Unruhen Beteiligten."

Sie sagte dies, als sie gerade dabei war, einen Vater dreier Kinder für sechs Monate ins Gefängnis zu schicken. Der Mann wurde eingesperrt, weil er in den Mülleimern seiner Nachbarschaft Diebesgut gefunden hatte. Die Richterin sagte später, sie hätte eigentlich den Begriff "Anweisung" nicht verwenden wollen.

Am 16. August sagte der Londoner Polizeichef Tim Godwin einem Parlamentsausschuss des britischen Unterhauses, er habe mit anderen hohen Polizeioffizieren schon mehrmals diskutiert, Twitter abzuschalten.

"Ich zog in Erwägung, mir die Erlaubnis zu einer Abschaltung geben zu lassen", sagte Godwin. "Die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme ist jedoch sehr fraglich". Dennoch sagte er, die Schließung bestimmter Seiten sozialer Netzwerke sei etwas, "das wir im Rahmen unserer Ermittlungsstrategie in Erwägung ziehen".

Der Parlamentsauschuss zeigte sich seinerseits erstaunlich sorglos darüber, dass die Polizei solche illegalen Maßnahmen diskutiert. Der Ausschussvorsitzende, der Labour-Abgeordnete Keith Vaz, erklärte, soziale Netzwerke hätten es möglich gemacht, "dass Menschen sehr kurzfristig auftauchen, um zu demonstrieren und zu randalieren". Er fügte hinzu: "Wir müssen überlegen, ob wir die Polizei nicht ermächtigen sollen, den sozialen Netzwerken eine bestimmte Verhaltensweise vorzuschreiben".

Offenbar hat die Polizei den verschlüsselten BlackBerry Messenger (BBM) auf Handys gehackt, die in den ersten Unruhetagen beschlagnahmt wurden. Wie der Guardian schreibt, "war die Polizei in der Lage, Details aus beschlagnahmten Handys auszuwerten. So wurden Beamte in die Lage versetzt, BBM und Twitter 'in Echtzeit' zu verfolgen".

Alles deutet darauf hin, dass die Polizei fast unmittelbar nach Ausbruch der Unruhen am 6. August eine wohl geplante Operation durchführte. Auslöser der Ausschreitungen war ein Polizeiüberfall auf einen friedlichen Protest, der auf den Mord an dem 29-jährigen Mark Duggan folgte. Duggan war am 4. August getötet worden, als Polizisten zweimal auf ihn schossen.

Die Regierung zog auch den Geheimdienst MI5 und die riesige nationale Abhörzentrale GCHQ hinzu, um deren elektronische Kommunikation zu nutzen. MI5 ist offiziell mit dem Schutz der nationalen Sicherheit betraut. In ihr Ressort fallen normalerweise Spionage und Terrorismus, wie auch die Bedrohung durch "Massenvernichtungswaffen". Die Tatsache, dass Arbeiterjugendliche jetzt als Bedrohung der nationalen Sicherheit eingestuft werden, zeigt den akuten Zustand der Klassenbeziehungen in Großbritannien.

Premierminister David Cameron lobte die Urteile gegen Blackshaw und Sutcliffe-Keenan als "sehr gut".

"Auf unseren Straßen ist es zu einem absolut erschreckenden Verhalten gekommen. Und es war Aufgabe der Strafjustiz, die sehr klare Botschaft zu vermitteln, dass dies falsch ist und nicht toleriert wird", sagte Cameron.

Dabei haben Blackshaw und Sutcliffe-Keenan "auf unseren Straßen" überhaupt nichts getan. Aber das spielt für die britische Elite keine Rolle. Die Ausschreitungen kommen ihr gerade recht, um die sozialen Netzwerke zu zensieren.

Die Heuchelei und Doppelmoral sind dreist. Wenn in andern Ländern, - zum Beispiel im Iran, der als Gefahr für den britischen Imperialismus gilt -, regierungsfeindliche Proteste über Twitter und ähnliche Websites organisiert werden, dann loben Politiker und Medien die Macht der modernen Kommunikationsmittel und prangern ihre Unterdrückung an. Wenn jedoch britische Arbeiter und Jugendliche mit den gleichen Mitteln ihre Feindschaft gegen die Regierung zum Ausdruck bringen, wird sofort hart gegen sie durchgegriffen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 23.08.2011
Jugendunruhen in Großbritannien:
Mehrjährige Gefängnisstrafen für Jugendliche wegen Facebook-Eintrag
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2011