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GLEICHHEIT/4230: Geringe Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahl in Ägypten


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Geringe Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahl in Ägypten

Von Johannes Stern
26. Mai 2012



Am 23.-24. Mai fand die erste Runde der Präsidentschaftswahl in Ägypten statt. Es waren die ersten Wahlen nach dem revolutionären Sturz der langjährigen amerikanischen Marionette, Hosni Mubarak. Die Wahlbeteiligung war gering, und es kam zu zahlreichen Verstößen gegen die Wahlbestimmungen.

Die erste Wahlrunde fand unter Bedingungen der diktatorischen Herrschaft des Obersten Rates der Streitkräfte (SCAF) statt. Der Militärrat kontrollierte alle Wahllokale quasi mit vorgehaltener Waffe. Bis zum Freitag waren noch keine offiziellen Ergebnisse oder Hochrechnungen bekannt. Aber mehreren Medienberichten zufolge konnte keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit gewinnen. Die Stichwahl wird am 16. und 17. Juni stattfinden.

Umfragen lassen vermuten, dass nur fünf Kandidaten realistische Chancen haben, in die Stichwahl zu kommen. Dazu gehören die islamistischen Kandidaten Mohammed Mursi, der Kandidat der Moslembruderschaft (MB), und Abd al-Munim Abu al-Futuh, der von der salafistischen Nur-[Licht]-Partei und der ultrarechten islamistischen Gruppe Gama'a al-Islamiyya unterstützt wird.

Der Junta am nächsten stehen Amre Mussa, Ex-Außenminister unter Mubarak und ehemaliger Vorsitzender der Arabischen Liga, und Ahmed Schafik, der letzte Premierminister unter Mubarak. Der fünfte Kandidat, dem Chancen auf den Einzug in die Stichwahl eingeräumt werden, ist der nasseristische Kandidat Hamdien Sabbahi, Führer der Karama-[Würde]-Partei.

Der SCAF hat zugesagt, nach der Vereidigung des neuen Präsidenten die Macht an eine zivile Regierung zu übergeben, aber daran bestehen noch große Zweifel. Die Wahlen werden durchgeführt, obwohl noch keine neue Verfassung in Kraft ist. Anfang der Woche wurde berichtet, die Junta wolle eine ergänzende Erklärung zur Verfassung herausgeben. Politischen Kommentatoren zufolge soll diese Erklärung den Sonderstatus der Armee festschreiben und damit sicherstellen, dass sie das politische Leben in Ägypten weiterhin bestimmen kann.

Das ägyptische Establishment, westliche Politiker und die Medien stellen die Wahlen als wichtigen Schritt zur Demokratie hin. Die Sprecherin des amerikanischen Außenministeriums, Victoria Nuland, nannte das Ereignis "historisch", "beeindruckend" und "einen sehr wichtigen Meilenstein für Ägyptens Übergang".

Auch die Europäische Union lobte die Wahlen. Der Vorsitzende des Europäischen Parlaments, der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz, erklärte, er werde den Sieger unabhängig von seiner politischen Ausrichtung anerkennen und mit ihm zusammenarbeiten.

Entgegen der imperialistischen Propaganda sind die Wahlen aber kein Schritt zur Demokratie. Sie sind weit davon entfernt, die revolutionären Hoffnungen der ägyptischen Massen zu erfüllen. Viel mehr sind sie ein Mittel für die herrschende Elite Ägyptens, einen Präsidenten an die Macht zu bringen, der die Aufgabe hat, die reaktionären Angriffe auf die ägyptische Arbeiterklasse noch zu verstärken.

Alle bestätigten Kandidaten sind vom SCAF handverlesen, und keiner von ihnen stellt eine Bedrohung für die ägyptische Staatsmaschine, den Kapitalismus und die imperialistische Herrschaft im Nahen Osten dar. Kandidaten, welche die Junta am meisten fürchtet, wie der ultrakonservative Salafist Hazem Salah Abu Ismail oder der ursprüngliche Kandidat der Moslembrüder (MB) Khairat al-Schater, wurden erst gar nicht zur Wahl zugelassen.

Beobachter schätzen die Wahlbeteiligung schwächer ein als bei der Parlamentswahl im letzten Jahr, als ca. fünfzig Prozent der Wahlberechtigten zur Urne gingen. Berichten aus Ägypten zufolge hatten kurz vor Schließung der Wahllokale erst dreißig Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Faruk Sultan, der Vorsitzende der nationalen Wahlkommission, schätzte die Beteiligung auf vierzig bis fünfzig Prozent.

Während und vor der Wahl riefen die Junta-Generäle alle Ägypter auf, ihrer Pflicht nachzukommen und zur Wahl zu gehen. Am Abend beider Wahltage wurde die Öffnungszeit der Wahllokale um zwei Stunden auf 21 Uhr verlängert.

Interimsministerpräsident Kamal al-Gansuri gab den Staatsdienern am Donnerstag einen Tag frei, damit sie ihre Stimme abgeben konnten. Der Großscheich der einflussreichen islamischen Al-Azhar-Universität, Ahmed al-Tayyeb, verkündete, kein "Wahlberechtigter, der zum Wählen in der Lage" sei, dürfe die Wahl boykottieren.

Trotz der gemeinsamen Bemühungen der Junta, der herrschenden Elite Ägyptens und ihrer amerikanischen Hintermänner enthielten sich große Teile der Wählerschaft offensichtlich dennoch der Stimme. In den bessergestellten Stadtteilen Kairos und anderer größerer Städte gab es vor den Wahllokalen lange Schlangen, aber in den ärmeren Stadtteilen und auf dem Land blieben die Lokale mehr oder weniger leer.

Vorortberichterstattung der ägyptischen Medien ergab folgendes Bild der Lage. Der Egypt Independent merkte an: "In Rafah, der Stadt im Nordsinai direkt an der Grenze zum Gazastreifen, sind die Wahllokale leer, und die Wahlbeteiligung tendiert gegen Null. Auch in Scheich Zuwayed, einer Stadt in zwanzig Kilometer Entfernung, ist die Wahlbeteiligung niedrig."

In El-Arisch, der Hauptstadt und größten Stadt des Nordsinai, waren die Sicherheitskräfte den Wählern gegenüber oft in der Überzahl. "Die Wahlbeteiligung war bisher schwach. Ich würde sagen, nicht höher als zwanzig Prozent. Es sind meistens ältere Leute", erklärte Qotb al-Shalakany, ein Wahlhelfer im Wahllokal in der Grundschule Yasser.

Ein Reporter der Al-Ahram Online beschrieb die Lage im Gouvernement Qena in Oberägypten: "Qena ist im Moment ruhig. Die Hitze beeinträchtigt die Wahlbeteiligung. Man kann damit rechnen, dass nach 16 Uhr mehr Wähler kommen. Es gibt in Qena wenig Begeisterung dafür, in der Stichwahl schon wieder abstimmen zu müssen, weil die meisten Menschen hier sehr arm sind und die Nase voll haben von teuren Wahlkämpfen. Sie wissen, dass die Kandidaten reich sind und wenig mit dem einfachen Volk zu tun haben."

Wahlrechtsverstöße und Unterdrückung durch Armee und Polizei werden aus dem ganzen Land gemeldet. Die ägyptische Menschenrechtsorganisation EOHR berichtete, in den Gouvernements Alexandria, Marsa Matrouh, Scharkia, Gizeh, Kairo, Qena und Westfayoum hätten Anhänger mehrerer Kandidaten die Wähler bestochen.

In der Hafenstadt Alexandria wurden sechs Aktivisten von der Polizei festgenommen, weil sie Flugblätter verteilten, in denen dazu aufgerufen wurde, nicht für Kandidaten des alten Regimes zu stimmen. Die Jugendbewegung 6. April berichtete, die Polizei habe drei ihrer Mitglieder in Port Said festgenommen, weil sie dokumentiert hätten, dass in dem Gouvernement offenbar Wahlfälschungen vorkamen.

Die Begeisterung der Wähler für die Wahl war Berichten zufolge gering. Die Kandidaten trafen auf breites Mistrauen. Der Egypt Independent sprach mit Wählern aus den unterschiedlichsten Milieus, die aber alle sagten, sie würden den "am wenigsten schlechten" Kandidaten wählen.

Der Arzt Iman al-Tawil erklärte: "Wir sind von keinem überzeugt. Wir gehen nur deshalb zur Wahl, weil das der größte Traum der Märtyrer war." Der Ingenieur Zeinab Saad beschrieb das Ereignis als "historisch", fügte jedoch hinzu: "Die Freude daran wurde seit der Parlamentswahl verdorben. Sie haben uns vor Augen geführt, dass die Wahlen zu nichts führen."

Während und nach der ersten Runde der Wahl verkündeten die Sprecher aller wichtigen Kandidaten, ihr Kandidat liege in Führung oder habe die Stichwahl erreicht. Exit Polls wurden von interessierten Kreisen veröffentlicht und zeigten infolgedessen unterschiedliche und voreingenommene Resultate.

Einer Umfrage des Mussa-Lagers zufolge lag der Kandidat der Moslembruderschaft, Mursi, mit 26 Prozent in Führung, während [Mubaraks letzter Premier] Mussa mit 25,3 Prozent an zweiter Stelle stand. Schafik lag mit 17,6 Prozent auf dem dritten Platz, gefolgt von Sabbahi mit 12,2 Prozent und Futuh mit zehn Prozent. Andere Umfragen sahen die islamistischen Kandidaten Mursi und Futuh vorn, und Sabbahi, Schafik und Mussa auf den Plätzen.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 26.05.2012
Geringe Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahl in Ägypten
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2012