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GLEICHHEIT/4234: Erdbeben erschüttern die Emilia Romagna


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Erdbeben erschüttern die Emilia Romagna

Von Marianne Arens
1. Juni 2012



Seit zwei Wochen leben die Bewohner der norditalienischen Region Emilia Romagna in Angst und Schrecken. Am Sonntag den 20. Mai erschütterte ein Erdbeben der Stärke sechs die Gegend zwischen Modena und Ferrara und forderte sieben Todesopfer; über fünfzig wurden schwer verletzt.

Am vergangenen Dienstag erschütterte ein zweites großes Beben die Region. Es hatte sein Epizentrum zwischen Bologna, Parma und Verona. Ihm folgten mehrere hundert kleinere Nachbeben. Erneut fanden siebzehn Menschen unter den Trümmern den Tod, und mindestens 350 wurden verletzt.

Über 15.000 Menschen sind obdachlos oder verbringen die Nächte im Freien, aus Angst, dass neue Erdstöße ihre baufälligen Häuser zum Einsturz bringen.

Zahlreiche historische Bauten aus Mittelalter und Renaissance, Glockentürme, Rathäuser, Kirchen und Palazzi stürzten ein. Zerstört wurden unter anderem die wunderschönen Stadtzentren von Carpi und Finale Emilia bei Ferrara. Dort ist von dem Torre dell' Orologio (Uhrturm), dem historischen Wahrzeichen der Stadt, nur noch ein Schutthaufen übrig.

Die meisten Opfer jedoch gab es unter den Trümmern von Fabrik- und Lagerhallen: Beim ersten Beben am 20. Mai starben vier Schichtarbeiter. Gleich drei keineswegs alte Fabriken hielten dem Erdbeben nicht stand - die Aluminiumteile-Gießerei Tecopress, das Keramikwerk von Sant'Agostino und ein weiteres Werk in Bondeno.

Am Dienstag wurden ein Ingenieur und zwei Arbeiter getötet, die ein weiteres Fabrikgebäude untersuchten, das bereits beschädigt war. Noch während der Inspektion stürzte es ein und begrub die Männer unter seinen Trümmern.

Hunderte von Betrieben sind geschlossen, rund 7.000 Arbeiter wurden nachhause geschickt, wo sie voller Ungewissheit die Zukunft abwarten. Das Erdbeben hat an den Produktionsbetrieben der stark industrialisierten Emilia Romagna Schäden von mehr als zwei Milliarden Euro verursacht. Die Leidtragenden werden in erster Linie Arbeiterfamilien sein, die ihr Einkommen verlieren.

Die Menschen verbringen die Nächte in Zelten, in ihren Autos auf dem Parkplatz irgendeines Supermarkts oder auf dem Land. Ganze Stadtzentren sind abgeriegelt, in manchen Städten (wie Finale Emilia) wurden auch die Gas- und Wasserleitungen durch Nachbeben zerstört. In Modena wurde ein ganzes Krankenhaus evakuiert, die Schwerkranken in andere Städte transportiert und die übrigen nachhause geschickt.

Ursache des Bebens sind Verschiebungen der Adriatischen und der Eurasischen Tektonischen Platte, die gewaltige Spannungen in der Erde aufbauen, die sich in den Erdbeben entladen. Die betroffene Region gehörte bisher nicht zu den am meisten gefährdeten Erdbebengebieten. Nun führt der Untergrund aus Flussschwemmland in der unteren Po-Ebene zu einer besonders gefährlichen Situation: Die Erdstöße haben den Grund aus feuchten Kies-, Schlamm- und Sandmassen in Bewegung versetzt. Manche Häuser sacken erst in unterirdische Hohlräume, wenn das Erdbeben längst vorbei ist.

Während die Erläuterungen der Geologen zu großer Besorgnis Anlass geben, mangelt es an klarer Auskunft und rascher, unbürokratischer Hilfe von Seiten der Politik. Die Lage tausender Menschen ist von Tag zu Tag verzweifelter. So steigt mit der Trauer und Verzweiflung auch die Wut über die Regierung.

Als Premier Mario Monti am 21. Mai nach Ferrara kam und Sant'Agostino besuchte, wurde er von einem Pfeifkonzert und von Buhrufen empfangen. Eine Gruppe von Frauen, die die Nacht im Freien verbracht hatte, schrie ihm zu: "Schande, ihr Diebe, ihr hättet zuhause bleiben können!"

Monti gehe es nur um sein Auftreten in den Medien, nicht um das Schicksal der Betroffenen, sagten die Frauen der Presse. "Wir haben so viele Probleme, wir sind wütend und haben Angst." Es sei wohl zu viel verlangt, vom Staat zu erwarten, "dass er uns hilft".

Am 17. Mai, drei Tage vor dem ersten Erdbeben, hatte die Regierung von Mario Monti ein neues Dekret zur Zivilschutzreform veröffentlicht. Danach entschädigt der Staat die Bürger nicht mehr für Schäden, die durch Naturkatastrophen entstehen. Dagegen werden Bürger gefördert, die sich bei privaten Versicherungsgesellschaften gegen solche Schäden versichern - ein Geldgeschenk an die Versicherungskonzerne.

Auf Facebook und Twitter kursiert die Forderung, die für den 2. Juni geplante Parade zum Nationalfeiertag in Rom abzusagen und das eingesparte Geld für den Wiederaufbau der Emilia Romagna zu verwenden. Die Feier soll an den 2. Juni 1946 erinnern, als die Italiener nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Referendum der Nachkriegsrepublik zustimmten. Giorgio Napolitano, der aus der ehemaligen Kommunistischen Partei stammende Staatspräsident, wies das Ansinnen, die Parade abzusagen, entrüstet zurück.

Für besonderen Zorn sorgt die Tatsache, dass die Regierung Monti die Steuer auf den Benzinpreis auch nach dem Erdbeben um weitere zwei Cent angehoben hat. Schon zuvor war der Benzinpreis auf schwindelnde Höhen geklettert.

Monti, der einer nicht gewählten Technokraten-Regierung vorsteht, hat seit seinem Amtsantritt Sparmaßnahmen in Höhe von achtzig Milliarden Euro auf Kosten der Rentner, Arbeiter und sozial Schwachen durchgesetzt. Seine Regierung dereguliert den Arbeitsmarkt und unterhöhlt den Kündigungsschutz. Unterstützt wird sie dabei sowohl von der Berlusconi-Partei Volk der Freiheit (PdL) wie von den Demokraten und den Gewerkschaften.

Schon seit Wochen sorgen die von Monti neu einführten Steuern auf Wohnungen, Gebäude und Grundstücke (IMU) für großen Unmut in den Kommunen. Mehrere Bürgermeister der Gemeinden im Erdbebengebiet fordern nun von der Regierung die sofortige Aussetzung der IMU und ein Einfrieren des jüngsten Sparpakets.

Doch die Regierung lässt sich in keiner Weise darauf ein. Sie hat am 22. Mai den Notstand über die Region Emilia Romagna verhängt und diesen inzwischen verlängert. Bisher hat sie nur fünfzig Millionen Euro als Soforthilfe für die Erdbebengebiete angewiesen. Das ist kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Das zeigt auch ein Blick auf die Stadt L'Aquila in den Abruzzen. Sie wurde am 6. April 2009 von einem schweren Erdstoß zerstört und ist - allen Versprechen der Politik zum Trotz - bis heute nicht wieder aufgebaut worden.

Die Erdbeben in der Emilia Romagna ereignen sich in einer Periode wachsender sozialer und politischer Spannungen.

Die große Unzufriedenheit mit der politischen Führung zeigte sich zuletzt bei der Stichwahl der Kommunalwahlen am 20. und 21. Mai: Alle traditionellen Parteien erlitten herbe Verluste, besonders die Berlusconi-Partei Volk der Freiheit (PdL) und die Lega Nord von Umberto Bossi. Von sieben Kandidaten der Lega Nord in Norditalien wurde kein einziger gewählt. Aber auch die Demokratische Partei (PD), Nachfolgerin der Kommunistischen Partei, verlor gegen Protestkandidaten, die außerhalb der herkömmlichen politischen Lager standen.

In Palermo setzte sich Leoluca Orlando durch, der im Ruf eines Kämpfers gegen die Mafia steht, und in Turin der Außenseiter der Demokraten Marco Doria. In Parma wurde mit Federico Pizzarotti ein Vertreter von Beppe Grillos Organisation "Fünf Sterne" mit über sechzig Prozent gegen den Kandidaten der Demokratischen Partei zum Bürgermeister gewählt. Die "Grillini", die populistisch gegen korrupte Politiker wettern, gewannen aus dem Stand die Wahlen in fünf norditalienischen Kommunen.

Die Regierung reagiert auf die verschärften politischen Spannungen, indem sie den Einsatz der Armee im Innern des Landes ausweitet. Am 18. Mai, zwei Tage vor dem ersten Erdstoß, fasste das Innenministerium einen entsprechenden Beschluss. Die Armee soll angeblich Unternehmen und öffentliche Ämter "gegen Terrorismus" schützen.

Innenministerin Annamaria Cancellieri sagte der Zeitung La Repubblica, der Einsatz der Armee zum Schutz solcher Objekte sei "eine gangbare Lösung". Gemeinsam mit dem italienischen Geheimdienst, der Polizei und der Armee bereite sie "Pläne für den Notfall" vor, die den Einsatz von bis zu zwanzigtausend Soldaten vorsehen.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 01.06.2012
Erdbeben erschüttern die Emilia Romagna
http://www.wsws.org/de/2012/jun2012/ital-j01.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2012