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GLEICHHEIT/4267: Tatlin - neue Kunst für eine neue Welt, Teil 4


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Tatlin - neue Kunst für eine neue Welt
Teil 4 - Interview mit Dmitrij Dimakow

Von Sybille Fuchs und Marianne Arens
13. Juni 2012



Dmitrij Dimakow lehrt in Pensa, der Kunstschule, auf der Tatlin 1910 seine Ausbildung als Schönschreib- und Zeichenlehrer abschloss. Er hat mit seinem Team nicht nur eines der beiden in Basel gezeigten Turm-Modelle, sondern auch etliche seiner Konterreliefs rekonstruiert, Er gilt weltweit als einer der besten Kenner des Tatlinschen Werks.


Frage: Wie erklären Sie sich den legendären Status des Turms bis heute - angesichts der Tatsache, dass Tatlin selbst einem breiten Publikum lange Zeit relativ wenig bekannt war und sein Turm nie gebaut wurde?

Dmitrij Dimakow: Tatlins Turm entstand in den 1920er Jahren. Er war eins der ersten Werke, die das neue, revolutionäre Russland symbolisieren sollten. Sein anderer Name lautete: "Denkmal der großen russischen Revolution". Es war sicherlich kein Grabdenkmal, sondern ein Monument, das das lebendige Leben besingt.

Tatlins Name war vielleicht nicht so bekannt, weil er auch nicht der einzige Erfinder des Turms war. Das war ein kollektives Werk. Tatlin war ein bunter, greller Künstler. Er hatte die Ideen, und in der Hierarchie des Kollektivs bestimmte er und lieferte das Grundkonzept. Um ihn herum gab es einen engen Kreis an Schülern und Mitarbeitern, und darum herum einen weiteren Kreis von Studenten, welche die Ausführung unterstützten.

Die kollektive Arbeit entsprach durchaus der neuen Vorstellung der Künstler, wie die Ausbildung und das Kunstschaffen unter den neuen Bedingungen aussehen sollten. Tatlin war ein bekannter Verteidiger dieser neuen Methode.

Frage: Was wurde aus den ursprünglichen Modellen?

Dmitrij Dimakow: Zu dem Schicksal der Originale ist zu sagen, dass Tatlin ja zwei Modelle geschaffen hat. Das erste im November 1920, und ein zweites 1925 für die Pariser Weltausstellung. Das erste Modell, das in Petrograd entstand, wurde nach Moskau gebracht und im Haus der Union ausgestellt, wo es einige Jahre stehenblieb. Es kam später in die Tretjakow-Galerie in Moskau.

Das zweite kehrte von Paris nach Russland zurück und wurde in Petrograd ins russische Museum gebracht. Während des zweiten Weltkriegs wurde es zerstört, wahrscheinlich als Brennholz verfeuert. Möglicherweise hat es so ein paar Menschen das Leben gerettet.

Was das Modell aus der Tretjakow-Galerie angeht, so wurde es mit der gesamten Skulptur-Abteilung wegen der Bombenangriffe in eine Moskauer Kirche ausgelagert. Nach dem Kriegsende, als die Skulpturen wieder in die Galerie gebracht wurden, kehrte der "Turm" nicht zurück. Er ist vermutlich zerstört worden; das ist aber nicht dokumentiert. Die Galerie führt ihn immer noch in ihren Katalogen als Besitz auf.

Frage: Wie kamen Sie darauf, das Modell von Tatlins Turm zu rekonstruieren?

Dmitrij Dimakow: Mein eigenes Interesse an einer Rekonstruktion erwachte erstmals 1978. Damals gab es eine heftige Diskussion über eine Rekonstruktion des Modells durch Schapiro, Tatlins Schüler, der an dem Modell mitgebaut hatte. Eine Versammlung von Kunsthistorikern und Architekten, die erwartet hatten, das Tatlin-Modell in Rekonstruktion zu erblicken, waren enttäuscht von dem Ergebnis, das Schapiro erstellt hatte.

Schapiro betrachtete sich als Koautor des ursprünglichen Modells und daher als berechtigt, Veränderungen an der Form vorzunehmen. Das Ergebnis ließ zwar Tatlins Turm erkennen, es war aber eindeutig nicht "Tatlins Turm".

Die Ausstellung darum herum, die historischen Aufnahmen, Fotos, Bücher, Zeitschriftenpublikationen, - diese Ausstellung war an sich viel interessanter als Schapiros Rekonstruktion.

Ich habe damals Architektur studiert und war brennend daran interessiert. Daher kam meine fixe Idee, das Modell wieder aufzubauen. Ich begann damit, aus einfachen Drahtspiralen die Konstruktion zu entwickeln.

1985, als ich begann, in Pensa an der Kunsthochschule zu unterrichten, waren wir die einzigen, die den 100. Geburtstag von Tatlin feierten. Wir haben zuerst mit reliefartigen Rekonstruktionen des Turms begonnen.

1989 war das erste internationale Symposium in Düsseldorf, das Tatlin gewidmet war. Das war ein starker Anstoß. Einige Reden dort waren der Rekonstruktion gewidmet. Alle sprachen über die Schwierigkeiten, und wie schwer es selbst für Architekten sei, diese Schwierigkeiten überhaupt vorher zu erkennen.

1968 war anlässlich der Stockholmer Tatlin-Ausstellung der Turm rekonstruiert worden. [1] Das Modell sah ich allerdings erstmals in Moskau in der Ausstellung von 1980 mit dem Titel "Moskau-Paris / Paris-Moskau".

Mit den Umwälzungen der darauf folgenden Epoche begann man, sich viel freier zu fühlen. Erste Artikel über Tatlin erschienen, und wie eine Welle begannen viele, Tatlin zu studieren. 1990 habe ich angefangen, ein Team zusammenzustellen und nach einer geeigneten Werkstatt zu suchen.

1992 schufen wir ein kleineres, zwei Meter hohes Modell. Dieses hat uns im Charakter zufriedengestellt. Alle Details waren am richtigen Platz und konnten von den verschiedenen Seiten aus korrekt wahrgenommen werden, wenn wir es mit den Abbildungen verglichen, die früher von allen Seiten des Turms gemacht worden waren.

Danach vergrößerten wir das Modell auf 6,40m, vom Sockel aus fünf Meter hoch. Erst jetzt bezogen wir den Sockel ein, der selbst eine plastische Funktion hat. Wir haben unsre Arbeit sehr stark als eine Art archäologische Arbeit aufgefasst: wir mussten jedes Detail erforschen, auch seine Motive, warum die Form so und nicht anders ist.

Frage: Als der "Turm" in den 1920er Jahren auftauchte, löste er in Künstlerkreisen und auch in der neuen Arbeiterregierung, speziell in der Abteilung für Bildende Kunst des Volkskommissariats für das Bildungswesen heftige Debatten aus. Können Sie etwas dazu sagen?

Dmitrij Dimakow: Es ging um die Frage, wie das Prinzip der Konstruktion zu bewerten ist. Die bildenden Künstler und Maler übernahmen dabei die Initiative und bestanden - gegenüber den Auffassungen Tatlins - darauf, dass die Konstruktion nicht das tragende Element der Kunst, sondern nur ein Element der Bildkomposition sei. Für sie bestanden die konstruktivistischen Elemente eher aus einer flachen Darstellungsfläche. Konstruktivität gehörte zwar dazu, aber es wirkte wie ein malerisches Werk.

Tatlin ging darüber hinaus. Das einzige Werk, das seiner Meinung nach zu Recht dem Konstruktivismus zugerechnet werden sollte, war sein "Turm".

Deshalb wird Tatlin als "Vater des Konstruktivismus" bezeichnet. Diejenigen, die sich in der Sowjetunion als Konstruktivisten bezeichneten, unterschieden sich stark von Tatlins eigenen Vorstellungen davon.

Frage: Welche Bedeutung hat diese Debatte heute in Russland, hat sie überhaupt eine?

Dmitrij Dimakow: Tatlin hatte - und hat bis heute - keine direkten Nachfolger. Er ist vielmehr noch eine verschlossene Figur. Zeitgenössische Künstler verstehen ihn nicht, weil sie wohletwas "Feineres", rein Ästhetisches mit ihrer Kunst anstreben.

Frage: Tatlin war mit der Revolution verbunden. Genau daran knüpfen die heutigen Künstler wohl nicht an?

Dmitrij Dimakow: Nein, genau, so könnte man es sagen. Die Konzepte von Tatlin - dafür interessiert sich heute niemand. Das Wesen der Dinge, die Erforschung, wie die Gegenstände auf die Menschen wirken, das ist bisher nicht beantwortet. Dafür beginnen sich höchstens die ganz Jungen heute wieder zu interessieren.

Frage: In der Ausstellung "Baumeister der Revolution", die zur Zeit im Gropiusbau in Berlin zu sehen ist, steht Tatlins Turm im Zentrum . Die Architekten der ersten Jahre der Sowjetunion haben sich offensichtlich für ihn interessiert und an seinen Vorstellungen orientiert. Aber die Gebäude, die aus dieser Periode noch existieren, sind in schlechtem Zustand.

Dmitrij Dimakow: Ja, das ist sehr traurig.

Frage: Gibt es Anhaltspunkte in Tatlins künstlerischem Werk, warum er nicht vor Stalin und dem "sozialistischen Realismus" kapituliert hat?

Dmitrij Dimakow: Der "sozialistische Realismus" war eine gnadenlose, harte ideologische Form, die durch die Künstler auf das Volk wirken sollte, d.h. rein propagandistisch war. Wäre Tatlin Maler, Architekt oder Illustrator gewesen, hätte er sich in dieser Zeit selbst verbiegen müssen, oder er wäre zum Märtyrer geworden.

Was ihn rettete, war die Tatsache, dass er Theaterkünstler war. Und so hatte er die Möglichkeit nach der Designer-Linie, die nach seinem "Letatlin" endete, ins Theater zurückzukehren. Dort war es an den Regisseuren oder Drehbuchautoren, die Verantwortung für die ideologische Ausrichtung zu übernehmen. Er stand damit nicht mehr so direkt in der Schusslinie.

Er konnte rein künstlerische Ideen einbringen, ohne sich zu sehr zu exponieren. Das war Tatlins Möglichkeit, sich als Künstler dem "stalinistischen Sozialismus" zu entziehen.


Anmerkung:
[1] Bei dieser Ausstellung im Moderna Museet wurde nicht ein einziges Werk Tatlins im Original ausgestellt, gezeigt wurden Rekonstruktionen, Dokumente und Fotos. Die Moskauer Kulturbürokratie lieferte für ihre kategorische Weigerung, Originale als Leihgaben zur Verfügung zu stellen die fadenscheinige Begründung, die Werke seien noch zu restaurieren und zu katalogisieren.


Weitere Artikel zur Tatlin-Ausstellung siehe unter:
http://www.wsws.org/de/2012/jun2012/tat1-j12.shtml
http://www.wsws.org/de/2012/jun2012/tat2-j12.shtml
http://www.wsws.org/de/2012/jun2012/tat3-j13.shtml
http://www.wsws.org/de/2012/jun2012/tat4-j13.shtml
http://www.wsws.org/de/2012/jun2012/tat5-j14.shtml
http://www.wsws.org/de/2012/jun2012/tat6-j14.shtml

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Quelle:
World Socialist Web Site, 13.06.2012
Tatlin - neue Kunst für eine neue Welt, Teil 4
http://www.wsws.org/de/2012/jun2012/tat4-j13.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2012