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GLEICHHEIT/4420: Arbeiter und Jugendliche in Barcelona zur Sparpolitik


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Arbeiter und Jugendliche in Barcelona zur Sparpolitik

Von einem WSWS-Reporterteam
6. Oktober 2012



Spanien leidet heute unter einer beispiellosen doppelten Rezession. Die Regierung der rechten Volkspartei von Ministerpräsident Mariano Rajoy hat sich einen 100 Mrd. Euro Kredit besorgt, um die Banken zu retten und wird wahrscheinlich bald um mehr Geld nachsuchen.

Spanien hat sich verpflichtet, sein Haushaltsdefizit von 8,5 Prozent des BIP im letzten Jahr auf 6,3 Prozent dieses Jahr und 4,5 Prozent 2013 zu senken. Letzte Woche stellte Rajoy ein weiteres Sparprogramm vor, das die Ausgaben insgesamt um vierzig Mrd. Euro senken soll. Die Löhne im öffentlichen Dienst sollen eingefroren und das Arbeitslosengeld gesenkt werden. Gleichzeitig "reformiert" die Regierung in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften die Arbeitsgesetze, um es den Unternehmen leichter zu machen, Arbeiter zu entlassen, Löhne zu senken und Tarifverträge auszuhebeln.

Die Staatsverschuldung hat zum ersten Mal überhaupt die Marke von 800 Mrd. Euro oder 75,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) überschritten. Dreiviertel der Schulden hält die Zentralregierung und ein Viertel die Regionen. Die am meisten verschuldete Region ist Katalonien mit 5,8 Mrd. Euro.

Trotz des erbitterten Konflikts mit der PP-Regierung in Madrid will die katalanische Regierung die Arbeiterklasse für die Wirtschaftskrise bezahlen lassen. Die Region wurde als Laboratorium für Kürzungen genutzt. In den letzten beiden Jahren hat sie riesige Kürzungen bei der Bildung, der Gesundheitsversorgung und den Löhnen im öffentlichen Dienst sowie weitere Kürzungen im Sozialbereich durchgesetzt.

Die Sparmaßnahmen in den Regionen verschlimmern die Armut in diesem Land, das schon unter einer Arbeitslosigkeit von 25 Prozent und von mehr als 50 Prozent bei Jugendlichen leidet. Die soziale Ungleichheit steigt auf ungekannte Höhen.

Die soziale Krise treibt Arbeiter in ganz Spanien nahezu täglich in Proteste, die von der Polizei immer häufiger mit Gewalt niedergeschlagen werden.

Die katalanische Regierung drängt auf staatliche Unabhängigkeit, nicht um die Sozialkürzungen rückgängig zu machen, sondern um ihre Haushaltskrise bei den ärmeren Regionen Spaniens abzuladen. Eine Demonstration in der vergangenen Woche, die die politischen Parteien veranlassen sollte, sich für die Unabhängigkeit Kataloniens einzusetzen, mobilisierte anderthalb Millionen Katalanen, ein Viertel der Bevölkerung.

Ein Reporterteam der World Socialist Web Site sprach in Barcelona mit Arbeitern und Jugendlichen über diese Fragen. Umfragen deuten darauf hin, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung bei einem Referendum für die Unabhängigkeit stimmen würden. Umso interessanter ist, dass bei unseren Interviewpartnern (die nicht besonders ausgewählt waren), die Meinung vorherrschte, dass Forderungen nach Unabhängigkeit "eine Ablenkung von den wirklichen Problemen" seien.

An der Universität Barcelona sagte der Philosophiestudent Tonj, dass die Antwort auf die Angriffe der Troika (aus Europäischer Union, Internationalem Währungsfond und Europäischer Zentralbank) sei, "mit dem Kapitalismus zu brechen".

"Wir können nicht von den gleichen Politikern, die das ganze Sozialsystem zerstören, erwarten, dass sie uns zu Hilfe kommen. Wir müssen die Dinge selber richten. Ich bin für eine Bewegung, die sich auf Versammlungen stützt, die lokal und horizontal organisiert sind, und versuchen die Dynamik der Vertretung und des Parlamentarismus zu durchbrechen.

Wir können nicht etwas reformieren, das in sich einen Widerspruch hat, der ständiges Wachstum und Ausbeutung beinhaltet und Kapital und Geld höher stellt als das Leben der Menschen."

Auf den Hinweis, dass die Geschichte zeige, dass Arbeiter bisher nur mittels einer revolutionären sozialistischen Partei mit dem Kapitalismus brechen konnten, sagte Tonj, dass er damit nicht übereinstimme und äußerte anarchistische Illusionen. "Sich auf die Logik des Parlamentarismus und von Mehrheiten einzulassen, bedeutet in die Falle des gleichen Problems zu tappen", sagte er.

Auf die Frage, ob die Bolschewiki das Kapital verteidigt hätten, lächelte Tonj und antwortete. "Ich weiß nicht viel über die Russische Revolution. Ich glaube wir müssen uns lokal organisieren und für Selbstverwaltung in unserer näheren Umgebung kämpfen."

Die WSWS-Reporter wiesen auf das Scheitern der Indignados und der Bewegung 15.-M hin. Diese war am 15. Mai 2011entstanden. Ihre Forderung nach radikalem gesellschaftlichem Wandel in Spanien erhielt viel Unterstützung. Aber die Bewegung hatte keine Perspektive zur Durchsetzung solcher Veränderungen. Ihre Ausgrenzung von "Politik" bedeutete in Wirklichkeit den Ausschluss sozialistischer Politik und entwaffnete die Arbeiterklasse angesichts der bürgerlichen Offensive.

Das Ergebnis war, dass die Troika weitere Kürzungen durchsetzen konnte. Arbeiter seien ohne eine eigene unabhängige Klassenperspektive machtlos, erklärte einer der WSWS-Reporter.

Darauf entgegnete Tonj: "Die Indignados zogen alle möglichen Leute an, von stark anti-kapitalistischen bis völlig reformistischen, von Studenten, die ihre Gebühren nicht mehr bezahlen konnten bis zu kleinen Geschäftsleuten, die die Nase voll hatten, immer mehr Steuern zu zahlen. Was uns alle vereinte war der Zorn. Das Gute an den Idignados war, dass sie Solidarität geschaffen haben."

Zur Unabhängigkeit Kataloniens sagte Tonj: "Die Nationalisten nutzen die Gefühle der Leute aus, die glauben, [in einem unabhängigen Staat] würde es ihnen besser gehen. Indem die Nationalisten vom äußeren Feind reden, wollen sie die ganzen Kürzungen vergessen machen, die sie selbst durchgesetzt haben.

Die Argumente für Unabhängigkeit sind immer die gleichen. Sie sagen: 'erst die Unabhängigkeit, dann der Kampf für eine bessere Gesellschaft'. Das war 1936 das Gleiche - erst der Kampf gegen die Faschisten, dann die Revolution. Heute brauchen wir eine globale Sichtweise."

Ricard studiert ebenfalls Philosophie. Er sagte: "Ich bin Krankenpfleger. Ich arbeite nur noch halb so viel, wie letztes Jahr. Sie haben uns das Weihnachtsgeld genommen, das fast zehn Prozent unseres Gehaltes ausgemacht hat. Außerdem haben sie noch weitere fünf Prozent gekürzt."

Zu den Auswirkungen der Kürzungen sagte er: "Sie stellen keinen Ersatz für krankheitsbedingte Ausfälle. Das bedeutet, dass mehr Arbeit anfällt. Für die Patienten führt das zu längeren Wartelisten. Die Gewerkschaften versuchen Vereinbarungen mit den Krankenhäusern zu treffen, aber sie taugen nichts und die Kürzungen werden trotzdem eingeführt."

Zur Frage der katalanischen Unabhängigkeit sagte Cristian: "Das ist ein politisches Manöver der katalanischen Rechten. Das hat nichts mit den einfachen Leuten zu tun." Ricard stimmte ihm zu.

Jordan, ein Krankenwagenfahrer eines Krankenhauses von Barcelona, sagte: "Sie erhöhen die Steuern, zerstören unseren Lebensstandard und nehmen uns unsere ganzen Rechte auf einmal weg, die wir uns über Jahre erworben haben. Alle Politiker sind Diebe. Sie sparen Beschäftigte im Gesundheitsdienst ein und privatisieren Krankenhäuser.

Die Arbeitsbelastung ist erhöht worden und sie haben Entlassungen mit Zustimmung der Gewerkschaften organisiert, um die meisten von uns loszuwerden. Diesen Monat haben sie vierzig entlassen. Nächsten Monat soll es weiter gehen.

Die Gewerkschaften tun absolut nichts. Seht ihr nicht, dass sie den Mund nicht aufmachen? Die Regierung hat ihnen etwas Geld gegeben und schon sind sie ruhig. Es ist immer das Gleiche."

Sein Kollege Sergio sagte: "Wir haben Angst. Wir müssen unsere Hypothekenraten zahlen und unsere Kinder unterhalten. Die Unabhängigkeit lenkt von den wirklichen Problemen ab."

Jordan ergänzte: "Das ist die Antwort der CiU [die regierende Partei der katalanischen Regionalregierung] auf die Krise. Gerade hier in Katalonien gibt es die räuberischsten Politiker und die schärfsten Kürzungen. Nur weil [Regionalpräsident] Mas die Unabhängigkeit will, heißt das noch lange nicht, dass wir alle hinter ihm stehen. Sie ist nur eine einzige Ablenkung von der Wirtschaftskrise."

Vor dem Krankenhaus sagte uns die Rentnerin Maria: "Viele Rentner glauben, dass die Kürzungen uns nicht erreichen, aber ich glaube das nicht. Die Jugendlichen sind am schlimmsten dran. Ich bin bis jetzt mithilfe meiner Ersparnisse durch die Krise gekommen und habe meine Ausgaben abgespeckt. Andere sind nicht in einer so komfortablen Lage. Sie werden wahrscheinlich entweder die Betriebsrenten oder private Renten kürzen oder abschaffen. Eines von beiden wird abgeschafft werden. Bis dahin hoffe ich im Jenseits zu sein."

Der Taxifahrer Pilar erklärte: "Die Krise hat dazu geführt, dass ich nur noch die Hälfte von dem verdiene, wie vor fünf Jahren. Die Gesundheitskürzungen betreffen besonders ältere Leute wie mich, die häufiger zum Arzt gehen müssen. Jetzt müssen wir selbst für unsere Medikamente bezahlen. Sie sollten den Banken weniger Geld geben, uns dafür mehr."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 06.10.2012
Arbeiter und Jugendliche in Barcelona zur Sparpolitik
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2012