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GLEICHHEIT/5823: Abriegelung der Balkanroute vertieft Gräben in der EU


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Abriegelung der Balkanroute vertieft Gräben in der EU

Von Martin Kreickenbaum
16. Februar 2016


Unmittelbar vor dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in dieser Woche spitzen sich die diplomatischen Spannungen zwischen den Mitgliedsstaaten der EU weiter zu. Der Konflikt entzündet sich an der Frage, mit welchen Maßnahmen eine Abriegelung Europas gegen Flüchtlinge besser zu bewerkstelligen ist.

Während die Staaten der "Visegrad-Gruppe" (Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) zusammen mit Österreich auf eine vollständige Schließung und Militarisierung der mazedonisch-griechischen Grenze setzen, um die Flüchtlinge so in Griechenland stranden zu lassen, lehnen vor allem Deutschland, Frankreich und Italien einen solchen Schritt ab, der den faktischen Ausschluss Griechenlands aus dem Schengenraum zur Folge hätte.

Die deutsche Regierung, die auch von der EU-Kommission unterstützt wird, verfolgt dagegen den Plan, mittels Kriegsschiffen der Nato die Mittelmeerpassage zwischen Griechenland und der Türkei abzuriegeln und Flüchtlinge, die dennoch in Griechenland anlanden, umgehend wieder auf das türkische Festland abzuschieben.

Im Gegenzug sollen sich die EU-Staaten bereit erklären, der Türkei, die mehr als 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat, feste Kontingente an Bürgerkriegsflüchtlingen abzunehmen. Ziel ist es dabei, mittelfristig wieder zum Dublin-Verfahren zurückzukehren, wonach der Staat, den die Flüchtlinge in Europa zuerst erreichen, für die Bearbeitung des Asylverfahrens zuständig ist.

Die Staaten Osteuropas, die am gestrigen Montag bei einem Treffen ihrer Staats- und Regierungschefs in Prag ihr weiteres Vorgehen abgesprochen haben, lehnen jedoch die weitere Aufnahme von Flüchtlingen anhand einer Kontingent- oder Quotenlösung strikt ab und versuchen, mit der Abriegelung des Grenzübergangs bei der mazedonischen Stadt Gevgelija Fakten zu schaffen.

Seit Tagen bauen Soldaten an der griechisch-mazedonischen Grenze auf über 37 Kilometer Länge einen zweiten, massiven Grenzzaun. Ein mazedonischer Offizier erklärte dazu: "Die Botschaft an die Migranten lautet: Geben Sie es auf, die Grenze illegal zu überqueren." Den Nato-Stacheldraht, die Betonpfeiler und die notwendige Baumaschinen hatte die ungarische Regierung bereits im Dezember zur Verfügung gestellt.

Unterstützung bekommt die Visegrad-Gruppe bei diesem Unternehmen neuerdings von Österreich. Die Regierung in Wien hatte erst vor wenigen Wochen festgelegt, in diesem Jahr nicht mehr als 37.500 Flüchtlinge aufzunehmen. Da dieses Kontingent bereits in einigen Wochen erreicht sein wird, setzt die Koalition aus konservativer ÖVP und sozialdemokratischer SPÖ nun ebenfalls auf eine rigorose Abriegelung der Grenze.

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz sagte der Welt: "Ich unterstütze die Überlegungen für eine zivil-militärische Mission an der griechisch-mazedonischen oder serbisch-mazedonischen Grenze. Mazedonien muss als erstes Land nach Griechenland bereit sein, den Zustrom zu stoppen." Kurz bezeichnete es als "Pflicht" Österreichs, der mazedonischen Regierung bei der Grenzsicherung zu helfen.

Ins gleiche Horn stieß der österreichische Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil, der ankündigte, Soldaten zur Flüchtlingsabwehr nach Mazedonien zu schicken. "Auf die EU-Lösung können wir nicht warten, wir müssen sowohl national als auch auf der Balkanroute auf Grenzsicherungsmaßnahmen setzen", hieß es aus dem Verteidigungsministerium.

Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico warf im Fernsehsender TA3 zudem der deutschen Regierung vor, ein Diktat gegen alle jene ausüben zu wollen, die andere Ansichten zur Flüchtlingspolitik hätten. Fico berichtete weiter, die deutsche Regierung habe sogar mit einem offiziellen diplomatischen Einspruch gegen das Treffen der Visegrad-Gruppe protestiert. "Was erlauben sich die Visegrad-Vier, gemeinsam mit Bulgarien und Mazedonien über den Schutz der Außengrenzen zu sprechen", habe es laut Fico geheißen.

Das aus EU-Sicht eigenmächtige Vorgehen der Visegrad-Gruppe wurde von Teilen der deutschen Regierung in ungewöhnlich scharfem Ton gerügt. In einem offenen Brief an die sozialdemokratischen Regierungschefs und Außenminister in Europa erklärten Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) laut Süddeutscher Zeitung, "ein formeller Ausschluss eines Mitgliedsstaates aus dem Schengen-Raum oder seine De-facto-Ausgrenzung sind Scheinlösungen, die die europäische Debatte vergiften. Man kann nicht einfach Europas Außengrenzen neu definieren, und das noch über den Kopf betroffener Mitgliedsstaaten hinweg."

Die Kritik der Bundesregierung richtet sich nicht gegen die humanitären Folgen der Abriegelung der Balkanroute, sondern stellt einen Versuch dar, die EU-Institutionen aufrechtzuerhalten. Die deutschen Pläne zur Flüchtlingsabwehr sind nicht weniger martialisch.

Das Vorhaben von Bundeskanzlerin Merkel, die Nato bei der Abschottung der Ägäis einzusetzen, schließt auch die illegale Zurückweisungen von Flüchtlingsbooten ein. Solche "Pushbacks" genannte Maßnahmen auf hoher See hätten zur Folge, dass die Überfahrt für die Flüchtlinge immer gefährlicher wird und die Todesrate in der Ägäis rapide steigt.

Unmittelbar vor dem EU-Gipfel am kommenden Donnerstag schart Bundeskanzlerin Angela Merkel zudem eine von den Medien als "Koalition der Willigen" bezeichnete Gruppe von Staats- und Regierungschefs um sich, um über eine Kontingentlösung mit der Türkei zu verhandeln.

Im Raum steht nach Informationen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Übernahme von 240.000 handverlesenen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Allerdings will die türkische Regierung diese Zahl im Falle eines weiteren Flüchtlingszuwachses flexibel nach oben anpassen, während die EU auf einen Strafmechanismus pocht. Sollte die Zahl der als illegal erklärten Grenzübertritte aus der Türkei nach Griechenland über einen zuvor festgelegten Wert steigen, soll sich das Kontingent, das die EU aufnehmen will, automatisch verringern.

Während die Türkei auf diese Weise zum Kettenhund Europas bei der Flüchtlingsabwehr gemacht wird und (wie zurzeit bei Kilis) einfach die Grenzen zu Syrien schließt, erhöht die EU-Kommission gleichzeitig den Druck auf die griechische Regierung, die Grenzkontrollen zu verstärken und alle anlandenden Flüchtlinge zu registrieren. Die Athener Regierung erhielt aus Brüssel ein Ultimatum, eine Liste mit 50 Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr innerhalb von drei Monaten abzuarbeiten. Andernfalls würde das Land aus dem Schengenraum ausgeschlossen.

Die Syriza-Regierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras unterstützt die brutale Flüchtlingsabwehr der EU. Sie hat inzwischen die Armee auf die Ägäis-Inseln Kos, Chios, Leros und Lesbos beordert, um die von der EU-Kommission angemahnten Hotspots zur Flüchtlingsregistrierung zu errichten. Zusammen mit dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR wurden zudem die geforderten 50.000 Plätze zur Flüchtlingsunterbringung nahezu fertig gestellt.

Aber bei einer Abriegelung der Grenze zu Mazedonien würde das gesamte System wie ein Kartenhaus zusammenstürzen. Täglich trotzen immer noch mehr als 2000 verzweifelte Flüchtlinge der Kälte und dem Seegang und riskieren die Überfahrt vom türkischen Festland auf die Ägäisinseln. Seit Anfang des Jahres haben die griechischen Behörden mehr als 80.000 neue Flüchtlinge registriert, ein Anstieg um rund das zwanzigfache gegenüber dem Vorjahr. Nach offiziellen Angaben sind mindestens 366 Flüchtlinge auf der Überfahrt ertrunken. Innerhalb eines Monats wären auch die neu geschaffenen Asylstrukturen in Griechenland bereits wieder völlig überfüllt.

Unter diesen Bedingungen mehren sich auch in der Regierungskoalition in Deutschland die Stimmen, die einen Ausschluss Griechenlands aus dem Schengenraum und die Abriegelung der Balkanroute fordern. Sämtliche Flüchtlinge sollen in dem kleinen Land festgehalten werden.

Der Generalsekretär des einflussreichen Wirtschaftsrates der CDU erklärte gegenüber der Welt: "Die Grundvoraussetzung für überall offene Grenzen innerhalb Europas sind im Moment nicht mehr gegenüber allen Mitgliedern gewährleistet." Und explizit an die Adresse Griechenlands gerichtet, fügte er hinzu: "Wenn ein Land seine Pflichten nicht erfüllt, dann muss sich Schengen in Richtung Mitteleuropa bewegen." Die Kosten zeitweiliger Grenzschließungen seien geringer als die Fortsetzung der "Politik der offenen Tür", meinte Geiger weiter.

Ähnliche Stimmen sind auch aus der SPD zu vernehmen. "Wir müssen die Balkanroute dichtmachen", erklärte etwa der stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Axel Schäfer gegenüber dem Spiegel, um in einer nur ihm zugänglichen Logik nachzuschieben: "Wer in Europa offene Grenzen erhalten will, muss auch Grenzen schließen können."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 16.02.2016
Abriegelung der Balkanroute vertieft Gräben in der EU
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2016

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