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GRASWURZELREVOLUTION/1002: Wir. Bleiben. Alle. - Mehr als 20 Jahre Häuserkampf in Erfurt


graswurzelrevolution 338, April 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Wir. Bleiben. Alle.

Mehr als 20 Jahre Häuserkampf in Erfurt


Das besetzte Haus auf dem ehemaligen Topf&Söhne-Gelände in Erfurt ist momentan akut von Räumung bedroht.


Doch selbst wenn bald geräumt werden sollte: Der Kampf um autonome Räume hat eine Zukunft. Und er hat eine Geschichte, auch in Erfurt:


Auch in der DDR gab es Kämpfe um Freiräume

Punks, die Frauenbewegung und eine avantgardistische Kunst-Szene nutzten Räume der Kirche, um der staatlich verordneten Einheitskultur zu entgehen. Seit Ende der 1980er Jahre gab es stille Hausbesetzungen, die oft geduldet oder legalisiert wurden. Ob das daran lag, dass es offiziell keine Obdachlosigkeit geben durfte, oder daran, dass Wohneigentum unter staatssozialistischen Bedingungen wenig Bedeutung hatte, lässt sich heute nur schwer nachvollziehen.

Stille Besetzungen wurden in der Regel nicht geräumt, auch wenn die BewohnerInnen bespitzelt und schikaniert wurden. Aber die Initialzündung für den Kampf um Freiräume in einem größeren Maßstab war der Zusammenbruch der Autorität des Regimes.

Schon im Sommer 1989 wird in der Erfurter Oststraße ein Haus besetzt. Zu dieser Zeit kann sich der marode Staat noch wehren und lässt das Haus räumen. Ab November 1989 ist von der DDR-Exekutive nicht mehr viel zu erwarten. AktivistInnen berichten, dass die Volkspolizei so flächendeckend Autorität verliert, dass in kurzer Zeit gleich mehrere Häuser besetzt werden. Eine ehemalige Fabrik in der Weißen Gasse wird gleich wieder verlassen.

Als Ersatz wird die "Banane" in der Gotthardstraße besetzt, der Mainzerhofplatz und das Wohnprojekt in der Johannesstraße werden parallel in Beschlag genommen. Das Besondere dieser Nach-Wende-Zeit ist, dass die anomische Situation - die Abwesenheit einer allgemeinverbindlich durchgesetzten Ordnung - breit genutzt wird. Unter den BesetzerInnen finden sich zu dieser Zeit neben Autonomen und Punks Leute aus der Kunstszene, Feministinnen, BürgerrechtlerInnen und Jugendliche. Wer Platz braucht, nimmt ihn sich.

Die "Frauen für Veränderung", die eine Villa der Staatssicherheit in der Espachstraße besetzt haben, bleiben dort. Am Mainzerhofplatz betreibt ein Kulturverein ein Cafe mit Livemusik, Ateliers, ein Fotolabor, dazu kommen nach kurzer Zeit ein Infoladen, die Kindervereinigung, der Aktionskreis für den Frieden, ein Interessenverein für binationale Familien und der Weltladen. Die "Banane" ist ein Autonomes Jugendzentrum mit Punk, Partys und einem weiteren Infoläden. In der Johannesstraße will man zusammen wohnen und Politik machen.

Als die feministische Fraktion im Erfurter Rat von der Verwaltung als einzige keine Räume zugewiesen bekommt, besetzen die Frauen das verlassene Haus der FDJ in der Thomas-Müntzer-Straße. Die angedrohte Räumung ausgerechnet am 8. Mai 1990 unterbleibt aufgrund des öffentlichen Drucks, die Besetzung wird legalisiert.

In der ersten Hälfte der 1990er Jahre differenziert sich die Szene: Der Weltladen mietet eigene Räume an. Die Banane wird zum Autonomen Jugendzentrum AJZ, das Mitte der 90er als freier Träger der Jugendhilfe Stellen von der Stadt erhält und in die Vollbrachtstraße zieht.

Der Infoladen besetzt Silvester 1991 die Lasallestraße. Aus der Spaltung der "Frauen für Veränderung" entwickelten sich das kommunale Frauenzentrum und die unabhängige "Brennessel". Einige haben auch genug vom Häuserkampf und gründen Landprojekte in der Umgebung von Erfurt, wo man zu dieser Zeit für ein Butterbrot Immobilien kaufen kann. Was bleibt, ist der Mainzerhofplatz, wo ein breites Spektrum von Autonomen bis Jugendhilfe gemeinsam ein Soziales Zentrum betreibt.

Als die Stadt 1993 mit der Räumung droht, wird als Ersatz die Reichardstraße besetzt. Dafür bietet die Stadt als Ersatzobjekt ein stillgelegtes Freibad in der Espachstraße an, das bis 1995 genutzt wird. Das Wohnprojekt in der Johannesstraße muss in die Stotternheimer Straße umziehen.

Bis Ende der 1990er kommt es zu keiner Räumung, auch wenn es oft weder Mietverträge noch Trägervereine gibt. Es mag sein, dass die gerade erst etablierte BRD in den Ostgebieten erst mal eine welche Linie fährt, damit die Ernüchterung nach der gescheiterten Revolution nicht allzu hart ist und viele Leute doch noch in die neue Ordnung integriert werden können. Aber spätestens Mitte der 1990er zeigt sich, dass man ohne Verhandlungen und Vereinsgründung kaum dauerhaft die Strukturen erhalten können wird.

Ende 1994 gründet sich der "Korax e.V. zur Schaffung und Erhaltung eines soziokulturellen Zentrums als Rahmen für bestehende und sich bildende selbstorganisierte Initiativen und Personen, die künstlerisch-kulturell, unkonventionell und gleichberechtigt kommunikativ miteinander tätig sind" und mietet ab 5.1.1995 als Ersatz für das (heute immer noch leerstehende) Espachbad ein städtisches Objekt in der Peter-Cornelius-Straße 13 - das Korax.

Mit diesen Entwicklungen ändert sich der Charakter der HausbesetzerInnenszene. Viele Projekte haben es bis Ende der 1990er geschafft, sich zu etablieren. Etablieren kommt nicht von l'etat, trotzdem halten genau die Projekte durch, die sich entweder erfolgreich in die staatlichen Trägerstrukturen integrieren - wie das Radio FREI, das Autonome Jugendzentrum und die Kindervereinigung - oder die Eigentum erwerben wie die Kooperative Haina oder der Weltladen.

Dem Korax e.V. ist beides nicht gelungen. Obwohl der Stadtrat beschließt, den Verein zu unterstützen, wird das Zentrum 1998 geschlossen, um Platz für einen Parkplatz zu machen. Neben dem äußeren Druck kommt es zum Ende hin zu inneren Konflikten der verschiedenen Gruppen und Fraktionen im Projekt. In den folgenden Jahren gibt es zahlreiche öffentliche Aktionen, um die Forderung nach einem selbstverwalteten Jugendzentrum aufrecht zu erhalten. Mehrere Besetzungen werden recht schnell wieder geräumt. Zu dieser Zeit werden die Aktionen vor allem vom Jugend-antifa-Spektrum getragen: gut gebildet, mit viel politischer und lebensweltlicher Abgrenzung und wenig Kontinuität. Daneben gibt es aus Punk-Kreisen eine stille Besetzung in der Schottenstraße, die aber schnell wieder geräumt wird.

Die öffentliche Wahrnehmung der BesetzerInnenszene ist zu dieser Zeit von Gegensätzen gekennzeichnet. Während Oberbürgermeister Ruge fabuliert, die BesetzerInnen würden "eine Spur der Verwüstung" in Erfurt hinterlassen, und die Polizei nach einer Räumung in der Richard-Breslau-Straße zwei Flaschen mit Kaffee und einem oben angebrachten Trichter als Mollies präsentiert, laufen gleichzeitig Verhandlungen mit dem Allerlei e.V.. Der erreicht 1998 im Jugendhilfeausschuss den Beschluss, ein Haus zu bekommen. In der Folge werden die BesetzerInnen hingehalten: Mal gibt es kein Objekt, mal wird ihnen ein Reihenhaus oder eine Garage angeboten, auf jeden Fall geht es nicht voran. Ende 2000 wird deswegen das Liegenschaftsamt mit Kaffee und Plätzchen besetzt.

Auch das bringt nichts. Kurz darauf wird für eine Party ein Tag lang ein Haus in der Schottenstraße besetzt - die Polizei braucht lange, ihre Kräfte zusammen zu ziehen, und stürmt schließlich um 4 Uhr morgens ein leeres Gebäude. Die Stadt bleibt unbeeindruckt. Am 12.4.2001 endet diese Interimszeit.

Das ehemalige Topf&Söhne-Gelände in der Rudolstädter Straße wird besetzt. Topf&Söhne hat in der NS-Zeit Entlüftungsanlagen für Gaskammern und Krematoriumsöfen für Konzentrationslager gebaut. Um die Bedeutung der Firma einzuschätzen, muss man wissen, dass die schnelle Beseitigung von Massen von Leichen eine notwendige Bedingung für die Durchführung des industriellen Massenmords an den europäischen Juden war. Seit 1999 engagiert sich der Förderkreis Topf&Söhne [1] für einen Geschichtsort und die Aufarbeitung der Vergangenheit. In der Stadt stößt dieses Engagement nicht auf Begeisterung, man will sich lieber auf die schönen Seiten konzentrieren und möglichst nicht darauf hingewiesen werden, dass die Shoa nur mit tatkräftiger Hilfe aus Erfurt durchgeführt werden konnte.

Den BesetzerInnen ist diese Geschichte bewusst. Sie wollen gerade an einem Ort der Täter ein antifaschistisches Kulturprojekt betreiben. Zum Zeitpunkt der Besetzung steht das Gelände unter Notverwaltung, weil die letzte Firma auf dem weitläufigen Areal 1994 Pleite gemacht hat. Der Notverwalter sieht sich außer Stunde das riesige Gelände nach einer Räumung abzusichern und spricht - auch gegen den Wunsch der Stadt - eine Duldung aus.

Spätestens als klar ist, dass die Besetzung bis auf weiteres Bestand haben wird, verbreitert sich die Szene. Frustrierte GenossInnen aus Korax-Zeiten tauchen wieder auf, es entsteht ein Bauwagenplatz, Bands auf der Suche nach Proberäumen finden sich ein.

Die Größe der besetzten Industriebrache setzt den Möglichkeiten keine Grenzen. In einer leer stehenden Halle bauen sich Jugendliche eine Skaterbahn. Am Rande der Besetzung richten Leute aus der Techno-Szene eine Halle für Raves ein.

Mehrere Sporträume und Werkstätten werden zurechtgemacht. Mitte der 2000er-Jahre gründen sich ein Umsonstladen und ein Lesecafe mit Infoladen. Auf mittlerweile fünf Floors finden Konzerte mit über 600 BesucherInnen statt. Die politische Auseinandersetzung mit der Geschichte bleibt ein Schwerpunkt der Besetzung. Es entsteht ein Film über Topf&Söhne [2] und ein Rundgang über das Gelände, der auch im Internet verfügbar ist [3]. Mit Veranstaltungen und Ausstellungen machen die BesetzerInnen auf die Geschichte aufmerksam. Aber vor allem ihre schiere Existenz trägt dazu bei, das Thema Topf&Söhne kontinuierlich in der Öffentlichkeit zu verankern.

Neben der Geschichtspolitik ist das Gelände auch Ort aktueller politischer Interventionen, z.B. gegen eine rassistische Ausstellung auf der Erfurter Gartenausstellung ega oder gegen die Ordnungs- und Stadtentwicklungspolitik in Erfurt. Intern wird seit jeher im Konsens entschieden. Von Außen wird das Projekt wegen seiner Beschäftigung mit Antisemitismus oft als Teil der "antideutschen" Szene wahrgenommen.

Als das Hausplenum 2006 ablehnt, dass israelkritische Filme auf dem Gelände gezeigt werden, überschlägt sich das anti-antideutsche Ressentiment auf Indymedia. Die "Antideutschen" ihrerseits können dem Projekt auch nicht viel abgewinnen.

Dass das Hausplenum den Opfern sexistischer Gewalt die Definitionsmacht zugesteht, wird harsch kritisiert und 2001 fordert ein antideutscher Feuilletonist aus Leipzig gar: "Polizei! Bitte schleunigst räumen!" [4]

Abseits linker Szenequerelen hat das Umfeld des besetzten Hauses eine Breite erreicht, die fast schon wieder an die Nach-Wende-Zeiten heranreicht.

StudentInnen von FH und Uni finden sich bei Veranstaltungen mit z.T. bundesweit bekannten ReferentInnen, die ansonsten im Osten eher unpolitische oder rechte Technoszene geht hier tanzen, es gibt bundesweite Graffiti-Events und eine wöchentliche Küche ihr alle. 2007 findet die Abschlussparty des Christopher-Street-Day im Besetzten Haus statt.

Die politische Bedeutung eines solchen Projekts ist nicht zu unterschätzen. Man sieht am Erfurter Beispiel, dass es gegen die schleichende "Faschisierung des Ostens" kaum wirksamere Konzepte gibt, als einen kontinuierlichen und breiten antifaschistischen Einfluss auf die Alltagskultur.

Seit April 2008 ist das Projekt akut in seinem Bestand gefährdet. Eine Immobilienfirma aus Mühlhausen hat das Gelände erworben und will Wohnungen und Gewerbe ansiedeln - wobei in Erfurt Wohnungsleerstand herrscht und kaum 300 Meter vom Gelände entfernt ein Gewerbegebiet existiert. Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) und Bürgermeisterin Tamara Thierbach (Partei "Die Linke") beteuern, dass sie das Projekt für wichtig halten, und bieten als Ersatzobjekt ein Haus an, in dem noch nicht einmal die 30 aktuellen BewohnerInnen des Geländes Platz finden würden. Als die BesetzerInnen das Angebot ablehnen, bricht die Stadt die Verhandlungen ab.

Im Kampf um das Weiterbestehen des Projekts zeigt sich die Breite. Unter den aktuellen UnterstützerInnen sind die Jugendverbände der Parteien, Einzelpersonen aus Gewerkschaften, der Aktionskreis für den Frieden, Akteure aus der Kirche und der ehemaligen Bürgerrechtsbewegung, der "Klub 500" der Erfurter Kunstszene und auch wieder Träger der freien Jugendhilfe. Seit Mitte 2008 fanden zwei Demonstrationen mit über 1000 TeilnehmerInnen und zahllose kleine Aktionen statt. Spaziert man durch Erfurt, sieht man an jeder Ecke "Wir bleiben alle" - Graffitis.

"Wir bleiben alle" ist so etwas wie das Motto der BesetzerInnen und der Soli-Szene. Ursprünglich kommt die Parole von einer Berliner Kampagne für selbstorganisierte Freiräume [5]. In Erfurt hat sie darüber hinaus die Bedeutung, dass nicht nur die Kernbesetzung für ihren Raum kämpft, sondern auch die angeschlossenen Projekte alle bleiben sollen.


Bernd, das Brot

Die spektakulärste Aktion für das besetzte Haus war die Entführung von Bernd, dem Brot. Bis in den Januar 2009 stand neben dem Erfurter Rathaus eine wenig beachtete Werbefigur für den Kinderkanal.

Nach der Entführung und einem auf Indymedia veröffentlichten Video, in dem sich Bernd mit den BesetzterInnen solidarisiert, ist das Plaste-Brot plötzlich das Wahrzeichen von Erfurt. Durch die Entführung und das Video gelingt es, bundesweit Aufmerksamkeit für die Lage des Hauses zu bekommen. Leider übernehmen die meisten Medien ohne Nachfrage die Darstellung der Stadtspitze, wonach Verhandlungen über ein Ersatzobjekt an den BesetzerInnen gescheitert wären.

Gegen die drohende Räumung konnten bisher weder die breite Unterstützung noch die Aktionen etwas ausrichten. Zwar laufen mit der Kirche Verhandlungen über ein Ersatzgrundstück für den Wagenplatz, aber die anderen Projekte und BewohnerInnen sind nach wir vor von Obdachlosigkeit bedroht.

Zudem kommt die Repressionsmaschinerie allmählich in Gang. Am 13.3.09 wird vor dem Landgericht Erfurt über eine Räumungsklage verhandelt und der Innenminister verbreitet vorsorglich seine Besorgnis über die Gewaltbereitschaft der BesetzerInnen. Das kann man als vorauseilende Legitimation dafür sehen, dass schwerbewaffnete Polizeieinheiten das ehemalige Topf&Söhne-Gelände stürmen, alles kurz und klein schlagen und die vorgefundenen Leute verprügeln.

Verschiedene Gruppen planen Aktionen für die Verteidigung des Geländes. Händeweg [6] bündelt verschiedene Aktionsformen. Die Antifa ruft zur Verteidigung auf [7]. Unter dem Motto "Platz nehmen" [8] erklären mittlerweile an die 200 AktivistInnen, die Räumung durch eine Sitzblockade zu stören.

Ob es gelingt, die Räumung zu verhindern, ist zweifelhaft. Fest steht, dass der Häuserkampf weiter gehen wird.


Bildungskollektiv Biko



Anmerkungen:
[1] http://topf-holocaust.de
[2] Topfgang, online auf der Seite
http://filmpiraten.blogsome.com/
[3] http://topf-rundgang.de
[4] Ralf im CEE IEH # 77 (Mai 2001), online unter
http://www.conne-island.de/nf/77/30.html
[5] http://wba.blogsport.de/
[8] http://haendeweg.blogsport.de
[7] http://www.antifa-support-topfsquat.de.vu/
[8] http://platznehmen.blogsport.de


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 338, April 2009, S. 6-7
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2009