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GRASWURZELREVOLUTION/1012: Deutsche Flüchtlingspolitik und ihre Folgen (1993 bis 2008)


graswurzelrevolution 339, Mai 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Tödlich

Deutsche Flüchtlingspolitik und ihre Folgen (1993 bis 2008)


Die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) dokumentiert seit 16 Jahren Todesfälle und Verletzungen von Flüchtlingen.


Sie veröffentlicht Geschichten von Menschen, die ohne die rassistische Sondergesetzgebung der BRD oder den Rassismus der Gesellschaft unversehrt gelebt hätten. Nun ist die 16. Auflage der jährlich aktualisierten Dokumentation "Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen" erschienen. Sie zeigt in ca. 5.000 Einzelgeschehnissen die Auswirkungen des staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus auf die Betroffenen. In ihrer Individualität und auch in ihrer Gesamtheit sind sie Beweis für die Falschaussage der Bundesregierung im Staatenüberprüfungsverfahren vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im Februar 2009. Aus dem Staatenbericht der BRD: "Die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehaltenen Rechte gelten in Deutschland für jedermann, und dies nicht nur auf dem Papier, sondern in der alltäglichen Rechtswirklichkeit."


Unterlassene Hilfeleistung oder Tötung?

16. Juli 2008. Im Haftraum B 105 der Justizvollzugsanstalt Nürnberg fügt sich der 23-jährige Untersuchungsgefangene David S. aus Armenien in der Nacht mit einer Rasierklinge tiefe Schnittwunden an beiden Unterarmen und den Armbeugen zu. Dann ruft er um Hilfe und drückt um 2.40 Uhr auf den Alarmknopf. Mitgefangene hören die Rufe aus der Einzelzelle des 23-Jährigen, und einer von ihnen betätigt ebenfalls den Notrufknopf. Zwei Justizbeamte öffnen die Klappe an der Zellentür und werfen einen Blick auf den stark blutenden Mann, der sie um Hilfe bittet - und gehen wieder. Nicht, dass sich niemand um ihn gekümmert hätte. Eine knappe halbe Stunde nach dem Notruf erschienen ein Sanitäter und eine Sanitäterin. Von ihnen wird der Anstaltsarzt telefonisch informiert, der zu diesem Zeitpunkt daheim ist. Per Ferndiagnose erteilt er dem Sanitäter die Anweisung, die Wunden mit Klammerpflastern zu versorgen. Der Schwerverletzte wird mit einem Rollstuhl in die Krankenabteilung gebracht, wo eine provisorische Erstversorgung der Wunden vorgenommen wird. Bei dem anschließenden Weitertransport in einen anderen Raum verliert David S. das Bewusstsein. Jetzt verständigt ein Vollzugsbeamter - es ist inzwischen 3.44 Uhr - einen Notarzt vom Bayerischen Roten Kreuz. Als dieser zehn Minuten später eintrifft, ist David S. tot. Die Obduktion ergibt, dass er an den Folgen des starken Blutverlustes gestorben ist.

Skandalös ist, dass weder die Sanitäter noch der Arzt am Telefon noch die Wachbeamten in der Lage waren, dem Gefangenen fachgerecht zu helfen. Es hätte einer Schnur oder eines Gürtels bedurft, mit denen die Arme hätten abgebunden werden können, damit die Blutungen zum Stehen kommen. Oder es hätte eines sofortigen (!) Anrufs bedurft, um einen Krankenwagen zu ordern.

All das, was jeder Mensch im Erste-Hilfe-Kurs lernt, war den Bewachern und MedizinerInnen offenbar unbekannt. Gegen die JVA-Beamten und gegen das medizinische Personal stellten die Eltern Strafanzeige wegen eines Tötungsdelikts aufgrund Unterlassung, fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung. Ob es zu einer Verurteilung kommen wird, ist angesichts vergangener Urteile in ähnlichen Fällen fraglich.


Rechtsprechung ohne Gerechtigkeit

Erinnert sei z.B. an den 35 Jahre alten, abgelehnten Asylsuchenden Laye-Alama Condé aus Sierra Leone, der in Bremen von dem Polizeiarzt Igor V. nach einer Brechmitteleingabe regelrecht ertränkt wurde. Vier Jahre nach der Tötung, am 4. Dezember 2008, spricht das Landgericht Bremen den verantwortlichen Gerichtsmediziner vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Der 44-Jährige habe sich zwar "zahlreiche Unsicherheiten, Versäumnisse und Fehler" zuschulden kommen lassen und objektiv Pflichten verletzt, doch sei ihm subjektiv (!) keine Schuld nachzuweisen, da er unerfahren und überfordert gewesen sei.

Erinnert sei auch an den 19-jährigen Michael Paul Nwabuisi (Achidi John) aus Kamerun, dem im Rechtsmedizinischen Institut der Universitätskliniken Hamburg-Eppendorf nach einem körperlichen Zusammenbruch von einer Polizeiärztin und fünf ihn niederhaltenden Polizisten Brechmittel und Wasser eingezwungen wurden. Der Flüchtling wurde bewusstlos; nach einer Reanimierung waren die Hirnschäden so groß, dass eine Wiederbelebung aus dem tiefen Koma nicht mehr gelang. Drei Tage später wurden die Beatmungsapparate auf der Intensivstation abgestellt.

Die Staatsanwaltschaft leitete sogenannte Vorermittlungen ein und kam zu dem Ergebnis: kein Anfangsverdacht für strafbare Handlungen. Zwei Klageerzwingungsverfahren der Eltern des Getöteten mit dem Ziel, neue Untersuchungen der Todesumstände zu erreichen, wurden im Februar und im Juli 2002 vom Oberlandesgericht Hamburg abgewiesen, weil es keine Hinweise auf einen "Gesetzesverstoß von Polizisten, Ärzten und anderen Personen" gebe. Erinnert sei an den Flüchtling Oury Jalloh, der am 7. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte.

Erst durch massive Öffentlichkeitsarbeit von antirassistischen und Flüchtlingsgruppen wurde die offizielle Version "Selbstmord" überhaupt erst in Frage gestellt. 27 Monate nach dem Tod des Flüchtlings und nach vielen Behinderungen und Schikanen von Seiten der Ermittlungsbehörden begann der Prozess gegen zwei verantwortliche Polizisten. 58 Verhandlungstage später, am 8. Dezember 2008, wurden sie freigesprochen.

Erinnert sei an die gewaltsamen Erstickungen von Kola Bankole (1994) und Amir Ageeb (1999) nach massiver Fesselung und Knebelung durch deutsche Beamte während der Abschiebung. Als Kola Bankole nach einer Psychopharmaka-Injektion im Flugzeugsitz zusammensackte, diagnostizierte der Begleitarzt die Bewusstlosigkeit als "nigerianertypische Selbsthypnose" und lehnte damit Wiederbelebungsversuche ab. Das Verfahren gegen den Arzt wurde drei Jahre später unter Zahlung von 5.000 DM wegen "geringer Schuld" eingestellt. Gegen die tatbeteiligten BGS-Beamten wurde nie Anklage erhoben.

Die für den Tod von Amir Ageeb verantwortlichen BGS-Beamten wurden zu keiner Zeit vom Dienst suspendiert, haben allerdings seither nicht mehr bei Abschiebungen "mitgewirkt". Am 18. Oktober 2004 wurden sie vom Landgericht Frankfurt wegen Körperverletzung mit Todesfolge in einem "minderschweren" Fall zu je neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Das Gericht blieb unter der gesetzlich vorgeschriebenen Mindeststrafe von einem Jahr und ermöglichte den Angeklagten damit die ungestörte Fortsetzung ihrer Beamtenlaufbahn. Ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachtes auf Körperverletzung im Amt, das die Bundesarbeitsgemeinschaft Pro Asyl gegen vier weitere Beamte wegen der Schaukelfesselung angestrengt hatte, wurde von der Staatsanwaltschaft des Landgerichtes Frankfurt am 8. Mai 2005 eingestellt.

Auch bei vielen anderen Prozessen, bei denen es um unterlassene Hilfeleistung oder Tötung geht, kommen die deutschen Verantwortlichen oder die TäterInnen glimpflich davon. Es wird immer wieder deutlich, dass der Rassismus in der Justiz im gleichen Maße vertreten ist wie in den Ausländerbehörden, den Polizeibehörden, der Politik und der Gesellschaft.


Fit to fly

Eine besondere Rolle spielen ÄrztInnen, bei deren Verhalten die Grenzen zwischen unterlassener Hilfeleistung und Körperverletzung fließend sind. Sie werden in den seltensten Fällen für ihre gewissenlose Tätigkeit zur Verantwortung gezogen, denn ihre Opfer sind bereits abgeschoben. Gemeint sind z.B. die MedizinerInnen, die auch schwerkranke Flüchtlinge noch flugreisefähig schreiben, damit die Abschiebungen stattfinden können.

Diese "Fit-to-fly-Ärzte" arbeiten auf Kopf-Geld-Basis und - entgegen vorliegender Fachgutachten - im Sinne der Behörden ergebnisorientiert.

Die Fit-to-Fly-Bescheinigungen entstehen gegebenenfalls ohne adäquate Untersuchung der PatientInnen, - "Beurteilungen" erfolgen sogar ausschließlich "nach Aktenlage", ohne die PatientInnen zu sehen. Andere ÄrztInnen verdingen sich bei den Ämtern für die "Betreuung" der Schwerkranken während der Flüge. So kommt es immer wieder vor, dass diese ÄrztInnen den Flüchtlingen unerlaubt und verbotenerweise Beruhigungsmittel injizieren, um die Abschiebung für die Beamten oder das Flugpersonal leichter zu gestalten. Die sich wehrenden Menschen werden schlichtweg "ruhiggespritzt".

Auch lassen solche MedizinerInnen zu, dass schwerkranke und mittellose Flüchtlinge ohne für sie lebenswichtige Medikamente abgeschoben werden - abgeschoben in Länder, in denen die medizinische Behandlung ohne Geld nicht fortgesetzt wird.


Rassismus auf allen Ebenen

Im Hinblick auf den oben erwähnten Staatenbericht der Bundesregierung ist festzustellen, dass deutsche Rechtswirklichkeit an sich schon Menschenrechte von Flüchtlingen missachtet und den meisten Schutzsuchenden durch Sondergesetze ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben und ein Bleiberecht abspricht. Hinzu kommt die Behördenwirklichkeit, die - entsprechend der politischen Zielvorgabe - den Menschen den Aufenthalt unerträglich macht.

Erpressung, Schikanen und Betrug, aber auch Sippenhaftung, Familientrennungen oder Inhaftierung Minderjähriger sind einige Mittel des Staates und seiner willfährigen MitarbeiterInnen, um Flüchtlinge zur "freiwilligen" Ausreise zu zwingen.

Die Auswirkungen auf die Betroffenen sind verheerend. Jahrelange Perspektivlosigkeit und existentielle Angst führen zu schweren Traumatisierungen bei den Flüchtlingen und ihren Familien.


Die Doku umfasst den Zeitraum vom 1.1.1993 bis 31.12.2008

175 Flüchtlinge starben auf dem Wege in die Bundesrepublik Deutschland oder an den Grenzen, davon allein 131 an den deutschen Ost-Grenzen, 480 Flüchtlinge erlitten beim Grenzübertritt Verletzungen, davon 295 an den deutschen Ost-Grenzen. 150 Flüchtlinge töteten sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davon 56 Menschen in Abschiebehaft. 814 Flüchtlinge verletzten sich aus Angst vor der Abschiebung oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung (Risiko-Hungerstreiks) oder versuchten, sich umzubringen, davon befanden sich 492 Menschen in Abschiebehaft. 5 Flüchtlinge starben während der Abschiebung und 371 Flüchtlinge wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen während der Abschiebung verletzt.

31 Flüchtlinge kamen nach der Abschiebung in ihrem Herkunftsland zu Tode und 462 Flüchtlinge wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär misshandelt und gefoltert oder kamen aufgrund ihrer schweren Erkrankungen in Lebensgefahr. 70 Flüchtlinge verschwanden nach der Abschiebung spurlos, 14 Flüchtlinge starben bei abschiebeunabhängigen Polizeimaßnahmen, 417 wurden durch Polizei oder Bewachungspersonal verletzt, davon 130 Flüchtlinge in Haft.

67 Flüchtlinge starben bei Bränden oder Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, 761 Flüchtlinge wurden z.T. erheblich verletzt, 15 Flüchtlinge starben durch rassistische Angriffe auf der Straße und 744 Menschen wurden verletzt.

Durch staatliche Maßnahmen der BRD kamen seit 1993 mindestens 375 Flüchtlinge ums Leben - durch rassistische Übergriffe und Brände in Flüchtlingsunterkünften starben 82 Menschen.


ARI - DOK

Antirassistische Initiative - Dokumentationsstelle
Mariannenplatz 2, Haus Bethanien, Südflügel, 10997 Berlin
Fon: 030-61740-440, Funk: 0177-3755924, Fax: -101,
ari-berlin-dok@gmx.de, www.ari-berlin.org/doku/titel.htm

Die Dokumentation umfasst zwei DIN A4-Hefte.
Beide zusammen kosten 18 Eure plus 3,20 Euro Porto & Verpackung.
HEFT 1 (1993 - 1999) 6 Euro für 174 S.
HEFT 2 (2000-2008) 13,90 Euro für 310 S. - plus je 1.60 Euro Porto & Verpackung.
Die 15. Auflage ist zu finden unter: www.ari-berlin.org/doku/titel.htm


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 339, Mai 2009, S. 7
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint 10 Mal im Jahr.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2009