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GRASWURZELREVOLUTION/1175: "Wir brauchen den Druck auf den Ausschaltknopf!"


graswurzelrevolution 358, April 2011
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

ÖKOLOGIE
"Wir brauchen den Druck auf den Ausschaltknopf!"

Redebeitrag von Matthias Eickhoff zum Super-GAU in Fukushima: "Nicht in Schockstarre verharren"

Von Matthias Eickhoff


Am 14. März 2011, kurz nach Bekanntwerden des Super-GAUs in Fukushima, demonstrierten spontan und gleichzeitig in über 400 Orten der Bundesrepublik insgesamt mehr als 120.000 Menschen für den Sofortigen Atomausstieg. In Münster waren wir rund 1.500 Leute. Es gab Redebeiträge u.a. von GWR-Autor Matthias Eickhoff (SofA) (1) und Irina Gruschewaja (Kinder von Tschernobyl, Belarus). Beide Reden dokumentieren wir exklusiv.
(GWR-Red.)


Wir alle haben gedacht: Tschernobyl, das ist doch Mahnung genug. Tschernobyl, das muss doch reichen. Wer hat es nicht verstanden - nach Tschernobyl? Heute wissen wir, Politik und Atomindustrie sind offensichtlich nicht lernfähig.

Statt alle Atomkraftwerke abzuschalten, haben wir eine Laufzeitverlängerung bekommen. Statt darüber nachzudenken, wie risikoarme Energieversorgung aussehen könnte, werden weiterhin Atomkraftwerke gebaut. Selbst jetzt noch kündigen China, die Türkei, Chile, Weißrussland, Finnland, Polen und andere Länder an, unbedingt weiter bauen zu wollen. Es gibt viele Länder, die AKWs planen.

Heute ist ein Tag, von dem ich persönlich immer gehofft habe, er würde nie kommen. Wir sind seit Tschernobyl so viele Male auf die Straße gegangen. Und ich sage Euch eins: Wenn wir nicht aus Fukushima lernen, haben wir wirklich nichts gelernt.


Wenn wir hier bei uns etwas ändern wollen, dann fängt das mit Abschalten aller Atomanlagen an. Abschalten, jetzt sofort!

Ich glaube, fast alle hier gucken täglich Fernsehen, und das sind Nachrichten, Bilder, von denen man glaubt, sie könnten in irgendwelchen Horrorfilmen stattfinden: in die Luft fliegende Atomkraftwerke.

Es gibt Meldungen, da sei das Kühlwasser nicht mehr da, Meldungen, es gibt keine Notfallpumpen mehr, Meldungen, der Wind drehe sich nun doch Richtung Tokio, Meldungen, dass 200.000 Menschen bereits evakuiert worden sind. Aber wohin?

Wenn man sich die Folgen des Erdbebens ansieht, das ja schon schlimm genug ist, wenn da von 10.000 Toten die Rede ist durch ein Erdbeben, wie will man alle diese Katastrophen gleichzeitig in den Griff bekommen?

Ich glaube, heute können wir nur eines mit Sicherheit sagen: Die Katastrophe hat gerade erst begonnen.

Sie hat noch nicht ihren Höhepunkt erreicht.
Wir wissen noch nicht, wo es wirklich hingeht. Wir sind noch mittendrin.
Das sind Dinge, für die man auch kaum Sprache finden kann. Ich glaube, das kann man sich einfach nicht vorstellen. Ich möchte an diesem Punkt deutlich sagen: Für uns ist es völlig zweitrangig in dieser Situation, ob irgendwann eine Wolke oder eine halbe Wolke nach Deutschland kommt. Das ist in dieser Stunde nicht die Frage.

Woran wir denken, sind die Menschen in Japan. Wir können nur hoffen, dass die Reaktortechniker in Fukushima irgendetwas finden, um diese Reaktoren halbwegs unter Kontrolle zu bringen. Denn mehr als halbwegs scheint ja kaum noch drin zu sein.

Wir können nur hoffen, dass sie irgendetwas finden, was offensichtlich in keinem Betriebshandbuch steht, um die Sache halbwegs über die Runden zu bekommen.

Aber wir müssen uns darauf einrichten, dass es noch schlimmer wird. Und ich frage mich, wie will man in einem dichtbesiedelten Land wie Japan all die Menschen wirklich evakuieren? Will man das je nach Windrichtung machen?

Heute ist der Atomflugzeugträger "Ronald Reagan" abgedreht. Warum? Weil er 140 Kilometer vor der japanischen Küste in die Strahlenwolke gefahren ist. Daran sehen wir: Dies ist die Realität, dies ist kein Hollywood-Film, wo irgendwelche Heroen ohne Rücksicht auf das eigene Leben die Welt retten. Dies ist die bittere Realität.

Wie sollen die Rettungsmannschaften über zerstörte Straßen, zerstörte Eisenbahnlinien nach Fukushima kommen?
All diese Fragen gehen uns durch den Kopf. Ich glaube, niemand hat eine Antwort.

Wenn man sich jedenfalls die Bekundungen der japanischen Regierung, die hilflosen Statements vor der Presse anhört, dann erinnert mich das sehr an Tschernobyl. Wir wissen nichts, wir können nichts sagen, und was wir wissen, sagen wir trotzdem nicht, weil wir keine Panik machen wollen. Wir erfahren alles nur bruchstückweise, und dann womöglich auch noch gelogen.

Deshalb finde ich es sehr wichtig, dass wir nicht stumm bleiben. Wir dürfen nicht in der Schockstarre verharren. Damit ist niemanden geholfen.

Wir müssen jetzt demonstrieren, wir müssen jetzt selber die Sache in die Hand nehmen. Wir dürfen uns nicht auf die Regierung und ihre Bekundungen verlassen. Und das bedeutet, dass wir konkrete Solidarität mit den Menschen in Japan zeigen. Das wird sicherlich noch ein sehr langer Prozess werden, der auf uns zukommt, das haben wir aus Tschernobyl gelernt: Solidarität hört nicht nach einigen Tagen oder Wochen wieder auf; Solidarität muss sehr lange halten.

An diesem Punkt möchte ich auch auf die jüngste Pressekonferenz der Kanzlerin und von Herrn Westerwelle eingehen: Es ist absolut unzureichend, jetzt ein dreimonatiges Moratorium zu verkünden, wo man dann mal gucken will, wie's denn weitergeht mit der Atomkraft. Denn was will man da gucken, was will man da sicherheitsüberprüfen? Die Fakten liegen doch alle auf dem Tisch.
Sie wurden letztes Jahr, vor der Laufzeitverlängerung, alle noch einmal auf den Tisch gelegt.
Wir wissen doch längst, dass viele Atomkraftwerke keine vernünftigen Notstromversorgungen haben. Wir wissen doch längst, dass Biblis A und Biblis B bei Erdbeben Probleme bekommen. Wir wissen, dass es mit der Kühlung in Biblis schlechter steht als in Fukushima.

Wir wissen, dass die alten, maroden Reaktoren Risse haben oder jederzeit Risse bekommen können. Wir wissen, dass, wenn irgendwo der Strom ausfällt, wie zum Beispiel in Krümmel 2007, das nächste Atomkraftwerk auch abgeschaltet werden kann, wie zum Beispiel Brunsbüttel. Alles nur eine "kleine Panne". Krümmel und Brunsbüttel liegen aber schon dreieinhalb Jahre still und können nicht mehr richtig ans Netz gebracht werden.

All das wissen wir schon, Frau Merkel! Dazu brauchen wir keine neuen Sicherheitsuntersuchungen. Was wir brauchen, ist der Druck auf den Ausschaltknopf.

Und ich muss ehrlich sagen, ich habe eine Sache auf der Pressekonferenz heute und am Samstag völlig vermisst: Warum schickt Deutschland eigentlich nicht seine angeblich so hoch ausgebildeten und qualifizierten Kerntechniker und Reaktorspezialisten nach Japan, um den Spezialisten dort in ihrem verzweifelten Kampf zu helfen?

Wo bleiben unsere Spezialisten, die angeblich alles im Griff haben, die uns jetzt erzählen, jedes einzelne Atomkraftwerk in Deutschland sei sicherer als die Atomkraftwerke in Japan?
Wir sind ja hier offensichtlich die Wundermänner.
Aber keiner unserer Spezialisten traut sich nach Japan, das ist doch die bittere Realität.
Und das ist völlig unverantwortlich.
Irgendwo müssen wir anfangen. Die Verantwortung beginnt bei uns vor der Haustür.


Und deshalb: Raus aus der Atomenergie, jetzt sofort!

Es ist nicht so, wie Herr Röttgen behauptet, die Reaktorkatastrophe sei weit weg. Wir sind viel mehr mit der japanischen Atomindustrie verbandelt, als uns lieb ist.

50 Kilometer weiter steht die bundesweit einzige Urananreicherungsanlage in Gronau. Sie wird betrieben von einem internationalen Konzern, der nennt sich Urenco.

Ein Drittel der Anteile gehört dem britischen Staat, ein Drittel gehört dem niederländischen Staat, und das restliche Drittel gehört E.on und RWE. Und diese Urenco hat sich jahrelang damit gebrüstet, dass sie angereichertes Uran zur Brennstabproduktion unter anderem nach Japan liefert. Urenco ist keine kleine Klitsche. Der Konzern Urenco beliefert insgesamt ein Viertel des Weltmarktes. Ein großer Teil davon kommt auch aus Gronau, hier in Westfalen.

Das heißt konkret, rund ein Viertel aller Atomkraftwerke weltweit wird durch angereichertes Uran von der Urenco mit Brennstäben versorgt. Die Urenco in Gronau musste heute, nachdem Anti-Atom-Initiativen Druck gemacht haben, einräumen, dass auch sie angereichertes Uran nach Japan liefert. Zwar nicht an TEPCO, sondern an den Konkurrenten Kansai, aber die Urenco hängt mittendrin in dem Geschäft, da wird jahrelang dickes Geld verdient. Und aus der Schwester-UAA im benachbarten niederländischen Almelo wurde konkret angereichertes Uran an den Fukushima-Betreiber TEPCO geliefert - und auch daran haben die Mutterkonzerne EON und RWE mitverdient. Wir sind viel näher an Japan, als es uns lieb ist.

Und hinter uns ist das Regierungspräsidium, das ist die untere Atomaufsichtsbehörde. Ich erwarte, dass der Herr Pacziorek und die Frau Kraft von der Landesregierung, dass der Herr Röttgen diese Urananreicherungsanlage endlich stilllegen, dass sie den Export nach Japan und in die anderen Länder endlich unterbinden.

Fukushima ist nicht irgendwo. Das wird alles von irgendwoher angeliefert. RWE und E.on machen damit dicke Geschäfte. Die verstecken sich hinter Briefkästen, die dann z. B. Urenco heißen. Aber die Mitverantwortung liegt auch in den Konzernzentralen, in Essen und in Düsseldorf. Da ist es völlig egal, ob die Brennstäbe in dieses oder jenes AKW gehen.

Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen und uns fragen, was wir mit der Atomtechnologie eigentlich machen und wer dafür verantwortlich ist. Und da müssen schnell Konsequenzen gezogen werden, dafür brauchen wir kein Moratorium. Da kann man einfach sagen: So nicht - wir schalten jetzt ab!


Anmerkungen
(1) www.sofa-ms.de


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Quelle:
graswurzelrevolution, 40. Jahrgang, Nr. 358, April 2011, S. 7
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2011