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GRASWURZELREVOLUTION/1276: Zum Pauschalvorwurf der Xenophobie in der Beschneidungsdebatte


graswurzelrevolution 371, September 2012
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Warum? Ganz klar: Weil's immer schon so war!
Zum Pauschalvorwurf der Xenophobie (1) in der Beschneidungsdebatte

Von Detlev Beutner



Mit dem Urteil des Landgerichts Köln (2), nachdem die religiös motivierte, nicht medizinisch-indizierte Vorhautbeschneidung (im verhandelten Fall eines vierjährigen Sohnes muslimischer Eltern) als Körperverletzung grundsätzlich strafbar sei, wurde eine außerordentlich erhitzte Debatte eröffnet.


Dabei wurde den BeschneidungsgegnerInnen wiederholt und auch durchaus pauschal entgegengehalten, dass die Motivation für deren Position einer antisemitischen wahlweise antiislamischen Grundhaltung geschuldet sei. (3)

So sehr es zutreffend ist, dass in der Debatte solche Töne und Positionen auszumachen sind, so wenig sagt das allerdings zur Sache aus. Vor allem versucht der Vorwurf als unmöglich darzustellen, dass man auch ohne antisemitischen Hintergrund das Beschneidungsritual strikt ablehnen und eine Ächtung einfordern kann. Dies ist jedoch nicht nur möglich, sondern im Grunde genommen sogar naheliegend.

Zunächst ist es reine Empathie. Wer den Bericht über die Hintergründe des verhandelten Falles sieht, sieht zunächst: Eine Mutter, die aus Tradition eine Operation an ihrem kleinen Sohn vornehmen lässt, ganz sicher bei bestem Glauben und Gewissen. Doch die Sache gerät außer Kontrolle, der Junge hat extreme Schmerzen, im Krankenhaus wird er erneut operiert, ein späterer Verbandswechsel muss ebenfalls unter Narkose erfolgen. Die Mutter ist hilflos und verzweifelt, "sprang an diesem Tag in der Uni-Klinik von einem Balkon im ersten Stock. Wahrscheinlich eine Psychose. Sie kam in die geschlossene Psychiatrie." (4)

Wobei diese Beschneidung am Ende als "nach den Regeln der Kunst" gewertet wird, andere Komplikationen können schlimmer enden, auch mit dem Tod. (5) Es mögen "Einzelfälle" sein, aber Komplikationen und Gefahren wie diese sind der nüchterne Grund dafür, dass Operationen an Nichteinwilligungsfähigen grundsätzlich nur bei medizinischer Indikation vorzunehmen sind. Liegt hier also eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor?

Darf davon abgewichen werden, wenn die Eltern damit einem religiösen Ritus folgen?


"Wem gehört das Kind?"

Dies ist, unabhängig von der vorliegenden konkreten Problematik, eine grundsätzliche Frage, deren Antwort sich in westlichen Gesellschaften in den letzten 100 Jahren massiv verändert hat. Kinderrechte sind erst seit gut 100 Jahren überhaupt als solche bekannt, und erst vor zwölf Jahren wurde die "Züchtigung", sprich das Schlagen der Kinder in Deutschland verboten.

Hiergegen gab und gibt es vor allem von religiöser Seite Widerstand, der in seiner Argumentation ähnlich aufbaut wie in der Beschneidungsdebatte: Gottes Wort zähle mehr, außerdem wurde das schon immer so gemacht und habe seit Tausenden von Jahren "noch nie jemandem geschadet". (6)

Soweit der Vergleich angegriffen wird, dass die Züchtigung Strafe und die Beschneidung eher Liebe bedeute, wird verkannt, dass die "liebevolle körperliche Züchtigung" (7) insbesondere aus religiösen Kreisen als ggf. zwar "unangenehme Pflicht" angesehen wird, mit der aber die Kinder "zurechtgestutzt" werden müssten - es geht auch hier um das "Wohl des Kindes". Die Erziehungsratgeber vor einhundert Jahren waren voll von dem Verständnis, dass es Eltern auch schwer fallen könne, den göttlichen Erziehungsauftrag stringent umzusetzen, aber was sein musste, musste sein - und solche Ratgeber sind durchaus nicht ausgestorben. (8)

Die Wahrnehmung von Kindern als eigenständige Menschen mit eigenständigen Rechten, die nicht der Herrschaft der Eltern - egal wie "liebevoll gemeint" - beliebig ausgesetzt sein sollen, ist also historisch allerjüngsten Datums. In diese Zeit fiel auch die Ächtung der Beschneidung von Mädchen, was primär in Afrika religiöse bzw. kulturelle Sitte war und noch ist.

In der öffentlicher geführten Diskussion zwischen 1980 und heute haben sich ethische Grundpositionen herausgeschält, die in der überwältigenden Mehrheit der westlichen Bevölkerungen absolut kompromisslos vertreten werden.

Es gibt hier mit der sog. "Milden Sunna" (der Beschneidung "nur" der Klitorisvorhaut) sogar eine physiologische Analogie zur hier diskutierten Jungenbeschneidung, die auch alle weiteren relevanten Aspekte der Diskussion teilt: Alter des Ritus, mögliche Komplikationen, angebliche Vorteile bis hin zur Tatsache, dass es westliche Frauen gibt, die diese Art der Beschneidung freiwillig bei sich als Schönheits-OP durchführen lassen; daneben gibt es tatsächlich medizinische Indikationen, die diese Art der Beschneidung bei Frauen auch hier anzeigen (ebenfalls Vorhautverengung). (9)

Die Ablehnung aber aller Beschneidungs- und weiteren Verstümmelungsarten, unabhängig von ihrer Intensität, lässt sich etwa daran ablesen, dass Vorstöße in den USA, den Niederlanden und Australien, "nur" den "Ritual Nick" (das Anritzen oder Durchstechen der Klitorisvorhaut ohne Gewebeentfernung) bei ärztlicher Durchführung zuzulassen, scheiterten. (10)

Zugleich ist damit in der Debatte über die Beschneidung von Frauen das "Hinterzimmer-Argument" (dass bei einem Verbot eine Durchführung unter unsauberen Bedingungen drohe) über Jahrzehnte durchdiskutiert worden, was nun wieder auf den Tisch gelegt wird, als hätte es diese Fragen (und entsprechende Antworten) nie gegeben. (11)

Wenn sich aber alle einig sind, dass man nicht aufgrund von Glaube und Kultur an den Genitalien von Mädchen herumzuschneiden hat - warum ist dieser ethische Konsens so klar, so unklar aber bei den Jungen? Als Unterscheidungsmerkmale fallen zwei Dinge ins Auge: Das Geschlecht und der Ort, an dem "es" geschieht. Beim Geschlecht liegt es nahe, dass hier ein unangenehmes Männerbild Wiederauferstehung feiert bzw. schlicht fortlebt ("Ein Indianer kennt keinen Schmerz!"); beim Ort ist zu befürchten, dass die kategorische Ablehnung der Beschneidung von Mädchen (in Afrika) auch einem gewissen Kulturchauvinismus entspringt: Es fällt wohl leichter, eine Handlung "bei den Unzivilisierten" kompromisslos ins Fadenkreuz zu nehmen als die gleiche Handlung, wenn sie im eigenen "zivilisierten" Kulturkreis tradiert, wenn sie in der Mitte des "Wir" irgendwo verankert ist. (12)

Hinzu kommt sicherlich der Reflex, im Umgang insbesondere mit jüdischen Traditionen ganz besonders vorsichtig und zurückhaltend zu sein - ein Reflex, gegen den nicht das Geringste einzuwenden ist, wenn "Vorsicht" und "Zurückhaltung" nicht verabsolutiert und dabei eigentlich getroffene ethische Grundsatzentscheidungen nicht en passant in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Verstehen muss man in der Debatte sicher, dass dieses plötzliche Ins-Bewusstsein-Rücken bei den betroffenen ReligionsanhängerInnen Irritation auslösen kann, zumal sie auch die xenophoben Tendenzen in der Diskussion wahrnehmen und sich insgesamt bedroht fühlen (ganz so "plötzlich" ist die Diskussion allerdings gar nicht aufgekommen, Deutschland ist eines der letzten Länder, die sich mit der Problematik erstmals öffentlich auseinandersetzen). Diese Erkenntnis sollte also zu einem behutsamen Ton in der Diskussion führen, kann aber nicht das Ergebnis bestimmen.

Mitunter wird daneben unterstellt, dass "die Unversöhnlichkeit der Kopftuch-Debatte ... in der Beschneidungs-Debatte ihre Fortsetzung" finde. (13)

Abgesehen davon, dass "natürlich" die Islamophoben in beiden Debatten in der gleichen Ecke stehen, kann man ansonsten nur vermerken: Nichts trifft weniger zu. Annette Schavan etwa, die als baden-württembergische Kultusministerin das Kopftuchverbot für Lehrerinnen ins Gesetz hat schreiben lassen, u.a. mit der Begründung, dieses sei "Zeichen für eine kulturelle Abgrenzung" (14), erklärt in der Beschneidungsdebatte: "Wir dürfen uns nicht angewöhnen, zu meinen, erlaubt sei nur das, was allen plausibel erscheint. Was manchen nicht plausibel erscheint, ist anderen heilig." Menschen müssten lernen, auch das zu respektieren, was ihnen selbst fremd sei! (15) Beim Kopftuch hatte sie dieses Verständnis allerdings selbst noch nicht... Diejenigen allerdings, die bei der Kopftuchdebatte berechtigterweise die Grenzen staatlichen Eingreifens verteidigt haben und die nun das Problem mit der Beschneidung gleich komplett negieren, gefallen sich scheinbar in ihrem Selbstverständnis von "aufgeklärter Liberalität". Man möge den Religiösen das Religiöse lassen, und zur Sache selbst wird dann ein Verharmlosungswettbewerb gestartet, der die Grenzen des guten Geschmacks regelmäßig, die der Logik immer verletzt. Übersehen werden an den konkret zur Diskussion stehenden Riten, dass diese mit anderen ethischen Grundentscheidungen in einem mehr als erheblichen Konflikt stehen - und, dass diese kumpelhafte Solidarität zugleich eine Entsolidarisierung von den Eltern (und deren Kindern) bedeutet, die innerhalb der religiösen Gemeinschaften dem Brauch aus sozialem Druck, nicht aber aus religiöser Überzeugung folgen (hier ist also nicht einmal die Rede von den kleinen Gruppen klarer und engagierter GegnerInnen der Beschneidung innerhalb der Religionsgemeinschaften (16)). In dem israelischen Kurzfilm "Circumcision" sieht man etwa die Not, in der jüdische Eltern stecken können, wenn sie dem sozialen Druck ausgesetzt sind, sich konform verhalten zu müssen. (17)

Aus anarchistischer Sicht ist das "stärkste" Argument der BeschneidungsbefürworterInnen zugleich ein gutes Argument gegen den Ritus: Es handele sich um ein Gebot Gottes, das die die Menschen nicht hinterfragen können und dürfen. "Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen, nicht selbst zu existieren braucht", so Charles Baudelaire. Die Herrschaft eines imaginären Wesens über Genitalien von Kindern ist abzulehnen. Der Schmerz kommt noch hinzu.


Anmerkungen:

(1) Die Vorwürfe sind konkreter Antisemitismus und Antiislamismus, aber letztlich hier als spezifische Ausflüsse einer Xenophobie (Fremdenfeindlichkeit; "ablehnende, ausgrenzende oder feindliche Haltung gegenüber Personen oder Gruppen, die als andersartig gesehen werden."
(de.wikipedia.org/wiki/Fremdenfeindlichkeit))

(2) http://openjur.de/u/433915.html

(3) Rudolf Taschner (Prof. für Mathematik, TU Wien): "Wie man es 'den Juden' einmal so richtig zeigen kann: Unsere Kulturkämpfer mit ihrem Beschneidungsverbot sind Antisemiten reinsten Wassers."
(http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/1271362/Jetzt-endlich-haben-wir-sie);

Christian Bommarius: "In der Debatte ... geht es also nicht um Körperverletzung, nicht um das Erziehungsrecht der Eltern, nicht einmal um die Beschneidung selbst. Unter dem Deckmantel einer juristischen Frage werden antiislamische und antisemitische Affekte erkennbar, die für das gesellschaftliche Zusammenleben bedrohlicher sind als jede religiös motivierte Zirkumzision."
(www.fr-online.de/meinung/leitartikel-das-recht-zur-beschneidung,1472602,16660714.html);
Ariel Muzicant (Ehrenpräsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien): Das Verbot der Beschneidung wäre dem Versuch einer neuerlichen Shoah, einer Vernichtung des jüdischen Volkes, gleichzusetzen - nur diesmal mit geistigen Mittel"
(www.kleinezeitung.at/steiermark/leoben/3076004/beschneidung-verbot-vernichtung-juden.story);
und viele andere mehr. Vgl. zum Vorwurf allgemein auch
www.perlentaucher.de/blog/276_die_dialektik_der_gegenaufklaerung

(4) Kopftuchverbot für Lehrerinnen
www.faz.net/aktuell/politik/inland/beschneidungen-das-urteil-11820431.html

(5) www.cirp.org/library/death

(6) http://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6rperstrafe#Heutige_gesetzliche_Regelung_.28_im_Familienrecht.29

(7) www.gotquestions.org/Deutsch/Kinder-zuchtigen.html

(8) Tedd Tripp, 2008: "Eltern - Hirten der Herzen: Biblisch orientierte Erziehung"; Lou Priolo, 2009: "Kinderherzen lehren: Wie man die Bibel in der Erziehung anwendet"

(9) http://de.wikipedia.org/wiki/Beschneidung_weiblicher_Genitalien

(10) Ebd. Zur australischen Diskussion 2010 vgl.
www.smh.com.au/opinion/society-and-culture/a-ritual-nick-too-far-20100625-z8x2.html

(11) Vgl. www.lokalkompass.de/dortmund-city/politik/nein-zur-straffreiheit-bei-beschneidung-im-kindesalter-pressemeldung-d190720.html

(12) Als krasses Beispiel für Religions- und Kulturchauvinismus wurde etwa - die Beschneidung von Jungen verteidigend - die Beschneidung von Mädchen abgelehnt mit den Worten: "Das ist nicht der Ausfluss von Religion, sondern im Gegenteil Symptom tiefster heidnischer Unerlöstheit. (Hans Winkler in:
http://diepresse.com/home/meinung.dejavu/1267847/Freiheit-fuer-die-Relgionen-oder-Freiheit-von-Religion)

(13) www.sueddeutsche.de/politik/streit-umbeschneidung-vom-richtigen-umgang-mit-recht-1.1413208

(14) www.spiegel.de/schulspiegel/religion-bildungsministerin-schavan-kritisiert-kopftuch-urteil-a-425744.html

(15) http://aktuell.evangelisch.de/artikel/5223/schavan-zur-beschneidung-auch-das-respektieren-was-fremd-ist

(16) www.jewsagainstcircumcision.org
www.quranicpath.com/misconceptions/circumcision.html

(17) http://video.google.com/videoplay?docid=-2372535130226634650

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Quelle:
graswurzelrevolution, 41. Jahrgang, Nr. 371, September 2012, S. 6
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2012