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GRASWURZELREVOLUTION/1431: Den Kuchen anders backen und verteilen - ein Gespräch mit Ulrich Brand


graswurzelrevolution 393, November 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Den Kuchen anders backen und verteilen
Wie könnte eine Gesellschaft ohne ökonomischen Wachstum aussehen?

Robert Best im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Ulrich Brand



Knapp 3000 Menschen haben sich im September 2014 an der Uni Leipzig zu einer Konferenz mit dem Titel "Degrowth" (Postwachstum) getroffen, der weltweit vierten ihrer Art. Eine Woche lang haben sie diskutiert, wie eine Gesellschaft ohne ökonomisches Wachstum aussehen könnte. Es ging um neue Formen des Wirtschaftens angesichts knapper Ressourcen, drohender Klimakatastrophen, mangelnder Verteilungsgerechtigkeit und sozialer Verwerfungen. (1) Teilgenommen hat auch Ulrich Brand (*1967), der als Professor für Internationale Politik an der Uni Wien den Forschungsschwerpunkt internationale Ressourcen- und Umweltpolitik hat. Mit ihm sprach für die Graswurzelrevolution Robert Best.
(GWR-Red.)


ROBERT BEST (GWR): Wozu führt die Fixierung der Wirtschaft auf Wachstum?

ULRICH BRAND: Im "goldenen Zeitalter des Kapitalismus", dem Fordismus nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte eine bestimmte Form von kapitalistischem Wirtschaftswachstum noch dazu geführt, dass eine Bevölkerungsmehrheit im globalen Norden daran partizipiert hat, dass sie sich integriert hat, dass Lohnarbeit (mitsamt ihrem Fetischcharakter) Anerkennung und Identität gebracht hat.

Das sollte man in seiner Ambivalenz sehen. Das war auch ein patriarchaler Gesellschaftsvertrag mit rassistischen Anteilen. Wichtig war aber auch eine bestimmte Konstellation: starke Gewerkschaften, eine relative Bändigung von Kapitalmacht. Das hat dazu geführt, dass Menschen an der Wohlstandssteigerung teilhaben können.

Im Aufstieg des Neoliberalismus gab es weiterhin wirtschaftliches Wachstum, insbesondere ein Wachstum der Finanzmärkte - Finanzakkumulation, Deregulierung der Finanzmärkte -. Das "realwirtschaftliche" Wachstum hat zu "jobless growth" geführt und zu einer Umverteilung hin zu den Vermögenden. Einerseits schafft Wachstum nicht mehr gesellschaftliche Integration - ohne die Nachkriegszeit zu romantisieren. Aber damals waren die Gewerkschaften kampfkräftiger und konnten etwas durchsetzen, das war stabilisierend. Das wird jetzt instabil, führt jetzt zu Exklusion, Unsicherheit, Burnouts. Zurück geht es auch nicht: Es wird keinen mehr oder weniger "funktionierenden" Kapitalismus mehr geben à la Fordismus, à la Nachkriegskapitalismus.

Dazu führen sozialökologische Fragen, Klimaprobleme und die Kämpfe um den Zugriff auf knapper werdende Ressourcen dazu, dass die Wachstumsfixierung problematisch wird.

Ich finde es wichtig, von kapitalistischem Wachstum zu sprechen, wenn wir von Wachstum sprechen. Wachstum ist ja nicht nur eine quantitative Größe, Wachstum ist ein soziales Verhältnis. Wachstum bzw. die Ausweitung kapitalistischer Verhältnisse reißt die Menschen in Lohnarbeit (wohin sie ja vielleicht auch wollen) und macht den Staat abhängig von Wachstum, was Steuereinnahmen angeht und anderes.

Kurzum: Diese Form von kapitalistischer weltmarktorientierter Wachstumsfixierung führt nicht mehr dazu, dass Gesellschaften im globalen Norden - und auch nicht im globalen Süden sich stabilisieren können.

GRASWURZELREVOLUTION: Wenn ich Deine Texte lese, gewinne ich den Eindruck, dass die Wachstumsfixierung dem Kapitalismus, ich zitiere, "inhärent" ist, dass er also im Grunde ohne Wachstum nicht leben kann. Aber ich lese auch den Optimismus heraus, dass die Wachstumsfixierung, das Streben nach Profit und Expansion dem Kapitalismus ausgetrieben werden kann. Wie passt das zusammen?

ULRICH BRAND: Das denke ich nicht. Wenn wir hier über Wachstumskritik sprechen - mein politisch-strategischer Begriff wäre eher sozialökologische Transformation -, dann sprechen wir über "Transformation des Kapitalismus über ihn hinaus", wie es im Untertitel eines gerade erschienenen Buches heißt.

Was wir denken müssen, in den Initiativen und Vorschlägen, die es heute gibt, ist: Wo müssen kapitalistische Akkumulation, Klassenverhältnisse, Eigentumsverhältnisse, andere sozialstrukturelle Verhältnisse in Frage gestellt werden? Und zwar in Kämpfen, nicht nur abstrakt à la "Wir sind gegen kapitalistisches Eigentum oder Vermögensstrukturen". Aus meiner Sicht wird eine sich ernstnehmende Degrowth-Orientierung, die politisch praktisch wird, notwendig kapitalismuskritisch sein, Eigentumsfragen stellen, die starke kapitalistische Fixierung des Staates und seine Rolle bei der Stabilisierung bestehender Verhältnisse in Frage stellen. Aus meiner Sicht reicht eine rein reformorientierte Diskussion nicht aus. Wir müssen gegen Austeritätspolitik, gegen Neoliberalismus, gegen Barbarei kämpfen, aber daneben geht es durchaus darum, progressiv-kapitalistische Projekte miteinzubeziehen. Aber in diesen Auseinandersetzungen müssen grundlegende, postkapitalistische Elemente eine Rolle spielen, und das tun sie ja allerorten. Deshalb ist der Degrowth-Vorschlag wichtig.

GRASWURZELREVOLUTION: Du schreibst, Du möchtest, dass der gesellschaftliche "Kuchen" nicht nur gerechter verteilt, sondern auch anders gebacken wird. Was meinst Du damit?

ULRICH BRAND: Es gibt eine Verteilungslinke, die in Deutschland recht stark ist und aus einer keynesianischen Tradition kommt, sich für Fragen der Vergesellschaftung, des Eigentumsrechts, des Feminismus, der Umwelt und des Internationalismus wenig interessiert, sich aber dafür einsetzt, dass Deutschlands Wirtschaft weiter wächst und dass besser verteilt wird. Das ist immer noch ein starker Punkt. Und ob der Kuchen aus Automobilen, Atomenergie oder anderer Energie besteht, ist dort eine sekundäre Frage, wenn sie überhaupt gestellt wird.

Dieser Verteilungslinken wäre eine Mosaik- oder Transformationslinke beizustehen. Und da ist die Frage: Was wird eigentlich wie verteilt? Woraus wird die Gesellschaft gemacht? Wie produziert sich Gesellschaft?

Was sind eigentlich die Qualitäten von Arbeit und progressive Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung, der Herstellung von Mitteln der Mobilität, Städtebau, Produktion und Transport von Gütern, Maschinenbau und vielem anderen? Das wären sozusagen der Kuchen, seine Zutaten und seine Größe.

Die Kuchenmetapher hat aber auch Grenzen. Da gibt es jetzt einen Kuchen, der schmeckt besser, ist süßer, hat andere Zutaten, ermöglicht einen anderen Wohlstand.

Eigentlich geht es uns ja darum, emanzipatorische soziale Verhältnisse und Formen des Zusammenlebens zu stärken und zu schaffen, das heißt natürlich immer auch materielle Güter: Nahrungsmittel, Transportmittel, wie wir wohnen. Aber es geht auch um emanzipatorische Fragen, darum, Klassenverhältnisse ganz grundlegend zu verändern, dass es irgendwann vielleicht keine Klassen mehr gibt. Es geht auch um Geschlechterverhältnisse und Naturverhältnisse. Es ist ja nicht da die Umwelt und hier sind wir, sondern wir gestalten ja täglich über das Energiesystem konkrete Naturverhältnisse.

Da wird es dann mit dem Kuchen ein bisschen schräg. Aber generell geht es darum, den Blick auf Gesellschaft, ihre Materialität und ihre Reproduktion zu legen und zu sagen: Der Kuchen muss anders gebacken werden, nicht nur anders verteilt.

GRASWURZELREVOLUTION: Die traditionelle Linke kennt als Akteur/innen die Reformer/in und die Revolutionär/in. Wo siedelst Du in diesem Spektrum die, wie Du sie nennst, "konfliktfähige Transformationslinke" an?

ULRICH BRAND: Diese Dichotomie halte ich für unfruchtbar. Revolution hat immer noch die Semantik eines Winterpalais, eines Bewegungskrieges, eines Bruchs. Ich glaube schon, dass es in gesellschaftlichen Veränderungen Brüche geben wird. Wenn massiv Eigentumsverhältnisse in Frage gestellt werden, werden die, die in Frage gestellt werden, das nicht so einfach mit sich machen lassen. Auf der anderen Seite steht die reine Reformorientierung gerade in Deutschland die sozialdemokratische Tradition, die sich gegen Revolution und Brüche gestellt und gesagt hat: Wir transformieren den Kapitalismus über Wahlen und Parteiaufbau. Irgendwann wurde gesagt: Wir transformieren den Kapitalismus gar nicht mehr, wir machen ihn besser. Und heute geht es dahin: Reform bedeutet Rücknahme sozialer Rechte zur vermeintlichen Sicherung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Die aktuelle Diskussion, die wir in Deutschland führen, wenn auch noch nicht so sehr im Degrowth-Kontext, versucht das zu unterlaufen, und das ist nicht so neu.

Von Rosa Luxemburg gibt es den Begriff der revolutionären Realpolitik, in den Achtzigerjahren den des radikalen Reformismus, jetzt, nach Dieter Klein, den der doppelten Transformation. In einer Mosaiklinken, in einem Crossover müssen parteipolitische, gewerkschaftliche, wissenschaftliche, aktivistische Spektren, staatliche Akteure und progressive Unternehmen zusammengehen, ohne ihre Identität aufzugeben.

Das ist eine wichtige Debatte, die schon viel geöffnet hat. Eine Transformationslinke ist Teil einer breiteren Mosaiklinken, stellt stärker die Frage nach einer postkapitalistischen Vergesellschaftung und trägt sie in die konkreten Initiativen von heute hinein. Also etwa: Was sind heute in konkreten Initiativen wie einer Energiewende oder einer sich von der Dominanz der Mobilität sich befreienden Stadt wie Berlin Potentiale, die bestehende Macht- und Eigentumsverhältnisse in Frage stellen? In den Initiativen etwa gegen Vattenfall in Hamburg und Berlin leuchtet etwas auf, was gar nicht mit den Begriffen von Reform und Revolution gefasst werden kann, aber ganz wichtig wäre für Transformation.

GRASWURZELREVOLUTION: Du richtest Deine Vorschläge auch an die Parteipolitik. Du nennst das "progressive gesellschaftspolitische Spektrum". Wen meinst Du damit?

ULRICH BRAND: Meine Perspektive ist: In das progressive Spektrum - sei es parteipolitisch, gewerkschaftlich, wissenschaftlich, bewegungs- oder NGO-orientiert, gemeinwohlorientierte ökonomische Akteure oder auch ein Teil des Staatsapparats - können progressive, transformations- und gerechtigkeitsorientierte, sozialökologische Perspektiven eingebracht werden.

Ein Beispiel: Es gibt eben nicht die Gewerkschaften als Akteure, sondern sie sind selber Terrains. In den Gewerkschaften gibt es Teile, die sich als Teil einer Mosaiklinken oder gar Transformationslinken, und andere, die sich als Teil eines traditionellen sozialdemokratischen Projektes verstehen. Die Kunst ist ja: Wie werden in solche Terrains komplexer Akteure oder Bündnisse radikalere transformatorische Perspektiven eingewoben? Und da würde ich erst einmal ein breites gesellschaftliches Spektrum dazuzählen.

Daher ist die Frage des Progressiven nicht nur eine der schon konstituierten Akteure, sondern auch die in den Blick zu nehmen, was auf etablierten und mächtigen Terrains vor sich geht. Nehmen wir als Beispiel die Medien und ihre Wirtschaftsteile.

Werden bestimmte neoliberale Ideologien einfach übernommen? Oder gibt es Tendenzen, bestimmte Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen? Das wäre Teil eines progressiven Spektrums.

Interview: Robert Best


Anmerkungen:

Siehe: www.leipzig.degrowth.org

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Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 393, November 2014, S. 3
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2014