Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GRASWURZELREVOLUTION/1448: Castortransporte in die USA?


graswurzelrevolution 395, Januar 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Castortransporte in die USA?


Die Bundesregierung plant seit einiger Zeit den baldigen Export von bis zu 455 Castorbehältern in den südöstlich gelegenen Bundesstaat der USA, South Carolina.


Seit Ende 2011 gab es zunächst geheime Gespräche zwischen der US-amerikanischen DOE (Department of Energy) und dem Bundesforschungsministerium über die "Rücknahme" der ca. 300.000 Graphitkugelbrennelemente, verpackt in 152 Castorbehältern aus dem seit Ende 1988 stillgelegten Versuchs-Kugelhaufenreaktor in Jülich. Auch die ca. 600.000 hochstrahlenden Graphitkugeln des THTR (Thoriumhochtemperaturreaktor) aus Hamm sollen gleich über den Atlantik mitgenommen werden. Der Atommüll wird nach dem Willen der beiden Regierungen im militärischen Atomwaffenkomplex Savannah River Site im Bundesstaat South Carolina wiederaufbereitet werden. Mit einer Technik, die noch nicht existiert und noch entwickelt werden muss.

Eine Milliarde Dollar soll das Ganze den deutschen Staat kosten, so der Spiegel im Sommer 2014. Bundesforschungsministerin Wanka weigert sich standhaft, öffentlich eine Endsumme zu benennen.

Tom Clement, Direktor der atomkritischen NGO "SRS watch", war Ende September auf Einladung verschiedener Antiatominitiativen und Umweltverbände zu einer einwöchigen "Infotour" in Deutschland.

Nach seiner Einschätzung geht es für die Amerikaner um Geld, um viel Geld. Eine wirkliche Lösung des Atomproblems gebe es auch dort nicht - nur noch mehr hochgefährlichen strahlenden Nuklearmüll, der den Leuten dort vor die Füße gekippt werde. Ein "Endlager" gibt es auch in den USA nicht.

Geschichte und Hintergrund des Kugelhaufenversuchsreaktors Jülich

Der Kugelhaufenreaktor der AVR (Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor) in Jülich war das erste Versuchs-AKW, das zu den Hochtemperaturreaktoren (HTR) gehörte. Dieses in den USA entstandene Verfahren wurde dort allerdings zugunsten der später entwickelten Leichtwasserreaktoren aufgegeben.

Der AVR wurde mit einer Bauzeit von 6 Jahren von BBC/Krupp 1966 fertiggestellt.

Der Bauplatz lag in direkter Nähe des FZJ (Forschungszentrum Jülich), das dann auch den Reaktor wissenschaftlich begleitete. In weiteren Jahren wurde bekannt, dass das FJZ den Reaktor nicht nur wissenschaftlich begleitete, sondern auch die entstehenden finanziellen Defizite ausglich. Ein Konsortium, zusammengeschlossen in der AVR, von 15 kleinen und mittelgroßen Elektrizitätsversorgern betrieb den Reaktor Jülich von 1967 bis 1988.

Eigentlich war der AVR mit nur 15 Megawatt elektrischer Nettoleistung nur für einen Betrieb von wenigen Jahren gedacht. Es sollte der um einiges größere, aber technikgleiche THTR-300 Reaktor in Hamm folgen. Schon der Bau des THTR verzögerte sich um 10 Jahre und in der Anfangszeit der Inbetriebnahme traten schwerste Fehler auf.

Arbeitsweise und Technik

Schon 1977 wiesen Fachleute aus der Fachrichtung Leichtwasserbauweise darauf hin, dass die Arbeitsweise der Kugelhaufentechnik keineswegs "kohärent" sicher sei, wie sie von der AVR-Lobby öffentlich dargestellt wurde. Es gäbe auch hier die Möglichkeit schwerer Störfälle. In der Kugelhaufentechnik des AVR Jülich bestand der Reaktorkern aus 100.000 Tennisball-großen Brennelementen, die wiederum aus bis zu 10.000 beschichteten Brennstoffteilchen (coated particles, Durchmesser 0,9 mm) eingebettet in Graphit zusammengesetzt waren.

Anders als bei normalen Brennelementen bildet hier der Moderator, also das Graphit und der Brennstoff eine zunächst untrennbare Einheit. Dadurch wird das atomare Abfallvolumen enorm vergrößert. Anders als in herkömmlichen Reaktoren dient nicht Wasser als Kühlmittel und Moderator, sondern das Edelgas Helium.

Der sich im Sekundärkreislauf befindende Wasserdampf übernimmt die Wärmeenergie des Heliums und hat somit neben dem Antrieb der Turbine eine weitere Kühlfunktion.

Die kugelförmigen Graphitbrennelemente werden über verschiedene Zugänge oberhalb des Kerns in den Reaktor gegeben und wandern dann aufgrund der Schwerkraft langsam nach unten durch den Reaktor. Dieser Vorgang kann 4 Monate oder auch über 5 Jahre dauern.

Störfälle / Geschichte im Verborgenen

Die Möglichkeiten von schweren Störfällen in einem mit Graphit moderierten Reaktor unterscheiden sich wesentlich von denen der Leichtwasserreaktoren.

Es gibt sogar einige Gemeinsamkeiten zu dem Reaktor in Tschernobyl, der ebenfalls graphitmoderiert war.

Anders als bei der Leichtwasserbauweise bestimmen nicht Kühlmittelverlust oder ein Kühlungsausfall mit einer Kernschmelze das Risiko, sondern Lufteinbruch mit Graphitbrand nach einem Wassereinbruch durch Undichtigkeiten oder Lecks im Dampferzeuger. Es kann in Folge zu nuklearen Instabilitäten und zu einem "Durchgehen" des Reaktors kommen. Eine weitere Gefahr können explosionsfähige Gasgemische darstellen, die durch chemische Reaktionen von Graphit und Wasserdampfs bei hohen Temperaturen entstehen und den Reaktor gänzlich zerstören könnten.

Entgegen aller Behauptungen und "Propagandaerfolgen" der Kugelhaufenlobby kam es in Folge des Reaktorbetriebs doch zu schwerwiegenden Unfällen und einem beinahe GAU, die zunächst geheim gehalten, stark verspätet und dann noch unvollständig der Öffentlichkeit mitgeteilt wurden.

1974 kam es im Jülicher Reaktor zur Freisetzung großer Mengen des besonders toxischen Spaltprodukts Strontium-90 und Cäsium-137 aus den Graphitkugelbrennelementen direkt in den Primärkreislauf.

Da es, anders als für Leichtwasserreaktoren, für den Primärkreislauf und Kühlmittel kein optimales Reinigungsverfahren gibt, ist dieser weiterhin sehr stark kontaminiert. Für den Rückbau des Reaktors ist dies ein weiteres starkes Hindernis.

Nach Angaben der Betreiber aus dem Jahr 2000 ist der AVR weltweit die am stärksten mit Strontium kontaminierte Nuklearanlage. Das Strontium hat auch noch eine extrem schwierig zu behandelnde Konsistenz. Es ist staubförmig.

Im Mai 1978 wiederum drangen große Mengen Wasser durch ein Leck im Dampferzeuger in den Primärkreis ein. Es waren 25 bis 30 Tonnen. Dieser als schwer zu bezeichnende atomare Unfall wurde AVR-intern heruntergespielt und nur als "Störung, Vorfall oder Ereignis" bezeichnet.

Erst 1999 wurde eine schwere Strontium-90-Kontamination im Grundwasser und im Erdreich unter dem Reaktor entdeckt. Man entschied sich, den Reaktor mit Beton zu füllen, da er wegen der extremen Kontamination nicht zu zerlegen war und um den stark strahlenden Graphitstaub zu binden.

Betonverfüllt ist der Reaktor jetzt 2.100 Tonnen schwer. Um an den verstrahlten Untergrund zu kommen, wird der Reaktor momentan in ein nur hierfür gebautes Zwischenlager gefahren. Dies ist ein noch nirgends erprobtes einmaliges und noch dazu gefährliches Verfahren. Begonnen wurde diese Aktion, zu der es laut Betreiber keine Alternative gibt, am 11.11.2014. Eine gesundheitliche Aufklärung der Bevölkerung fand bisher nicht statt.

Schließlich wurde Ende 1987 mit der ein Jahr vorher begonnen Temperaturmessung mit sogenannten Monitorkugeln klar, dass der Reaktor ohne Kontrollmöglichkeit mit viel zu hoher Temperatur gefahren wurde.

Monitorkugeln enthalten verschiedene Metalldrähte, die bei unterschiedlicher Temperatur schmelzen. Die wirklich vorhandene Temperaturhöhe lässt sich nicht mehr sicher ermitteln, da alle Drähte in den Kugeln geschmolzen waren.

In einem Gutachten für die nordrhein-westfälische Landesregierung hatten Anfang 1988 Experten aus München vor erheblichen Problemen gewarnt und Parallelen zum Tschernobyl-Reaktor gesehen. Das Gutachten wurde nicht veröffentlicht.

Trotzdem wurde der Reaktor Ende 1988 für die Öffentlichkeit unerwartet per Beschluss sowohl der Landes- als auch der Bundesregierung außer Betrieb genommen.

Widerspruch und kritische Interpretation

Erst ab 2006 kam es aufgrund von kritischen und fachlich nicht einfach zu widerlegenden Anmerkungen und Einwänden des lange Zeit in Jülich beschäftigten Chemikers (und Whistleblowers) Dr. Rainer Moormann zu einer intensiven Auseinandersetzung. Die eingangs beschriebenen Störfälle waren von den Verantwortlichen nicht mehr zu leugnen und eine langsame und zähe Aufklärung der Ereignisse konnte entstehen.

Allerdings ging das Ringen um den Weiterbestand der "guten, weil jetzt moderneren Kugelhaufenreaktortechnik" weiter. Am wichtigsten Projekt des FJZ im Ausland, nämlich den Bau und der Unterstützung eines Kugelhaufenreaktors in Südafrika wurde weiter festgehalten. Erst als die neue NRW Landesregierung Mitte 2010 die Klärung der AVR-Störfälle im Koalitionsvertrag festschrieb, das Südafrika Reaktorprojekt im September 2010 zusammenbrach und im März 2011 die Fukushima-Katastrophe passierte, war der politische Druck für den Einsatz einer Expertengruppe ausreichend.

Dieser Gruppe gehörten sowohl zwei atomkritische Wissenschaftler an, wie auch zwei atomfreundliche Experten.

Die Wissenschaftler, zu denen auch Rainer Moormann gehörte, veröffentlichten ihren Bericht nach drei Jahren am 26. April 2014 einstimmig.

Moormann wird in diesem Bericht ausdrücklich für seine Unterstützung gedankt, was so zu deuten ist, dass wichtige Informationen vom FZJ und AVR nicht an die Expertengruppe gelangten und dies eben nur über Moormann möglich war.

Schlussfolgerungen des Berichts und Auswirkungen

Die Technik des Kugelhaufenreaktors wurde lange überschätzt und ist nicht annähernd anwendungsreif. Die vom FZJ angegebenen Rückhalteeigenschaften der Kugelbrennelemente für Spaltprodukte entsprechen nicht der Realität.

Der momentan vom FZJ unterstützte Bau von HTR-PM Reaktoren in China ist somit sicherheitstechnisch anzuzweifeln.

Neben dem Fehlen eines Volldruck-Containment ist nur eine Billigentsorgung der Brennelemente vorgesehen.

Nur durch das gezielte und vorsätzliche Verheimlichen von Schwachstellen und schweren Unfällen, wie überhitzte Kernbereiche und der schwere Wassereinbruch mit starker Kontamination des Reaktors, war ein so langes Weiterführen dieser umstrittenen Technik überhaupt nur möglich.

Es ist davon auszugehen, dass die AVR und das FZJ nur die Störfälle und Pannen eingeräumt haben, die nicht mehr zu leugnen waren. Der Expertenbericht wird daher mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht alle aufgetretenen Katastrophen und Unfälle enthalten.

Insgesamt ist festzustellen, dass die FZJ-Leitung und mit ihr die NRW-Atomaufsicht eklatant versagt haben, da sie frühen Hinweisen auf starke, Unregelmäßigkeiten während des Reaktorbetriebs nicht nachkamen. Hauptziel, zumindest der Leitung des FZJ, war wohl viel mehr die unbedingte Demonstration eines Dauerbetriebs des Reaktors unter extremen Bedingungen.

Am 14. Mai 2014 wurde dann auf einer Aufsichtsratssitzung des FZJ und vor allem auf Druck der Gesellschafter (BRD 90%, NRW 10%) die Beendigung der Entwicklungsarbeiten zu Kugelhaufenreaktortechnik bekannt gegeben. Diese liefen, getarnt als Sicherheitsforschung, über zehn volle Jahre und bezogen sich auf das mittlerweile gescheiterte Reaktorprojekt in Südafrika und das noch laufende HTR-PM Reaktorprogramm in China.

In Jülich liegen sie jedenfalls noch, die 152 Castoren. Und nicht weit davon entfernt, im westfälischen Ahaus, die anderen 303 "Kugelhaufencastoren" aus Hamm. Das vor kurzen gegründete Bündnis gegen Castor-Exporte trifft sich jedenfalls regelmäßig, steht in regen Kontakt zu der US-amerikanischen Anti-Atombewegung und hat schon eine Menge Ideen, getreu dem alten Motto der Antiatombewegung: "Nix rein - nix raus".

Atommülltourismus dient dem Verschleiern des Atomproblems. Eine Lösung bietet nur die sofortige weltweite Stillegung aller atomaren Anlagen.

Peter (SofA)


Weiteres zum Stand der Dinge hier, in den USA und zur Weiterentwicklung unseres Widerstandes im Folgeartikel in der nächsten GWR.

*

Quelle:
raswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 395, Januar 2015, S. 7-8
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang