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GRASWURZELREVOLUTION/1521: Chile - Der Kampf geht weiter?! Kritik an der Bildungsreform


graswurzelrevolution 404, Dezember 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Der Kampf geht weiter?!
Schüler_innen und Studierende in Chile gehen wieder auf die Straße

Von Nicole Schwabe


Es ist Mitte Oktober 2015. In Santiago de Chile bricht der Frühling an und der jährliche Zyklus der Studierendenproteste in Chile neigt sich dem Ende zu. Der nationale Studierendenverband. Confederación de Estudiantes de Chile (CONFECH), hat die letzte Großdemo des Jahres angekündigt. Tausende Studierende und Schüler_innen folgen ihrem Aufruf und gehen an diesem Tag unter dem Motto "Kostenfreiheit ohne Transformation ist kein Fortschritt" (1) wieder auf die Straße.


Damit kritisieren sie die von der Mitte-links Regierung der Präsidentin Michelle Bachelet vorangetriebene Bildungsreform als unzureichend. Diese hatte im Jahr 2013 mit dem Versprechen eine umgreifende Bildungsreform durchzuführen die Wahlen gewonnen. Im Bezug auf die universitäre Bildung hat die Regierung nun für das kommende Jahr den kostenfreien Zugang zu einem Hochschulstudium für 200.000 Studierende aus den ärmsten Einkommensschichten angekündigt (Gutiérrez). Den Studierenden, die erneut auf die Straße gehen, ist das nicht genug. Sie wollen nicht das bestehende System durch staatliche Finanzierung stabilisieren. Mehr Finanzierung heiße nicht, dass man so automatisch ein neues Bildungssystem schaffe.

"Die von der Regierung angekündigte Bildungsreform geht nicht auf unsere Forderungen ein. Es geht uns darum, dass Bildung als ein soziales Recht verstanden wird. Stattdessen müssen wir aber feststellen, dass die geplante Reform unternehmerischen Interessen innerhalb des Bildungssystems kein Ende setzt. Damit werden Universitäten und Schulen weiter als Unternehmen betrachtet. Es "gibt immer noch keine Rahmenrichtlinien, die dafür sorgen, dass Bildung sich in diesem Land an den Interessen der Gesellschaft und eben nicht an wirtschaftlichen Interessen orientiert", so Nicolás Fernández, Sprecher der privaten Universitäten innerhalb der CONFECH.

Statt den Ausbau von Bildungsinstitutionen in staatlicher Trägerschaft zu stärken, werden mit der geplanten Reform mehr Finanzmittel bereit gestellt, die in das bestehende und zu großen Teilen privatisierte "Bildungssystem fließen sollen. In den von der Regierung angekündigten Maßnahmen sehen die protestierenden Studierenden damit nicht ihre eigenen Forderungen erfüllt. Sie fordern die Finanzierung eines neuen Bildungsprojektes, eine Investition in die Bildungseinrichtungen und eine Bildung, die sich an den gesellschaftlichen Bedürfnissen orientiert (Saavedra/Fernández).

Das stark kritisierte aktuelle chilenische Bildungssystem geht auf die Militärdiktatur zurück, die im Jahr 1973 dem sozialistischen Kurs der Allende-Regierung mit Waffengewalt ein Ende setzte. Tausende linke Oppositionelle wurden in der Pinochet-Diktatur getötet, gefoltert, verschwinden gelassen oder wurden ins Exil gezwungen. Die mit Gewalt durchgesetzten neoliberalen Reformen wirkten sich dramatisch auf große Bereiche der sozialen Sicherung aus. Die staatliche Finanzierung des Bildungsbereichs wird zurückgefahren und in Form hoher Studiengebühren auf die Studierenden und ihre Familien verlagert. Insbesondere die Finanzierung der Universitäten wurde auf die privaten Haushalte verlagert. So werden bis heute nicht nur an privaten, sondern auch an staatlichen Unis Studiengebühren erhoben. Die durchschnittlichen Studiengebühren eines Jahres betragen ungefähr zwei Drittel eines mittleren chilenischen Haushaltseinkommens (Torche 2005: 324). Das Recht nicht-staatlicher Akteure, Bildungseinrichtungen frei zu eröffnen und zu betreiben, wird konstitutionell verankert und die Gründung privater Bildungsinstitutionen vereinfacht, wodurch Anreize für private Akteure geschaffen wurden, neue Bildungseinrichtungen zu gründen (Codoceo 2007: 76). Fehlende staatliche Kontrollen erlauben, dass die Investoren auf dem so geschaffenen Bildungsmarkt ein lukratives Geschäft machen können. Einem Traum von sozialem Aufstieg folgend verschuldeten und verschulden sich in Chile viele Studierende und deren Familien für ein Hochschulstudium. Die Kontrolle der privaten Bildungseinrichtungen durch den Staat ist ungenügend, die Qualität so oft mangelhaft. Die Bildungseinrichtungen sind oft mehr an ihren eigenen Gewinnen interessiert als daran, Fachkräfte auszubilden, die in einer Gesellschaft gebraucht werden. Das macht das Beispiel der Universidad del Mar deutlich. Die Privatuni mit mehreren Sitzen im ganzen Landkündigte im Jahr 2012 Insolvenz an. 22.000 Studierende in Chile standen ohne abgeschlossenes Studium und hoch verschuldet auf der Straße. Raúl Soto, der nationale Sprecher der Studierenden der Universidad del Mar, die nach der Ankündigung der Schließung ihrer Uni gut ein Jahr das Universitätsgebäude besetzen, fasst die Situation der Studierenden nach dieser Nachricht wie folgt zusammen:

"Wir konnten uns rein rechtlich gesehen auf nicht stützen. Aus einer Perspektive der Absicherung von uns als Studierenden konnten wir uns nicht einmal auf das Bildungsministerium berufen. Das Ministerium stand am Rand dieser Auseinandersetzung und hatte nicht die nötigen Mittel zur Kontrolle. Schließlich handelte es sich ja um eine private Universität."

Dass sich in einem solchen System die Idee durchsetzt, ein Hochschulstudium diene nur einem individuellen Nutzen, ist nicht verwunderlich. Die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Absicherungen privater Interessen im Bildungsbereich und schließlich auch der Wandel des Verständnisses von Bildung in der Gesellschaft ließen Bildung in Chile zu einer Ware werden.

Gegen dieses Verständnis von Bildung als individuellem Konsumgut und für ein neues öffentliches und kostenfreies Bildungssystem, dessen Qualität vom Staat garantiert wird, mobilisieren Studierende und Schüler_innen in Chile seit über zehn Jahren. Den bisherigen Höhepunkt der Studierendenproteste stellt das Jahr 2011 dar. Damals sorgten die protestierenden Jugendlichen in Chile weltweit für Aufmerksamkeit. Es kam zu den größten Demonstrationen seit dem Ende der Diktatur."

Zahlreiche Universitäten und Schulen wurden monatelang besetzt (Azócar/Mayol 2013: 51). Die Fassade des neoliberalen Vorzeigeprojektes begann zu bröckeln und es wurde dabei ein Konflikt sichtbar, der seit Jahren im Innersten der chilenischen Gesellschaft, angelegt war (Fernández 2014: 16). Doch die Proteste tauchen weder erst im Jahr 2011 plötzlich auf, noch verschwinden sie danach wieder, was sich aus der Ferne und dem Verschwinden des Themas aus der internationalen Berichterstattung vermuten ließe. Der Kampf um ein öffentliches Bildungssystem geht weiter.

Florentina ist Studierende für Veterinärmedizin und nimmt gemeinsamen mit ihren Kommiliton_innen an dieser letzten; großen Studierendendemonstration des Jahres teil, die sich vom berühmtem Plaza Italia über die Straße Alameda am Regierungspalast vorbei bewegt. In den nächsten Wochen werden sich die ganzen Kräfte der Studierendenorganisationen auf die Wahlen der Studierendenvertretungen richten. Seit dem Höhepunkt der Bewegung im Jahr 2011 sind diese Wahlen zu einem Spektakel von nationalem Interesse geworden. Die Bekanntgabe der Wahlergebnisse wird von mehreren Fernsehteams verfolgt.

"Das Jahr 2016 wird ein entscheidendes Jahr für uns werden. Denn schlussendlich wird nun über die Bildungsreform entschieden. Wir als Studierende wollen ein relevanter Akteur in diesem Prozess sein und hoffen, dass die Reform so weit wie möglich auf unsere Forderungen eingehen wird."

Dennoch beklagen die Studierenden sich über eine fehlende Partizipation an den Reformprozessen. Marta, Sprecherin der CONFECH kritisiert, dass die Regierung ihre Pläne nicht für die Bevölkerung transparent mache und die Studierendenorganisationen in die Gestaltung der Bildungsreform nicht einbezogen würden. Informationen über den Fortschritt der Reform bekämen sie oftmals zuerst aus den Medien statt aus den Treffen mit Vertreter_innen des Bildungsministeriums, so Marta. Die Studierendenorganisationen hoffen die Proteste im kommenden Jahr weiter aufrecht erhalten zu können, um Einfluss auf den Fortgang der Reformprozesse ausüben zu können.

Es geht ihnen dabei nicht nur um eine Bildungsreform. Sie fordern eine tiefgreifende Transformation des politischen Systems. Das Thema Bildung ist dabei zentral und dennoch ist dies nicht der einzige gesellschaftliche Bereich in dem die Militärdiktatur und die mit dieser einhergehenden neoliberalen Reformen ein nur schwer zu beseitigendes Erbe hinterlassen haben.


Anmerkung:

1) "Gratuidad sin transformar no es avanzar"


Literatur:

AZÒCAR, Carla; MAYOL, Alberto. Soziale Bewegungen seit 2011. In: Willi Baer/Karl-Heinz Dellwo [Hg], Postdiktatur und soziale Kämpfe in Chile. Hamburg: Laika Verlag 2013, 51-74.

CODOCEO, Fernando. Demokratische Transition in Chile Kontinuität oder Neubeginn? Berlin, Aachen: wvb Wiss. Verlag Berlin 2007.

CONFECH. Qué Chile decida. 2015.: URL: www.quechiledecida.cl (Zugriff: 17.10.2015).

FERNÁNDEZ, Rodrigo; ALENCO, Alencon; CASSORLA, Ignacio; ARANEDA, Camilo; SANHUEZA, José Miguel. El poder económico y social de la Educación Superior en Chile. Santiago de Chile: CEFECh 2014.

GUTIÉRREZ, Enrique. Una vez más, marchan jóvenes en Chile por reforma educativa; 15.10.2015, in: La Jornada,
www.jornada.unam.mx/ultimas/2015/10/15/una-vez-mas-marchan-jovenes-en-chile-por-reforma-educativa-7682.html (Zugriff: 16.10.2015).

SAAVEDRA, Valentina; FERNÁNDEZ, Nicolás. Gratuidad sin transformar no es avanzar. 06.10.2015, in: El Mostrador,
www.elmostrador.cl/noticias/opinion/2015/10/06/gratuidad-sin-transformar-no-es-avanzar/

TORCHE, Florencia. Privatization Reform and Inequality of Educational Opportunity: The Case of Chile. Sociology of Education 78 (2005)

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Quelle:
graswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 404, Dezember 2015, S. 16
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2015

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