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GRASWURZELREVOLUTION/1590: Spanien 36 heute - Interview mit der Infogruppe Bankrott, 2. Teil


graswurzelrevolution 411, September 2016
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Spanien 36 heute

Ein Interview mit fünf Mitgliedern der Infogruppe Bankrott zu Effekten und Gegenwart der Spanischen Revolution 80 Jahre danach (Teil 2)


Die Infogruppe Bankrott besteht aus Freundinnen und Genossinnen im deutschsprachigen Raum, die von 1992 bis in die 2000er Jahre in Münster den Infoladen Bankrott betrieben und dabei auch Zeitzeugen der Spanischen Revolution kennengelernt haben. Teil 1 des Interviews mit fünf Bankrotteuren erschien im Sommer in der GWR 410.
(GWR-Red.)


3. Erinnerungspolitische Konjunkturen

Graswurzelrevolution: Die offizielle Erinnerungspolitik oder das kulturelle Gedächtnis im deutschsprachigen Raum kennt die Spanische Revolution eigentlich kaum.

Zu sehr war die Erinnerung an den Bürgerkrieg geprägt von den ehemaligen InterbrigadistInnen - rund 5.000 Deutsche und ÖsterreicherInnen waren Teil der Internationalen Brigaden -, einige von ihnen saßen jahrelang etwa an zentralen Stellen des Regimes in der DDR.

Unter Linken begannen einerseits in den 1980er Jahren die ersten Aufarbeitungsversuche und Demystifizierungen - etwa in Form des Buches von Thomas Kleinspehn und Gottfried Mergner: Mythen des Spanischen Bürgerkriegs (1989). (12) Andererseits tobte der innerlinke Kulturkampf aus dem Bürgerkrieg weiter: konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza schrieb im Vorwort zu einem Buch des kommunistischen Spanienkämpfers Fritz Teppich noch 1986 (1996 unverändert wieder aufgelegt), der "sog. freiheitliche, demokratische oder libertäre Sozialismus" verhindere "eine real mögliche Befreiung von jeder Mehrwertegemeinschaft". (13)

Solche Diffamierungen wurden dann 2006 kaum mehr verbreitet, der 75. Jahrestag 2011 fiel dann publizistisch gesehen fast völlig aus. Wie wertet ihr diese erinnerungspolitischen Konjunkturen?

Daniel: Warum sollte eine bürgerliche Gesellschaft sich an eine libertäre Revolution erinnern? 'Der autoritäre Sozialismus hat in Deutschland - Bakunin sei Dank - nicht mehr die Kraft, andere Revolutionsmodelle zu diskreditieren oder sie sich einzuverleiben, und die anarchistische Bewegung ist auch nicht so stark, dass man eine großartige Erinnerungskultur erwarten könnte.

Petz: Es ist nicht so einfach, dass eine bürgerliche Gesellschaft per se einer Revolution nicht gedenkt, die sich gegen sie gerichtet hat. Schließlich gibt es - vom Nationalsozialismus mal abgesehen - wohl kaum eine Zäsur in Mitteleuropa, die mit einer derartigen Fülle von Kommentaren, Berichten und nicht zuletzt Studien versehen worden ist (und immer noch wird) wie die "1968er Jahre". Auch die hatten ja einen starken, wenn auch nicht einheitlichen anti-bürgerlichen, anti-kapitalistischen Zug.

Von HistorikerInnen ist der Spanische Bürgerkrieg immer wieder als eine der zentralen Konflikte des 20. Jahrhunderts beschrieben worden. Es verwundert schon, dass der Revolution - außerhalb von den Geschichtswissenschaften und der anarchistischen Szene - so wenig Aufmerksamkeit zukommt. Es gab ja schließlich nicht "nur" selbstverwaltete Fabriken und kollektivierte Landwirtschaftsbetriebe, sondern auch eine enorme Alphabetisierungsleistung, Hunderte von Intellektuellen, die sich für die Revolution eingesetzt haben, mit den Mujeres Libres die größte feministische Organisation des 20. Jahrhunderts usw. usf., d.h. Anknüpfungspunkte auch für das bürgerliche Feuilleton, für politologische Demokratisierungsdebatten und soziologische Milieufragen gäbe es genug. Sicher waren die Akteurinnen und gewissermaßen nachgeborene AnarchistInnen nach 1945, zu schwach, um sich im Kampf um hegemoniale Geschichtsbilder bemerkbar zu machen oder gar durchzusetzen. Dennoch bleibt es mir ein Rätsel.

Bernd: Ich denke, dass der etatistische "Sozialismus" mit dem Verschwinden der DDR und der UdSSR auch in der hiesigen Linken massiv an Bedeutung verloren hat. Die "konkret" bekommt schon lange kein Geld mehr aus der DDR. Gleichzeitig sind anarchistische Konzepte sogar in Kreisen der einstmals stalinistisch geprägten PKK, aber auch in Teilen des bürgerlichen Feuilletons der Bundesrepublik einigermaßen en vogue. Dazu haben US-amerikanische Anarchisten wie David Graeber (ein gern gesehener Talkshowgast), Noam Chomsky, Howard Zinn und (posthum) Murray Bookchin beigetragen, ebenso die britische Anarchafeministin Laurie Penny. Das ist erfreulich. Von einer anarchistischen Massenbewegung, wie es sie 1936 in Spanien gab, "sind wir hierzulande aber Lichtjahre entfernt. Wir Anarchistinnen und Anarchisten bleiben Außenseiter, werden aber nicht mehr unbedingt nur als "Terroristen" oder "kleinbürgerliche Pseudorevolutionäre" gesehen.

Heute ist es eine Herausforderung, an Spanien 36 zu erinnern, weil die ZeitzeugInnen, von denen wir Bankrottis noch einige kennenlernen durften, mittlerweile unter der Erde liegen.

Eine erinnerungspolitische Konjunktur kann heute also nur von "nachgeborenen" AnarchistInnen ausgehen. Wir können dazu beitragen, Geschichte von unten wach zu halten, fortzuschreiben und Wissen weiter zu geben. Das kann in den wenigen verbliebenen anarchistischen Medien und Kleinverlagen stattfinden, aber kaum in der pro-kapitalistischen Mainstreampresse. Wir agieren als Minderheit. Auch in der anarchistischen Szene gibt es etliche, die sich für die Geschichte der Spanischen Revolution kaum interessieren. Dabei können wir aus "Spanien 36" mehr lernen, als den meisten bewusst ist. Wir können einen Vorgeschmack auf den libertären Sozialismus bekommen. In diesem Zusammenhang möchte ich aus "Mein Katalonien", George Orwells bewegendem Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg aus dem Jahre 1937, zitieren:

"Vor allen Dingen aber glaubte man an die Revolution und die Zukunft. Man hatte das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht zu sein. Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine. In den Friseurläden hingen Anschläge der Anarchisten (die Friseure waren meistens Anarchisten), in denen ernsthaft erklärt wurde, die Friseure seien nun keine Sklaven mehr." Der undogmatische Sozialist George Orwell beschrieb die geistige Atmosphäre des libertären Sozialismus, die er 1937 im anarchosyndikalistischen Barcelona erlebte: "Viele normale Motive des zivilisierten Lebens - Snobismus, Geldschinderei, Furcht vor dem Boss und so weiter - hatten einfach aufgehört zu existieren. Die normale Klasseneinteilung der Gesellschaft war in einem Umfang verschwunden, wie man es sich in der geldgeschwängerten Luft Englands fast nicht Vorstellen kann. Niemand lebte dort außer den Bauern und: uns "selbst, und niemand hatte einen Herrn über sich. Natürlich konnte dieser Zustand nicht andauern [...]. Aber es dauerte lange genug, um jeden, der es erlebte, zu beeindrucken. Wie sehr damals auch geflucht wurde, später erkannte jeder, dass er mit etwas [...] Wertvollem in Berührung gewesen war. Man hatte in einer Gemeinschaft gelebt, in der die Hoffnung normaler war als die Gleichgültigkeit oder der Zynismus, wo das Wort Kamerad für Kameradschaft stand und nicht, wie in den meisten Ländern, für Schwindel. Man hatte die Luft der Gleichheit eingeatmet."

Baxi: Nun, für einen solchen Konflikt braucht es ja gemeinhin zwei Seiten, und die eine fehlt: nämlich die der kommunistischen Parteien, denen der Mauerfall und der Zusammenbruch des Ostblock-Imperiums in Westeuropa langfristig nicht gut bekommen sind.

Der enorme Boom nicht nur der Anarchismusforschung, sondern auch von Organisationsprinzipien oder Entscheidungsfindungsverfahren in den neuen sozialen Bewegungen, die sich zumindest an anarchistische Ideen anlehnen, scheint die politischen Kräfteverhältnisse ja regelrecht umgekehrt zu haben.

Auf einmal ist der Anarchismus "in", "hip" oder "schick", und keiner knurrt mehr: "Geh' doch nach drüben!", weil eine jüngere Generation von Aktivistinnen und Aktivisten dann wohl nur denken würde: "Wie? Ins Nebenzimmer?"

Paradoxerweise hat diese Frischzellenkur des Anarchismus einerseits die Erinnerung an den Bürgerkrieg für viele junge Genossinnen und Genossen in die Mottenkiste gestopft - mit Geschichten aus den Zeiten scharfer ideologischer Konkurrenz kann man offenbar bei Occupy oder den Indignados wenig anfangen -, aber andererseits tauchen die alten Bruchlinien und Zankäpfel trotzdem immer wieder auf. Wenn auch oft "nur" im kulturellen Bereich.

Als z.B. das mit Recht berühmte und gelobte Bear-Family-Lable vor kurzem eine sündhaft teure Box mit Liedern aus dem Spanischen Bürgerkrieg herausbrachte, da fanden sich genau zwei (!) anarchistische Hymnen in der Sammlung. Und das, obwohl die Anarchisten während des Bürgerkriegs, ganz im Sinne ihrer kulturrevolutionären Utopie, Lieder und Gedichte fast wie am Fließband hergestellt hatten, von denen viele aus der Feder kaum geschulter Genossinnen und Genossen stammten. Stattdessen durfte man eine kulturelle Gewichtung erleben, die auch in der alten DDR ihren Weg in die Läden hätte finden können. Die kulturpolitischen Mythen der ehemaligen Antagonisten von links sind nach wie vor lebensfähig und einflussreich. Vielleicht hat aber der Spanische Bürgerkrieg tatsächlich seine Anziehungskraft als Baustein für eine alternative politische Identität weitgehend verloren - sowohl in Spanien als auch in Europa und den USA. Das vermag ich allerdings nicht wirklich zu beurteilen. Ich habe, wenn ich in die englischsprachigen anarchist studies hineinschaue, eigentlich nicht diesen Eindruck. Im Gegenteil: Da geht es mit oft immer noch viel zu parteiisch zu.

4. Ereignisgeschichte

GWR: Der libertäre Kommunalist Murray Bookchin (1921-2006) hat in seinen kürzlich posthum auf Deutschen erschienenen letzten Texten eine Abkehr vom Anarchismus vollzogen, dem er Jahrzehntelang zugeneigt war. Er begründet das auf verschiedenen Ebenen, u.a. an einer veränderten Einschätzung hinsichtlich der "Spanischen Revolution: Die CNT-Führung habe nicht zwischen Staat und Politik unterschieden und es vor diesem begrifflichen Hintergrund "versäumt, eine "Arbeiterregierung" zu errichten, also die Macht zu ergreifen. (14) Wie seht ihr das?

Bewi: Der Vorwurf ist historisch amüsant, weil" die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA) seinerzeit von Amsterdam aus genau den gegenteiligen Vorwurf gemacht hat, und zwar unter Federführung der deutschen FAUD: Gerade die Beteiligung an der Regierung, also an der staatlichen Macht, wurde der CNT zum Vorwurf gemacht.

Amüsant ist das vor allen Dingen, weil dieser Dogmatismus sich in den 1990er Jahren umgekehrt hatte und fundamentalistische Strömungen in der CNT schon den kleinsten reformerischen Gewerkschaftsgedanken sofort als "Verrat an der Sache" diffamiert haben.

Das hat, neben zahlreichen anarchosyndikalistischen Organisationen in der IAA, auch Murray Bookchin und sein "libertärer Ökosozialismus" zu spüren bekommen und das wird seine Abkehr vom Anarchismus mit verursacht haben.

Die politische Gemengelage 1936 war ja nun sehr heikel und das Dilemma, das Karl-Heinz Roth und Marcel Van der Linden z.B. im Vorwort zu Michael Seidmans "Gegen die Arbeit" beschreiben, ist in der Situation kaum lösbar. Und das lässt sich auf fast alle anderen historischen revolutionären Situationen übertragen: Diese waren fast immer mit Kriegen oder Bürgerkriegen verbunden und immer stellte sich die Frage: Hat nun das Gewinnen des Krieges oder die soziale Umstrukturierung Priorität? Die internationale Unterstützung gegen den Francismus war ziemlich marginal. Wer hätte noch eine libertäre Arbeiterregierung unterstützt? Stalin schon mal nicht, Cardenas in Mexiko vielleicht, schließlich war die "institutionalisierte Revolution" dort schon so eine Art (historisch gescheiterter) Staatssyndikalismus. Wenn wir daraus eine Prinzipienfrage machen, würde ich sagen: Ja, im Zweifel muss man die Verwaltung in einer solchen Situation soweit übernehmen, dass man das "Arbeiterregierung" nennen kann. Aber erstens kann man sich nicht anmaßen, diese Entscheidung für sozial denkende Menschen vor 70 Jahren zu fallen, zweitens gab es damals die entsprechenden Diskussionen und drittens kann man nun mal gar nicht behaupten, dass eine solche Strategie das Ruder irgendwie rumgerissen hätte.

Menschen aus der Geschichte Versäumnisse Vorzuwerfen, ist eh' müßig. Und in dem Sinne kann man auch nicht aus der Geschichte lernen - nur weil irgendetwas damals vielleicht anders funktioniert hätte, heißt das noch lange nicht, dass es das das nächste Mal tun würde. So genau wiederholt Geschichte sich nicht.

Daniel: Hierzu kann ich wenig sagen, weil ich Bookchins Text nicht kenne. Aber ich bezweifle, dass auf Grund der militärischen Übermacht der Putschisten und ihrer Unterstützung durch Deutschland und Italien bei gleichzeitiger Zurückhaltung der bürgerlichen Demokratien in Spanien mehr möglich gewesen wäre als ein kurzer Sommer.

Petz: Ich kenne mich historisch zu wenig aus, um Bookchins These wahr oder falsch nennen zu können. Enzensberger schreibt ja auch schon über die AnarchistInnen, "der unbedingte moralische Anspruch, den sie an sich selbst und an ihre Bewegung stellten, trug zu ihrem Verhängnis bei." (15)

Bookchins These verstehe ich als Reaktion darauf. Allerdings scheint mir seine eingeforderte Unterscheidung zwischen Staat und Politik theoretisch etwas grobschlächtig und politisch heikel. Dass die Skrupel im Hinblick auf die Machtausübung einfach mit einer Definition, also einer begrifflichen Begrenzung aus dem Weg zu räumen sind, halte ich für fraglich. Denn wo ist die Grenze, an der man sagt, hier ist die Macht in den Händen der BürgerInnen selbst, wie Bookchin schreibt, hier entscheiden sie autonom und da schon die Bürokratie und "der Staat"? Ich fürchte, das Dilemma von 1936 ist genau deshalb entstanden, weil die Übergänge fließend sind.

Man setzt da in der anarchistischen Tradition gerne die BürgerInnen oder wahlweise die sozialen Bewegungen oder "das Volk" als positives Gegenüber zur staatlichen Organisation von Politik und Leben. Im Spanien der 1930er Jahre war das "pueblo" ("Volk") als Träger revolutionärer Hoffnungen sicherlich vor allem ein Klassenbegriff und meinte sozialstrukturell "die von unten".

Das gilt im Übrigen ja auch für die antiimperialistische Tradition etwa in Lateinamerika. In Deutschland ist diese Konnotation mit der breiten Unterstützung für den Nationalsozialismus unmöglich geworden, das Volk ist hier vom Völkischen kaum mehr zu trennen. Letztlich machen aktuelle Entwicklungen wie die Pegida-Bewegung klar, dass "soziale Bewegung" oder "BürgerInnen" auch keine Subjekte sind, auf die man an sich aus emanzipatorischer Sicht setzen kann. Immer hat man es mit Kräfteverhältnissen zu tun, in denen sich eben auch ultrarechte Gruppen und Praktiken als Bewegung formieren können. Damit hat sich die anarchistische Theorie meines Erachtens zu wenig beschäftigt.

Baxi: Ich bin nicht so furchtbar interessiert an dem, was Murray Bookchin, zumal posthum, sagt, denkt, schreibt und tut. Das sei bei allem Respekt vor seinen sozioökologischen Schriften aus den achtziger Jahren gesagt. Ich sehe im Grunde mit milder Erheiterung, wie dieser letzten Veröffentlichung so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird: Seit wann braucht man auf Seiten des Anarchismus Vordenker, Gurus oder ideologische Autoritäten? Was ist so bedeutend an Bookchins Verkündigung von jenseits des Grabes: "Ich spiel' jetzt nicht mehr mit."? Man kann wahrlich viel an den Handlungen der organisierten Anarchistinnen und Anarchisten während des Bürgerkriegs kritisieren. Aber was soll's? Soll man seine tiefschürfenden Erkenntnisse in ihre Gräber hinein murmeln?

Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass es grundsätzlich albern ist, anzunehmen, der Anarchismus des frühen 21. Jahrhunderts in den USA sei der gleiche wie der Anarchismus des frühen 20. Jahrhunderts in Spanien. Der englische Anarchismusforscher Sharif Gemie hat einmal sehr schön gesagt, eigentlich sei es die Aufgabe einer kritischen Anarchismusforschung, genau zu betrachten, wie dessen universale Ziele auf nationaler, regionaler oder sogar lokaler Ebene zu bestimmten Zeiten in die Tat umzusetzen versucht wurden. Und das konnte sehr, sehr unterschiedlich ausfallen. Bookchins allgemeine ideologische Kehrtwenden mag für seine Anhängerinnen und Anhänger beeindruckend sein. In den USA wird er ja in einigen (ansonsten durchaus vernünftigen) Kreisen fast schon wie ein Sektenführer verehrt.

Für die Forschung ist sein Positionswechsel eher unerheblich, weil derartige Darbietungen - auch bei Bookchin - oft viel zu oberflächlich daherkommen.

Und abschließend: Was ist so originell an der Forderung, revolutionäre Kräfte müssten "die Macht" übernehmen? Haben wir den alten Vater Lenin schon so sehr vergessen, dass wir nun für Murray Bookchin eine Dankeskerze entzünden müssen, seiner großen innovativen geistigen Brillanz wegen?

Wer 80 Jahre zu spät für den Spanischen Bürgerkrieg nach autoritäreren Anarchistinnen und Anarchisten verlangt - wobei, nebenbei bemerkt, die CNT ihre Strukturen während des Kriegs tatsächlich fortgesetzt hierarchisierte und trotzdem verlor! -, dem empfehle ich zur Lektüre einen sehr erheiternden sogenannten uchronischen Roman, also einen Roman, der die tatsächliche historische Ereignisfolge auf den Kopf stellt: En el dia de hoy [Am heutigen Tag]. En el dia de hoy war der erste Satz jener Radioansprache, die am 1. April 1939 das Ende des Bürgerkriegs und den Sieg Francos verkündete. In dem Roman hat Franco den Bürgerkrieg verloren (!), und es wird mit viel spöttischer Phantasie durchgespielt, was dann geschieht. Auch wenn der Anarchismus stark vernachlässigt wird: eine lohnende Lektüre für alle, die vom politischen "Was-wäre-wohl-gewesen-wenn ..." einfach nicht lassen können. Bookchin, ruhe in Frieden.

Bernd: Vielleicht hat sich der in jungen Jahren vom Marxisten zum Öko-Anarchisten gewandelte Murray Bookchin im Alter zum verbitterten Arroganzling entwickelt? An AnarchistInnen habe ich den Anspruch, dass sie zuhören können. Ich möchte empathisch, neugierig und offen sein für neue Ideen, auf Menschen zugehen, aus der Geschichte lernen. Das traf im Alter auf Bookchin aber kaum noch zu. Mir kommt der späte Bookchin vor wie ein mit dem Zeigefinger herumfuchtelnder Besserwisser, der sich als Richter über die Vergangenheit und andere Menschen aufspielt. Ein Freund von mir, der gewaltfreie Anarchist und GWR-Mitherausgeber Lou Marin, hat Bookchin noch persönlich erlebt. Als ihn Lou 1999 bei einer Konferenz in Plainfield kennenlernen wollte, kanzelte Bookchin ihn "mit dem unqualifizierten Hinweis [ab], er brauche dort keine Gandhi-Anhänger", so Wolfgang Haug in der GWR 406. "Als dies 1999 geschah, begann sich Murray unter dem Eindruck manch bösartiger Angriffe US-amerikanischer Anarchisten gerade vom Anarchismus abzulösen."

Bookchin hat sich leider nie ernsthaft mit gewaltfreiem Anarchismus beschäftigt. Er war ein Anti-Gewaltfreier. Das ist schade, schmälert aber nicht die Verdienste, die er sich durch seine Schriften für den Anarchismus erworben hat.

Fortsetzung nächste GWR

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Quelle:
graswurzelrevolution, 45. Jahrgang, Nr. 411, September 2016, S. 20-21
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2016

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