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GRASWURZELREVOLUTION/1619: Selbstzerfleischungstendenzen


graswurzelrevolution 414, Dezember 2016
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Selbstzerfleischungstendenzen

Wie reagiert die französische Linke auf den drohenden Wahlsieg der Rechtsnationalistin Marine Le Pen?


Was macht die französische linke und die anarchistische Bewegung derweil - angesichts des Bedrohungspotentials einer möglichen FN-Präsidentin Marine Le Pen?


Eine erste Antwort gab endlich - erstmals nach mehr als fünf Jahren - wieder auf der Straße eine mächtige Sozialbewegung, die Jugendbewegung ("Nuit Debout") und die Gewerkschaftsbewegung gegen das Arbeitsgesetz der PS-Regierung im April/Mai 2016.

Bei näherem Hinsehen müssen dort jedoch interne Auseinandersetzungen festgestellt werden, die im Verlauf der Bewegung zunahmen und destruktiv wirkten: Es gab unter den jugendlichen DemonstrantInnen eine zwar minoritäre, aber unübersehbare Fraktion von anarchistischen "InsurrektionalistInnen" (Strömung, die den unmittelbaren gewaltsamen Aufstand propagiert), die bei den Mobilisierungsdemonstrationen der Gewerkschaften immer wieder versuchten, die Spitze der Demo zu okkupieren und die Demo dann umzufunktionieren und umzulenken in eine Art revolutionäre Spontandemo ("manif sauvage"; wilde Demo genannt), die irgendeine Institution der Herrschenden oder auch Parteibüros der PS ansteuern und möglichst physisch angreifen sollte.

Die Gewerkschaften machten dies natürlich nicht mit und verschafften sich mit Hilfe ihrer nicht grade sensibel vorgehenden Muskelmänner in Ordnungsdiensten wieder Zugang zur ursprünglichen Demoroute. Dabei wurden sie mehrfach - und in Abwesenheit von Polizei - von jugendlichen Militanten der InsurrektionalistInnen physisch angegriffen, so dass es zu ziemlich sinnlosen Scharmützeln zwischen InsurrektionalistInnen und CGT-Ordnungsdiensten kam.

Philippe Martinez, der neue, eher undogmatische und einen radikaleren Kurs verfolgende Vorsitzende der CGT, distanzierte sich daraufhin öffentlich von den jugendlichen Militanten, während Letztere in Flugblättern und Wandsprayereien die Gewerkschaften als Bollwerk der Reaktion brandmarkten - dies wiederum genau zu dem Zeitpunkt, als die CGT ihre radikalsten direkten Aktionen durchführte, nämlich die Blockaden der Ölraffinerien und der Treibstoffdepots, welche zu enormen Engpässen an Tankstellen Ende Mai führten und sicher die Phase darstellten, in der die Regierung am ehesten ins Wanken gebracht werden war. Trotz der CGT-Distanzierung von den institutionalistischen Militanten haben sich übrigens die anderen anarchistischen Organisationen wie etwa die Fédération anarchiste (FA) oder die anarchosyndikalistische CNT solidarisch an den Raffinerie- und Depotblockaden der CGT beteiligt.

Den InsurrektionalistInnen muss hier eine falsche Unmittelbarkeit vorgehalten werden, sie glaubten tatsächlich, aus der Bewegung gegen das Arbeitsrecht könne direkt zur "Revolution" übergegangen werden, gleichwohl sie faktisch nichts weiter repräsentierten als eine Minderheitenfraktion auch innerhalb der Jugendbewegung: So taten sie sogar noch die Aktionen von "Nuit Debout" sowie deren basisdemokratische Diskussionen als bourgeoise Happenings mit Festcharakter ab.

Der Insurrektionalismus zeigte sich dadurch als höchst sektiererische Strömung innerhalb der sozialen Bewegung, unfähig zur Analyse des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse: Denn während innerhalb der Sozialbewegung die brutalen Polizeieinsätze gegen Jugendliche kritisiert wurden, muss in eine solche Gesamtanalyse mit einbezogen werden, dass die AnhängerInnen des Front National fast zeitgleich angesichts des islamistischen Attentats in Nizza vom Juni 2016 frenetisch nach mehr Polizei riefen. Die Polizei war also keineswegs so entlegitimiert, wie es die InsurrektionalistInnen gesehen hatten, doch das entglitt ihrem analytischen Gesichtsfeld.

Der Charakter der sozialen Bewegung gegen das Arbeitsrecht war - realistisch gesehen - der einer Bewegung zur Verteidigung der minimalsten sozialen Errungenschaften und hätte erst breiteren gesellschaftlichen Einfluss erringen müssen, bevor aus ihr eine revolutionäre Perspektive hätte erwachsen können. Im Kontext eines FN-WählerInnenpotentials von 30 und mehr Prozent der Wahlbevölkerung ist die Behauptung einer unmittelbaren revolutionären Perspektive eine Halluzination, die von den gegebenen sozialen Kräfteverhältnissen absieht und im Gegenteil sogar in Kauf nimmt, dass der neorechte Mob im Notfall sogar vom Front National aufgehetzt wird und gegen eine gesellschaftlich weit in der Minderheit bleibende Sozialbewegung physisch aggressiv wird.(1)

Sektiererische Tendenzen der antirassistischen Fraktion einer "Rassialisierung"

Genau in diesem Kontext einer gesamtgesellschaftlichen Rechtsentwicklung vor und nach der Trump-Wahl zeigt sich in Frankreich noch ein zweiter innerlinker Konfliktherd von großer spalterischer Sprengkraft: Innerhalb der Banlieues und unter den maghrebinischen und schwarzafrikanischen MigrantInnen und Jugendlichen ist eine Strömung entstanden, die jener der im deutschen politischen Raum bekannten "Critical Whiteness" (vgl. GWR 413) entspricht und gegenüber linken Zusammenhängen unter einem recht pauschalisierten Vorwurf des Rassismus und Kolonialismus sogar zu Gewalt greift.

Nach dem Islamforscher Gilles Kepel ist diese Strömung die Folge einer bestimmten historischen Entwicklung: Im Oktober 1983 fand der inzwischen legendär gewordene "Marche pour l'égalité et contre le racisme" (Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus) statt, der später schon identitär aufgeladen wurde in "Marche des Beurs" (Marsch der in Frankreich geborenen Einwandererkinder).

Zu dieser Zeit waren die maghrebinischen und schwarzafrikanischen Jugendlichen der Vorstädte zur Integration unter den Bedingungen des Respekts und der Gleichheit noch bereit.(2)

Diese Bereitschaft wurde aus der Sicht der BewohnerInnen der Vorstädte inzwischen tausendmal durch die Praxis der republikanischen Polizei und Gesellschaft konterkariert, die, obwohl angeblich die Verfassung eine rassistische Einteilung verbietet, täglich mehrfach rassistische Gesichtskontrollen nach Hautfarbe durchführt oder keine Arbeitsplätze an Leute aus Schulen in Banlieues vergibt.

Diese jahrzehntelange Erfahrung hat zu zwei Formen identitären Rückzugs bei jugendlichen MaghrebinerInnen und frankophonen SchwarzafrikanerInnen geführt: einmal dem identitären Rückzug in die Religion, dort mitunter zu Salafismus und islamistischem Terror mit den bekannten schlimmen Folgen; andererseits aber auch zu einem säkularen identitären Rückzug einer positiven Umdeutung als unterdrückte "Rasse" der Nicht-Weißen, oder, wie es im Französischen genannt wird, zum "racialsme", zur Rassialisierung.

Der Begriff "Rasse" wird dabei - entgegen auch einer langen linken und libertären Tradition in Frankreich - wieder positiv besetzt und entsprechend verwendet, etwa wie in den USA seit langem üblich.

Diese Rassialisierung wird oft mit unmittelbarer Anwendung von "Gegengewalt" gegen den vorherrschenden Rassismus der weißen Linken verbunden. Historisch-politische Referenzen dafür sind Black Power, Black Nationalism, die Black Panther Party in den USA oder auch die antikoloniale Gewaltpropaganda des Frantz Fanon im algerischen Befreiungskrieg.(3)

Dieser identitäre Rückzug in den Rassialismus hat jüngst zu enormen Problemen und sogar vereinzelt zu physischen Auseinandersetzungen innerhalb der französischen Bewegungslinken geführt: So wurde etwa der Bewegungstreff von über 40 Initiativen in Marseille, "Mille Babords" (Tausendmal Backbord, also links), am 28. Oktober 2016 anlässlich einer Veranstaltung, in welcher dieser Rückgriff auf einen positiv besetzten Begriff der "Rasse" kritisiert werden sollte,(4) von ca. 15, meist maghrebinischen AktivistInnen des Rassialismus gesprengt, wobei ohne jede vorherige Diskussion Stühle auf die Anwesenden geworfen wurden, die Vitrinen des Treffs zu Bruch gingen, mit Fäusten auf die Anwesenden eingeschlagen wurde, sie als "Rassisten" und "Kolonialisten" beschimpft wurden und in einem Fall sogar plötzlich einer Anwesenden direkt aus einer Tränengasdose ins Gesicht gesprüht wurde, wie es die französische Polizei bei Demoeinsätzen im Notstandsregime nicht brutaler hätte machen können.

In einer Zeit des Brexit und des Trump-Wahlsieges, in einer Epoche der weltweiten Rechtsentwicklung, in einer Periode des bedrohlichen Wählerzuwaches des Front National hat also die französische außerparlamentarische Linke nichts Besseres zu tun, als sich auf zwei inhaltlich wichtigen Feldern katastrophale, sektiererische Infights zu liefern, bei denen die aktuellen gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnisse komplett ignoriert werden.

Wenn das mal nicht bei den kommenden Präsidentschaftswahlen fürchterliche Folgen zeitigen wird.

Coastliner


Anmerkungen:

(1): Vgl. dazu die ausführliche Gesamtanalyse von Lou Marin: "Das letzte Gefecht für Frankreichs Regierung?", in: Zeitschrift Hintergrund, 3/2016, S. 52-55.

(2): Vgl. Gilles Kegel, Antoine Jardin: "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa", Verlag Antje Kunstmann, München 2016, besonders S. 37ff.

(3): Diese Position wird in der frz. Diskussion durch zwei Bücher begründet: Rafik Chekkat, Emmanuel Delgado Hoch (Hg.): "Race rebelle. Luttes des Quartiers populaires des annés 1980 à nos jours" (Rebellische Rasse. Kämpfe in den Vorstädten von den Achtzigerjahren bis heute), Éditions Syllepse, Paris 2011; sowie Houria Bouteldja: "Les Blancs, les Juifs et nous. Vers une politigue de l'amour révolutionnaire", Éditions la Fabrique, Paris 2016. Letzteres mit eindeutig antisemitischen Passagen.

(4): Diese Gegenposition wird vor allem vertreten in: Les amis de Juliette et du Printemps: "La Race comme si vous y étiez!' (Die Rasse, als ob Sie ihr angehören würden", Selbstverlag, ohne 0rtsangabe, zu bestellen über: colorblindisbeautiful@riseup.net

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Quelle:
graswurzelrevolution, 45. Jahrgang, Nr. 414, Dezember 2016, S. 7
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
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E-Mail: redaktion@graswurzel.net
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Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3,80 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2016

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