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GRASWURZELREVOLUTION/1764: Stichworte zum Postanarchismus - Privilegien


graswurzelrevolution Nr. 429, Mai 2018
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Stichworte zum Postanarchismus 4
Privilegien. Freiheit ist nicht die Seele des Fortschritts

von Oskar Lubin


Wer Nutzen zieht "aus den bestehenden Privilegien", ist nicht an Veränderung interessiert. Das versteht sich von selbst. Aber es schadet auch nicht, daran zu erinnern. Das tat etwa der Anarchist Errico Malatesta (1853-1932) in seinem anarchistischen Programm von 1899. (1) Die Möglichkeiten freien Experimentierens im Hinblick auf Wirtschaft und Zusammenleben würden radikal beschränkt von den Privilegierten, den Besitzern der Produktionsmittel. Sie wollen ihre Privilegien nicht abgeben. Aus anarchistischer Sicht müssen sie deshalb bekämpft werden (und zwar auch mit Gewalt, meinte Malatesta).


Dass Privilegien eine positive Haltung zum Bestehenden hervorrufen, zumindest der Tendenz nach, lässt sich wohl mir nichts dir nichts auf die Gesellschaften der Gegenwart übertragen. Die politischen Konsequenzen daraus sind allerdings alles andere als eindeutig.

Schon die Frage nach der Wahl der Mittel (Gewalt) gegen die Privilegien wirft Probleme auf, die weit über strategische Fragen hinausgehen. Malatesta fordert letztlich, die Privilegien zu bekämpfen, indem die Privilegierten bekämpft werden.

Das ist ganz prinzipiell moralisch fragwürdig. Auch die Privilegierten sind Menschen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist ihnen nicht abzusprechen. Und strategisch hat sich die Gewaltanwendung zur Gewaltabwehr historisch nicht gerade als effektiv erwiesen. In der Regel kam es zu noch mehr Gewalt.

Daneben - oder eigentlich dabei - gibt es noch ein weiteres Problem, eher auf der Ebene der Analyse als auf der der Praxis. Denn auch mit den Privilegien selbst ist es nicht so einfach. Bei der immer größer werdenden globalen sozialen Ungleichheit denkt man natürlich schnell an die 42 Milliardäre, die gegenwärtig so viel besitzen wie die 3,7 Milliarden Ärmsten der Welt zusammen. An die Besitzenden und Mächtigen. Aber Privilegien sind relativ.. Sie statten die einen mit besseren Mitteln und Möglichkeiten aus als die anderen. Sie finden sich auf allen Rängen des Sozialen, in jeder Nachbarschaft, in jedem Freundschaftsverhältnis. So kommt es, dass auch die sozialen Bewegungen selbst vor dem Privilegienproblem stehen.

Der legendenumwobene spanische Anarchist Buenaventura Durruti (1896-1936) kannte das Problem. Durruti begrüßte den Zuwachs der anarchistischen Bewegung von Menschen aus der Mittelschicht, von Studierenden und Schriftsteller*innen, aber, sagt Liberto Callejas in Hans-Magnus Enzensbergers Durruti-Biografie, "er forderte von ihnen, daß sie ihren Anspruch auf Privilegien aufgaben, daß sie sich mit dem Volk vereinten." (2) Mittelschichtsangehörige, Studierende und Schriftsteller*innen sind nicht unbedingt Besitzer*innen von Produktionsmitteln. Dennoch sind sie privilegiert gegenüber den meisten Arbeiter*innen.

So wie auch Männer gegenüber Frauen privilegiert sind, Weiße gegenüber Schwarzen, Heterosexuelle gegenüber Homosexuellen. Es gibt also auch Privilegien jenseits ökonomischer Ressourcen. Auch diese müssen bekämpft werden, wie Durruti fordert.

So fordern es heute auch viele Vertreter*innen der Intersektionalitätsforschung, die die Überkreuzungen (intersections) von Herrschaftsverhältnissen (Klasse, Ethnie, Geschlecht, Sexualität, ...) untersuchen. Und so fordern es auch die Critical Whiteness-Aktivist*innen, die das "Weißsein" als eine ethnische Zuschreibung erkannt haben, die Menschen mit Privilegien gegenüber anderen (nicht-weißen) ausstattet. Sie fordern den Privilegiencheck und Konsequenzen daraus.

Wenn du als weiß durchgehst und studierst, halte in Diskussionen um eine herrschaftsfreie Gesellschaft erst mal den Mund! Du bist privilegiert und nimmst durch die Wortergreifung dein Privileg in Anspruch und anderen die Redemöglichkeit weg. So in etwa die Argumentation.

Da ist aus anarchistischer Sicht sicherlich zuzustimmen, denn Anarchismus ist die wohlbegründete Aversion gegen Privilegien. Deshalb muss auch die eigene Position - das Weißsein, die patriarchale Prägung, die bürgerliche Sozialisation - hinterfragt werden. Und das erfordert in der Konsequenz auch Regeln, müsste aus postanarchistischer Sicht ergänzt werden. Regeln, die die Privilegierten begrenzen und den Unterprivilegierten einen Raum eröffnen.

Mit dem traditionsanarchistischen Diktum, dass die "Freiheit die Seele des Fortschritts" (3) ist, wie Emma Goldman meinte, ist das nur schwer in Einklang zu bringen. Denn traditionsanarchistische Ansätze kennen (meint: wollen) solche begrenzenden Regeln nicht. In libertären Kreisen aber sind Regulierungen heute längst üblich, von der Redezeit bis zur Triggerwarnung.

Dem Critical-Whiteness-Aktivismus ist aus anarchistischer Perspektive aber trotzdem auch zu widersprechen. Denn es wird mit Kategorien umgegangen - zum Beispiel mit Weißsein -, als wären sie und ihre Effekte in Stein gemeißelt. Aber Weißsein ist kein unabänderliches Faktum, es ist, wie das Privileg, eine relative Größe. Weiß ist man immer in Bezug auf etwas Anderes. Weißsein funktioniert nur manchmal privilegierend. Eine weiße Sozialhilfeempfängerin dem schwarzen Fußballnationalspieler gegenüber als privilegiert zu beschreiben, wäre offensichtlich etwas schräg. Nachts dem Fascho gegenüber vielleicht, in den meisten anderen Lebenslagen wohl kaum.

Zudem gibt auch innerhalb des Weißseins krasse Unterschiede, auch bezogen aufs Privileg. Auch hier verkennt offensichtlich Wesentliches, wer Wesensverwandtschaften behauptet, etwa zwischen der alleinerziehenden weißen Kindergärtnerin und dem weißen Konzernchef.

Und schließlich mag das Privileg eine politische Haltung wahrscheinlicher machen als eine andere. Festlegen tut es sie nicht. Aus der Gruppenzuschreibung ergibt sich nicht automatisch die Handlung oder Haltung. Weiße Linke sind eben auch Linke und nicht nur weiß. Auch Weiße können Antirassist*innen sein.

Vielleicht bietet dann doch wieder Malatesta einen Ausweg aus dem Essenzialismus, aus der behaupteten Wesensverbindung aller "Weißen". Er schreibt ziemlich am Anfang seines Textes einen wichtigen Satz: "Die gegenwärtige Gesellschaft ist das Resultat jahrhundertelanger Kämpfe zwischen den Menschen." (4) Resultate sind, wenn es um Gesellschaft geht, immer vorläufig. Sie sind veränderbar.

Und zwar durch neue Kämpfe. So könnte die Forderung nach Privilegienverzicht mit jener nach einer privilegienfreien Gesellschaft Hand in Hand gehen - ohne dass die eine bloße moralische Gesten und die andere lebensferne Propaganda zur Folge hätte. Wenn es auch eine Errungenschaft ist, dass Positionen offengelegt werden ("ich bin weiß..."), bringen Beichten ("... und deshalb schhldig") keine Emanzipation. Sie ist nur durch politische Positionierungen und politische Praxis möglich. Diese sollten darauf zielen, wer und was Privilegien schafft - von der Steuererleichterung für Unternehmen bis zur VIP Lounge. Und nicht so sehr auf vermeintlich feststehende Positionen. Aufs Tun und nicht so sehr aufs Sein. (Selbst wenn Sein immer auch durch Tun geschaffen wird.) Es geht um linke Gemeinsamkeiten und auch um gemeinsame Gegnerschaften.

Gegen diejenigen etwa, die die globale soziale Ungleichheit verschärfen. (Obwohl die Verschärfungen dann den weißen Werbetexter weniger hart treffen als die People of Color-Arbeiterin.) Aber um das Profitieren von Privilegien muss sicherlich gestritten werden. Dass gewaltfreies Kommunizieren dabei zweifellos mehr bringt als rhetorische oder physische Gewaltanwendung, wäre dann Thema für eine weitere Glosse.


Anmerkungen:

1) Errico Malatesta: "Ein anarchistisches Programm" [1899]. In: Ders.: Anarchistische Interventionen. Unrast Verlag, Münster 2014, S. 63-83, hier S. 68.

2) Hans-Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1977, S. 94.

3) Emma Goldman: "War mein Leben lebenswert?" [1934] In: Dies.: Anarchismus und andere Essays. Unrast Verlag, Münster 2013, S. 229-243, hier S. 242.

4) Malatesta 2013, a.a.0., S. 63.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 47. Jahrgang, Nr. 429, Mai 2018, S. 9
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2018

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