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GRASWURZELREVOLUTION/1830: Stichworte zum Postanarchismus - Praxis


graswurzelrevolution Nr. 435, Januar 2019
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Stichworte zum Postanarchismus 11
Praxis - Aufstand oder Aufstrich?

von Oskar Lubin


Den Brotaufstrich machen wir selbst, das Brot dazu ebenfalls, wir teilen ein Konto, ein Auto und viele Abos linker Zeitschriften. Den Männern wird die Redezeit beschnitten und die Bedeutung des Flusensiebs in der Waschmaschine erläutert. Das alles spielt in der Wohnküche unserer Wohngemeinschaft im Zentrum des Dorfes.


Und warum? Weil wir einen Anspruch an unser Leben haben, einen gemeinsamen Anspruch. Einige nennen diese Haltung anarchistisch. Das bedeutet, wir treffen uns nicht nur in linken Lesezirkeln und auf Demos, sondern wir setzen die Überzeugungen auch im Alltag um. Oder versuchen es zumindest. Das war in den 1990er Jahren. Aber das Primat der Praxis - gegenüber der Theorie, dem Denken, der Konzeption - ist ein Kern fast aller anarchistischen Ansätze, auch heute noch. Die herrschaftslose Gesellschaft soll im Prinzip schon im Hier und Jetzt vorweggenommen werden. Das erfordert persönlichen Einsatz. Begeistert von deren Aufstrich und Ernsthaftigkeit schreibt die Schriftstellerin Stefanie Sargnagel nach ihrem Besuch bei einem anarchistischen Sommercamp über die Anarchos: "Sie sind so lieb, aber so streng."(1) Das Strenge rührt daher, dass die Umsetzung im Hier und Jetzt in einer total verherrschafteten Welt selbstverständlich alles andere als einfach ist. Anstrengend. Die Strenge ist dem Versuch geschuldet, möglichst wenig falsch zu machen, möglichst wenig Kompromisse einzugehen.

Aber politische Praxis ist immer kontaminiert. So klug sie auch geplant, so aufrichtig sie auch durchgeführt wird, jeder Einkauf, jede Sozialversicherungsabgabe, jede Weihnachtsfeier mit den Eltern ist ein Kompromiss. Praxis kann da nur widersprüchlich sein, inkonsequent, kompromisslerisch.

Das muss keine deprimierende Erkenntnis sein. Denn auch aus Widersprüchen entsteht Konstruktives, auch Kompromisse können Emanzipation befördern. Aber erkennen sollte man sie schon. Auch AnarchistInnen sollten zur Kenntnis nehmen, dass es unter kapitalistisch-heteronormativen Verhältnissen kein pur anarchistisches Verhalten gibt.(2) Es ist nicht nur praktisch kaum zu verwirklichen, auch theoretisch ist die Vision einer Reinheit des Tuns abzulehnen! Denn die gängelt mehr als sie befreit. Das ist ein postanarchistisches Argument.

Andere Anarchismen teilen es nicht. So etwa der wieder in Mode kommende insurrektionalistische Anarchismus. Insurrektion bedeutet Aufstand und der soll, geht es nach Alfredo M. Bonanno, ohne Kompromisse und sogar bewaffnet durchgeführt werden. Bonanno hat seit den 1990er Jahren einige Bücher verfasst, die jetzt in der Reihe Konterband Editionen ("Neue Beiträge für eine anarchistische Revolution") in Zürich auch auf Deutsch veröffentlicht werden. Darin erklärt er unter anderem die Grundprinzipien des insurrektionalistischen Anarchismus: Konfliktualität, Selbstverwaltung und Angriff. Der Konflikt soll gegenüber allen Dingen und Personen gesucht werden, die die Klassenherrschaft aufrechterhalten. Unter Angriff wird "die Verweigerung jeglicher Abmachung, Vermittlungen, Befriedigung und Kompromiss mit dem Klassenfeind" verstanden.(3) Da fragt man sich, in welcher Welt Bonanno lebt. Denn in den westlichen Gegenwartsgesellschaften ist der Klassenfeind doch recht häufig nicht so leicht zu erkennen. Wo fängt er an, wo hört er auf? Außerdem wird er wohl begleitet vom komplexen Geflecht namens Sexismus, nicht zu vergessen die verschiedenen Formen und Konjunkturen rassistischer Herrschaft. Klasse ist nicht alles, wenn es um Herrschaft geht.

Wenn es weiter heißt, das Aktionsfeld des insurrektionalistischen Anarchismus bestünde in den "Massenkämpfen", muss man sich wohl auch fragen, wo diese Massen sind und für was sie - bei gegenwärtig zwischen 30 und 60 Prozent Zustimmung zu ultrarechten Positionen - eigentlich kämpfen. Kurz, der Insurrektionalismus konzipiert die Herrschaft, gegen die er den Aufstand machen will, doch äußerst simpel: Der Klassenfeind herrscht, die Massen werden unterdrückt. Dass es seit Etienne de la Boetié (1530-1563) auch eine Debatte um das Mitmachen, Partizipieren und Kooperieren der Beherrschten gibt, um die "freiwillige Knechtschaft" (de la Boetié), wird ignoriert. All die Versuche, diese Formen der aktiven oder passiven Beteiligung in eine anarchistische Theorie der Herrschaft zu integrieren, werden in den Wind der aktivistischen Tat geschlagen.

Aber nicht nur die Analyse des Insurrektionalismus ist vereinfachend, weltfremd und falsch. Auch seine politischen Schlussfolgerungen sind es. Vielleicht lässt sich der "Affinitätsgruppe" noch etwas abgewinnen, die Bonanno vorschlägt, weil die Gewerkschaften - die anarchosyndikalistischen Kleingruppen der FAU mal ausgenommen - sich in den letzten Jahrzehnten nicht gerade als die Speerspitze der Revolution hervorgetan haben. Die Affinitätsgruppe beschreibt Bonanno als eingeschworenen kleinen Kreis von Genossinnen und Genossen, mit denen gemeinsam man eben zu "revolutionärem Handeln" schreitet. Aber wenn es darum geht, was dieses Handeln ausmachen soll, ist es mit dem Abgewinnen schnell vorbei. Bonanno schreibt: "Der soziale bewaffnete Aufstand ist der einzige Weg, der zum Ziel der sozialen Befreiung führt: die Schöpfung der Anarchie." Was soll man dazu sagen? Es ist grotesk. Als könnte Gewalt je eine gute (ethische) Vorwegnahme der erstrebten gesellschaftlichen Ordnung bieten; als könnte Gewaltanwendung je Argumenten, Streiks, Blockaden, Besetzungen etc. als (politisches) Mittel überlegen sein; als könnte heute von irgendjemandem (strategisch) erreicht werden, was seinerzeit nicht einmal Che Guevara mit Charisma und bewegungskonjunkturellem Rückenwind gelungen ist, nämlich "die Massen" mit Gewalt für emanzipatorische Veränderungen gewinnen! Ethisch, politisch, strategisch - es gibt keine Ebene, auf der Bonannos insurrektionalistischer Vorschlag, der kein Vorschlag sondern ein Imperativ ist, diskutabel wäre. Klar, die Investoren und die Hedge-Fonds-Manager verdienen unseren Abscheu. Ebenso wie die Harvey Weinsteins und die Steve Bannons dieser Welt. Sie verschärfen soziale Ungleichheit, diskriminieren, entwürdigen, beuten aus. Sie bringen wissentlich Leid und Elend in die Welt.

Gegen sie und die Strukturen, die sie hervorbringen, brauchen wir Strategien und Bündnisse. Die erfordern eine differenzierte Herrschaftsanalyse und das praktische Eingeständnis, dass es ohne Kompromisse nicht geht. Sie erfordern auch eine eindeutig emanzipatorische Massenbewegung, wenn den Herrschenden Zugeständnisse abgerungen oder sogar Diktaturen gestürzt werden sollen, wie im Mai in Armenien praktisch geschehen. Für solche Bündnisse und Strategien ist das insurrektionalistische Sektierertum nur hinderlich.

Aber wahrscheinlich sind die meisten Anarchas und Anarchos heute doch ohnehin eher so, wie Stefanie Sargnagel sie beim Sommercamp kennengelernt hat: "Sie sind eigentlich insgesamt sehr vital und kräftig, weniger Suffpunks. Sie stehen relativ früh auf und machen irgendwas mit ihren Muskeln, Boxen üben oder Parcours, und dann diskutieren sie stundenlang über eine gerechte Welt und ihre PHDs und so was und bauen eine Dusche aus Holz."(4)


Anmerkungen:

(1) Stefanie Sargnagel: Statusmeldungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2017, S. 205.

(2) Verhalten, Handeln, Praxis und Tun werden hier gleichbedeutend benutzt, wohl wissend, dass es eine soziologische Diskussion um deren Verschiedenheit gibt. Aber dies ist eine Glosse und keine soziologische Abhandlung.

(3) Alle Zitate stammen aus der Online-Fassung von Alfredo M. Bonanno: Das aufständische Projekt (1995), die Rechtschreibung wurde ausgebessert:
www.abc-berlin.net/wp-content/uploads/hefte/Alfredo_Bonanno_-_Das_aufstaendische_Projekt.pdf

(4) Sargnagel, a.a.O.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 48. Jahrgang, Nr. 435, Januar 2019, S. 21
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2019

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