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GRUNDRISSE/039: zeitschrift für linke theorie & debatte, herbst 2013


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 47, herbst 2013



INHALT

Redaktion:
Editorial / Call for Papers

Schwerpunkt: Demokratie, Marx, Fürsorge & Arbeit

Stefan Junker:
Diskussionsbeitrag. Zur Rätediskussion - eine Ergänzung zu Roman Danyluk und Ewgeniy Kasakow

Walter Winter:
Care, Sorge, Für-Sorge; 5 Thesen

Mathias Rude:
Frauen und Tierrechtsbewegung: Eine doppelt verschwiegene Geschichte

Martin Birker:
Was tun mit der Demokratie - in Praxis und Theorie?

Andreas Exner:
Die Tränengasdemokratie. Istanbul, Frankfurt und der globalisierte Widerstand

Christoph Lieber:
Marx' Kritik der politischen Ökonomie - (noch) Schlüssel für die Ideologie- und Bewusstseinstheorie der Linken heute?

Slave Cubela:
Klassenkampf ohne Marx! Zur bürgerlichen "Theorie der Arbeit vor Marx

Karl Reitter:
Knapp daneben ist auch vorbei - ein Rezensionsessay zu Marx und die Philosophie von Urs Lindner

Konrad Lotter:
Buchbesprechung: Colin Crouch: Jenseits des Liberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit

Robert Foltin:
Buchbesprechung: Harald Rein (Hg): 1982 - 2012. Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest. Dokumentation, Analyse und Perspektive.

Philippe Kellermann:
Buchbesprechung: Juliane Rebentisch: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz.

Bernd Hüttner:
Buchbesprechung: Elisabeth Koch, Manuela Saringer, Rosemarie Schöffmann, Viktorija Ratkovic: "Gastarbeiterinnen" in Kärnten - Auf Spurensuche der weiblichen Arbeitsmigration.

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Diese Ausgabe hat drei Schwerpunkte: Fürsorge Arbeit, Demokratie und die Rezeption der Marxschen Theorie. Zudem setzt Stefan Junker unsere Debatte zur Räteproblematik fort. Walter Winter versucht in seinem Beitrag den Begriff der Sorgearbeit sehr weit zu fassen. Sorgearbeit sei, so der Autor, als umfassendes soziales Verhältnis zu verstehen, das über bloße Pflegearbeit weit hinausgeht. Mathias Rude verweist auf den kaum bekannten Zusammenhang der feministischen Bewegung mit der Tierrechtsbewegung in Großbritannien. Martin Birkner beschäftigt sich mit theoretischen Fragen der Demokratie; ebenso Andreas Exner, der dabei an aktuellen Ereignissen anknüpft. Die Beträge von Christoph Lieber, Slave Cubela und Karl Reitter haben gemeinsam, dass sie sich auf die Marxsche Begrifflichkeit beziehen. Stefan Lieber zeigt, dass die Kategorien der Kapitalanalyse ein nützliches Werkzeug für die Dechiffrierung von Bewusstseininhalten darstellen. Slave Cubela zeichnet die ideengeschichtliche Entwicklung des Arbeitsbegriffes vor Marx nach; Karl Reitter porträtiert das Buch von Urs Lindner Marx und die Philosophie. Vier Buchbesprechungen beschließen diese Ausgabe.

Der Termin für den unten veröffentlichen Call für Papers zur Theorie & Politik Toni Negris ist zweifellos sehr bald - zu bald, das sei selbstkritisch eingestanden. Der Grund: Wir wollen dieses Mal die Winternummer der grundrisse bereits im November veröffentlichen, um rechtzeitig zur KriLit 13, den "Kritischen Literaturtagen 2013", die vom 8. bis zum 12. November rund um den Yppenplatz im 16. Bezirk in Wien stattfinden, zu erscheinen. Wir haben diesen Call jedoch bereits auf unserer Webseite sowie auf diversen Internetforen veröffentlicht. Zudem handhaben wir unsere Schwerpunktsetzungen keineswegs strikt. Wir veröffentlichen interessante Texte sowohl zum Care-Thema als auch zu Negris Theorie auch gerne in den kommenden Ausgaben.

Eure grundrisse Redaktion

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Call for Papers zur Theorie & Politik Toni Negris

Toni Negri feierte im August 2013 seinen 80. Geburtstag. Er ist einer der bedeutendsten TheoretikerInnen der revolutionären Linken. Bei all den Wendungen und Transformationen die seine Theoriebildung nehmen sollte, einem Paradigma , revolutionären Erkenntnisinteresses hielt er stets die Treue: Dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten ihre Befreiung in die eigenen Hände nehmen müssen - und dass der Staat kein wie auch immer geeignetes Vehikel dafür sein kann. Seine gemeinsam mit Michael Hardt verfasste Trilogie Empire - Multitude - Common Wealth hatte maßgeblichen Einfluss auf die globale Protestbewegung der 2000er Jahre und trug maßgeblich zur höchst notwendigen Erneuerung radikal linker Theorie und Politik bei. Bei aller berechtigter Kritik an den oft überzogen wirkenden Darstellungen der gegenwärtigen Transformation des Kapitalismus sind seine zentralen analytischen Einsätze, wie zum Beispiel die Rolle der Biopolitik, die Neuzusammensetzung der kämpfenden Subjektivitäten als Multitude, die Veränderung staatlicher Souveränität bis hin zu einem transnationalen Empire oder die unmittelbare Ausbeutung des Gemeinsamen, des Communen durch den biopolitischen Kapitalismus doch unverzichtbare Bestandteile einer radikalen Erneuerung linken Denkens.

Diese Erneuerung wiederum ist unumgänglich, wenn die gesellschaftliche Linke wieder mehrheitsfähig werden will, ohne auf Konzepte und Rezepte zurückzugreifen, die in letzter Instanz eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wieder einmal eher behindern als fördern.

Wir freuen uns über Beiträge, in denen es nicht nur um eine Auseinandersetzung mit Leben und Werk Toni Negris geht: wichtiger noch wären Texte, die sich thematisch auf jenem theoretisch-politischen Terrain bewegen, das Negri im Laufe der Geschichte beackert hat; Beiträge, deren politischer Einsatz einerseits die Analyse gegenwärtiger Verhältnisse und Bewegungen ist und deren Erkenntnisinteresse sich andererseits dem nach wie vor höchst aktuellen Kategorischen Imperativ Marxens unterwirft, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Eure Texte sollten bis höchstens 40.000 Zeichen haben und bis zum 30. September 2013 bei uns (redaktion@grundrisse.net) eintreffen.

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Stefan Junker:

Zur Rätediskussion

Eine Ergänzung zu Roman Danyluk und Ewgeniy Kasakow

(Der folgende Beitrag bezieht sich auf die Artikel von Ewgeniy Kasakow "Verklärt & Vergessen: Die Räte und ihre Macht", erschienen in grundrisse Nr. 45, und Roman Danyluk "Ein Einwurf zur Rätediskussion", erschienen in grundrisse Nr. 46.)

Es ist sehr erfreulich, dass das Thema "Räte" auf breiteres Interesse stößt. "Arbeiterräte", "Sowjets" sind zuerst nur Wörter unter vielen oder wenn wir so wollen Ausdruck dessen, was in der Arbeiterbewegung vor allem des 19. Jahrhunderts als Selbstbefreiung oder Emanzipation verstanden wurde. Sozialdemokratie und Bolschewismus haben dieses Verständnis in ihr Gegenteil verkehrt und die dominierten Arbeiterinnenbewegungen wieder der Dichotomie von Führern und Geführten unterworfen. Darum habe ich mich sehr über Danyluks Zustimmung in dieser Frage gefreut und ich gebe ihm absolut recht, dass die Diskussionen und die Beschäftigung mit den historischen Formen, worin die Befreiung der Klasse der Arbeitenden ihren Ausgang nimmt, wichtig sind. Zudem meine ich, und glaube nicht auf seinen Widerspruch zu stoßen, dass wir uns auch wissenschaftlich intensiver mit Räten, Sowjets usw. befassen sollten und zwar von einem sozialistischen bzw. kommunistischen Standpunkt aus betrachtet oder wenn wir so wollen auch von einem anarchistischen. Diesen Gesichtspunkt einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise vorzustellen war das treibende Motiv war in meinem Aufsatz die Rätebewegungen und ihre Organisationsformen in einer Art Gesamtschau vorzustellen.[1]

Doch es bedarf gewisser Präzisierungen, weil andernfalls meine Ausführungen missverstanden werden könnten. Ich möchte darum einige Punkte als Behauptungen voranstellen:

(1) Räte, Sowjets usw. sind keine Alternative für das politische System der bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind vielmehr ihr revolutionärer Gegenentwurf.

(2) Das Rätewesen kann darum verstanden werden, wenn von einer umfassenden Umgestaltung der Produktionsverhältnisse ausgegangen wird, hin zu einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit und mithin ohne Klassen.

(3) Die geschichtliche Tendenz moderner Revolutionen zeigt die Tendenz, dass die ökonomische Umwälzung mit freier Assoziation in genossenschaftlich organisierte Arbeit ihren Ausgang nimmt.



Räte und politische Demokratie

Zuerst gilt dies für die mir häufig begegnete Vermengung der Methoden, welche die Räte an bürgerlichen Maßstäben misst, als ob wir über die politischen Formen befinden könnten, wie ein Unternehmer über den Einsatz bestimmter technischer Anlagen nach Kosten und Nützlichkeit befindet. Aussagen wie Räte seien demokratischer als Parlamente, drücken eher, unmittelbarer etc. den Volkswillen aus u.ä. führen die Diskussion in eine Sackgasse, weil sie gesellschaftliche Fragen auf die politische Ebene reduziert. Räte sollten dann die gesellschaftlichen Probleme lösen oder Aufgaben bewältigen, wozu die parlamentarischen Systeme offenbar nicht oder nicht mehr in der Lage seien. Schlimmer noch, es entsteht so der Eindruck, als hinge die Frage nach einem authentischeren demokratischen System vom Willen der richtigen politischen Entscheidungsträger ab oder ließen sich gar mit bestimmten Techniken politischer Organisationsformen erledigen. Dagegen läßt sich unschwer zeigen, dass - bürgerliche Verhältnisse, d.h. Lohnarbeit, vorausgesetzt - Räte die ihnen gestellten Anforderungen und Aufgaben nicht gerecht werden. Ich möchte dies an dem Beispiel der Frage nach dem Engagement für politische Partizipation illustrieren. Jede kommunale Repräsentation kennt das Problem, dass auf den Versammlungen für gewöhnlich nur ein geringer Prozentsatz der Entscheidungsberechtigten erscheint. Das Interesse an gesellschaftlichen Entscheidungen mitzuwirken, selbst da, wo eine gewisse Mitsprache möglich ist, hält sich in engen Grenzen. Doch dann tauchen Themen auf, zu denen sich Menschen engagieren, und zu Tausenden auf die Straße gehen, sich in Initiativen organisieren und sich sogar mit der Staatsgewalt anlegen, wie während der Anti-Atom-Bewegung in Deutschland der 70er und 80er Jahre oder jüngst gegen den neuen Stuttgarter Bahnhof. Aber ebenso schnell, wie sich diese Bewegungen entwickeln, ebben sie wieder ab. Das politische Engagement erfordert eine Menge an Kraft, Zeit und Geld zusätzlich zu den Alltagsaufgaben. Und gerade das ist auf die Dauer nicht durchzuhalten, solange diese politische Betätigung kein Teil des unmittelbaren Lebensprozesses ist. Bereits in der Französischen Revolution war dieses Problem zu studieren und zwar anhand der revolutionären Clubs der Sansculotten. Zu Anfang tagten sie in Permanenz, fast täglich, und kaum eine Entscheidung des Konvents konnte an ihnen vorbeigehen. Dann aber zeigte sich, dass mit der schwindenden Bedeutung der behandelten Fragen, die Teilnahme merklich zurückging und nur diejenigen weiterhin die Versammlungen besuchten, die es sich im wahrsten Sinne des Wortes leisten konnten, weil sie keinen regelmäßigen Arbeiten nachgehen mussten. So drohten die revolutionären Clubs in die Hände der besser Begüterten zu fallen. Dem vorzubeugen untersagte Danton es ihnen, sich regelmäßig zu versammeln, sondern nur noch an bestimmten Tagen, um den Arbeitenden es zu ermöglichen, an allen Diskussionen teilzunehmen. Damit aber hat Danton die Clubs eines ihrer wesentlichen demokratischen Prinzipien beraubt, nämlich selbst zu entscheiden, wann sie sich versammeln, womit zugleich das Todesurteil über die Clubs gesprochen war.[2] Dieses Beispiel zeigt, die Unmöglichkeit, die demokratischen Prozeduren des Sozialismus in die heutige Gesellschaft zu einzupflanzen. Es kann sich folglich nicht darum handeln, irgendein Rätekonzept zu propagieren. Entstehen der Freiraum und die Notwendigkeit für die arbeitenden Klassen, sich selbst und vor allem ihre Interessen gegen die bestehenden Kapitalverhältnisse zu organisieren, werden solche selbstorganisierten Formen wie Räte, Sowjets, Kollektive, Initiativen pp. geschaffen.



Räte und Revolution

Diese Räte entziehen sich einem wirklichen Verständnis, solange sie nicht als Ausdruck veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse, Produktionsverhältnisse, begriffen werden, bzw. deren tendenzieller Vorwegnahme. Und dies setzt allemal eine revolutionäre oder revolutionsähnliche Situation voraus.

Das Beispiel der Sansculottendemokratie hat auch gezeigt, dass jede proletarisch-demokratische Bewegung, welche dazu verdammt ist, auf das Privatleben und die Freizeit beschränkt zu sein, früher oder später an den Grenzen des Arbeitstages zerschellt. Es ist darum kein Zufall, dass eine der vornehmsten Forderungen aller modernen Revolutionen in der Verkürzung des Arbeitstags liegt. Gerade hier wird deutlich, dass die demokratische Umgestaltung der Gesellschaft von den Produktionsstätten ihren Ausgang nehmen muss, denn hier und nur hier wird die Teilhabe an den gesellschaftlichen Entscheidungen zu einer Bedingung des unmittelbaren Lebensprozesses. Oder um es anders zu formulieren: die Diskussionen und Entscheidungen über die gesellschaftliche Planung der Produktion sind zu einer Bedingung des Produktionsprozesses selbst geworden. Hieran anschließend gewinnt die Übernahme bzw. Kontrolle der gesellschaftlichen Aufgaben, welche die bürgerlichen Staaten für sich okkupiert haben, durch die Räte einen anderen Charakter. Dies verstehe ich unter anderem unter Marxens Formulierung von der Zurücknahme des Staates in die Gesellschaft.



Aufhebung der Lohnarbeit

Das Studium moderner Revolutionen zeigte mir die Tendenz zu genossenschaftlicher Produktion und zur genossenschaftlichen Regelung gesellschaftlicher Prozesse. Es würde hier zu weit führen, die Abläufe zu beschreiben, die dahin führten oder auch manche der scheinbaren Widersprüchlichkeiten zu behandeln. Aber bei der abstrakten Überlegung würde ich gerne etwas verweilen, nicht zuletzt, weil auch Marx im "Bürgerkrieg" angedeutet hat, dass eine auf genossenschaftlicher Arbeit ruhende Gesellschaft jene Produktionsform sei, welche der bürgerlichen folge[3]. Wenn wir von einem Wesensmerkmal der bürgerlichen Gesellschaft sprechen wollen, so ist dies die Lohnarbeit. Und diese ist per Definition sowohl in einem genossenschaftlich organisierten Betrieb wie auch in einer Gesellschaft, deren Produktion genossenschaftlich organisiert ist, ausgeschlossen. Leider aber sind diese Fragen essayistisch nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit abzuhandeln.

Angeblich habe ich mir "einen kleinen Seitenhieb auf den Anarchismus erlaubt", weswegen mich Roman Danyluk korrigiert, dass der Anarchismus nicht unpolitisch, sondern apolitisch sei. Darunter sei zu verstehen: "Ablehnung politischer Logik, d.h. von Machtpolitik" und Ablehnung "Herrschaft der Wenigen". Ehrlich gesagt verstehe ich den Unterschied nicht, aber zu Spanien sei hier erinnert, dass diese "Ablehnung politischer Logik" die Führer der spanischen Anarchisten nicht davon abgehalten hat, in die verschiedenen Regierungen einzutreten, angefangen vom Komitee der Antifaschistischen Milizen bis hin zur Einnahme von Ministersesseln in der Regionalregierung in Barcelona und der Zentralregierung in Madrid. In diesen Funktionen haben die Vertreter des spanischen Anarchismus sehr wohl eine "Machtpolitik" der "Herrschaft von Wenigen" betrieben, die auch nicht vor der Annahme "politischer Logik" zurückschreckte. Selbstredend wurde diese Politik kaum schärfer als im spanischen Anarchismus selbst kritisiert und verurteilt. Im Nachhinein haben viele Anarchisten den Regierungseintritt als einen ihrer Hauptfehler kritisiert und selbst während der Revolution gab es hier mahnende Stimmen, von denen ich Camillo Berneri hervorheben möchte. Weit entfernt die Bedeutung des revolutionären Anarchismus herunterzuspielen, halte ich eine solidarisch-kritische Auseinandersetzung mit ihm, insbesondere seiner spanischen Spielart, für sehr fruchtbringend, vor allem wenn sein nicht immer eindeutiges Verhältnis zu proletarischer Selbstorganisation untersucht wird.



Weitere Bemerkungen

Kommen wir zum Form-Inhalts-Problem. Bestimmt die Form den Inhalt, fragt Ewgeniy Kasakow? Sein endlicher Schluss: die Entscheidungsform nimmt nicht diese Entscheidung vorweg, was offenkundig ist. Aber auf was will der Autor hinaus? "Die linke Suche nach einer 'echten Demokratie', die immer wieder auf die Räte Bezug nimmt, verläuft sich in einem Dilemma - einerseits propagiert man eine bestimmte Entscheidungsform, will damit aber auf eine bestimmte inhaltliche Entscheidung hinaus." Ewgeniy Kasakow unterstellt hier dem (linken) Rätewesen, dass es nur Entscheidungen akzeptiere, die im Interesse ihrer theoretischen Präsumptionen liegen. Das wäre bolschewistisch gedacht, stimmen die Räte für die Parteilinie, sind sie unterstützenswert, wenn nicht, nicht. Aber wer ist es hier, der oder die sucht? Theoretisierende Linke oder die Arbeitenden in ihren revolutionären Erhebungen selbst? Wir sind hier wieder bei unserem Anfang angelangt, als von historischen Prozessen unvermittelt auf irgendwelche theoretischen Konstruktionen gesprungen wurde. "Wenn die Mehrheit mal wieder nichts von linken Zielen hören will, kommt die Linke auf die Forderung nach mehr Mitgestaltung für die Mehrheit, in der Hoffnung, dass wenn die Leute alles selber entscheiden, würden sie schon auf andere Inhalte kommen." Der Konjunktiv bei Ewgeniy Kasakow, fürchte ich, möchte andeuten, dass das Vertrauen, Menschen würden sich in Freiheit und Demokratie für ihre Interessen entscheiden, als eitler Wunsch zu gelten habe. Aber wie sollte es denn anders gehen? Wer sollte denn anstelle der Betroffenen die Entscheidungen treffen? "Ohne Zweifel haben die Bolschewiki im Laufe des Bürgerkrieges die Räte der Partei untergeordnet..." Mit welcher Berechtigung? Weil die arbeitenden Menschen zu dumm, zu ungebildet, zu verführt usw. seien, ihre eigenen Interessen ernst zu nehmen, darum musste die durch den Marxismus geschulte Avantgarde (Lenin), die Aufgabe an sich reißen, die Arbeiterinnen und Arbeiter zum Sozialismus zu erziehen. Das liest sich bereits in Lenins "Staat und Revolution" und ist noch bei Juri Andropow zu finden.[4] Aber sind wir Kommunisten Götter? Wer gibt uns, selbst Kinder unserer Zeit, das Recht, darüber zu entscheiden, was wahrer Sozialismus sei und was nicht? Es ist diese elitär, aufgeklärte Auffassung von Sozialismus, gegen die Marx seine Frage geschleudert hatte: "Wer erzieht die Erzieher?"

Dass in Russland nach dem Oktober 1917 verbreitet Forderungen nach Räten ohne Bolschewisten aufkamen, hatte gute sozialistische Gründe, waren doch bald nach der bolschewistischen Machtübernahme alle anderen Arbeiterparteien verboten bzw. von den Rätewahlen ausgeschlossen. Immerhin hatte der russische Staat damit begonnen, sich die Räte unterzuordnen - dass dies eine Leistung der Partei war, ist historisch so nicht ganz richtig, die Partei erhielt ihre Bedeutung erst später, wobei die Herrschaft in der Parteiführung lag und nicht in der Partei. Sich die Räte unterzuordnen - ob Staat oder Partei ist für die Argumentation hier einerlei - ist kein geringes Übel, denn es ist die Beseitigung des Sozialismus, bzw. Kommunismus schlechthin.

Verstehe ich Ewgenij Kasakows erhobene Bedenken gegen Rätedemokratie, proletarische Demokratie oder wie wir diese Formen der Arbeiteremanzipation nennen wollen, recht, so wäre zu fragen: was hindert die Arbeitenden daran, ihre Interessen zu erkennen, selbst wenn sie in ihren eigenen Organisationen frei agieren können, bzw. wie können wir Kommunistinnen und Kommunisten die Prozesse unterstützen, dass die Schranken überwunden werden, welche die Arbeitenden daran hindern, sich als Klasse zu formieren und ihren Interessen gemäß zu handeln? Die Verklärung der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder als sozialistisch war und ist mit Sicherheit eines dieser "Hindernisse".



Anmerkungen

[1] Junker, Stefan: Die Eroberung der Demokratie. Grundrisse 45, 15-24.

[2] Soboul, Albert: Französische Revolution und Volksbewegung: die Sansculotten. FFM, edition surkamp 1978. Siehe v.a. Kapitel III. Die politischen Tendenzen der Pariser Sansculotterie.

[3] Siehe Marx, Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich. MEW 17, 343.

[4] Siehe Lenin, W.I.: Staat und Revolution in LW 25, 416-417. Und 66 Jahre später bei Andropow, J.W.: Die Lehre von Karl Marx und einige Frage des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR. Moskau, APN-Verlag 1983, 29: "Die im Kapitalismus bestehende Kluft zwischen den Interessen von Staat und Staatsbürger wurde bei uns beseitigt. Aber leider gibt es noch Menschen, die ihre egoistischen Interessen der Gesellschaft, ihren anderen Mitgliedern entgegenzusetzen versuchen. In diesem Licht wird klar, dass es notwendig ist, Erziehungsarbeit zu leisten - und manchmal auch Arbeit zur Umerziehung einzelner Personen - ..."

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Walter Winter:

Care, Sorge, Für-Sorge; 5 Thesen

1. These:

Wo die sozialen Bewegungen Sorge zentral stellen, werden sie, von punktuellen, impulsartigen und vorübergehenden gesellschaftlichen Erscheinungen, zu dauerhaften, sich selbst reproduzierenden Phänomenen. Dies kann besonders anschaulich an den aktuellen emanzipativen Bewegungen und besonders an denen der jüngeren Vergangenheit gesehen werden, wie der Occupy-Wallstreet-, der Tahir-Platz-, und der Refugees-Bewegung. Aber auch die Frauenbewegung seit ihren Anfängen ist ein anschauliches Beispiel.

Care, Sorge und Für-Sorge ist zum Einen die Arbeit mit und an der sozialen Infrastruktur, der gesamte Bereich der Reproduktionsarbeit, der Hausarbeit, der Kindererziehung, der Betreuung und Versorgung, und zum Anderen ist es die empathische Aufmerksamkeit, die aktive Anteilnahme und in ihrer überschießenden Form die Solidarität und die Verbundenheit, die sich konkret in kollektiven Formen des Communen konstituieren kann und dies in den aktuellen Bewegungen auch tut. Der Care-Komplex stellt jene Instrumente und Werkzeuge zur Verfügung, schafft jene Zusammenhänge, durch die und über die sich die emanzipativen Bewegungen auf Dauer stellen können. Es sei hier nur die sogenannte 1. und 2. Frauenbewegung benannt, die selbst nie eine einheitliche Bewegung war, sondern immer aus mehreren Bewegungen bestand, wie der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung, um nur die bekanntesten zu nennen. Diese Bewegung verlief, bzw. verläuft, in Wellenform, oft sichtbar und manchmal unter der Oberfläche der Sichtbarkeit, wie z.B. während des Nationalsozialismus. Tatsächlich war die Bewegung aufgrund der Zentralstellung von Care eine sich selbst reproduzierende, auf Dauer gestellte, die solcherart um Änderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse rang, und dies noch tut.

Gesellschaftliche Veränderungen, Änderungen in den Zugriffsrechten auf den gesellschaftlich produzierten Mehrwert, Änderungen in den Spiel- und Verkehrsregeln des Zusammenlebens, der Sicht auf die Dinge, den Klassen- und Geschlechterverhältnissen, all dies wird über die Auseinandersetzungen der sozialen Bewegungen durchgesetzt und hervorgebracht. Solcherart erfolgt eine permanente Auseinandersetzung zwischen den gesellschaftlichen Großgruppen um die besseren Positionen und Orte. Eine permanente Auseinandersetzung zwischen den antagonistischen gesellschaftlichen Akteuren, den Klassen, den Geschlechtern usw., die oft unterschwellig und auch manchmal über der Oberfläche der Sichtbarkeit verläuft. Das institutionelle Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ist der Staat. So gesehen ist Geschichte die Geschichte der sozialen Bewegungen. Geschichte der Klassenkämpfe hingegen würde nur die Zeit des Kapitalismus benennen, denn nur da kann von Klassen gesprochen werden und würde dabei nur den Klassenkonflikt in den Blick nehmen. Was nun den aktuellen Staat betrifft und seine Institutionen die sich im Gefolge seiner Konstituierung herausgebildet haben, wie dem System der Repräsentation, so ist er aufgrund der bestehenden Machtasymetrien und weil seine Institutionen vereinheitlichend wirken, also blinde Flecken produzieren, nicht in der Lage die Interessen der unteren Klassen, der Frauen, der Migrant_innen zu vertreten. Einfluss und Wirkung generieren können sie nur über ihre Bewegungen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass sie diese auf Dauer stellen und zu sich selbst reproduzierenden machen. Und dies können sie wiederum nur mittels der Zentralstellung des Care-Komplexes als je eigene tagtägliche Praxis.

Auch die oberen Klassen wahren über die Initiativen gesellschaftlicher Bewegungen ihre Interessen, wie das z.B. bei der konservativen Tee-Party-Bewegung der Fall ist. Klarerweise übertreffen deren Mittel jene der emanzipativen Bewegungen bei weitem. Eine bevorzugte Strategie dabei ist es aber auch Forderungen und Initiativen ehedem emanzipativer Bewegungen zu übernehmen und sie in ebenso viele Impulse für den Markt, für diese oder jene Kapitalgruppe, usw. zu verwandeln. Es sei nur an diverse Modetrends erinnert, oder z.B. an die sinnentleerende Verkehrung der Forderung nach der Autonomie subalterner Großgruppen in den Aufruf des "verwirkliche Dich vermittels Marktprodukten" transformiert. Die Dominanz der Apparate der oberen Klassen ist aber dennoch nicht sicher, eben aufgrund der Aktivitäten der anderen Klassen, muss tagtäglich neu wiederhergestellt werden, mit enormen Aufwand: ganze Heerscharen von mehr oder weniger heiligen Figuren sind damit beschäftigt.

Ihren Anteil zur Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse trägt auch die akademische Praxis bei. Indem Bewegungen in der Hauptsache als impulsartige behandelt werden, die über bestimmte Themen und Missstände entstehen und bald, je nach Konjunktur, wieder verschwinden. Natürlich gibt es die auch, wie z.B. die überraschend lang andauernde Bewegung gegen Schwarz/Blau von 2000-2002 in Wien. Es wird dabei aber nur das über der Oberfläche sichtbare befindliche betrachtet, ganz in alter positivistischer Manier, das darunter liegende unsichtbar gemacht, die Neuerfindungen, die Neukonstituierungen zum Verschwinden gebracht. Auch die Neuerfindungen über die Arbeit an der Sorge werden, einmal mehr, zum Verschwinden gebracht, wie das schon bei der Reproduktionsarbeit der Fall war und noch ist und damit in ihrer ganzen Bedeutung entwertet. Dass dies auch "Vertreter_innen der Linken" "passiert" mag die Aussage noch unterstreichen. Bei einer Veranstaltung zur Frauenbewegung in Wien (ca. 2006) bezeichnete Frigga Haug ebendiese für tot. Die Begründung war, dass sich die Konservativen alles erlauben könnten und dabei unwidersprochen bleiben. Jedoch Totgesagte leben länger. Bei der Frauenbewegung schon deshalb, weil hier der Sorge-Komplex immer zentral gestellt war. So gesehen ist auch die Trennung zwischen 1. und 2. Frauenbewegung infrage zu stellen und die Darstellung in Wellenbewegungen dienlicher. Auch im Unsichtbaren, unter der Oberfläche, besteht sie weiter. Es gibt durchaus Hinweise, dass dies auch für die Zeit des Nationalsozialismus gilt.

Die aktuellen emanzipativen Bewegungen, wie jene des Tahir-Platzes in Istanbul, aber auch jene um die Erkämpfung von Rechten für die Refugees z.B. in Wien, stellen Sorge zentral. In der Türkei passierte das in Form von Volx-Küchen, Gratisbibliotheken, medizinischer Versorgung usw. und in Wien in Form eines Netzwerkes von Unterstützer_innen. Dadurch entsteht ein Überschuss an Sorge, wo vorher nur Konkurrenz und Mangel herrschte, und es konstituieren sich neue Formen des Communen. Die Praxen neuer Demokratien, der Anerkennung und Sichtbarmachung von Differenzen, die gegenseitige Hilfe, also vor allem das, was klassisch als Solidarität bezeichnet wird. Eben weil die Bewegungen Gemeinsames im Überschuss hervorbringen und nicht Vereinheitlichendes, die notwendig instrumentalisierende Form des Zweckrationalismus, können sie auf dem prinzipiell unplanbaren Terrain, das den Bewegungen eigen ist, organisierend und aktivierend einwirken. Das ist auch der Punkt an dem Resonanzen, Überschneidungen mit zum Teil sehr unterschiedlichen Ansätzen möglich werden, die sich durch wechselseitiges Aufschaukeln und anerkannten Gemeinsamkeiten in Resonanzfrequenz versetzen und damit die Verhältnisse zum Tanzen bringen können. Dies passiert nicht so sehr durch heroische und willensstarken Interventionen Einzelner, als durch die Arbeit am Konnex der Sorge. Aber es reicht nicht nur Sorge in den Mittelpunkt von praktisch-strategischen Überlegungen der sozialen Bewegungen zu stellen. Es ist genauso wichtig Sorge und deren Implikationen auch in den Mittelpunkt theoretischer Überlegungen zu stellen.

Sorge ist in der Lage das Problem der Kontinuität der sozialen Bewegungen zu lösen, ohne den traumatischen Institutionalisierungen und Demoralisierungen zum Zeitpunkt eines Abwärtszyklus ausgeliefert zu sein, wie das z.B. beim Abflauen der Umweltbewegung und der Institutionalisierung durch die Grünen der Fall war. Diese Institutionalisierung gelang im Übrigen erst nachdem die "inneren" Linken Störelemente beseitigt wurden. Erst dadurch wurden sie parlamentstauglich, aber gleichzeitig für ein emanzipatives Projekt wenig dienlich. Es ist unter anderem die Sorge, die solche traumatischen Übergänge abzufedern imstande ist, eben weil Sorge jenen Bewegungsfetischismus vermeidet, der in den Bewegungen selbst schon das Ziel sieht und dadurch keine Reflexion mehr auf das eigene Tun zulässt. Auch das eine Spielart des Funktionalismus, wenn auch eine weniger problematische als die des Kapitalismus.

2. These:

Es ist keine dauerhafte Emanzipation der unterdrückten Subjekte und Kollektive denkbar, ohne deren multiple Lagen, deren Intersektionalitäten mitzuberücksichtigen. Anders gesagt: Die Aufhebung einer Asymmetrie, z.B. der sozialen, führt, so nicht möglichst viele Asymmetrien aufgelöst werden, zur Restabilisierung der bestehenden Verhältnisse auf einer weiteren Stufenleiter. So gesehen ist Entwicklung im Kapitalismus nur noch im parasitären Modus vorstellbar.

Kapitalismus in seiner aktuellen Form, als Neoliberalismus, genauer als Block zwischen Konservativismus und Neoliberalismus, dies ein Grund, der die aktuelle Stabilität des Systems ausmacht, beschreibt nicht einfach ein soziales System hierarchisierender Ungleichheiten. Er besteht aus einer Reihe von Asymmetrien, die sich wechselseitig abstützen, bestärken und bestätigen und das auch dann, wenn sie scheinbar getrennte Existenzen führen. Um nur einige davon zu benennen: das Verhältnis der Klassen zueinander, das der Geschlechter zueinander, das Verhältnis der Menschen zur Natur und zur Tierwelt, jenes der Generationen zueinander, zur Migration, usw. Aufgrund der spezifischen Nutzung dieser Asymmetrien zum Zwecke des Machterhaltes kann sich der Kapitalismus, auch beim Wegfallen der einen oder anderen Asymmetrie über die anderen wieder reproduzieren. Dies auch deshalb weil sie getrennte Existenzen führen, unsichtbar gemacht werden. Dazu ein prominentes Beispiel: die russische Revolution von 1917. Die von den Bolschewiki ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellte soziale Revolution, ganz abgesehen davon, dass den unteren Klassen eine funktionalistische Position zugewiesen wurde und der Schwerpunkt auf die industrielle Produktion gelegt wurde, erklärten andere Asymmetrien zu Nebenwidersprüchen. An dieser Schwerpunktsetzung hatte auch die mit Nachdruck betriebene Internationalisierung der Revolution auf andere Länder sich nicht wesentlich verändert. In der Folge kam es sehr schnell zu einer Stabilisierung die auch die unteren Klassen wieder in ein rigides Industriesystem presste (Sozialismus plus Elektrifizierung), nicht Ausdruck ihrer Eigenständigkeit war. Die Intersektionalitätsthese so unterlegt, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Asymmetrien als Gleichwertig zu sehen sind, verändert die Sicht, ab diesen Zeitpunkt macht die Rede von den Haupt- und Nebenwidersprüchen keinen Sinn mehr. Der eine Widerspruch ist durch den anderen abgestützt. Dort, wo einer überwunden wird, wird er durch die anderen wieder hergestellt. Allgemein gilt: je mehr Ungleichheitslagen und je weniger Zugang zu Sorge, desto gefährdeter sind die Subjekte und die Kollektive.

Besonders hervorgehoben werden sollen hier jene Unterdrückungs- und Unterordnungslagen, bei denen sich mehrere Asymmetrien überlagern. Das passiert z.B. bei migrantischen, undokumentierten Hausarbeiterinnen aus dem globalen Süden und den Osten, im globalen Westen. Mit der postfordistischen Wende transformiert sich das in den Metropolen majoritäre Geschlechterverhältnis vom Zweiernährerhaushalt in den Einernährerhaushalt, bzw. in andere Formen. Dadurch verschieben sich die Arbeits- und Werterelationen. Es entsteht eine Care-Krise. Die gesellschaftlich wertlos gesetzte Reproduktionsarbeit, die den Frauen wie ein Klebstoff anhaftet, ihr Leben determiniert, trägt im Lohnarbeitszusammenhang zu einer Lohnreduktion des Wertes der weiblichen Arbeitskraft bei, die nach wie vor, trotz aller gewerkschaftlichen Beseitigungsversuche, weiter besteht. Aufgrund der Mehrfachbelastungen kommt es in den Metropolen zur Auslagerung der Reproduktionsarbeit an Dritte: an Frauen aus Osteuropa, aus Lateinamerika, aus dem fernen Osten und Afrika, die oft mit unsicheren Aufenthaltsstatus und ohne soziale Absicherung tätig sind und deshalb umso mehr ausgebeutet werden können. Der Grund der Wanderungen sind die Krisen und Kriege in den Herkunftsländern, die durch die Intervention der Metropolen, direkt oder indirekt, hervorgebracht wurden, wie Landgrabbing, Schuldenkrisen, u.ä.m. Diese Ursachen werden genauso zum Verschwinden gebracht, wie die Not der betroffenen Subjekte vertieft. Die durch die Notwendigkeit der Lohnarbeit aller Familienmitglieder hervorgerufene und bestehende Care-Krise in den Metropolen wird externalisiert. Es entstehen Kaskaden der prekären, schlecht bis nicht bezahlten Care-Arbeit, einer globalen Reproduktionskette, die diese Länder weiter destabilisiert. Die überwiesenen Geldleistungen können die in Gang gebrachte Zerstörung der Subsistenzwirtschaft nicht kompensieren und führen zu Entsolidarisierungseffekten. Diese Entsicherung des Lebens eines Teiles der Klasse wirkt auf die anderen Teile ebenfalls entsichernd zurück, eben aufgrund des Intersektionalitätsparadigmas. Im konkreten Fall: die fehlende Sorge in den Metropolen, sowie durch die Männer im Allgemeinen, führt zu verstärkten Konkurrenzsituationen und in der Folge zu verstärkten institutionellen und außerinstitutionellem Rassismus, der in direktem Zusammenhang mit dem allgemeinen Lohndruck und der Verunsicherung steht und nicht mehr von den Parteien des Klassenversöhnlertums aufgefangen werden kann. So war es besonders die Regierung Vranitzky, die, nachdem sie klarmachte, dass es nicht mehr darum gehe die Interessen der Facharbeiterschicht zu berücksichtigen jenen Raum freimachte, der besonders von der FPÖ befüllt werden konnte. Dass das so problemlos gelingen konnte, dazu war natürlich schon ein vorher bestehender nationalistischer Chauvinismus notwendig. Die Verteidigung von akzeptablen Lebensbedingungen für eine Gruppe macht eine Verteidigung auch der Anderen notwendig, ebenso wie die Fragen nach dem Recht auf Aufenthalt. Auch hier ist Sorge jenes Instrument, das Intersektionalität immer wieder herstellt, entgegen den Spaltungen und Trennungen, die die Existenz des Kapitalismus begleiten, ja bedingen.

Die bestehende Wertlosigkeit der Reproduktionsarbeit im Rahmen der Warenproduktion wird aber durch die Bezahlung insofern nicht Inwert gesetzt, als die migrantischen Hausarbeiterinnen von jenen bezahlt werden, die sichs halt leisten können, also durch einen Abzug von deren Lohn, also vom variablen Kapital und nicht vom Mehrwert. Während also hier ein Teil des Weltproletariats erstmals in den monetären Finanzkreislauf des Kapitalismus hineingezogen wird, ohne der Möglichkeit daraus wieder zu entkommen, bleibt das für den Kapitalismus sozusagen kostenlos.

3. These:

Die Zentralstellung bislang un- bzw. unterbewerteter Tätigkeiten, wie der Reproduktionsarbeit als unhintergehbar für die Gesellschaft und die Einzelnen, ist wesentliches Element emanzipativer Aktivität, sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. Hierbei gibt es eine starke Anbindung an aktuelle feministische Forschungsergebnisse ebenso wie an neuere marxistische u.a. die Beseitigung von blinden Flecken in der Sorgearbeit macht einen anderen Blick, eben einen sorgenden, auf die Welt möglich, der sowohl die Sicht auf andere Welten eröffnet, als auch auf jene Möglichkeiten, die sich aktuell bieten. Die Dringlichkeit dazu stellt sich tagtäglich, denn es sind die kapitalistischen Be- und Entwertungen, die für die aktuellen Krisen und Problemlagen verantwortlich sind und tagtäglich Zerstörungen anrichten.

Sorgearbeit ist Subjektproduktion, geht aber über die menschlichen Subjekte hinaus. Sie beschreibt ein Tätigsein an, in Bezug auf und mit Menschen, Tieren und Pflanzen, der "Natur". Sie ist solcherart weniger anfällig für Formen der Funktionalisierung die den Kapitalismus, den Ökonomismus auszeichnen. Sorgearbeit unterliegt aber den letzteren und das am stärksten, wo sie bis an die Haut reicht, wie in der Hausarbeit, der Pflegearbeit, der Sexarbeit. Diese ebenso emotionale Arbeit ist durchaus Schwerstarbeit, harte Knochenarbeit, untergeordnete, entwertete und entwertende Arbeit, die aus dem Bereich des Sichtbaren gebannt werden muss. In eigene nach außen abgeschlossenen Bereichen. Sorgearbeit beinhaltet weiters immaterielle, empathische, intellektuelle und natürlich physische Arbeitsanteile, die allesamt, als Bestandteile der Sorgearbeit, mitentwertet werden. Sorgearbeit wird aber auch auf vielfache Art und Weise verwissenschaftlicht. So reicht es nicht mehr Kinder mittels selbstgestrickten pädagogischen Konzepten zu betreuen, die in der Regel jene der eigenen Eltern sind. Es sind schon Kenntnisse der jeweiligen kindlichen Entwicklungsphasen erforderlich, der Ernährungswissenschaften usw. Dadurch, dass seit ca. den 80er Jahren immer mehr Frauen in vormals von Männern dominierte Bereiche vordringen, wie z.B. in das Wissenschaftsfeld, kommt es zu massiven Entwertungstendenzen, zur Entwertung von Bildungsabschlüssen. Die Geschlechterdifferenz prekarisiert, so es keine dagegen vorgehende Widerstandsbewegung gibt, und zersplittert die Arbeits- und Lohnarbeitsverhältnisse. In diesem Fall führt das bestehende Geschlechterregime zu einer Änderung in der technischen Zusammensetzung des Proletariats und damit auch zur Änderung in der politischen Zusammensetzung. Einerseits gibt es nicht mehr die zwar hierarchisierenden, aber doch vereinheitlichenden sozialen Orte, die das Industrieproletariat des 19. und 20. Jahrhunderts ausmachten, zumindest nicht im Norden des Globus. Die aktuellen Lohnarbeitsverhältnisse sind viel prekärer, viel zersplitterter, so wie es die Hausarbeit immer war. So gesehen ist es durchaus schlüssig von einer Hausfrauisierung der Arbeit zu sprechen. Andererseits ergibt sich durch diese unterschiedlichsten Arbeitsverhältnisse (bezahlt, unbezahlt, etc.) auch kein einheitlicher politischer Ort. D.h., die Konzepte der Vergangenheit, die Partei, die Avantgarde, usw., sind nur noch bedingt, wenn überhaupt, wirksam. Es ist im aktuellen Kapitalismus von einer extrem ungleichen Entwicklung auszugehen, nicht, dass es dabei keinerlei "Fortschritt" und "Entwicklung" mehr geben könnte. Dies aber nur in sehr engen Bereichen, die nur sehr engen Schichten zugute kommen. Diese Ungleichgewichtung führte und führt immer wieder zum Überleben, ja teilweise zur beschleunigten Entwicklung sozialer Formen, die durchaus aus der Vergangenheit stammen könnten, wie der Kolonialismus, Formen der Sklaverei, aber auch religiöse Formen. Insofern kann das System der geschlechterdominierten, unbezahlten Hausarbeit durchaus als moderner Kolonialismus bezeichnet werden, wie das von verschiedenen Feministinnen vorgeschlagen wurde. Was die bezahlte Hausarbeit anbelangt, so ist sie mit denselben "weiblichen Attributen" behaftet, wie andere mit Care in Verbindung gebrachte Arbeitsbereiche, und das umso mehr, als es zu keinerlei Solidarisierung von anderen untergeordneten Teilen der Gesellschaft kommt, vornehmlich von Männern der unteren Klassen, die ebenso Nutznießer dieses Systems der geschlechtlichen Ausbeutung sind.

Sorgearbeit als Reproduktionstätigkeit im Haushalt, Versorgungs- und Pflegearbeit der Kranken und der Kinder usw. wertmäßig gesehen würde das Bruttoinlandsprodukt verdoppeln. Eine Wertmasse von Ausmaß der anerkannten pro Jahr realisierten Werte bleibt unbewertet, wertlos, wird der Unsichtbarkeit überantwortet. Grund dafür ist zum Einen die bekannte Trennung der Produktion von der Reproduktion und die Fixierung des Wertes auf die Warenproduktion, unter der Voraussetzung, dass Mehrwert und für den Markt produziert wird. Es sei unterstellt, dass es sich beim Markt um einen kapitalistischen, ergo kommodifizierte Markt handelt. Es sind durchaus auch andere vorstellbar, wie die des Mittelalters, oder jene der bäuerlichen Clangesellschaften. Im übrigen gibt es aktuell auch nicht kommodifizierte Märkte, wie die Tauschbörsen- und -kreise, die auf Wechselseitigkeit basierende Nachbarschaftshilfe u.a. Die Trennung der Produktion von der Reproduktion lässt die Reproduktionsarbeit und in der Folge die gesamte Sorgearbeit unsichtbar werden, fixiert den Arbeitsbegriff ausschließlich auf die Lohnarbeit. Wie die Arbeit auf Produktionsarbeit, so kann die Sorge nicht auf Reproduktionsarbeit beschränkt werden. Schon die Alten-Sorgearbeit reproduziert keine Arbeitskraft mehr. Es gilt jene im Blick zu behalten, die Care-Arbeit leisten. Es geht um deren Würde, um deren Ein- und Auskommen. Es geht genauso um die Durchsetzung von Würde und Autonomie der Care-Nehmer_innen, die, wie im Falle der Alten einem Regime des lebenslangen Lohnarbeitens unterstellt werden sollen. Die Beseitigung des Rechts auf die Herausnahme aus dem Lohnarbeitssystem im Alter, des Rechtes auf Entkommodifizierung, stellt ein Recht dar, dass von früheren Generationen erkämpft wurde. Die Demontage dieses Rechts auf Pension, abgesehen davon, dass es eine Art von Lohnkürzung darstellt, nämlich des indirekten Lohnes, also jenes Lohnanteils den der Staat und nicht die Unternehmen zahlen ist auch Terrain für aktuelle Kämpfe um ein Leben in Würde im Alter und hat Auswirkungen auf künftige Auseinandersetzungen, weil deren Beseitigung berechtigterweise als Niederlage empfunden werden würde - mit all ihren entmutigenden Auswirkungen. Bei der Auseinandersetzung kann es also kein Kriterium sein was sich der Staat und die Unternehmen leisten können. Denn dies ändert sich grundlegend mit Konjunkturen und Kräfteverhältnissen.

Genannte Trennung beseitigend würde den Klassenkampf nicht mehr "nur" auf Lohnarbeit reduzieren, sondern würde ihn, wie das ja oft berechtigterweise von linken Feministinnen gefordert wird, auf die Geschlechterbeziehungen und in erweiterter Perspektive auf weitere Felder beziehen. Ebenso wie umgekehrt der Kampf gegen die Geschlechterungleichheiten aus dieser Perspektive heraus, die immer eine der Hervorhebung des Sorge-Komplexes ist, die gesamte Gesellschaft betreffen würde. Marx besagte Trennung vorzuwerfen greift da schon deshalb zu kurz, weil sein Hauptwerk, das Kapital, eben eine Analyse kapitalistischer Verkehrsformen ist und kein utopischer Entwurf, etwas, dem sich Marx größtenteils verweigert hat. Ein Entwurf, worin die dem Kapitalismus eigenen Spaltungen beschrieben werden, wie z.B. die zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit.

Eine aktuelle Tendenz neoliberaler Privatisierung ist die fortschreitende Kommodifizierung von Care-Arbeit, z.B. durch die Privatisierung von Beratungs- und Pflegeeinrichtungen. Gleichzeitig braucht kapitalistische Verwertung auch nicht-kapitalisierte Bereiche (Rosa Luxemburg), die sie nutzen und ausbeuten kann, wie eben die Hausarbeit. Eine total durchkapitalisierte Gesellschaft ist ein Widerspruch in sich. Alle Erfahrungen aus der Geschichte deuten darauf hin, dass eine solche Gesellschaft ein "Selbstmordprojekt" wäre. Konkurrenz auf ihre Spitze getrieben muss die Anderen vernichten, so dass niemand mehr da ist zur Werterealisierung. Die Vision der reinen Maschinengesellschaft in der die Menschen überflüssig wären zeichnet ein solches Bild, wo Menschen, Maschinen zu Menschen machen (oder umgekehrt). Eine Sicht im Übrigen, die die Menschen als unvollkommene Wesen die immer wieder von störenden Emotionen geleitet werden, nicht genügend rationell sein können usw. beseitigt, die sich also in Form der Maschinen selbst noch mal schaffen und sogar übertreffen, also die eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten durch die (perfekte) Maschine überwinden. Eine Art des Fortschrittsglaubens der die Züge des abstrakten, von Sorge gesäuberten staatlichen Sicherheitsdiskurs anhaften.

Die Hereinnahme immer weiterer Bereiche der Gesellschaften in den kapitalistischen Verwertungskreislauf (die Kommodifizierungen) zerstört bestehende Verkehrsformen; die Schaffung von Care-Ketten zerstört die Subsistenzwirtschaft in den weniger kapitalisierten Ländern. Dies wirkt als eine Art ursprünglicher Akkumulation mit all dem Elend das sie begleitet. Im Falle der Care-Ketten, wie gesagt, zerstört sie nicht nur die bestehenden Produktions- und Verkehrsformen, schließt die Beteiligten in den kapitalistischen Finanzkreislauf ein und entsolidarisiert die betroffene Bevölkerung in jene, die spärliche Finanzmittel aus den Überweisungen erhalten und jene, die mit den herkömmlichen Mitteln nicht mehr überleben können. So wird die Möglichkeit von Widerstand geschwächt und damit jene Aspekte der Sorge, die über die Reproduktionsarbeit hinausgehen, in empathischer Anteilnahme, in aktiver Aufmerksamkeit und Solidarität.

4. These:

Konterrevolution ist aktuell zur permanenten Aufgabe der Herrschenden über die Beherrschten geworden. Sie ist präventiv, weil keine tatsächliche Revolution vorangegangen ist - zumindest nicht im globalen Norden. Sie ist sozial, weil sie sich gegen die untergeordneten Klassen, Geschlechter, Tiere und Natur richtet. Es ist die präventive soziale Konterrevolution (psK). Die überschießende Sorge ist in der Lage die Dynamik der psK zu einem Stillstand zu bringen, bzw. ihre eigentliche Richtung umzukehren und damit ganz neue Perspektiven zu eröffnen.

Der Staat als Garant und Repräsentant der Klassentrennung, der Hierarchisierungen und profitgetriebenen Interventionen richtet sich gegen eine (kollektive) autonome Eigeninitiative der Sorge und Für-Sorge der unteren Klassen, der untergeordneten Geschlechter, der Migration usw. ja muss sich dagegen richten, bei Strafe des Unterganges des gesamten Systems der Lohnarbeit. Dies beschreibt schon die permanente Aufgabe der Herrschenden und des Repressionsapparates, der immer den tatsächlichen Kräfteverhältnissen weit überproportional ist. Da Emanzipation und Widerstand immer möglich sind, auch bei noch so autoritären Regimen, bzw. da es immer auch den Versuch eines Sich-Entziehen aus den Ausbeutungsverhältnissen, als Dekommodifizierung, als tagtägliche Praxis, gibt, bzw. einfach um bessere Lebensverhältnisse durchzusetzen, ist er dazu gezwungen. Die gesamte Entwicklung des Kapitalismus, von den Hexenverbrennungen zur Durchsetzung des kapitalistischen Geschlechterregimes bis zum Krieg gegen den Terror zur Durchsetzung neoliberaler Verkehrsverhältnisse, kann als eine Geschichte von Konterrevolutionen gelesen werden. Auch das Marx'sche Werk kann so gelesen werden und sollte das auch. Es geht um die permanenten Her- und Zurichtung, Segmentierung und Hierarchisierung der einzelnen Teile des gesellschaftlichen Zusammenhanges. Aktuell passiert dies als präventive, soziale Konterrevolution. Schon die Möglichkeit einer Revolution soll aus den Herzen und Hirnen der Menschen ausgemerzt werden. Revolution soll undenkbar werden und damit gar nicht in den Focus des Handelns gelangen. Dass dem nicht so ist haben zuletzt die Ereignisse in der arabischen Welt sehr deutlich gezeigt. Es geht darum, die Lebensverhältnisse großer Teile der breiten Massen (natürlich nicht aller) zu verschlechtern, um so die Mehrwertrelationen weiter zugunsten der Kapitaleigner_innen zu verschieben. Es sind die emanzipativen Bewegungen, die die Kapazität und Wirkmächtigkeit, die Kontinuität der psK, unterbrechen können. Und sie können das nur über und vermittels des Sorge-Komplexes. Oder anders gesagt: Nur wo es möglich wird diese Kontinuität zu unterbrechen werden die Risse im System deutlich, werden in ihrer Vielfalt sichtbar und erst ab diesen Zeitpunkt kann eine strategische Intervention erfolgen, die die Möglichkeit des Ergreifens der Massen beinhaltet. Dies wäre der Zeitpunkt ab den von Resonanzerscheinungen gesprochen werden kann.

Die Konterrevolution greift permanent auf die Individuen als Individuen zu und bearbeitet sie, produziert sie in marktgängiger Gestalt. Dies passiert nicht nur direkt durch Regierungsmaßnahmen, wie in den Dokumenten und Statements der EU-Institutionen, die vor ihrer Veröffentlichung von Linguistikexpert_innen überprüft werden oder durch die Prellereien der Chefs, sondern ebenso durch vorgefertigte Selbstpraktiken die in endlosen Wiederholungen, wie jene tagtäglichen Interventionen der Massenmedien, die einen extremen Verunsicherungsdiskurs mittels Mehrfachdiskriminierungen führen. Diese und viele ähnliche Praktiken fixieren die Subjekte, formen die Subjekte identitär auf zugeschriebene Rollen und wirken so präventiv, in der individuellen Vereinzelung antikollektiv und entsolidarisierend, in der Festschreibung der (dualen) Geschlechterrollen auf die respektive geschlechtliche Arbeitsteilung, in sozialer Hinsicht auf die Hierarchisierung und Fixierung der Ungleichheiten.

Sorge kann diesen Kreislauf unterbrechen, weil sie sich auf die Singularitäten bezieht, aber gleichzeitig auch auf die Kollektive zielt, in einem wechselseitigen Prozess, der Vielheit impliziert und produziert. Worauf hier hingewiesen werden soll ist das bürgerliche Individuum, das in seiner Konkurrenzfixiertheit zu kollektiven Praktiken nicht fähig ist. Dazu bedarf es eines Darüberhinausgehens mittels des Sorge-Komplexes, das eine kreative und dynamische Wechselwirkung zwischen den Singularitäten und den Kollektiven ermöglicht, ohne sie dabei zu determinieren und binär zu fixieren.

Konterrevolution greift permanent auf die Gesellschaft zu, indem sie spaltet, segmentiert, bewertet und entwertet, determiniert. Die aktuell gängig angewandten Mechanismen sind jene der Angst vor Terrorismus, Verbrechen und vor den Anderen. Es ist die Angst des Individuums. So gelang es immerhin die gesamte globalisierungskritische Bewegung über die Ereignisse um 9.11. zu verunsichern und zu kriminalisieren.

5. These:

Care-Sorge-Für-Sorge bezieht sich, wie bereits angeschnitten, nicht nur auf die Reproduktionsarbeit, die Pflege, etc., sondern ebenso auf die immateriellen Bereiche des Zusammenlebens: die Aufmerksamkeit, die Zuwendung, die Solidarität. So sie sich auf die subalternen Lagen bezieht subvertiert sie den vorherrschenden Sicherheitsdiskurs ist dabei Mittel und Zweck zugleich. Ihr historisches und aktuelles Instrument ist der Streik. Der Streik als Unterbrechung des tagtäglichen "Laufes der Dinge" soll auf den Sorge-Bereich umgelegt werden. Hier aber nicht als Entzug und Verringerung an Arbeit, wie in der klassischen Arbeitsniederlegung, sondern als Produktion von Überschüssen, eines Mehr an Sorge, das nicht jenen zugute kommen soll, die schon genug davon haben, sondern jenen, die Gefahr laufen aufgrund ihres praktischen täglichen Widerstandes ausgebrannt, demoralisiert zu werden. Dies könnte über die Konstituierung von Care-Collectiven erfolgen.

Beim Streik geht es darum konkret Stellung zu beziehen, Partei zu ergreifen. Es ist hier nicht möglich im beliebig-luftleeren Raum zu agieren, sondern die vorhandenen Räume auf bestimmte Art und Weise zu gestalten, etwas, was immer eines gemeinsamen Diskurses bedarf. Es geht darum, ausgehend von den vergangenen Auseinandersetzungen Schlüsse zu ziehen, ohne dabei die Gegenwart und die Zukunft zu determinieren. Sorge öffnet dabei den Blick auf die soziale Gewordenheit, auf die Gemachtheit der gegenwärtigen Verhältnisse, auf deren Historie und damit Veränderlichkeit. Sie schafft so Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die der Kapitalismus immer wieder zu unterbrechen sucht. Sorge schafft so jene zeitlichen Kontinuen, die kollektiven Tun erst Sinn geben und es so ermöglichen kann. Auf diese Weise kann ein Raum geöffnet werden und Utopien und Möglichkeiten ge- und erfunden und damit auch angeeignet werden. Die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, dem Patriarchat, der Umweltzerstörung, ist somit auch eine Wiederaneignung von (kollektiven) Formen der Sorge: ist Mittel und Zweck zugleich. Kollektive Formen der Sorge gibt es, schon lange, aktuell auch bei den Kämpfen der Refugees in Wien um ihren Aufenthaltsstatus. Bei dieser Bewegung ist augenscheinlich, dass sie nicht von solcher Dauer wäre, wenn nicht ein Netzwerk von Unterstützer_innen sich sorgend eingeschaltet hätte. Dies erstreckt sich von der Solidarität mit den Geflüchteten bis zur Hilfe bei der täglichen Versorgung. Die Aktivitäten der Repressionsapparate, vornehmlich das Innenministerium, zielen dabei immer auf die Spaltung der Akteure und Aktivist_innen untereinander und zudem von der Zustimmung in Teilen der Bevölkerung. Deshalb vor kurzem die Denunziation und Hochstilisierung einiger Refugees stellvertretend für viele, zu "Schleppern".

Der Streik, der klassische so wie der Sorge-Streik, unterbricht den gewohnten Lauf der Dinge. In seiner klassischen Gestalt, die durchaus noch nicht obsolet geworden ist, soll er einen Mangel produzieren, z.B. an Waren, an Profit, an Mehrwert, der die Unternehmer treffen soll und so zu Zugeständnissen zwingt. Im Bezug auf den Staat soll der Streik bestimmte Gesetze verhindern, andere ermöglichen. Die Unterscheidung zwischen ökonomischem und politischem Streik scheint aber eher hinderlich, weil dem Einen das Andere abgesprochen wird, und umgekehrt. Der klassische Streik als Instrument der industriellen Arbeitnehmer_innenklasse hat aber für relativ zersplitterte und unterschiedliche Ausbeutungslagen, wie z.B. den Hausarbeiterinnenstreik, nicht dieselben Wirkungen gezeigt. Es wären für andere Voraussetzungen auch andere Streikformen zu wählen, die nach wie vor die Unterbrechung des Alltäglichen hervorbringen. Solcherart soll hier der Sorge-Streik als Produktion von Überschüssen, nicht von Mangel, vorgeschlagen werden, wie er bereits von der spanischen feministischen Gruppe "Precarias alla Deriva" in die Diskussion gebracht wurde. Dieses Mehr an Aufmerksamkeit, an Zeit usw. soll aber nicht jedem voraussetzungslos zugute kommen. So nicht jenen, die davon schon genug haben, weil sie es sich einfach nehmen können, aufgrund ihrer Machtstellung oder ihrer vorhandenen Ressourcen, sondern im Gegenteil soll es jenen zugute kommen, für die das nicht zutrifft. Dieser Überschuss hat solcherart keinen caritativen Charakter und er ist, da er Vertrauen und Anteilnahme ohne Gegenleistung entgegenbringt den vorherrschenden konservativen Sicherheitsdiskurs entgegengerichtet. Er bezieht sich auf die Subjekte, die bereits Widerstand leisten und von den repressiven Maßnahmen am meisten betroffen sind, die Aktivist_innen, die Undokumentierten, die prekär Beschäftigten. Der Care-Streik schafft für sie die notwendigen Ressourcen, die nicht nur materieller Natur sind. Er hat die Kraft den Sicherheitsdiskurs unwirksam zu machen, weil er seine angstmachenden und disziplinierenden Wirkungen und deren Effekte unwirksam macht und so den Weg frei macht für eine freiere Gesellschaft, die nicht über Menschen, Tiere und die Natur herrschen muss, sondern in dem sie ihre Bedürfnisse in Würde ausverhandeln.

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Matthias Rude:

Frauen- und Tierrechtsbewegung: Eine doppelt verschwiegene Geschichte

Die Geschichte der Anstrengungen des Menschen, die Natur zu unterjochen, ist auch die Geschichte der Unterjochung des Menschen unter den Menschen.
- Max Horkheimer.

Auf den versteckt liegenden Pfaden des Londoner Battersea Parks kann man einem kleinen Stück einer doppelt verschwiegenen Geschichte nachspüren: Kaum auffindbar, am Rand eines Weges nahe des Old English Garden, steht die Statue eines Hundes auf einem Sockel mit Inschriften, die besagen, dass das unauffällige Denkmal 1985 von der British Union for the Abolition of Vivisection und der National Anti-Vivisection Society gestiftet worden ist - um ein im Jahr 1910 von prominenterer Stelle im Park entferntes Denkmal zu ersetzen, und um an die Ereignisse zu erinnern, die sich damals an ihm entfacht hatten.

"Die Sorge ums vernunftlose Tier aber ist dem Vernünftigen müßig. Die westliche Zivilisation hat sie den Frauen überlassen", heißt es in der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Die britische Tierrechtsbewegung ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der feministischen Bewegung derart überlagert, dass die Medizinstudenten des University College, die ab 1906 gegen die Aufstellung des Denkmals protestieren, Antivivisektions- und Frauenwahlrechtsbewegung gleichsetzen: Sie stören zahlreiche Veranstaltungen letzterer, um gegen erstere vorzugehen. Das Denkmal eines Hundes, das symbolisch für die Opfer der Vivisektion errichtet wird, wird schnell zum Ausgangspunkt für die heftigsten und militantesten Auseinandersetzungen, welche die britische Tierrechtsbewegung bis zu diesem Zeitpunkt geführt hat. Die Medizinstudenten versuchen immer wieder, das Denkmal zu zerstören, stoßen dabei aber auf den vehementen Widerstand der Vivisektionsgegner sowie der Bevölkerung des ArbeiterInnenviertels, die in dem Hund offenbar ein Symbol für ihre eigene Unterdrückung sieht. Über Jahre hinweg wird der Konflikt, bekannt als Brown Dog Riots, ausgetragen. Ort der Auseinandersetzungen ist sowohl Battersea als auch das Londoner Zentrum, wo auf dem Trafalgar Square Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmenden stattfinden. Unter dem Druck der Kontroverse wird die Statue 1910 von einem neuen Bezirksrat geheim entfernt.

Für Teile der Frauenbewegung sind Feminismus und Aktivismus gegen die Vivisektion Teile desselben Kampfes gegen Unterdrückung. "Nichts könnte mich dazu bringen, ein Huhn zu essen oder die grausame Behandlung unschuldiger Tiere um ihres Pelzes willen stillschweigend zu dulden. Es läuft mir entsetzlich kalt über den Rücken, wenn ich auf einer Versammlung zum Wahlrecht für Frauen sehe, wie Frauen grässliche Trophäen von Schlachtopfern mit sich herumtragen", so eine Wortmeldung bei der Versammlung der National American Woman Suffrage Association im Jahr 1907. In der späteren Literatur über die Suffragettenbewegung findet sich das Zitat kaum noch irgendwo. Die US-Amerikanerin Carol J. Adams, die in ihrem Buch The Sexual Politics of Meat: A Feminist-Vegetarian Critical Theory den Hinweisen auf eine feministisch-vegetarische Theorietradition in der westlichen Moderne nachgegangen ist, spricht von einer doppelt verschwiegenen Geschichte: "Die Allianz von Frauen und Vegetarismus in der Geschichte und in der Literatur wurde verzerrt und das aufschlussreiche Netzwerk von Feministinnen und VegetarierInnen daher überhaupt nie dargestellt. Teile der Theorien von vegetarischen Feministinnen wurden verschwiegen. Wir haben es also mit einer doppelt verschwiegenen Geschichte zu tun: der verschwiegenen Geschichte von Frauen und der verfälschten Geschichte des Tierrechtsaktivismus."

Der Begriff Suffragetten bezeichnet zu Anfang des 20. Jahrhunderts jene Frauenrechtlerinnen in Großbritannien und den USA, die mit verschiedenen Methoden für das Frauenwahlrecht kämpfen. In ihrer militanten Erscheinungsform übernimmt die Frauenwahlrechtsbewegung in diesen Jahren Methoden, die den Protestformen der radikalen Arbeitertradition entliehen sind und auf die sich wiederum die Tierrechtsbewegung bezieht. Dass die Übernahme direkter Aktionen, der sich die Suffragetten bedienen, aufgrund personeller Überschneidungen beider Bewegungen und ähnlichem Sympathisantenklientel auch unmittelbar auf die Tierrechtsbewegung übergeht, darauf hat im deutschsprachigen Raum in erster Linie die Historikerin Mieke Roscher aufmerksam gemacht. Sie berichtet über die erklärte Absicht der militanten Suffragetten, niemals Menschen oder Tiere zu gefährden - aber, so Emmeline Pankhurst (1858-1928), Mitglied der Independent Labour Party und Mitbegründerin der Women's Social and Political Union (WSPU), im Jahr 1913: "Wenn es dafür notwendig ist, um das Wahlrecht zu erhalten, werden wir soviel Schaden an Eigentum anrichten, wie wir können." Die Maßnahmen reichen von der Durchführung von Demonstrationen und der Störung von Parlamentssitzungen über Streikposten, Ankettungen und Angriffe auf Regierungsmitglieder bis hin zur Zerstörung von Fensterscheiben, Briefkästen und Briefsendungen, dem Einsatz von Brandbomben und der Brandstiftung an Häusern, Bahnhöfen und Schlössern. Des Weiteren verweigern sich einige der Zahlung von Steuern. "Es gibt etwas, um das sich Regierungen viel mehr Sorgen machen, als um menschliches Leben, und das ist die Sicherheit des Eigentums. Und so ist es durch das Eigentum, dass wir den Feind bekämpfen werden. Seid militant, jede auf ihre Art", lässt Pankhurst verlautbaren, und weiter: "Das Argument der zerbrochenen Fensterscheibe ist das wertvollste Argument moderner Politik." Ab 1912 ist die WSPU praktisch eine illegale Organisation, ihre Anführerinnen befinden sich entweder im Gefängnis oder im Exil in Paris, von wo aus sie die Leitung aus dem Untergrund weiterführen.

Emily Wilding Davison (1872-1913), eine der militantesten Suffragetten, ist der Meinung, dass Tierrechte die logische Erweiterung feministischer Forderungen sein müssen. Sie initiiert zahlreiche Brandanschläge und bekennt sich außerdem zum Anschlag auf das Privathaus des Premierministers Lloyd George im Jahr 1913. Zur Märtyrerin der Frauenwahlrechtsbewegung wird sie, als sie noch im selben Jahr beim Derby vor das Pferd des Königs läuft und an den Folgen ihrer Verletzungen stirbt. Zu ihrem Freundeskreis zählen andere Suffragetten, die ihr Tierrechtsinteresse teilen, etwa ihre spätere Biografin Gertrude Baillie Weaver (1857-1926). Sie und ihr Ehemann Harold, aktives Mitglied der Men's League for Women Suffrage, gründen gemeinsam das National Council for Animals' Welfare Work. Für Harold Baillie Weaver ist Tierausbeutung die "abscheulichste Form der Ausbeutung der Schwachen durch die Starken".

Die Sozialistin und spätere Sinn-Féin-Aktivistin Charlotte Despard (1844-1939) fungiert zunächst als führendes Mitglied der WSPU und ist 1907 Mitbegründerin der Women's Freedom League. "Vegetarismus war für sie Grundlage für soziale Veränderung, der Freiheit von Mensch und Tier", merkt Mieke Roscher in ihrer umfassenden Untersuchung zur Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung zu ihr an. Im Jahr 1906 begleitet Despard die Enthüllung des Brown-Dog-Denkmals in Battersea. Heute noch ist in dem Londoner Stadtteil eine Straße nach ihr benannt. Ihr Engagement für Tiere aber wird meist verschwiegen.

Die Solidarität mit Tieren als ebenfalls Ausgebeutete und Unterdrückte wird noch heute nicht nur nicht ernst genommen, sondern gilt gar, wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt, als Abfall von der Kultur: Aufs Tier zu achten wird als Verrat am Fortschritt angesehen. Das Mensch-Natur- und Mensch-Tier-Verhältnis der westlichen Kultur, das im Zuge der Europäisierung der Erde hegemonial geworden ist, ist ein in seinem Ursprung patriarchales und ist durch und durch von Herrschaft geprägt; der Kulturprozess zeichnet sich geradezu dadurch aus, sich die Natur mehr und mehr anzueignen, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. In die Sphäre des Natürlichen, die es zu beherrschen gilt, fallen nicht nur die Tiere, sondern traditionell auch der zu unterjochende Fremde und die zu beherrschende Frau. Diese wurde, so Horkheimer und Adorno, "zur Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in deren Unterdrückung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand. Grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende. Darauf war die Idee des Menschen in der Männergesellschaft abgestimmt." Unter der bürgerlichen Herrschaft habe die Frau zwar "für die ganze ausgebeutete Natur die Aufnahme in die Welt der Herrschaft" erreicht, "aber als gebrochene".

Eine Bewegung zur Überwindung der bürgerlichen Herrschaft, welche eine emanzipierte Gesellschaft zur Folge hätte, müsste in der Lage sein, auch diesen Bruch und seine Ursachen zu überwinden - sie muss, will sie nicht wieder und wieder Herrschaft reproduzieren, die unterdrückte Natur als Verbündete im Kampf gegen die ausbeuterischen Gesellschaften erkennen. Wenn sie kein anderes Verhältnis zur unterdrückten Natur und zu den Tieren entwickeln, können die menschlichen Emanzipationsbewegungen nicht zum Erfolg führen. Dies wird deutlich, wenn man eine historische Perspektive einnimmt und sieht, dass die Geschichte der Anstrengungen des Menschen, über die Natur und die Tiere zu herrschen, auch die Geschichte der Herrschaft des Menschen über den Menschen ist. Herbert Marcuse sprach deshalb im Kapitel Natur und Revolution in Konterrevolution und Revolte (1972) von der "Befreiung der Natur als Mittel der Befreiung des Menschen". Dass "die Gewalt beseitigt und die Unterdrückung so weit verringert wird, als erforderlich ist, um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Aggression zu schützen", waren für ihn die Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft.

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Martin Birkner[1]:

Was tun mit Demokratie - in Praxis und Theorie?

Einen Text über Demokratie zu schreiben ist ebenso problematisch wie über Gerechtigkeit (siehe Blume/Sinakusch 2013). Unweigerlich handelt mensch sich einen Rattenschwanz an Assoziationen, "Nebenthematiken" und Begriffen ein, die untrennbar mit Demokratie verknüpft sind. Ein paar Beispiele: Repräsentation, Parlamentarismus, (Menschen)Rechte, Parteien, Wahlen, Diktatur - als (vermeintlicher) Gegenpol, Politik, das Politische, Souveränität, Volk, Mitbestimmung, Verfassung, Republik, Staat, StaatsbürgerInnenschaft, Geschlechtergerechtigkeit, Gewaltenteilung, um nur einige der wichtigsten zu nennen ... Ein anderer erschwerender Aspekt ist die immense Vielfalt gesellschaftlicher Vorstellungen, die mir dem Begriff der Demokratie verbunden sind.

Denn was ist so unterschiedlichen politischen Subjekten wie beispielsweise (Rest)LeninstInnen, ATTAC!, Liberalen und der rechtsextremen FPÖ gemein? Richtig: das Bekenntnis zur Demokratie. Und mehr noch, sie alle fordern mehr davon und geizen nicht mit Realisierungsratschlägen. Aber auch an den Orten linker Theoriebildung, ja sogar auf den occupierten Plätzen der neueren und neuesten sozialen Bewegungen ist das Zauberwort in aller Munde: Zwar wird es dort oft und gerne ergänzt von Zusätzen wie "kommender", "realer" oder "direkter", ein Vorwurf jedoch wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nur der jeweiligen politischen Gegnerin gemacht: undemokratisch zu sein. Und selbst kommunistische Militante wie Michael Hardt und Toni Negri lassen uns - zumindest in der deutschen Übersetzung - bereits im Titel ihres neuesten Wurfs wissen "Wofür wir kämpfen" (so der Untertitel): Demokratie, mit Rufzeichen! (Hardt/Negri 2013)

Dabei sollte doch allein die etymologische Zusammensetzung dieses Begriffs linke Ohren bereits zum Revoltieren bringen: Herrschaft des Volkes. Sind da nicht bereits die drei Grundübel einer Welt voll Unterdrückung und Leid versammelt, namentlich Patriarchat, Unterdrückung und Vereinheitlichung? Sind es nicht gerade jene Aspekte gesellschaftlicher Ordnung, denen die mehr oder weniger radikale Linke erbitterten Widerstand entgegensetzen sollte? Ist das zu überwindende Problem nicht genau die Beherrschung eines (Groß)Teils der Menschen durch einen anderen (kleineren), gepaart mit der Vereinheitlichung der unterschiedlichen Individuen zu einem "Volksganzen", dessen wesentliche Bestimmung es wiederum ist, eben jene Beherrschung zu leugnen?

Aber auch historisch lassen sich eine Menge Einwände gegen die diversen Formen der real existierenden Demokratien ins Treffen führen. Von der griechischen Polis über die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung bis hin zur sozialdemokratisch-wohlfahrtsstaatlichen Variante: stets bezogen demokratische Gemeinwesen ihre Identität über den Ausschluss des bzw. der Anderen. Dieser Ausschluss - der Frauen, der Sklaven, der Behinderten, der Nicht-Staatsbürgerinnen - ist keine zufällige Begleiterscheinung demokratischer Ordnungen, sondern ganz im Gegenteil ihr konstitutives Element, wie am Beispiel der Entstehungsgeschichte der Demokratie in den USA Heide Gerstenberger akribisch nachzeichnet. (Gerstenberger 1973) Dies sollte im Hinterkopf behalten werden, wenn von zeitgenössischen Varianten real existierender Demokratie - also im Wesentlichen liberal-demokratischer Repräsentation die Rede ist, zum Beispiel im Rahmen einer Kritik neoliberaler Entdemokratisierung (oder sogar Postdemokratie).

Mythen der Entdemokratisierung

Unter KritikerInnen des Neoliberalismus weit verbreitet ist die Rede von der Entdemokratisierung der Gesellschaft im Rahmen der neoliberalen Globalisierung. Dabei wird jedoch gerne vergessen, dass auch die Regimes der fordistischen Wohlfahrtsstaaten nicht gerade vor Demokratie strotzten. Zwar wurden im Nachkriegseuropa die sozialen Sicherungssysteme ausgebaut und ein breiter Teil der - männlichen - Arbeiterklasse mehr oder weniger in das System integriert, dies wurde jedoch selbst wiederum mit der teuren Hypothek der Sozialpartnerschaft bezahlt; einer nicht demokratisch legitimierten Schattenregierung, die hierzulande über Jahrzehnte das politische Geschehen bestimmte und darüber hinaus im Rahmen ihres institutionalisierten Klassenkompromisses das Proletariat nahezu vollständig von Streiks und anderen widerständigen Handlungen in eigener Sache entwöhnte. Gar nicht zu reden von der kaum vorhandenen Auseinandersetzung mit dem Erbe des NS-Regimes, der Zwangspsychiatrierung psychisch Kranker, dem verbrecherischen Regime in Kinder- und Jugendheimen u.v.a.m. Bei genauerer Betrachtung lässt sich schlussfolgern, dass es mit der Entdemokratisierung unserer Gesellschaft nicht so weit her ist. Vielmehr war auch in fordistischen Zeiten die Demokratie eine "marktkompatible" (Angelika Merkel), nur war der Markt damals stärker durch die Rolle des Staates darin geprägt. Daraus jedoch ein Mehr an Demokratie abzuleiten erscheint mir zumindest fragwürdig.

Dies gilt auch für die Klage über den "schwachen Staat" heute, der angeblich nicht mehr in der Lage ist, die ach so freien Kräfte des Marktes in seine Schranken zu weisen. Angesichts der gegenwärtigen Austeritätsregimes vor allem in den südeuropäischen Staaten zeigt sich vielmehr das autoritäre Potenzial staatlicher Krisenregulierung - wenn es um die Rettung von Banken und die Unterwerfung ganzer Bevölkerungen unter brutale Kürzungsmaßnahmen geht. Eine Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ist vom Staat also nicht zu erwarten. Die Kunst für eine erneuerte Strategie sozialer Bewegungen besteht vielmehr darin, dem vermeintlichen Gegensatzpaar Staat - Markt nicht auf den Leim zu gehen, sondern aus den Bewegungen zur Verteidigung von Commons und gegen Austeritätspolitik Strategien zu einer partizipativen Neuordnung der sozialen Ordnung zu entwickeln. Die gegenwärtige postfordistische Transformation des Kapitalismus verunmöglicht jedenfalls ein Zurück zur parlamentarischen Repräsentation als gesellschaftliches wirksames Steuerungsmedium - zumal aus emanzipatorischer Perspektive.

Die halbierte fordistische Demokratie als Maßstab einer linken Kritik des Neoliberalismus vergisst all jene (kollektiven) Subjekte, die in der fürsorglichen Politik der europäischen Wohlfahrtsstaaten eben nicht "mitgemeint" waren, d.h. tendenziell all jene, die nicht Mitglied der jeweiligen mehrheitsgesellschaftlichen und männlichen Arbeiterklasse waren: Frauen, Opfer des Nationalsozialismus, MigrantInnen, Behinderte, Heimkinder, Homosexuelle, Roma und Sinti, Arbeitslose - und andere "Minderheiten". Ob es um die Möglichkeit der Inanspruchnahme grundlegender sozialer Leistungen oder auch um die Abwesenheit staatlichen (Fürsorge)Zwangs geht, sie konnten nur - wenn überhaupt - durch kollektive Kämpfe durchgesetzt werden. Die verstaatlichte ArbeiterInnenbewegung kümmerte all das recht wenig, auch wenn Kreisky von der "Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie" sprach: erst die mehr oder weniger neuen sozialen Bewegungen konnten Verbesserungen für diese Bevölkerungsgruppen, darüber hinaus aber oft auch für die gesamte ArbeiterInnenklasse erreichen. Dies wird in der linksliberalen Kritik des Neoliberalismus nur allzu leicht vergessen und führt dann oft in die Verklärung des Sozialstaats. Wird der Fokus der Kritik dagegen auf die staatliche Regulierung dieser Wohlfahrtsregimes gelegt sowie auf die konstitutive Rolle des Staates in der fordistischen Produktionsweise, stellt sich ein weit nüchterneres Bild dar. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die neoliberale Konterrevolution dem Gegenstand adäquat analysieren, nämlich als Reaktion auf die oben genannten sozialen Bewegungen von 1968 und danach.

Der Kapitalismus konnte die legitimen Forderungen dieser Bewegungen nach Selbstbestimmung, Nichteinmischung des Staates und des Kampfes gegen entfremdete Arbeit aufnehmen und schließlich gegen die Menschen selbst wenden: Im Namen von Ich-AG, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen oder der Vermarktwirtschaftlichung sozialer Dienstleistungen nahm die Rekuperation (Wiedergewinnung) der Bewegungsforderungen im Neoliberalismus schließlich wiederum autoritäre Gestalt an; und diese autoritäre Gestalt ist zuvörderst nach wie vor der Staat. Weit entfernt vom oftmals beklagten "Rückzug des Staates" erleben wir - in gegenwärtigen Krisenzeiten mehr denn je - eine Rückkehr des starken Staates. Angesichts der elementaren Krise der repräsentativen Demokratie, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, zeigt sich das wahre Gesicht des kapitalistischen Gemeinwesens wenig überraschend als autoritäres. Nur WohlfahrtsstaatsromantikerInnen kann das Geschwätz Merkels von der "marktkompatiblen Demokratie" erstaunen: Wann war sie denn dies jemals nicht? Bloß war der Markt noch ein anderer, staatlich unmittelbar regulierter. Aber wirklich demokratischer?

Gegenwärtige parlamentarische Demokratien steuern gesellschaftliche Vorgänge mittels zweier Medien: Gesetze und Geld, letztere vor allem im Rahmen staatlicher Steuerhoheit. Allein schon dadurch wird der Staat zu einem ganz maßgeblichen ökonomischen Akteur - keine Spur von den höheren Weihen politischer Freiheit; es sei nur an die allgegenwärtige Argumentation mit sogenannten "Sachzwängen" erinnert. Dabei sprechen wir hier noch gar nicht von der bedeutenden Rolle staatlicher Organe bei der Sicher- und Zur-Verfügung-Stellung von genügend Arbeitskraft, ihrer Ausbildung in staatlichen Bildungsinstitutionen, geschweige denn von unmittelbar ökonomischen Aktivitäten im Rahmen staatlichen Eigentums oder der Verflechtung von Außenpolitik und Außenhandel. Kein Staatsbesuch ohne Handelsdelegation, und selbstverständlich auch keine Bankenrettung ohne Demokratie.

Neuere Demokratietheorien sind zwar für gewöhnlich weniger staatsfixiert als neokeynesianische KommentatorInnen, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Staat und Demokratie lassen aber auch sie oft vermissen, zugespitzt könnte eine Art "Staatsvergessenheit" diagnostiziert werden. Ich möchte nun aber - bevor ich auf Alternativen in Theorie & Praxis zu sprechen komme - mein Hauptaugenmerk auf ein anderes problematisches Moment vieler dieser Demokratietheorien lenken: ihre "Sozialvergessenheit".

Die Sozialvergessenheit der Demokratietheorie

Viele der gegenwärtig diskutierten politischen Theorien beziehen die Form der Demokratie auf die Sphäre des Politischen, welche als klar abgetrennt und unterschieden von jener der sozialen Reproduktion der Gesellschaft gesehen wird. Der in dieser Sphäre wirksamen Gleichheit wird dann "die Demokratie" als Ganzes untergeschoben, Klassenunterschiede oder Geschlechterdifferenzen spielen keine Rolle mehr. In der demokratischen Öffentlichkeit stehen sich Gleiche gegenüber, im freien Austausch ihrer Meinung bildet sich der "Wille des Volkes" heraus, so die Mär von der klassenblinden Demokratie. Die spezifisch kapitalistische Form bürgerlich-repräsentativer Demokratien wird als solche enthistorisiert und somit naturalisiert, die ihr innewohnende politische Gleichheit wird zum Maßstab und Fetisch "undemokratischer" und "autoritärer" Regimes. Keine Spur der Kritik findet mensch hinsichtlich der Wirkungen gesellschaftlicher Arbeitsteilung oder der politischen Macht der KapitalistInnen. Dass es genau jene spezifisch kapitalistische Form ist, die über die Reproduktion der gesellschaftlichen Arbeitsteilung genau die Spaltungen der Bevölkerung hervorbringt bzw. ihre Überwindung hemmt, wird in den meisten demokratietheoretischen Ansätzen mehr oder weniger bewusst ausgeklammert. Wenn beispielsweise Oliver Marchart polemisiert, dass "[a]us politischer Perspektive [...] der sozialistisch-kommunistische Egalitarismus, der den Einschluss der sozial und ökonomisch ausgebeuteten Massen fordert, ein Kind der ach so bürgerlichen Revolution und vollständig im demokratischen Imaginären verankert [ist]" (Marchart 2005, 162), so ist dabei mehrerlei bemerkenswert: Erstens fordert der "sozialistisch-kommunistische Egalitarismus" nicht "den Einschluss der sozial und ökonomisch ausgebeuteten Massen", sondern schlicht das Ende der Ausbeutung und somit der "ausgebeuteten Massen" an sich, und zweitens ist er genau deshalb gerade nicht "vollständig im demokratischen Imaginären verankert", sondern weist über die (liberal-)demokratische Formbestimmung politischer Gleichheit hinaus. Wenn überhaupt, so ist Marcharts Interpretation als Kritik an der realen historischen Politik der hegemonialen Strömungen in der traditionellen ArbeiterInnenbewegung zu lesen, seine enthistorisierende Verallgemeinerung ist allerdings klar zurückzuweisen.

Der Ort der Macht ist - im unterschied zu Monarchie und Aristokratie - in demokratisch verfassten Gesellschaften eben gerade nicht leer, wie uns der Demokratietheoretiker Claude Lefort (Lefort 1990) weismachen möchte. Sein ehemaliger Mitstreiter Cornelius Castoriadis nimmt diesen berühmten Lefortschen Topos in seinem inspirierenden Essay "Welche Demokratie" auf Korn: "Oh Verzeihung, dass wir in unserer Dummheit geglaubt haben, die Entscheidung, Leute loszuschicken, um sich abschlachten zu lassen, sie arbeitslos zu machen oder in Ghettos zu sperren, müssten von einem gut besetzten "Ort der Macht" herrühren." (Castoriadis 2006, S. 83) In der liberal-kapitalistischen Ausprägung von Demokratie wurde der abgeschlagene Kopf des Königs - dieser hinterlässt nach Lefort ebenjenen "leeren" Ort der Macht - "lediglich" durch ein versachlichtes Verhältnis ersetzt, welches wohl nicht zufällig die gleiche etymologische Wurzel hat: Capitalis (lat. "den Kopf betreffend").

Philip Manows empfehlenswertes Buch "Im Schatten des Königs" (Manow 2008) zeigt darüber hinaus auch auf der Ebene demokratischer Repräsentation das Fortwirken prä-demokratischer Herrschaftsformen, sei es anhand der Sitzordnungen in Parlamenten oder in der Institution der parlamentarischen Immunität.

Der demokratietheoretische Diskurs gibt sich darüber hinaus eigenartig ahistorisch. Zwischen zum Teil weit auseinander liegenden Jahrhunderten wird hin- und hergesprungen, ohne sich sozialhistorisch mit den Bedingungen der jeweiligen demokratischen Experimente auseinanderzusetzen. Dem entspricht auch die eigenartig altbackene Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Krise der Demokratie. Trotz der radikalen Transformation, die das kapitalistische Weltsystem in den letzten 30 Jahren durchmachte, trotz der tiefen Krise der letzten Jahre, werden von Wissenschaft wie Politik gerade in letzter Zeit wieder vermehrt Vorschläge aus der Mottenkiste staatlicher Regierungstechniken vorgelegt - und auch diskutiert. Wolfgang Streecks vielbeachteter Essay "Gekaufte Zeit" (Streeck 2013) ist dahingehend ein Paradebeispiel. Mit explizitem Verweis auf marxistische Theorien präsentiert er eine vermeintlich linke, in Wahrheit jedoch rückwärtsgewandte und rundweg abzulehnende Variante demokratischer Krisenbearbeitung. Im Zentrum steht dabei einerseits die Wiedervernationalstaatlichung der Demokratie als Gegenbewegung zur neoliberalen Transnationalisierung des globalen Kapitalismus und andererseits ein völlig unreflektiertes Wiederaufwärmen des sozialdemokratischen Wachstumsfetischismus des 20. Jahrhunderts. Eine zukunftsfähige (radikale) Linke ist angehalten, gegenüber derlei rückwärtsgewandter Strategien eine klare Demarkationslinie zu ziehen. Eine nachhaltige emanzipatorische Transformation der Gesellschaft jedenfalls ist ohne wachstumskritische Fokussierung auf gesellschaftliche Naturverhältnisse nicht zu haben. Dass Streeck Fragen der geschlechtlichen Arbeitsteilung und des Sexismus oder gar rassistischer Komponenten des Kapitalismus wie zum Beispiel die Ausbeutung des globalen Südens erst gar nicht stellt, passt leider nur allzu gut ins autoritär-fordistische Bild ...

Eine Debatte zwischen Axel Honneth und Nancy Fraser (Fraser / Honneth 2003) bestimmte in den letzten Jahren den Diskurs der politischen Theorie: Umverteilung oder Anerkennung? Obwohl in dieser Diskussion die soziale bzw. ökonomische Frage durchaus Teil der Debatte war, können auch an dieser Gegenüberstellung klare Beschränkungen herausgearbeitet werden. Während Honneth in Rückgriff auf die Philosophie Hegels die Position der Anerkennung von Differenzen als Königsweg zur Demokratisierung beschreibt, bezieht Nancy Fraser die "sozialistische" Position. Sie weist zwar völlig zu Recht auf die ökonomische Determiniertheit kapitalistischer Demokratien hin, verbleibt aber im Rahmen ihrer Konstitution, wenn sie lediglich auf eine Umverteilung produzierter Werte zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen abzielt. Die konstitutive Form jeder kapitalistischen Vergesellschaftung, nämlich die Scheidung der Bevölkerung in Kapitalbesitzer_innen und jene, die nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft wird jedenfalls in beiden Spielarten linksliberaler Demokratietheorie nicht angetastet. Bereits Marx bemerkte zur Umverteilung vor nahezu 140 Jahren:

"Abgesehn von dem bisher Entwickelten war es überhaupt fehlerhaft, von der sog. Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen. Die jedesmalige Verteilung der Konsumtionsmittel ist nur Folge der Verteilung der Produktionsbedingungen selbst. Die kapitalistische Produktionsweise z.B. beruht darauf, dass die sachlichen Nichtarbeitern zugeteilt sind unter der Form von Kapitaleigentum und Grundeigentum, während die Masse nur Eigentümer der persönlichen Produktionsbedingung, der Arbeitskraft, ist. Sind die Elemente der Produktion derart verteilt, so ergibt sich von selbst die heutige Verteilung der Konsumtionsmittel. Sind die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst, so ergibt sich ebenso eine von der heutigen verschiedne Verteilung der Konsumtionsmittel. Der Vulgärsozialismus (und von ihm wieder ein Teil der Demokratie) hat es von den bürgerlichen Ökonomen übernommen, die Distribution als von der Produktionsweise unabhängig zu betrachten und zu behandeln, daher den Sozialismus hauptsächlich als um die Distribution sich drehend darzustellen. Nachdem das wirkliche Verhältnis längst klargelegt, warum wieder rückwärtsgehn?" (Marx 1875, 22)

Aber nicht alle Demokratietheorien vergessen auf ihr sozial-ökonomisches Fundament. Nicht in den im akademischen und feuilletonistischen Mainstream primär verhandelten Theorien finden wir Ansatzpunkte einer anderen Rede über Demokratie, sondern bei den mehr oder weniger vergessenen Autoren wie den bereits oben erwähnten Cornelius Castoriadis (Castoriadis 2006) oder auch C.P. Macpherson (Macpherson 1977). Aber auch zeitgenössische Debattenbeiträge von links, wie etwa die von Alain Badiou oder Michael Hardt und Antonio Negri, intervenieren in akademische Debatten und linke Bewegungen und stellen dabei dem kapitalistischen Begriff der "halbierten Demokratie" einen "absoluten" (Hardt/Negri) gegenüber (siehe dazu unter anderem Naetar 2006 und Birkner 2013).

Die Forderung nach einer derartigen "absoluten" oder "realen" Demokratie ist jedoch nicht nur ein Element linker Theorien, sondern auch zentraler Bestandteil der neuen sozialen Bewegungen. Während die globale Protestbewegung der Nullerjahre noch eher diffus "Eine andere Welt ist möglich!" postulierte, zeigen die jüngeren Auseinandersetzungen bereits schärfere Konturen: Die Möglichkeit reformistischer Veränderung der bestehenden Ordnung spielt in ihnen kaum mehr eine Rolle, vielmehr wird gegen die von oben verordnete "Demokratie", die keine ist, eine "reale" eingefordert - und auf den Plätzen auch praktiziert. Entgegen vielen Demokratietheorien entwickeln diese Bewegungen bei all ihren Unterschieden doch eine sehr weitgehende praktische Kritik sowohl an der staatlichen wie an der repräsentativen Form liberaler "Demokratie". Sie fordern eben nicht zufällig "reale Demokratie"[2]. All diese Bewegungen begnügen sich jedoch nicht mit einem Mehr an real existierender Demokratie, sondern verweisen, wohl wissend um das Absterben des liberalen Paradigmas parlamentarischer Repräsentation, auf ein überschießendes, utopisches Moment. Parteien und charismatische SprecherInnen haben ausgedient, im Rahmen der Versammlungen auf den Plätzen in Kairo, Madrid, New York, Istanbul oder Tel Aviv wird mit neuen Formen unmittelbar partizipativer Demokratie experimentiert.

Praktiken der konstituierenden Macht

Die Versammlungen auf den Plätzen im Rahmen der Occupy-Bewegung oder im Rahmen des "arabischen Frühlings" zeigen dabei die Richtung auf, die eine kommende Demokratie als konstituierende Macht einer neuen gesellschaftlichen Ordnung nehmen könnte (siehe Lorey et. al. 2012). Die Assembleas auf den Plätzen, die Stadtteilversammlungen und Nachbarschaftskomitees sind dabei wichtige Elemente einer solchen konstituierenden Macht, welche die Geschicke von widerständigen Praxen demokratisch lenken, aber auch die Wiederaneignung der sozialen Infrastruktur organisieren können. Die "Kliniken der Solidarität" in Griechenland oder aber die Vereinigungen gegen Zwangsdelogierungen in Spanien sind tief in der Bevölkerung verankerte Strukturen, die ihr Vertrauen in den Staat längst verloren haben, dem jedoch nicht mit Zynismus und Vereinzelung, sondern mit kollektiven Formen demokratischen Widerstands begegnen. In nächster Zeit wird sich zeigen, ob daraus Institutionen entstehen, die eine längerfristige Ablöse staatlicher Apparate einleiten können, eine dauerhafte Reorganisierung sozialer Dienstleistungen und letztlich auch nichtkapitalistischer Produktion und Distribution.

Das Wiederaufkeimen von Betriebsbesetzungen und der Diskussion um ArbeiterInnenselbstverwaltung stimmt dahingehend jedenfalls hoffnungsvoll. Hoch arbeitsteilige Gesellschaften können dabei wohl nicht gänzlich auf repräsentative Formen verzichten - wer will sich schon um Müllabfuhr, Herzoperationen, das Schienennetz oder die Elektrizitätsversorgung gleichzeitig kümmern, wie eine demokratische und effektive Kontrolle und Planung dieser Bereiche aussehen könnte, ist nicht auf dem Reißbrett, sondern nur durch eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung zu entscheiden. Aus Vergangenheit und Gegenwart wissen wir jedenfalls, dass dahingehend zentralstaatlicher Planung und kapitalistischem Markt gleichermaßen zu misstrauen ist. Es gilt also, neue Formen gesellschaftlicher Steuerung und Verwaltung auf transnationaler Ebene zu finden, ohne die Bedürfnisse der Menschen bürokratischen Großorganisationen wie z.B. der EU-Kommission unterzuordnen. Wie kann ein Überschreiten von Nationalstaatlichkeit mit einer Re-Regionalisierung sozialer Beziehungen unter Wahrung der Selbstbestimmung der Bevölkerung verknüpft werden?

Über die Institution des Privateigentums ist die staatliche Demokratie unverbrüchlich mit der ökonomischen Verfasstheit der Gesellschaft verknüpft. Dementsprechend muss jede demokratische Politik, die sich selber ernst nimmt, sich zu dieser Institution positionieren. Kapitalistische Demokratien tun dies auch mit allem Nachdruck. Gerade in postfordistischen Zeiten, in denen die Funktion des Eigentums wieder ins Zentrum des Ausbeutungsprozesses rückt, beweisen sie immer wieder aufs Neue ihren Klassenstandpunkt: Patente, Copyrights und Lizenzen ... Welche Alternativen können es zur herrschaftlich verfassten Durchsetzung des Privateigentums und der Enteignung des Kommunen geben? Wie kann gesellschaftliches Wissen und der Zugriff auf Ressourcen demokratisch und für alle Menschen sichergestellt werden, ohne wiederum auf das autoritäre Erbe des Staates zurückzugreifen? Viele neuere Demokratietheorien, die genau jenen Klassenstandpunkt links liegen lassen, enthistorisieren und entsozialisieren den Diskurs der Analyse real existierender Demokratien. Sie spielen, bewusst oder unbewusst, das Spiel all jener Kommentatoren, die gerade im Hinblick auf die Demokratiebewegungen des globalen Südens immer schon wissen, was Demokratie sei bzw. welche Demokratie zu fordern ist: Marktwirtschaft plus Parlamentarismus (vgl. dazu Badiou 2012).

One solution ...?

Folgt mensch der Verallgemeinerung des liberaldemokratisch-parlamentarischen Staatsbetriebs zu "der" Demokratie, wie dies z.B. Colin Crouch vorschlägt (2008), so ist seiner titelgebenden Diagnose - wir befinden uns mittlerweile in "postdemokratischen" Verhältnissen - sicherlich zuzustimmen. Angesichts eines derart "halbierten" Demokratiebegriffes ist jedoch nicht nur der Analyse, sondern auch den vorgeschlagenen Gegenmitteln zu misstrauen. So unbestritten die Triftigkeit der Crouchschen Analyse der radikal nachlassenden Steuerungsfähigkeit bürgerlich-demokratischer Apparate auch ist - aber ist mit ihrer liberalen Spielart die Demokratie an und für sich tatsächlich am Ende? Und: ist das tatsächlich so schlimm, dass wir uns allesamt mit aller sozialdemokratischer Gewalt an der Rettung der verbliebenen Residuen dieser Apparate machen sollten?

Ich meine: Ja und Nein. Ja, wenn es um die Kritik von Entdemokratisierung öffentlicher Institutionen und sozialer Errungenschaften geht, um die zunehmend repressiven und unmittelbar politischen Aktivitäten von Polizei und Justiz oder um die Privatisierung sozialer Dienstleistungen. Nein, wenn als Gegenmittel immer wieder aufs Neue ein Zurück zur fordistischen Konfiguration des Wohlfahrtsstaats gefordert wird - oder gar eine Re-Nationalisierung kapitalistischer Regulation. Stattdessen gilt es den Begriff der Demokratie anstatt um die Institutionen Eigentum - Geld - Staat vielmehr an Praktiken sozialer Bewegung, gesellschaftlicher Produktion und der Commons auszurichten - und mit Leben zu füllen. Maßstab für die Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ist dabei stets der Abbau von Diskriminierungs-, Ausschluss- und Ausbeutungsmechanismen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen.

Wie aber könnte eine breite gesellschaftliche Neuausrichtung und Neu-Instituierung der Demokratie aussehen? In jüngster Vergangenheit hat es mehrere Hinweise in Richtung eines solchen Demokratieverständnisses geben. Robert Foltin hat in der Nummer 46 dieser Zeitschrift einen inspirierenden Text zur "Demokratie der sozialen Bewegungen" verfasst (Foltin 2013), in dem er auf unterschiedliche Dimensionen demokratischer Praxis in den aktuellen sozialen Bewegungen hinweist, von den Versammlungen der Indignados in Spanien über die Aufstände des "arabischen Frühlings" bis hin zur Occupy-Bewegung. Dabei schält er die untergründige Wirksamkeit anarchistisch-autonomer Kooperations-, Diskussions- und Aktionsformen bis weit hinein in breite Massenbewegungen heraus und zeigt, wie sich alternative Formen demokratischer Praxis in die gesellschaftliche Breite entwickeln können. Auch Michael Hardt und Toni Negri haben in ihrem jüngsten Büchlein - es trägt in der Deutschen den Begriff auch gleich als Titel (Hardt/Negri 2013) - ungewohnt untheoretische Vorschläge zu einer Entwicklung eines demokratischen Gemeinwohls (Common Wealth hieß ihre jüngste große gemeinsame Arbeit) vorgelegt, die sowohl auf den Kämpfen und Praxen sozialer Bewegungen beruhen, aber auch vor rechtsstaatlichen Höhen nicht zurückschrecken und alternative Formen einer demokratischen Gewaltenteilung zur Diskussion stellen. Auch eine Gruppe linker Intellektueller rund um Angelika Ebbinghaus und Karl-Heinz Roth hat kürzlich einen Aufruf für ein egalitäres Europa veröffentlicht, der uns einige Hinweise in diese Richtung gibt (Papadimitrou/Roth 2013). Ob derlei Versuche eines möglichst breit anschlussfähigen "Übergangsprogramms" geeignet sind, um zumindest auf diskursiver Ebene Resonanzen auszulösen, wird die Zukunft zeigen; eine gewisse Skepsis scheint mir hier - bei aller Sympathie - doch angebracht. Entschieden wird aber auch diese Auseinandersetzung nicht auf theoretischem Terrain, sondern letztlich durch soziale Massenbewegungen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Ob der Begriff der Demokratie nun über Bord zu werfen ist oder ob die Linke trotz aller Bedenken einen Hegemoniekampf um ihn führen soll, kann und soll an dieser Stelle nicht entschieden werden. Wünschenswert wäre jedenfalls eine stärker strategisch und weniger religiös ausgerichtete Debatte darüber - und auch eine pointiertere Kritik all jener Sichtweisen von Demokratie, die deren ökonomischen Gehalt schlicht und einfach in Abrede stellen oder einfach verschweigen.

Eine demokratisch verfasste Ordnung, die auch sämtliche Bereiche der materiellen und immateriellen Reproduktion der Gesellschaft umfasst, in der also kein Teil der Bevölkerung mehr durch das ausschließende Privileg des Eigentums oder die institutionell abgesicherte Umformung von Differenzen in Herrschaft über Menschen ausgebeutet und/oder unterdrückt werden kann, was ist das anderes als der gute alte, noch nie dagewesene Kommunismus? Jeder nach seinen Fähigkeiten, jede nach ihren Bedürfnissen. Die Voraussetzungen waren eigentlich noch nie so günstig wie heute.


[1] Eine kürzere (Vor)Version dieses Artikels erschien im Mai 2013 in der Zeitschrift malmoe.

[2] "¡Democracia real ya!" war einer der Hauptslogans der spanischen Bewegung ausgehend von der Porta del Sol in Madrid.



Literatur

Badiou, Alain (2012): "Der Parlamentarismus ist eine Fiktion", in: grundrisse. zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 42, Wien, S. 5-11, online unter:
http://www.grundrisse.net/grundrisse42/parlamentarismus_ist_eine_Fiktion.htm (abgefr. 21.7.2013)

Birkner, Martin (2013): "Die Macht kann nicht überlegen, wenn die Subjekte ihre Angst ablegen.", Rezension zu Hardt / Negri (2013), in: grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 46, Wien, S. 58-59, online unter:
http://www.grundrisse.net/buchbesprechungen/michael_hardt_antonio_negri.htm (abgefr. 21.7.2013)

Blume, Anna und Sinakusch, Nick (2013): Standortfaktor Gerechtigkeit, in analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 583, S. 35

Castoriadis, Cornelius (2006): Welche Demokratie? In: ders.: Autonomie oder Barbarei; Ausgewählte Schriten Band 1, Verlag Edition AV, Lich, S. 69-112

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Foltin, Robert (2013): Die Demokratie sozialer Bewegungen, in: grundrise.zeitschrift für linke theorie & debattte, Nr. 45, Wien, S. 47-51

Fraser, Nancy / Honneth, Axel (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Gerstenberger, Heide (1973): Zur politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft: die historischen Bedingungen ihrer Konstitution in den USA, Athenäum-Fischer, Frankfurt a.M.

Hardt, Michael / Negri, Antonio (2013): Demokratie!: Wofür wir kämpfen, Campus, Frankfurt a.M.

Lefort, Claude (1990): Die Frage der Demokratie; In: Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 281-297

Lorey, Isabell et.al. (Hg.) (2012): Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Turia + Kant, Wien

Manow, Philip (2008): Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Marchart, Oliver (2005): Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Turia + Kant, Wien

Macpherson, C.P. (1977): Demokratietheorie, Campus, Frankfurt a.M.

Marx, Karl (1875): Kritik der Gothaer Programms, in: MEW Band 19, S. 22

Naetar, Francois (2006): Wie hältst du es mit der Demokratie ..., in grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 20, Wien, S. 46-58

Papadimitrou, Zissis / Roth, Karl-Heinz (2013): Die Katastrophe verhindern. Manifest für ein egalitäres Europa, Nautilus, Hamburg

Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

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Andreas Exner:

Die Tränengasdemokratie.

Istanbul, Frankfurt und der globalisierte Widerstand

Wer Meldungen zu den Protesten in Frankfurt anlässlich der Blockupy-Aktionen 2013 verfolgte und zeitgleich die Mitteilungen zur Revolte in der Türkei, die über die social networks eintrudelten, wusste manchmal nicht mehr genau, wovon die Rede war. So ging es einem Facebook-Leser, so ging es mir. Der Staat wird als eine Front von Robocops wahrgenommen und, wie sich zeigt, ist er das auch in der letzten Instanz - da steht eine so genannte entwickelte Demokratie einem allseits als autoritär bezeichneten Staat kaum mehr nach. Die letzte Instanz kommt immer dann zum Zuge, wenn der Staat Forderungen aus der Menge nicht mehr befriedigen kann oder nicht befriedigen will. Der neoliberale Staat zieht diese Grenze ziemlich eng. Denn die Kapitalisten sind seit über zwei Jahrzehnten im Durchschnitt hohe und vor allem steigende Profitraten gewöhnt. Die Illusion, dass dies ewig so weiter gehen kann, ist seit etwa 2008 brüchig geworden. Erstens aufgrund innerökonomischer Krisentendenzen, allen voran die gestiegenen Rohstoff- und Energiepreise, zweitens wegen der zugleich wachsenden sozialen Proteste weltweit. Die Profitraten in der EU sind deutlich gefallen und stagnieren seither, allen Kürzungsmaßnahmen zum Trotz. Die Proteste reagieren auf die enorme und in der Krise noch weiter steigende soziale Ungleichheit, auf die gewachsenen Lebenshaltungskosten und auf die zunehmende autoritäre Verhärtung des Staates, der das Leben immer strikter zu reglementieren sucht, kurz gesagt: Immer mehr Menschen protestieren oder revoltieren gegen immer schlechtere Lebensbedingungen.

Die Demokratie erhält damit ein äußerst zweideutiges Gesicht. In postings auf Facebook trägt sie inzwischen häufig eine Maske gegen das Tränengas, mit dem sich der Staat die Leute auf Distanz zu halten sucht.

JournalistInnen schützen sich mit Helmen, um von Demonstrationen berichten zu können - und werden dennoch verletzt, wie jüngst in Frankfurt. Ein Foto, das angeblich bei MayDay-Paraden 2010 aufgenommen worden ist, zeigt ein Pressezelt, in dem JournalistInnen ihre Meldungen mit Tränengasmasken bewehrt in den PC tippen.

Enthüllt das die real existierende Demokratie als eine Farce oder zeigt sie nur das Wesen der Demokratie als bürgerlicher Herrschaft, die mit einem freien Leben nichts zu tun hat? Sind die aufflammenden Protestbewegungen selbst erst das Erwachen einer neuen Demokratie gegen den Autoritarismus des Staates und des Kapitals? Diese Fragen sind theoretisch zweifellos wichtig, praktisch aber nicht unbedingt bedeutsam. Entscheidend vielmehr ist, was sich in den Protesten und Revolten äußert: ein wachsender Widerstand gegen Zumutungen. Dabei ist nicht gesagt, dass jede Straßenunruhe emanzipatorisch ist. Die Proteste gegen die Einführung der Homo-Ehe in Frankreich sind nur ein Beispiel dafür. Hier geht es um Straßenunruhen, die sich gegen Kommandogewalten richten und gegen die sozialen Verschlechterungen, die diese bewirken. Und sie bilden den Hauptkörper der globalen sozialen Unruhe.

Der wachsende globalisierte Widerstand

Der französische Anthropologe Alain Bertho befasst sich damit systematisch. Seit einigen Jahren führt er ein Monitoring von sozialen Unruhen durch. Deren Trend weist in den letzten Jahren stark nach oben. So gab es beispielsweise im Jahr 2011 im Schnitt weltweit bereits drei soziale Unruhen pro Tag. In China verweisen selbst die offiziellen Statistiken auf eine ungeheure Zunahme sozialen Protests über die letzten Jahre hinweg betrachtet.

In diesem Kontext dürfte auch die Zahl von Streiks zunehmen. Verlässliche globale Statistiken gibt es dazu nicht. Die letzte große Forschungsarbeit von Beverly Silver und ihrem Team, die Silver im Buch "Forces of Labour" dokumentierte, endet mit den 1990er Jahren, als sich die globalen ArbeiterInnenunruhen auf dem historischen Tiefpunkt befanden. Dieser Trend ist wohl inzwischen umgekehrt worden, wie Silver schon voraussah. Zwei Drittel der größten Streiks der Geschichte fanden einer Schätzung aus dem Jahre 2010 zufolge[1] in den letzten Jahren statt. Die These vom Verschwinden der ArbeiterInnenklasse zeigt sich so gesehen als äußerst fragwürdig.

Auch Analysen in einzelnen Ländern deuten darauf hin, dass die Anzahl der Streikenden und der Streiks pro Jahr im Schnitt zunimmt. Allerdings dürfte sich deren Schwerpunkt von den klassischen kapitalistischen Zentren in das neue Herz des Kapitalismus an der Semiperipherie verlagert haben, nach Indien oder China zum Beispiel. Doch selbst in Europa nehmen Proteste wahrscheinlich zu. Statistische Untersuchungen dazu sind immer noch rar. Freilich erweist sich die Bedeutsamkeit von Protesten nicht an ihrem puren Umfang, oder allein an ihrer Intensität und Dauer.

Viele Faktoren spielen zusammen, wenn Proteste soziale Verbesserungen bewirken, wie Frances Fox Piven und Richard Cloward schon in ihrem Buch "Poor People's Movements" aus dem Jahr 1977 zeigen konnten. Fox Piven hat dies in neueren Arbeiten noch bekräftigt. Piven und Cloward belegten, dass ausschließlich massenhafte und dezentrale soziale Proteste solche Verbesserungen bewirkten - allerdings vor allem dann, wenn zugleich eine übergreifende gesellschaftliche Krisensituation bestand. Ein wichtiges Element des Erfolgs von Protesten waren immer auch die Instabilität von Regierungen und Brüche innerhalb der herrschenden Klassen.

Diese Brüche sind in der Türkei sichtbar, in Deutschland momentan nicht; auf EU-Ebene dagegen möglich, in bestimmten EU-Ländern wie etwa Griechenland trotz anhaltender sozialer Kämpfe jedoch offenbar momentan nicht groß genug. Die Tränengasdemokratie produziert nicht nur einen weiter verschärften Rassismus, Antisemitismus und Sexismus unter den Bedingungen eines unglaublichen Verelendungsprogramms, das nun auch im globalen Norden Platz greift, sondern auch neue Subjekte des Widerstands dagegen. Proteste setzen eine Offenheit für abweichendes Verhalten voraus, aber sie verändern die Menschen, die daran teilnehmen und die sie rezipieren. Häufig radikalisieren sich Bewusstsein und Handeln weiter - sofern Proteste nicht unterdrückt werden, was der Staat der Robocops freilich offenkundig an allen möglichen Fronten weltweit anzielt.

Activisms 2010+, nach der Großen Probe 1968

In akademischen Kreisen ist schon von den "Activisms 2010+" die Rede, so in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift "Development and Change"[2]. In der Tat, die globalen Protestereignisse seit etwa 2010 scheinen eine Dimension wie nach 1968 anzunehmen. In der Einleitung der genannten Ausgabe stellen Kees Biekart und Alan Fowler die enge Kommunikation zwischen einzelnen Kämpfen insbesondere über die social networks heraus, die ihnen eine gegenüber den Bewegungen nach 1968 noch vermehrte Durchschlagskraft ermöglichen könnte: "Diese geographisch zerstreuten - aber in der einen oder anderen Weise miteinander verbundenen - Akte öffentlichen Widerstands und von Rebellion deuten darauf hin, dass etwas Außergewöhnliches geschieht, und zwar in und über verschiedene politische Landschaften hinweg." Biekart und Fowler sprechen von einer "Globalisierung des Unmuts", der einen Umschlagpunkt erreicht hätte.

Während diese Diagnose noch Gegenstand von Debatten sein wird, und vor allem von der Realentwicklung zu bestätigen oder zu widerlegen ist, kann als sicher gelten, dass der Kapitalismus in eine Periode tiefgreifender Krisenentwicklungen eingetreten ist, die er nicht mehr so leicht unter Kontrolle bringen kann. Soziale Auseinandersetzungen erhalten in solchen Phasen eine erhöhte Bedeutung. Denn etablierte Routinen der Bearbeitung von gesellschaftlichen Widerständen greifen nur mit erhöhten Schwierigkeiten; bestehende Krisenpotenzen werden durch das "business as usual", das die Eliten fortführen wollen, noch verstärkt; staatliche Autoritäten verlieren leichter ihre Legitimität, insbesondere wenn sie materielle Gratifikationen zurückfahren oder ungenierter in den von den Leuten als privat betrachteten Teil des Lebens eingreifen; und bei Menschen, die zwangsweise aus der Normalität ihres kapitalistischen Alltags der Lohnarbeit geworfen werden, weicht sich die Identifikation damit in vielen Fällen auf - sofern sie nicht von repressiven Ideologien kanalisiert wird.

In einem bemerkenswerten Aufsatz aus dem Jahr 1989, der im Buch "Anti-Systemic Movements" von Giovanni Arrighi, Terence Hopkins und Immanuel Wallerstein abgedruckt ist, analysieren die Autoren die Revolution von 1848 als eine Probe auf das Jahr 1917 und fragen, wofür wohl das Jahr 1968 die Probe gewesen sein mochte? 1968, so hat später insbesondere Immanuel Wallerstein wiederholt argumentiert, war eine Niederlage, und doch ein welthistorischer Wendepunkt. Denn in diesen Jahren haben die antisystemischen Bewegungen gegen die staatliche Ordnung und die Parteien revoltiert, die bis dahin die Hoffnung auf Befreiung verkörperten und worauf sich linke Bewegungen in aller Regel positiv bezogen hatten. Ende der 1960er Jahre war dagegen offenbar geworden, dass die Eroberung der Staatsmacht keine Befreiung bedeutete. Die Bewegungen pochten auf die materielle Verwirklichung von Freiheit und revoltierten folglich nicht nur gegen das Kapital, sondern auch gegen den Staat, die Parteien und die von diesen Apparaten durchgesetzten Zumutungen der Disziplin. Kommt nach der "Großen Probe von 1968", wie der besagte Aufsatz damals titelte, nun die "Aufführung"?

Manches deutet darauf hin. Nicht nur Biekart und Fowler betonen den neuen Charakter der globalen Protestbewegungen, die nicht auf die Eroberung der Staatsmacht zielen, und bestenfalls ein taktisches Verhältnis zu ihnen etwas freundlicher gesonnenen Parteien eingehen, sodass das Konzept der "Aktivismen 2010+"... "... auf mehr als nur eine bestimmte Form politischer Aktion oder des sozialen Kampfes verweist: es benennt auch das dezentrale und innovative Moment der vielfältigen Ausdrucksweisen des Protests. Diese "zivile Energie" fließt möglicherweise in einer gänzlich neuen politischen Bewegung zusammen, mit einer sehr verschiedenen Vorstellung von der Zukunft, mit der Ermächtigung der Menschen und mit Gerechtigkeit als Norm, und mit Gesellschaften, die auf der Basis popularer Zustimmung funktionieren anstelle der Kontrolle durch Eliten. Verschiedene BeobachterInnen (zum Beispiel Chomsky 2012, Klein 2012) haben auf diese Wasserscheide hingewiesen und vermuten einen Bruch mit früheren Generationen und vorherrschenden Utopien."

Die neuen globalen Widerstände, mit Blockupy Frankfurt 2013 und der Revolte in der Türkei als den jüngsten Beispielen, greifen in der Tat zu einem großen Teil die zentralen Zielrichtungen und Motive der 1968er wieder auf, die sich im Gefolge freilich weiterentwickelt haben, etwa in Form eines erhöhten Bewusstseins der Geschlechterverhältnisse und als weitergehende Formen kollektiven Handelns auf gleicher sozialer Augenhöhe.

Der Staat entwickelt sich zurück zum puren Parasiten oder wird aufgelöst

Allerdings geschieht das in einem veränderten gesellschaftlichen Kontext. War der "autoritäre Etatismus" (Nicos Poulantzas), der sich zuerst Ende der 1970er Jahre zeigte und dann als Neoliberalismus im Gefolge von Thatcher und Reagan durchgesetzt wurde, schon eine Reaktion auf die Kämpfe der 1968er und die dadurch mit bedingte Krise der Kapitalverwertung, gilt das für die Tränengasdemokratie in erweitertem Maße.

Dennoch sieht es nicht so aus, als wäre die Machtposition des Staates nur aufgrund seiner erweiterten technischen und rechtlichen Möglichkeiten ein für alle mal gesichert. Im Gegenteil, jedes neue Machtmittel ruft Widerstände hervor, die sich dieser Mittel in ihrem Sinn bedienen. Die social networks kontern der Überwachung von oben mit bottom up surveillance, sie verbreiten Informationen wo der Staat eine Informationssperre verhängt oder kapitalistische Medien nur selektiv berichten. Während der Staat den Ausnahmezustand zur Permanenz erklären will, wie verschiedene Gesetzesinitiativen und politische Projekte der letzten Jahre in Europa zeigen, wächst die Bewegung für Globale Soziale Rechte. Die Menschenrechte, von Marx als purer Reflex der bürgerlichen Ordnung kritisiert, ähneln heute teilweise eher dem Versuch einer Überschreitung der bürgerlichen Gesellschaft in ihren eigenen Formen. Die fortgeschrittene Kooptierung der Gesellschaft durch den Staat, namentlich durch diverse Projekte der so genannten Partizipation und Governance, hat wohl auch eine höhere Anfälligkeit des Herrschaftsapparats gegenüber sozialen Widerständen erzeugt.

Der Staat ist historisch gesehen ein gewaltbasierter Parasit. Der Historiker William McNeill hat ihn mit einem krassen Bild als Makroparasit in eine Linie mit den Mikroparasiten des Menschen gestellt. Diese Wahrheit konnte für eine Zeitlang teilweise und oft nur in der hoffnungsvollen Imagination kaschiert werden, solange billige fossile Ressourcen fortwährende Produktivitätsgewinne befeuerten. Wachsende Profite, immer billigere Waren und gewisse soziale Absicherungen gingen nur auf dieser Basis für Teile der Weltbevölkerung Hand in Hand.

Die letzten wesentlichen, weil strukturell wirksamen sozialen Verbesserungen erfolgten zudem im Verlauf der beiden Weltkriege, unter anderem weil der Staat im Krieg auf das Stillhalten der ArbeiterInnenklasse zählen musste; aber auch, weil der Krieg selbst eine systemkonforme Bearbeitung innergesellschaftlicher Widersprüche darstellt, die soziale Unruhen hervortreiben und von Unruhen ihrerseits verschärft werden. Bislang hat sich der historische Zusammenhang zwischen Krieg und sozialer Unruhe nicht wieder hergestellt, was Beverly Silver vor einigen Jahren zu leisem Optimismus Anlass gegeben hat.

Einer Rückentwicklung des Staates zum bloßen Parasiten, vom Abbau sozialer Errungenschaften bis zur Infragestellung des allgemeinen Wahlrechts und der Aushöhlung selbst der eingeschränkten bürgerlichen Freiheiten, oder deren Suspendierung in Zeiten des vom Staat für sich erklärten Notstands, wird Widerstand entgegengesetzt. Dieser Widerstand wird erfolgreich in dem Maße, als die Eliten vorerst aus purem Selbsterhalt Zugeständnisse machen müssen. Revolution und Reform sind für die "Aktivismen 2010+" keine Alternativen. Es geht um nicht weniger als die Abschaffung der herrschenden Klassen und die Auflösung des Staates in die Gesellschaft, in der er wurzelt und von der er seine Ressourcen bezieht. Das wird anhaltenden Protest neben sozialen Basisinnovationen erfordern, den Aufbau Solidarischer Ökonomien und von Gemeingütern. Ob die neue, gleichermaßen zu erkämpfende wie zu entwickelnde Ordnung noch Demokratie heißen würde, kann heute offen bleiben. Der ätzende Gestank von Tränengas jedenfalls wäre für sie Vergangenheit.



Anmerkungen

[1] http://newunionism.wordpress.com/2010/10/21/strikes/
[2] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/dech.12032/full


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abb: Entwicklung der Profitraten in den EU-15, den USA und in Japan.
Quelle: Michel Husson, 2013, http://hussonet.free.fr/tprofeu.pdf

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Christoph Lieber:

Marx' Kritik der politischen Ökonomie
- (noch) Schlüssel für die Ideologie- und Bewusstseinstheorie der Linken heute?

Kontinuität und Bruch

Die globale Finanzkrise hat die kapitalistische Gesellschaftsordnung in den Grundfesten erschüttert. Aber die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise erweist sich damit noch keineswegs als "Stunde der Linken" und radikaler Bewusstseinsveränderungen. Bei aller Skepsis einer Mehrheit der Bevölkerung gegenüber den "Rettungsschirmen" und "Konjunkturprogrammen" gelingt es bislang dem bürgerlichen Lager vornehmlich in Deutschland durch "vertrauensbildende Maßnahmen" größeren Systembrüchen im gesellschaftlichen Alltagsleben vorzubeugen. Ausmaß, Tiefe und Dauer der Krise sind bei vielen Menschen noch nicht angekommen. Noch funktioniert die Macht der "Kontinuität der Produktionsverhältnisse" zugunsten der wirtschaftlichen Eliten und der politischen Klasse. Schon zu Beginn der Krisenkaskaden in den USA illustrierten Foster/Magdoff diesen Zusammenhang von Bruch und Kontinuität in den kapitalistischen Verhältnissen und verdeutlichen dabei zugleich die politischen Dimensionen einer reaktualisierten Kritik der politischen Ökonomie: "Finanzminister Paulsons Antrag vor dem Kongress im September 2008 auf 700 Milliarden Dollar, um dem Finanzsystem aus der Klemme zu helfen, könnte in der allgemeinen Erkenntnis des und der Empörung über das ökonomische Problem einen Wendepunkt darstellen und so zum ersten Mal seit vielen Jahren das Thema einer politischen Ökonomie zur Sprache bringen. Für die gesamte Bevölkerung wurde sofort offensichtlich, dass die entscheidende Frage in der Finanzkrise und der sich herausbildenden tiefgreifenden wirtschaftlichen Stagnation war: Wer bezahlt das? (...) Aber der Kapitalismus nutzt soziale Trägheit (Herv. C.L.) aus und verwendet seine Macht zur ausgemachten Plünderung, wenn er sich nicht einfach auf 'normale' Ausbeutung verlassen kann. Ohne einen Aufstand von unten wird die Bürde schlicht den untersten Schichten auferlegt werden. All dies macht einen sozialen und wirtschaftlichen Massenaufruhr notwendig, so wie in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre (dies bezieht sich hier auf die Situation in den USA im Zuge der Politik des New Deal, während in Italien und Deutschland faschistische Massenbewegungen entstanden, C.L.), einschließlich der Wiederbelebung von Gewerkschaften und sozialen Massenbewegungen aller Art - der die durch die Verfassung zugebilligte Macht zur Veränderung nutzt und sogar so weit geht, das gegenwärtige Duopol des Zweiparteiensystems zu bedrohen."[1]

Auch wenn die gegenwärtige Krise das Potenzial enthält, den "Schein der Selbständigkeit" (Marx) der Formen kapitalistischen Wirtschaftens einschließlich der bisherigen neoliberalen Marktideologie aufzulösen, gibt sie zugleich Anlass, auch die "soziale Trägheit" der Bevölkerung in Rechnung zu stellen. Entgegen dem gängigen Vorurteil eines linearen und mechanischen (Kausal)Zusammmenhangs von Krise und Alltagsbewusstsein bei Marx findet sich in dessen "Kritik der politischen Ökonomie" eine viel differenziertere Lesart von "Basis und Überbau". Die moderne bürgerliche Gesellschaft ist nach Maßgabe der Kritik der politischen Ökonomie keineswegs ein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus, worauf Marx schon im Vorwort zum ersten Band des "Kapital" von 1867 entgegen simplifizierender und monokausaler Kapitalismusauffassungen Wert legte: "Die Gleichmäßigkeit oder Gleichheit der Reproduktion - die Wiederholung der Produktion unter denselben Bedingungen - findet nicht statt. Die Produktivität ändert sich und ändert die Bedingungen. Die Bedingungen ihrerseits ändern die Produktivität. Aber die Abweichungen zeigen sich teils in oberflächlichen Oszillationen, die sich ausgleichen in kurzer Frist, teils in einer allmählichen Häufung von Abweichungen (divergences), die entweder zu einer Krise führen, zu einer gewaltsamen, scheinbaren Reduktion auf die alten Verhältnisse, oder doch erst allmählich als Änderung der Bedingungen anerkannt werden und sich durchsetzen." (MEW, Bd. 26.3: 507)

Gerade um die Chancen systemkritischer, transformatorischer Bewusstseinsveränderungen und erhöhter, emanzipatorischer Handlungsfähigkeit einschätzen zu können, ist es im gegenwärtigen Krisenverlauf des Kapitalismus politisch geboten, sich nochmals der Grundstrukturen des "ökonomischen Werkelalltags" der gesellschaftlichen Individuen zu vergewissern.

Ökonomische Alltagsreligion

Im Folgenden werden mithin Thesen für das Alltagsleben in den hochentwickelten modernen kapitalistischen Gesellschaften auf der Basis der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie skizziert: Die große Mehrheit der Bevölkerung existiert immer noch durch Lohnarbeit, entweder unmittelbar oder durch entsprechende ökonomische Vermittlungen und soziale Transfers, die auch die anderen Arbeitsverhältnisse regulieren; seien dies Lohnersatzzahlungen (Renten, Arbeitslosengeld, Krankengeld), oder Umverteilungen innerhalb öffentlich-privater Lebensgemeinschaften. Die privaten Haushalte stellen für die Individuen eine zentrale ökonomische und soziale Ressource im Zusammenhang mit Wertschöpfung, Klassenlage und Lebensstilen dar.

Zwar hat sich bei aller gesellschaftsgeschichtlichen Diskontinuität das Verhältnis von Lohnarbeitszeit und Zeit für sonstige Tätigkeiten verschoben, aber die Lohnarbeit bleibt das strukturierende Moment - letztlich auch in der Ausbildungsphase oder für die Phase nach Beendigung der Lebensarbeitszeit. Auf Basis der Erwerbstätigkeit bildet sich ein mehr oder weniger reichhaltiges Ensemble sozial-kultureller Tätigkeiten der Individuen aus.

Das Alltagsbewusstsein ist - abgesehen von Unterschieden im Lebenszyklus - widersprüchlich, was auf die Entfremdung der Lohnarbeit - ihr Spannungsverhältnis von Autonomie und Subordinierung - wie auch die Ambivalenzen von Individualisierung und kulturindustrieller Entfremdung in den sonstigen Lebensverhältnissen zurückzuführen ist. Dazu finden sich neben dem mehr oder minder ausgeprägten kollektiven oder historischen Gedächtnis auch generationsübergreifende und überindividuelle Gewissheiten in politischen, moralischen oder religiösen Anschauungen.

Diese Interpretation beinhaltet nun keinen direkten Zugriff auf die Kategorie der "Alltagsreligion" in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften. Dieser Begriff der Alltagsreligion findet sich in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie - und zwar auf einer ganz charakteristischen Ebene des Gesamtsystems, bei Betrachtung der entwickelten Oberfläche des kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozesses und unmittelbar vor einer nicht mehr ausgeführten Betrachtung über "Die Klassen". Der Fetischismus von Ware, Geld und Kapital wird hier, auf der Ebene, auf der die Warenbesitzer als Eigentümer von Revenuen auftreten, zusammenfassend als "Religion des Alltagslebens" (MEW, Bd. 25: 838) charakterisiert, von der Marx behauptet, "dass die wirklichen Produktionsagenten in diesen entfremdeten und irrationellen Formen von Kapital - Zins, Boden - Rente, Arbeit - Arbeitslohn sich völlig zu Hause fühlen, denn es sind eben die Gestaltungen des Scheins, in welchem sie sich bewegen und womit sie täglich zu tun haben" (ebd.). Die Marxsche Theorie der Mystifikation läuft darauf hinaus, zu verstehen, warum gerade auch im entwickelten Kapitalismus eine Mehrheit der gesellschaftlichen Individuen keinen Anstoß an diesen entfremdeten Verhältnissen nimmt, sondern sie im Gegenteil als Realisation ihrer Individualität begreift.[2]

Der Marxschen Darstellung der Versachlichung der Produktionsverhältnisse und ihrer Verselbständigung gegenüber den Produktionsagenten liegt dabei die These zugrunde: "Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eigenen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eigenen Hand beherrscht." (MEW, Bd. 23: 649) Aber die Stufenfolge der Darstellung der entfremdeten ökonomischen Verhältnisse gegenüber den Subjekten erschöpft sich keineswegs in einer einfachen Analogie zur herkömmlichen religiösen Subordination. Die These von der Religion des ökonomischen Werkelalltags trägt dem historisch entwickelteren Niveau bürgerlicher Individualität sowie der Elastizität und Dynamik im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft Rechnung. Der Durchgang durch die Mystifikationen von Ware und Geld und die Kapitalmystifikationen endet in einem charakteristischen Umschlag von Resultat in Voraussetzung. Zum einen erweist sich die gesellschaftliche Reproduktion als mächtige Determinante und beständige Voraussetzung des Agierens der Individuen, die darüber keine wirkliche Bewusstheit besitzen. Zum andern ergibt sich gerade auf dieser unbewussten Voraussetzung das Terrain eines freien und konkurrenzhaften Agierens bürgerlicher Eigentümersubjekte. Dies ist der eigentliche Kern der "Trinität der Produktionsfaktoren": Der Wert, als vorausgesetzte Struktur sozialer Reichtumsproduktion, in der sich auch die ökonomische Position der Einzelnen permanent reproduziert, erscheint als das Resultat des Zusammenwirkens der Revenuetitelbesitzer. "Diese Reproduktion ist aber keine bewusste, und erscheint vielmehr nur in der beständigen Existenz dieser Verhältnisse als Voraussetzungen und den Produktionsprozess beherrschende Bedingungen. Aus den Auflösungen des Warenwerts z.B. werden seine konstituierenden Teile, die sich als selbständige gegenübertreten und daher auch als selbständige Teile gegen ihre Einheit, die vielmehr als ihre Kombination erscheint." (MEW, Bd. 26.3: 503) Mit dieser charakteristischen Oberflächenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft hat Marx den Brückenschlag von Alltagsreligion und Handlungsmotivation ökonomiekritisch eingeholt.

Charaktermaske

Die Kritik der politischen Ökonomie wäre allerdings als der bloße Nachweis eines gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs missverstanden. Die fetischisierten Formen der Ökonomie, die Religion des ökonomischen Werkelalltags, sind für Marx immer zugleich auch Formen der Entwicklung von Individualität. Nichts bringt dies besser zum Ausdruck als die Wertorientierungen der Zirkulation: "Der in der Zirkulation entwickelte Tauschwertprozess respektiert daher nicht nur die Freiheit und Gleichheit, sondern sie sind sein Produkt; er ist ihre reale Basis. Als reine Ideen sind sie idealisierte Ausdrücke seiner verschiedenen Momente; als entwickelt in juristischen, politischen, und sozialen Beziehungen, sind sie nur reproduziert in andren Potenzen. Dies hat sich auch historisch bestätigt." (Marx, Grundrisse 915) Diese Transformation der "modernen Mythologie mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und fraternité" (MEW, Bd. 34: 303) in potenzierte Formen der Wertorientierungen in Politik, Recht und Alltagsmoral markiert m.E. das Spezifikum Marxscher Ideologietheorie und -kritik. Abgesehen von diesen entwickelteren ideologischen Formen in Politik und Recht bleibt der Zusammenhang von "Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham" in den Gesetzen des Warenaustauschs wirkmächtig. Es war ein folgenreicher Kurzschluss der "Kritischen Theorie", von Veränderungen in den Produktionsstrukturen wie Monopolisierung, Kartellbildung etc. auf die Außerkraftsetzung dieser Gesetze der Warenzirkulation und ihrer ideologischen Potenzierung zu schließen. "Da Käufe und Verkäufe nur zwischen einzelnen Individuen abgeschlossen werden, so ist es unzulässig, Beziehungen zwischen ganzen Gesellschaftsklassen darin zu suchen ... Solange bei jedem Austauschakt - einzeln genommen - die Gesetze des Austauschs eingehalten werden, kann die Aneignungsweise eine totale Umwälzung erfahren, ohne das, der Warenproduktion gemäße, Eigentumsrecht irgendwie zu berühren." (MEW, Bd. 23: 613) Die ideologie- wie klassentheoretische Pointe in diesem "dialektischen Umschlag des Aneignungsgesetzes" besteht darin, dass die Individuen in die gesellschaftliche Aneignungsweise immer klassenmäßig eingebunden sind, aber als Waren- und Geldbesitzer mit der Entwicklung des Kapitalismus sogar die Pluralität eines "ökonomischen Individualismus" (z.B. Lohnabhängiger und Aktionär in einer Person) mit all seinen ideologischen Facetten ausbilden können.

Das Gesicht der sozialen Akteure, die proletarischen Klassenmilieus, Rolle des Unternehmers etc. wandeln sich historisch mit der Entwicklung des Kapitalismus. Mit der "Anatomie der Klassen" hat Marx keine gesellschaftlichen Großsubjekte im Visier, sondern Verschiebungen der Proportionierung produktiver und unproduktiver Arbeit in der gesellschaftlichen Aneignungsweise und damit eine Synthese von werttheoretisch fundiertem Tableau économique, Sozialstruktur der privaten Haushalte und Vermögen.[3] Das Phänomen der "Massen", das einen längeren Entwicklungsabschnitt der kapitalistischen Gesellschaftsformation charakterisiert hat, drückt das Übergewicht der industriellen Produktion aus; die hier involvierten Lohnabhängigen weisen einen geringen Lebensstandard auf und verfügen über wenig frei verfügbare Zeit, so dass die karge Produktionsbasis eben durch eine einfache Struktur der kulturellen und politischen Überbauten vervollständigt wird. In dem Maße, wie ein gewisser Grad der gesellschaftlichen Umverteilung der frei verfügbaren Zeit durchgesetzt werden konnte, mithin der "labour funds" (Marx) aus den Zeiten der großen Industrie im 20. Jahrhundert um die vielfältigen Bestandteile des modernen Soziallohns erweitert wurde und sich folglich mit der Differenzierung innerhalb des Massenkonsums sowohl eine Auffächerung der gesellschaftlichen Arbeit als auch eine Verfeinerung der kulturellen Sphäre und Überbauten ergibt, in demselben Maße verschwindet die "rohe Masse" in den verschiedenen Formen der Massenhaftigkeit von Milieus, Lebensstilgruppen und Individualisierung - so das sozialgeschichtliche Resultat des Fordismus. Der Zusammenhang von Verschiebungen der Klassenlagen und Individualisierung ist vermittelt über diese intermediären Formen gesellschaftlicher Großgruppen. Hegemoniale Konstellationen in der politischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts in Europa waren damit immer gebunden an eine Verbindung von Klassenpolitik und erfolgreicher Orchestrierung gesellschaftlicher Mentalitäten verschiedener sozialer Gruppen. Die Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Produktion "charakterisiert große mobility in the habits, modes of thinking etc. des people" (MEW, Bd. 26.3: 437) und enthüllt also, "wie mit dem change in den materiellen powers of production die relations (commercial) und damit der soziale und moralische und politische state der nations change" (ebd. 422).

Die Religion des ökonomischen Werkelalltags ist im Marxschen Selbstverständnis somit eine Struktur, die dem individuellen Handeln und den Motiven der Individuen vorausgesetzt ist. Krisen und Bruchlinien können sich erst bei der individuellen Entwicklung oder näherer Betrachtung gesellschaftlicher Reproduktionszusammenhänge ergeben. Bei Marx setzen auf die Alltagsreligion, wie sie in der ökonomischen Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft begründet ist, weitere Stufen ideologischer Reproduktion auf, wie Politik, symbolische Reproduktion, moderne Mythologie etc., was hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Abschließend sollen Ambivalenzen und Widersprüche des Wandels in den materiellen Produktivkräften, den ökonomischen Verhältnissen und damit den sozialen, moralischen und politischen Zuständen beleuchtet werden, die der Neoliberalismus erzeugt und darüber die Grundstrukturen des Alltagslebens und - bewusstseins großer Teile der Lohnabhängigen weiterentwickelt hat, und deren (ideologische) Wirkmächtigkeit sich auch mit Rückgriff auf die Kritik der politischen Ökonomie dechiffrieren lassen.

Responsibilisierung der Lohnarbeit

Die postfordistische Entfesselung des Kapitalismus - erhöhte Flexibilität und die verschiedensten Varianten von Marktöffnungsprozessen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen - etablierte als objektive Struktur eine politische Ökonomie der Unsicherheit, an die Akteure aus Politik und Kapital andocken können. Der prekarisierte "flexible Mensch" innerhalb dieser neuartigen politischen Ökonomie der Unsicherheit soll gerade deshalb "empowert" werden, um Unsicherheit überwinden zu können und mit dieser Fähigkeit dann noch passgenauer für die veränderte betriebliche Arbeitsorganisation zu sein.

Die Internalisierung des Marktes in Unternehmensstrukturen setzt bezogen auf das lebendige Arbeitsvermögen somit einen zwieschlächtigen Prozess frei. Es sind gerade die zivilisatorischen Seiten kapitalistischer Herrschaftsstrukturen ("reelle Subsumtion"), die die Lohnarbeit im Unterschied zu allen anderen bisherigen Formen und Kulturen der Arbeit "zu einer ganz andren historischen Action befähigen" (MEGA, Bd. II.4.1: 103): "der freie Arbeiter dagegen getrieben von seinen wants. Das Bewusstsein (oder vielmehr die Vorstellung) der freien Selbstbestimmung, der Freiheit, macht den einen zu einem viel bessern Arbeiter als den andren, und das damit verbundne feeling (Bewusstsein) of responsibility; da er, wie jeder Waarenverkäufer, responsibel ist für die Waare, die er liefert und sie in gewisser Qualität liefern muß, soll er nicht von andren Waarenverkäufern derselben Species aus dem Feld geschlagen werden." (ebd. 101f.) Diese Ambivalenzen und Paradoxien innerhalb der Charaktere der Lohnarbeit selbst - als gesellschaftlicher Arbeitskörper zugleich durch die vereinzelten Einzelnen die "Instinkte und Gesetze der Warennatur" zu exekutieren und zu bedienen - werden unter den Bedingungen des neuen Marktregimes nach der Seite der Wertschöpfung und Verwertung hin verschärft. Innerhalb eines Regimes politischer Ökonomie der Unsicherheit entpuppt sich der "Arbeitskraftunternehmer" - dankbares Objekt von Empowermentstrategien - als ideologischer Überbau dieses "vereinzelten Arbeiters". Und damit erweisen sich auch die "Gouvernementalität" und die Strategien der "Gouvernementalisierung" als potenzierter politisch-ideologischer Ausdruck eines durch die gesellschaftliche Betriebsweise des flexiblen Kapitalismus selbst hervorgetriebenen "neuen Verhältnißes der Ueber- und Unterordnung (das auch politische etc. Ausdrücke seiner selbst producirt)." (ebd. 98)

Im Fordismus fand dieses Über- und Unterordnungsverhältnis eine weitergehende soziale Ausgestaltung, in der betriebliche Leistungskompromisse mit Sicherheit, sozialstaatlicher Dekommodifizierung der Lohnarbeit und damit auch widersprüchlicher Subjektivitätsentwicklung in und außerhalb der Arbeit einhergingen. Diese Strukturen werden im gegenwärtigen entfesselten Kapitalismus durch die Flexibilisierung der gesellschaftlichen Betriebsweise, Prekarisierung von Teilen der Lohnarbeit und außer Kraft Setzung sozialer Sicherheiten der Lohnarbeitsgesellschaft zunehmend zerstört. Zentrale Triebkraft sind die Entgrenzung von Marktprozessen und die Veränderung betrieblicher Organisationsgrenzen durch erhöhten äußeren wie internen Marktdruck. Dies führt zu neuen Formen von betrieblicher Beherrschung und Selbstbeherrschung des Arbeitsvermögens, die auf gewachsene Subjektivitätspotentiale in der Arbeit und Ausweitung der Individualität der Lohnabhängigen aus dem Fordismus aufbauen und diese weitertreiben können. Jetzt löst sich die für die fordistisch-tayloristische Nutzung von Arbeitskraft konstitutive Trennung von Arbeitskraft und subjektivem Träger partiell auf.

Mit diesen Veränderungen in Kernbereichen der gesellschaftlichen Betriebsweise im flexiblen Kapitalismus sind neuartige Formen von "Subjektivierung der Arbeit" vorgeprägt, mit denen auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, jenseits einigermaßen gesicherter Lohnarbeit, Politik gemacht wird, indem bspw. die "atmende Fabrik" auf die Regulierung von Arbeitsmärkten übertragen wird. Der Imperativ des Neoliberalismus - alle Macht den Märkten - zeigte auch hier in den prekarisierten Bereichen von Erwerbslosigkeit, Sozialhilfe, Armut, Kriminalität etc. seine zweite Seite: "Führe dich selbst". Die Probleme von Armut und Erwerbslosigkeit werden in Fragen der Selbstsorge transformiert. Die Individuen werden in Form einer Strategie des Empowerments oder der sozialverpflichteten Responsibilisierung zu mehr Eigenverantwortung, Eigenständigkeit und Eigeninitiative mobilisiert. Responsibilisierung operiert hier über den Modus der Aktivierung der betroffenen Subjekte, ihre durch sozialstaatliche Alimentierung "erlernte Hilflosigkeit" zu überwinden und in individuelle Handlungsfähigkeit zu transformieren. Die Politik der Responsibilisierung wird erst dominant vor dem Hintergrund der Krise und Zerstörung der fordistischen Lohnarbeitsgesellschaft. Sie kann zwar auf eine gewachsene Subjektivität in der Arbeit aufbauen, gewinnt aber ihre Sinnhaftigkeit und Akzeptanz als erfolgreiche Gegenstrategie nur als Antwort auf soziale Unsicherheit. Damit verbleibt sie in einem fatalen Zirkel. Denn auch hier - wie in anderen gesellschaftliche Bereichen des entfesselten Kapitalismus - wird von der politischen Klasse die entstehende soziale Unsicherheit ausgenutzt und zugleich politisch verschärft. Der Sinn dieser politischen Ökonomie der Unsicherheit, des Managements der Unsicherheit, der Prekarisierungsstrategien und der Politik des Empowerments war die Reproduktion dieser Konstellation, womit die Gesellschaftspolitik des Neoliberalismus keine höhere gesellschaftliche Rationalität erreichte, sondern faktisch eine politische Ökonomie der Unsicherheit perpetuierte. Mit der gegenwärtigen krisenbedingten (Selbst)Delegitimierung neoliberaler Marktideologie besteht die historische Möglichkeit, dass die progressive Seite der Subjektivierung und Responsibilisierung von Lohnarbeit die emanzipatorische Ausbildung eines "enormen Bewusstseins" (Marx, Grundrisse 366) befördert, mit dem die gesellschaftlichen Träger der lebendigen Arbeit die verselbständigten Verhältnisse und die Resultates des Produktionsprozesses als ihre "eignen" Produkte "erkennen" sowie die "Trennung von den Bedingungen (ihrer) Verwirklichung als ... ungehörig (und) zwangsweise (beurteilen)" (ebd.) und dadurch eine zentrale Verkehrung ihrer entfremdeten Welt, die Kapitalmystifikation, durchbrechen. Damit erweist sich dieses veränderte "enorme Bewusstsein" als "das Produkt der auf dem Kapital ruhenden Produktionsweise, und so sehr das knell to it's doom" (ebd.).

Formationsgeschichtliche Dimensionen der Befestigung und Auflösung von Mystifikationen

Die kapitalistische Produktionsweise stellt ein charakteristisches Entwicklungsverhältnis der gesellschaftlichen Produktivkräfte dar. Alle Produktivkräfte lösen sich zunächst in ein gegebenes Verhältnis zur Natur auf. In vorbürgerlichen Produktionsformen wird die Entwicklung der Produktivkräfte lediglich dazu benutzt, "um einen bestimmten Zustand zu reproduzieren und höchstens auszuweiten" (Marx, Grundrisse 438). Das Spezifikum der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung besteht nun darin, dass menschheitsgeschichtlich zum erstenmal ein Zustand erreicht wird, "wo die freie, ungehemmte, progressive und universelle Entwicklung der Produktivkräfte selbst die Voraussetzung der Gesellschaft und daher ihrer Reproduktion bildet." (ebd.) Die gesellschaftlichen Produktivkräfte werden in einen systematischen Entwicklungszusammenhang eingespannt und dadurch werden im kapitalistischen Aneignungs- und Verwertungsprozess alle Facetten und Komponenten der Gesellschaftlichkeit der Reichtumsproduktion freigesetzt: gesellschaftlich-kooperativer Charakter der Arbeit, permanente Umwälzung und Neukomposition aller Elemente des Arbeitsprozesses, Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses, Umwälzung des Bedürfnissystems. Diese beständige Erneuerung der Produktionsmethoden und Umwälzung der Produktivkräfte gesellschaftlicher Arbeit ergibt sich aus dem allgemeinen Produktionsgesetz des Kapitals: Durch die Ausnutzung der gesellschaftlichen Fähigkeiten der organisierten Arbeit und der Verwissenschaftlichung der Produktion wird die zur Herstellung eines Produkts notwendige Arbeitszeit beständig verkürzt. Mit immer weniger Arbeitskräften wird ein zunehmend größerer gesellschaftlicher Reichtum geschaffen. Das Grundgesetz des Kapitals heißt also: Schaffung der größtmöglichen Surplusarbeit, also permanente Entwicklung der Produktivkräfte, ohne Rücksicht auf die vorhandenen Schranken des Marktes oder der zahlungsfähigen Bedürfnisse.

Dieses Schaffen von disponibler Zeit, woran auch die Lohnabhängigen unterschiedlich partizipieren und die "ihren Besitzer natürlich in ein andres Subjekt verwandelt, und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß" (Marx, Grundrisse 599), sowie die Befriedigung von aus der Gesellschaft selbst hervorgehenden sozial-kulturellen Bedürfnissen verbleiben zwar innerhalb der durch das allgemeine Produktionsgesetz des Kapitals umrissenen sozialen Widersprüche. Aber die Bedingungen, unter denen diese Resultate permanent erzeugt werden, drängen nach allen Seiten hin zur Auflösung kapitalistischer Eigentumsgesetze und der ihr entsprechenden Eigentumsvorstellungen: sowohl die Identität von Arbeit und Eigentum als zeitloser Entwicklungsform gesellschaftlicher Reichtumsproduktion als auch der Nexus von Kapitaleigentum und gesellschaftlicher Produktivkraft wird durch die Resultate des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst konterkariert. Darauf hebt Marx selbst explizit ab: "Das positive Resultat hier, daß die Arbeitszeit fällt, deren bedurft wird, um vergrösserte Masse von Lebensmitteln zu produzieren, daß dies Resultat durch die gesellschaftliche Form der Arbeit erreicht wird und daß der Besitz des Einzelnen an den Produktionsbedingungen nicht nur als nicht nöthig, sondern als unvereinbar mit dieser Produktion auf großer Stufenleiter erscheint." (MEGA, Bd. II.3.6: 2144) In der spezifischen Ökonomie der Zeit, Reduktion der notwendigen Arbeitszeit bei gleichzeitiger Vergrößerung von disposable time, hat die kapitalistische Produktionsweise zunächst ihre historische Berechtigung. Diese historisch spezifische Entwicklungsform gesellschaftlicher Produktivkräfte führt aber zu einem Produktionsniveau gesellschaftlicher Arbeit, auf welchem ein veränderter Umgang mit den Ressourcen gesellschaftlicher Arbeit praktiziert wird. Die Explosion von Beziehern abgeleiteter Revenue und sozialstaatlicher Transferzahlungen sind ein Indiz dafür. Im Spätkapitalismus hat "die Surplusarbeit der Masse aufgehört Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein" (Marx, Grundrisse 593). Neben das Missverhältnis, dass einem geschrumpften produktiven Arbeitskörper unter den Bedingungen des kapitalistischen Privateigentums Surplusarbeit abgepresst wird, treten die Missverhältnisse in der Verwendung und Verteilung von gesellschaftlicher disposable time und rücken ins Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Dennoch soll die sich darin andeutende Entwicklung zu einer rationelleren gesellschaftlichen Ressourcenökonomie in das Korsett von Arbeit und Eigentum, von "privateigentümlich" bornierter Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum gepresst bleiben. Auch hier gilt, dass wenn die gesellschaftlichen Individuen "eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen" (MEW, Bd. 8: 115).

Das kapitalistische Privateigentum als ein Maßstab für die Gesellschaftlichkeit der Produktionsweise symbolisiert eben eine solche "Poesie der Vergangenheit". Durch die Resultate des kapitalistischen Produktionsprozesses ist hingegen nachgewiesen, dass das gesellschaftliche Produktivitätsniveau gerade nicht erreicht wird durch Privateigentum an den Produktionsbedingungen, sondern durch gesellschaftliche Arbeit auf großer Stufenleiter. Dies steht quer zum offiziell proklamierten Eigentumsgesetz der einfachen Appropriation. Allerdings stellt sich dieser gesellschaftliche Charakter der Reichtumsproduktion "in der kapitalistischen Produktionsweise so dar, daß der Capitalist Eigentümer dieser gesellschaftlichen Massen von Produktionsmitteln ist - der Nichtarbeiter. Er vertritt in der Tat den Arbeitern nie ihre Vereinigung, ihre gesellschaftliche Einheit gegenüber. Sobald diese gegensätzliche Form wegfällt, ergibt sich also, daß sie dies Produktionsmittel gesellschaftlich, nicht als Privatindividuen besitzen. Das kapitalistische Eigentum ist nur ein gegensätzlicher Ausdruck dieses ihres gesellschaftlichen i.e. negierten Einzeleigentums an den Produktionsbedingungen." (MEGA, Bd. II.3.6: 2144)

Auch die kapitalistische Inkorporierung der Produktivkräfte, die Subsumtion der Potenzen gesellschaftlicher Arbeit unter das Kapitaleigentum vermag die Vorstellung vom Privateigentum an den Produktionsmitteln als notwendige Bedingung gesellschaftlicher Produktion nicht plausibler zu machen. Die Gesellschaftlichkeit des Produktionsprozesses liegt ja gerade nicht im Kapitaleigentum begründet, welches lediglich als Personifikation der "Nichtarbeit" auftritt, sondern im wirklich tätigen, gesellschaftlichen Arbeitskörper selber, in den die Lohnarbeiter als "negierte" Privateigentümer eingehen. Der Sache nach besitzen die Produzenten die Produktivkräfte nur als gesellschaftliche Individuen. Sowohl nach der Seite des Kapitals wie nach der Seite der Lohnarbeit stellt die kapitalistische Aneignungsweise somit eine Aufhebung des Privateigentums dar. Dabei ist sich Marx der historischen Dimension dieses Prozesses durchaus bewusst.

In vorbürgerlichen Formationen ist die subjektive Komponente der Produktivkraftentwicklung gewichtiger, eingebunden allerdings in bornierte Formen des Gemeinwesens. "Wir haben gesehen, daß das Eigentum an den Produktionsbedingungen gesetzt war als identisch mit einer bornierten, bestimmten Form des Gemeinwesens; des Individuums also in solchen Eigenschaften - bornierten Eigenschaften und bornierter Entwicklung seiner Produktivkräfte -, um solches Gemeinwesen zu bilden." (Marx, Grundrisse 439) Im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft werden diese bornierten Formen aufgelöst und reduziert auf die ökonomischen Bedingungen des Privateigentums. Dabei kommt es zunächst zu einer Gemengelage und Pluralität von Eigentumsformen, wobei dann das Privateigentum des einfachen Warenproduzenten eine sozialökonomische Basis zur Ausbildung der Eigentumsvorstellung einer Identität von Arbeit und Eigentum abgeben kann, die in den klassischen Rechts- und Eigentumsvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft weiter fort- und ausgebildet werden. Für die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise ist für Marx unbestritten: "Z.B. beim kleinen peasant ist das Stück Grund, das er bebaut, sein. Das Eigentum an ihm als seinem Produktionsinstrument notwendiger Sporn und Bedingung seiner Arbeit. Ditto beim Handwerk." (MEGA, Bd. II.3.6: 2144) Die flächendeckende Ausdehnung marktförmiger Vergesellschaftung, in der "das Geldmachen als der letzte Zweck jeder Art von Tätigkeit erscheint" (MEGA, Bd. II.4.1: 110), bestärkt und befestigt die Vorstellung, dass Eigentum und Besitz Resultat eigner Leistung und Anstrengung sind. Arbeit führt zu Eigentum und die Reproduktion dieses Zusammenhangs vermittelst des Markts prägt die gängige Vorstellung der Identität von Arbeit und Eigentum. Diese Vorstellung eines auf Arbeit beruhenden Privateigentums ist somit nicht einfach als ideologische Vernebelung der wirklichen Tatbestände kapitalistischer Expropriation abzutun, sondern muss in ihrer historischen und gesellschaftlichen Mächtigkeit auch für die moderne bürgerliche Gesellschaft anerkannt werden. Die marktförmige Vergesellschaftung, das beständige Geldmachen, wird selbst zu einer Produktivkraft und zwar sowohl auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene.

Dennoch wird die Proklamierung dieser Eigentumsvorstellung angesichts der Dynamik kapitalistischer Produktivkraftentwicklung immer schwieriger. Die Resultate des kapitalistischen Aneignungs- und Verwertungsprozesses lassen sich nicht mehr unter eine Identität von Arbeit und Eigentum subsumieren. Denn "in der großen Industrie wie in der großen Agrikultur, sind diese Arbeit und das Eigentum an den Produktionsbedingungen nicht erst zu trennen, sie sind faktisch getrennt, diese Trennung von Eigentum und Arbeit, die Sismondi beweint, notwendiger Durchgang zur Verwandlung des Eigentums an den Produktionsbedingungen in gesellschaftliches Eigentum. Als Einzelner konnte der einzelne Arbeiter nur wieder hergestellt werden in dem Eigentum der Produktionsbedingungen durch Zertrennung der Produktivkraft und der Entwicklung der Arbeit auf großer Stufenleiter. Das fremde Eigentum des Capitalisten an dieser Arbeit nur aufzuheben, indem sich sein Eigentum als das des Nicht-Einzelnen in seiner Selbständigen Einzelheit, also des associierten, gesellschaftlichen Individuums umgestaltet." (MEGA, Bd. II.3.6: 2145) Damit ist die historische Dynamik kapitalistischer Aneignungsverhältnisse auf den Punkt gebracht: Sie erweisen sich als historischer Durchgangspunkt zu Formen gesellschaftlicher Reichtumsproduktion, in denen der Gesellschaftlichkeit der Produktivkräfte anders Rechnung getragen wird als durch die Trennung von Arbeit und Eigentum und die beständige Reproduktion kapitalistischen Privateigentums. Der historisch erreichte Entwicklungszusammenhang der Produktivkräfte kann jenseits kapitalistischer Verwertungslogik erhalten und in einer Revolutionierung der Aneignung der Produktivkräfte durch die assoziierten Produzenten im Hegelschen Sinne aufgehoben werden. Dazu muss dem gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte Rechnung getragen werden.

Auf der einen Seite gilt es, die selbständige Einzelheit der produzierenden Individuen zu erhalten, die in der Figur des Privateigentümers zur absoluten Entwicklungsform von Individualität vereinseitigt wurde. Aber der Zugang, die Aneignung und die Weiterentwicklung der Produktivkräfte kann sich nicht mehr nach Maßgabe vorgegebener und fremdbestimmter Eigentumsverhältnisse vollziehen. Jetzt wird vielmehr das geschichtlich akkumulierte Potenzial an Fähigkeiten, Wissen und Kompetenzen der "(Lohn)Arbeit frei, die nach mehr oder weniger Irrsal und Trübsal in anderer Richtung verwandt werden kann. Das Menschenmaterial for a new sphere of production ist so geliefert." (MEW, Bd. 26.3: 434) Deshalb kann auf der anderen Seite der Nexus von Privateigentum und Produktivkraftentwicklung in Formen gesellschaftlicher Aneignung und gesellschaftlichen Eigentums - unter Einschluss einer Pluralität von Eigentumsformen von Genossenschaften, öffentlichen Betrieben bis hin zu selbständigen sozialkulturellen Dienstleistungen - umgestaltet werden. "Damit hört natürlich der Fetischismus auf, daß das Produkt Eigentümer des Produzenten ist und alle die innerhalb der kapitalistischen Produktion entwickelten gesellschaftlichen Formen der Arbeit werden von dem Gegensatz erlöst, der sie alle verfälscht und gegensätzlich darstellt." (MEGA, Bd. II.3.6: 2145) Bei einem solchen Transformationsprozess gesellschaftlicher Arbeit ist es letztlich "in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint" (Marx, Grundrisse 593). Diese Konsequenz der Zwieschlächtigkeit der Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses des Kapitals - nämlich die Wiederaneignung des sozialen Charakters der Produktivkräfte in gesellschaftlich neuartigen Assoziationsformen der Individuen - stellt sozusagen das aufgelöste Rätsel des Kapitalfetischismus dar. Der Entfremdungsprozess der Lohnarbeit kann durch gesellschaftlich bewusste Handhabe der sozialen Potenzen der Arbeit aufgelöst werden. Damit ist einmal mehr unterstrichen, dass Dreh- und Angelpunkt einer Weiterentwicklung gesellschaftlicher Produktions- und Verkehrsverhältnisse die immanente Widerspruchsstruktur der Kapitalmystifikation darstellt. Die formationsspezifische Betrachtung und Dechiffrierung der Produktivkraftentwicklung in den Formen der Kapitalmystifikation ergibt im Resultat ein Bündel von Widersprüchen, die zugleich ihre Auflösung in sich tragen: den entfremdeten Formen des gegenständlichen Reichtums stehen entwickeltere, aneignungsfähigere Individuen gegenüber, die ihren gesellschaftlichen Charakter in eine revolutionierte, assoziierte Aneignungsweise der Produktivkräfte umsetzen können, und somit den entfremdeten Charakter der Lohnarbeit in eine übergreifende und umfassende Aneignung der Produktivkräfte als ihres organisch verlängerten Leibes zur Gestaltung der Gesellschaft transformieren können.

Vom Gang der Marxschen Argumentation her ergibt sich mithin eindeutig eine Priorität der Kapitalmystifikation gegenüber dem Waren- und Geldfetisch. Quer dazu stehen nach wie vor Ansätze der Kapitalismuskritik, wie sie in der Geschichte der Linken bis heutzutage gang und gäbe sind, mit Konsequenzen für die Sozialismusdiskussion.[4] Der Entfremdungsbegriff als Basis der Kritik an den bürgerlichen Produktionsverhältnissen wurde primär in Form der Analyse des Warenfetischismus rezipiert und dann wurde bei der Seite der Verdinglichung sozialer Verhältnisse stehen geblieben. Verweist der Warenfetischismus primär auf die scheinbare Dingeigenschaft sozialer Beziehungen, so kommt mit der Kapitalmystifikation aber ein ganzes prozesshaftes Ensemble sozialer Verhältnisse in den Kernbereichen kapitalistischer Wertschöpfung, dem Zentrum der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion, in den Blick und damit "das Entfremdet-, Entäußert-, Veräußertsein, das Nicht-dem-Arbeiter-, sondern dem-Kapital-Zugehören, der ungeheuren gegenständlichen Macht, die die gesellschaftliche Arbeit selbst sich als eines ihrer Momente gegenübergestellt hat" (Marx, Grundrisse 716). Die Fassung der Entfremdung als einen Prozess lediglich in Kategorien des Warenfetischismus bleibt kulturkritisch verkürzt und bekommt die Vergesellschaftungspotenzen im Produktionsprozess des Kapitals, die ja gerade auch eine Entwicklung von Individualität mit einschließen, nicht in den Blick. Vielmehr werden an diesem Punkt dann die "gegensätzlichen Formen der gesellschaftlichen Arbeit" (MEGA, Bd. II.3.6: 2144) machttheoretisch in die beiden Pole gesellschaftlicher Arbeit - repräsentiert durch die klassenbewusste Lohnarbeiterschaft - und privater Aneignung - verkörpert durch kapitalistischen Privatbesitz - auseinanderdividiert. Gesellschaftsveränderung kann mithin nur im "Frontalangriff" auf die kapitalistische Produktivkraftentwicklung gedacht werden, aber nicht mit ihr. Gerade in letzterem besteht aber das Credo der Kritik der politischen Ökonomie. Von Anbeginn ist die Marxsche Analyse darauf angelegt, nachzuweisen, dass sich die "materiellen Produktionsbedingungen" und die "Produktionsverhältnisse" als "Verkehrsverhältnisse" erweisen, "die ebenso viel Minen sind, um die bürgerliche Gesellschaft zu sprengen" (Marx, Grundrisse 77).

Verkehrsverhältnisse sind aber allemal mehr als einfache Klassenkampfkonstellationen. In sie gehen alle Errungenschaften der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung mit ein, sowohl auf Seiten des Kapitals wie der Lohnarbeit, die den Nexus von Privateigentum und Produktivkraftentwicklung aufheben und eine entwickeltere Gesellschaftlichkeit des Reproduktionsprozesses ermöglichen. Und genau dies ist der Ertrag der Marxschen Kapitalanalyse: "Zwei Hauptfacts der kapitalistischen Produktion: Erstens Konzentration der Produktionsmittel in wenigen Händen, wodurch sie aufhören, als unmittelbares Eigentum des einzelnen Arbeiter zu erscheinen, sondern als Potenzen der gesellschaftlichen Produktion, wenn auch noch zunächst als Eigentum der nicht arbeitenden Kapitalisten; diese sind ihre trustees (Verwalter) in der bürgerlichen Gesellschaft und genießen alle Früchte dieser Trusteeschaft. Zweitens: Organisation der Arbeit selbst als gesellschaftliche durch Kooperation, Teilung der Arbeit und Verbindung der Arbeit mit den Resultaten der Herrschaft über die Naturkräfte. Nach beiden Seiten hin hebt die kapitalistische Produktion Privateigentum und Privatarbeit auf, wenn auch noch in gegensätzlichen Formen." (MEW, Bd. 26.3: 418)



Anmerkungen

[1] John Bellamy Foster/Fred Magdoff, Implosion des Finanzmarkts und Stagnation. Zurück zur Realwirtschaft, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 2/2009, S. 31/32.

[2] Damit liegt m.E. in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ein spezifischer Zugriff auf die "Legitimationsprobleme im (Spät)Kapitalismus" vor, der dann zur Analyse der politischen Form des Gemeinwesens und des Staates weitergeführt werden muss, was im folgenden aber unterbleiben muss. "Ableitungsversuche" aus der "einfachen (Waren)Zirkulation" bleiben verkürzt, da sie eine zentrale ökonomische Voraussetzung wie auch Bezugspunkt von Staat und Politik in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ausblenden: das gesamtgesellschaftliche Mehrprodukt. Erst die Konkurrenz bezieht die Revenuequellenbesitzer, wenn auch in verkehrten Formen, auf die Mehrwertproduktion. Mithin eröffnet die spezifisch ökonomische Form der unbezahlten Mehrarbeit den analytischen Zugang, "worin wir das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden" (MEW, Bd. 25: 799).

[3] Vgl. dazu Stephan Krüger, Allgemeine Theorie der Kapitalakkumulation, Hamburg 2010, S. 199 u. 682/683. In der Kritik der politischen Ökonomie bilden die ökonomischen Formbestimmungen den "indicator" (Marx, Grundrisse 153) für die sozialen Verkehrsverhältnisse der Individuen zueinander.

[4] Den bislang elaboriertesten Begründungsversuch einer solchen Sichtweise unternimmt Heinrich Harbach: Wirtschaft ohne Markt, Berlin 2011, der sogar von einem "System der Warenproduktion" ausgeht, das "in verschiedenen Entwicklungsstadien existiert und eigene Gesellschaftsformen ausbildet" (ebd. 133), und der daher "die Auflösung der Wertformen zur Conditio sine qua non jeder Transformation und jeder alternativen Ökonomie" (ebd. 143) erhebt. Demgegenüber findet sich die Begründung einer "marktsozialistischen" Transformationskonzeption in ihren Grundzügen bei Stephan Krüger: Keynes & Marx, Hamburg 2012, im 17. Kapitel über weiterführende sozialistische Alternativen. Auch die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht: Freiheit statt Kapitalismus, Frankfurt/M 2012, begründet ihren "kreativen Sozialismus" (ebd. 341ff.) in erster Linie über Kooperation auf Shopfloor-Ebene, Belegschaftseigentum und Mitarbeiterbeteiligung; vgl. dazu ihr Streitgespräch "Konkurrenz oder Kooperation?" mit dem Schriftsteller und Unternehmer Ernst-Wilhelm Händler in: Philosophie Magazin, Heft 2/2013. In seiner Antwort auf die Transformationskonzeption der Sozialistin, bei der "die Belegschaft das Sagen hat, was die strategischen Entscheidungen angeht" (ebd. 16), reproduziert der Bourgeois in klassischer Weise unbegriffen den "dialektischen Umschlag im Aneignungsgesetz": "Alles beginnt immer kooperativ. Das gilt für Apple und alle anderen. Am Anfang haben Sie eine kleine Gruppe von völlig gleichberechtigten Leuten, aber am Ende wird immer eine ganz normale Firma daraus, wo einer oben die Richtung vorgibt. Das ist kein Zufall." (ebd.) Gegen solch besitzindividualistische "Normalisierung" dachte Heinz Brakemeier aus dem Impetus eines "Vereins freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben" (MEW, Bd. 23: 92), immer an. Vgl. dazu auch Christoph Lieber, Kooperativ-genossenschaftliche Produktion jenseits von Zentralverwaltungswirtschaft und Marktwirtschaft. Heinz Brakemeiers unabgegoltenes Forschungsprogramm, in Jens Becker/Thomas Zöller (Hrsg.), Gesellschaftskritik und emanzipatorische Praxis. Denken im Anschluss an Heinz Brakemeier, Hamburg 2013.



Sigel

MEW = Marx Engels Werke, Berlin.
MEGA = Marx Engels Gesamtausgabe, Berlin.
Grundrisse = Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin, Dietz Verlag 1974.

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Slave Cubela:

Klassenkampf ohne Marx!

Zur bürgerlichen Theorie der Arbeit vor Marx

So unbestritten es ist, dass der materialistische Ansatzpunkt der Marxschen Theorie in seinem beständigen reflexiven Rekurs auf die (Re-)Produktionspraxis der Menschen besteht, so sehr wirft diese besondere Bedeutung der menschlichen Arbeit innerhalb der Marxschen Theorie doch auch bei vielen Marx wohl gesonnen Interpreten Fragen auf. Warum wird eine bestimmte Form menschlicher Praxis bei Marx derart hervorgehoben, und wie aktuell ist diese Hervorhebung heute noch? Geht mit dieser Exposition der menschlichen Arbeit bei Marx nicht eine Reduktion der komplexen menschlichen Verhältnisse und der Geschichte einher? Mündet diese Hervorhebung nicht notwendig in einen schematischen Basis-Überbau-Determinismus? Legt schließlich die Zentrierung der Marxschen Theorie auf die Dynamik menschlicher Arbeit nicht den Grund für jenen Arbeitsfetisch, den viele Interpreten für das emanzipative Scheitern der Arbeiterbewegung verantwortlich machen, so dass heute die Befreiung von der Arbeit als entscheidender Bezugspunkt linker Praxis gilt?

Bevor man diese und ähnliche Fragen beantworten kann, empfiehlt es sich, sie und damit auch das mit ihnen einhergehende Unbehagen etwas hinten anzustellen. Denn zu klären wäre zunächst, ob die weitreichenden Urteile über Marx und dessen Hervorhebung der menschlichen (Re-)Produktionspraxis nicht insofern vorschnell getroffen werden, als sie die Differenz zwischen der Marxschen Theorie und den Debatten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, auf die er sich bezieht, nicht berücksichtigen. Löst man jedoch das eingreifende Denken des Viellesers Marx aus dem Kontext heraus, von dem dieses Denken lebt und auf das es sich qua Marxschem Selbstverständnis kritisch zu beziehen sucht, ent- und verstellt man den kritischen Gehalt des Marxschen Zugangs zu diesen Debatten. Die Rolle, die die menschliche Arbeit im bürgerlich-sozialphilosophischen Diskurs bis 1840 spielt, ist dabei auch heute von Interesse, um einerseits deren emanzipatorische Dimensionen in Erinnerung zu rufen und andererseits bei der Kritik des Marxschen Werks nicht hinter diesen zurückzufallen.

Beginnen wir mit dem vermutlich Bekannten, also jenen zwei Aspekten, die in der einschlägigen Literatur häufig genannt werden, wenn es um die besondere Bedeutung der menschlichen Arbeit in den sozialphilosophischen Debatten vor Marx geht: Arbeit und Reichtum. Arbeit ist dabei die zentrale antifeudale Kategorie des stärker werdenden Bürgertums, und diese bürgerliche Aufwertung der Arbeit gipfelt insbesondere im Werk John Lockes in der Legitimation sowohl des unbegrenzten Eigentumserwerbs durch Arbeit als auch der politischen Vertretungsansprüche des Bürgertums.[1] Je gewichtiger die soziale Position des Bürgertums in der frühen Neuzeit wird, desto mehr rückt auch die Frage nach den Ursachen des gesellschaftlichen Reichtums und den Möglichkeiten seiner Steigerung in den Mittelpunkt der sozialphilosophischen Publizistik. William Petty ist es, der Mitte des 17. Jahrhunderts die menschliche Arbeit neben der "Mutter" Boden zum "Vater" des Reichtums macht und damit den Grundstein für die so genannte Arbeitswerttheorie legt.[2]

Ohne die verschiedenen Verästelungen, die dieser Schritt Pettys zur Folge hatte, hier chronologisch nachvollziehen zu können[3], ist es für ein genaueres Verständnis der Reichtumsdebatte der werdenden bürgerlichen Gesellschaft sinnvoll, auf zumindest vier wesentliche Bereiche dieser Debatte besonders hinzuweisen.

1.) Innerhalb der schottischen Aufklärung Mitte des 18. Jahrhunderts kommt es - wohl ausgehend von der Rezeption Rousseaus - zu einer intensiven Auseinandersetzung um das Phänomen der Arbeitsteilung. Dabei wird zwar von keinem der beteiligten Autoren bestritten, dass die menschliche Arbeit durch die Arbeitsteilung eine immense Erhöhung ihrer Produktivkraft erfährt, doch während Adam Smith im berühmten Stecknadelbeispiel seines "Wohlstands der Nationen" (1776) lediglich den Wohlstandseffekt der Arbeitsteilung hervorhebt,[4] ist es sein Freund Adam Ferguson, der bereits die negativen gesellschaftlichen Folgen der Arbeitsteilung und damit den besonderen Einfluss der Produktion auf die gesellschaftliche Totalität in den Blick bekommt, wenn er in seinem "Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft" (1767) schreibt: "Allerdings kann bezweifelt werden, ob das Ausmaß nationaler Leistungsfähigkeit entsprechend dem Fortschreiten der Künste zunimmt. Viele gewerbliche Künste erfordern in der Tat keinerlei geistige Befähigung. Sie gedeihen am besten bei vollständiger Unterdrückung von Gefühl und Vernunft. Unwissenheit ist die Mutter des Gewerbefleißes ebenso sehr wie des Aberglaubens."[5]

2.) Auch wenn Arbeit als Quelle des Reichtums gilt und davon ausgegangen wird, dass die Arbeitsteilung das Ergebnis dieses Prozesses vergrößert, wird die Frage, ob jede Art von Arbeit produktiv sei, unterschiedlich diskutiert. Während für die französischen Physiokraten lediglich die landwirtschaftliche Arbeit produktiv ist, überwindet Adam Smith diese Bestimmung tendenziell und verallgemeinert die Bestimmung der produktiven Arbeit auf andere Formen der Arbeit; der Franzose Jean-Baptiste Say entwickelt die Kategorie der immateriellen Arbeit und erklärt selbige gleichfalls zur produktiven Arbeit, und Marx selbst legt schließlich einen großen Exzerptband über diese Debatte an, der später als erster Band der so genannten Theorien über den Mehrwert erscheint.

3.) In den Kolonien der europäischen Staaten, aber auch in wichtigen Ländern wie den USA und Russland hat im 18. und 19. Jahrhundert eine besondere Form produktiver Arbeit trotz aller bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsversprechen weiterhin eine kaum zu unterschätzende Bedeutung: Zwangsarbeit als Sklavenarbeit oder Leibeigenenarbeit. Die zentrale Frage, die dabei innerhalb der Gruppe der bürgerlichen Gegner dieser Form der Arbeit diskutiert wird, lautet: Soll man sich mit moralischen Appellen an die Sklavenbesitzer und Feudalherren begnügen, oder kann man diesen nicht sogar demonstrieren, dass sie gegen ihr eigenes Interesse handeln, da freie Lohnarbeit produktiver als Zwangsarbeit sei. Say z.B., obgleich Gegner der Sklavenarbeit, kritisiert diese Bemühungen, da er Zwangsarbeit in den frühen Ausgaben seines "Traité d'économie politique" (bis 1819) für mindestens ebenso profitabel wie die freie Arbeit hält und provoziert damit teils heftige Kritiken von Autoren wie Adam Hodgskin, Henri Storch, Charles Dunoyer und Charles Comte.[6]

4.) Unterstellt, die bürgerliche Gesellschaft hätte die Produktivität der in ihr geleisteten Arbeit optimiert und die Zwangsarbeit gehörte der Vergangenheit an: Sorgt dies auch dafür, dass die produktiven Arbeiter entsprechend ihrem Beitrag am gesellschaftlichen Reichtum partizipieren? Schon Adam Smith scheint jedenfalls an den Verteilungsvorstellungen des britischen Bürgertums zu zweifeln, wenn er mahnend schreibt: "Unsere Kaufleute und Unternehmer klagen zwar über die schlimmen Folgen hoher Löhne, da sie zu einer Preissteigerung führen, wodurch ihr Absatz im In- und Ausland zurückgehe, doch verlieren sie kein Wort über die schädlichen Auswirkungen ihrer Gewinne. Sie schweigen einfach über die verwerflichen Folgen der eigenen Vorteile und klagen immer nur über andere Leute."[7]

Mit jedem dieser Debattenpunkte sind eine ganze Reihe weitreichender Implikationen verknüpft. Insofern stellt die bürgerliche Reichtumsdebatte und der damit verknüpfte Diskurs der Arbeit eine Mischung aus ökonomischen, ethnologischen, soziologischen, geschichts- und moralphilosophischen sowie psychologischen Elementen dar. Eindeutige Klassifizierungen dieser Debatte zum Zwecke der Orientierung bleiben deshalb bis zum heutigen Tag schwierig, da die unterschiedlichen sozialen Kontexte, die politischen Ambitionen und die jeweiligen Bezugnahmen der Autoren genau zu berücksichtigen sind und viele Begriffe und Argumente noch "work in progress" darstellen. Erst im Zusammenhang mit der Industrialisierung, der Französischen Revolution und den frühen Anfängen der modernen Arbeiterbewegung kann ab Anfang des 19. Jahrhunderts eine Tendenzverschiebung innerhalb dieser Debatte festgestellt werden, indem der Zusammenhang von Arbeit und Herrschaft zum dominanten Diskussionsgegenstand und ein verstärktes Bemühen erkennbar wird, Geschichte und Gegenwart als Produkt von Klassenverhältnissen und Klassenkämpfen zu begreifen.[8]

Besondere Beachtung - nicht zuletzt da in deutschen Debatten kaum gegenwärtig - verdient hierbei die Herausbildung eines "militant economic liberalism" (Welch)[9] in Frankreich nach 1815 durch Autoren wie Thierry, Dunoyer oder Comte. Denn diese Liberalen ziehen nicht nur die klassentheoretischen Konsequenzen aus den Debatten um die Produktivität der Arbeit, indem sie das Verhältnis der produktiven und unproduktiven Klassen als wesentliches Verhältnis ihrer Zeit begreifen, sondern sie radikalisieren die bürgerliche Reichtumsdebatte, indem sie feststellen: Es ist die Arbeit der produktiven Klassen, die die Basis aller menschlichen Gesellschaften darstellt, und es ist die Gewalt und der Zwang der unproduktiven Klassen, die dafür sorgen, dass die produktiven Klassen selbst nach der Französischen Revolution noch um die Früchte ihrer Arbeit gebracht werden. Anders gesprochen, gilt für diese Autoren: Alle Geschichte ist Geschichte des (Verteilungs-)Kampfs zwischen produktiven und unproduktiven Klassen.

Die Folgen dieser Radikalisierung bürgerlichen Denkens sind immens. So wird die Orientierung der politischen Praxis des Bürgertums an Naturzustandskonstruktionen, aber auch an vormodernen, meist antiken Vorbildern in dieser Fraktion des französischen Liberalismus zurückgewiesen. Schon in den frühesten Stadien der Menschheitsgeschichte, so betont z.B. Dunoyer in seinem Werk "L'Industrie et la morale", habe bereits eine Ausbeutung der produktiven Klasse der Frauen durch die unproduktive Klasse der Männer stattgefunden, in deren Licht die bisherigen Naturzustandskonstruktionen sich als historisch falsch erwiesen, ganz zu schweigen davon, dass es nie einen vorsozialen Zustand der Menschheit gegeben habe. Ebenso unterschlüge der gerade in der Französischen Revolution so wichtige Rekurs auf die Antike, dass die Tugendhaftigkeit und der Gemeingeist der alten Griechen und Römer gerade die wesentliche produktive Klasse der Sklaven ausgeschlossen habe.[10]

Zudem verstehen diese liberalen Denker die Französische Revolution als eine - letztlich infolge der Produktivitätsfortschritte notwendige - Erhebung der produktiven Klassen gegen das alte Joch der unproduktiven Klassen, und sie ist für sie ähnlich wie die englische Revolution im 17. Jahrhundert ein emanzipativer Fortschritt.[11] Dennoch bemängeln sie den lediglich politischen Charakter der Revolution, also die Konzentration der Akteure auf Verfassungsdebatten, die Aufblähung des Staatsapparats (da diese erneut nur die produktiven Klassen belaste) sowie die monarchistische Wendung der Revolution unter Napoleon I., und sie kommen zu dem Schluss, dass die Rechte der produktiven Klassen statt von ihren besten Vertretern wie Industriellen, Bänkern, Geschäftsleuten zu sehr von "unproduktiven" Akteuren wie Anwälten und Gelehrten vertreten würden, zu viele Akteure der produktiven Klassen sich im Laufe der Revolution korrumpieren gelassen hätten, zu lange die Antike als ideeller Orientierungsrahmen für die Revolution gegolten habe. Dies und die militärische Bedrohung von außen hätten verhindert, dass die Revolution zu einer echten Emanzipation der produktiven Klassen geführt habe.[12]

Schließlich gehen sie davon aus, dass die Emanzipation der produktiven Klassen mit Notwendigkeit kommen werde, denn, wie erneut Dunoyer betont, der industrielle Fortschritt sei letztlich nicht aufzuhalten und das emanzipative Zeitalter des Industrialismus nur eine Frage der Zeit. Wie aber hat man sich dieses Zeitalter des Industrialismus vorzustellen? Dazu Dunoyer: "Das Anliegen des Menschen ist keine Frage der Regierung - vielmehr sollte der Mensch der Regierung hierbei eine nachrangige, wir können fast sagen eine möglichst kleine Bedeutung zusprechen. Sein Ziel ist vielmehr Industrie, Arbeit und die Produktion all dessen, was er braucht, um glücklich zu sein. In einer guten Ordnung sollte die Regierung nur ein Nebenaspekt der Produktion sein, eine Agentur, kontrolliert von den Produzenten, die für sie zahlen, und die ihre Person und ihr Eigentum schützt, während sie arbeiten. In einer guten Ordnung muß die größtmögliche Anzahl der Personen arbeiten und die kleinstmögliche regieren. Der perfekte Zustand wäre erreicht, wenn die ganze Welt arbeitet und niemand regiert."[13] Oder in den Worten einer Interpretin: "Was ist das Ziel der Menschheit, was ist das Ziel der Gesellschaft? Es ist nicht die Schaffung einer neuen Form der Regierung. Es ist die Schaffung von Industrie, Arbeit, Produktion und auf diese Weise von Glück. (...) Alle Formen der Regierung sind diesem Ziel nachgeordnet. Idealerweise sollte es gar keine Regierung geben, jeder sollte arbeiten und niemand sollte regieren."[14] Also: Mit dem Zeitalter des liberalen Industrialismus geht die Menschheit einem (fast-)anarchischen und klassenlosen Zustand des ewigen Friedens durch die Emanzipation der Produktion bzw. der produktiven Klassen entgegen.

Ohne nun den Einfluss dieser Autoren für die unmittelbare historische Entwicklung der bürgerlichen Reichtumsdebatte hier überzeichnen zu wollen, kann man feststellen, dass die industrialistische Verknüpfung des Primats der produktiven Arbeit mit ihrer Theorie der Klassenkämpfe einen Höhepunkt dieser Debatte darstellt. Die nachfolgende Diskussion hingegen stellt diesen Zusammenhang in Frage oder beschränkt sich auf einzelne Aspekte:. Einerseits sucht das bürgerliche Denken die hervorgehobene Stellung der Arbeit durch den Verweis auf die Bedeutung anderer Faktoren für die soziale Entwicklung theoretisch wieder zu relativieren, was aber die Frage provoziert, ob dieser Schritt einer Re-Moralisierung des Arbeitsdiskurses[15] tatsächlich ein Schritt nach vorn ist. Andererseits kommt es zwar zu bemerkenswerten Erkenntnisfortschritten in Bezug auf eine ökonomische Theorie der Arbeit, doch diese können nicht mehr in eine neue bürgerliche Theorie des Sozialen überführt werden.

Eine Re-Moralisierung des Arbeitsdiskurses im Zusammenhang mit dem Auftreten des Industrialismus lässt sich am Beispiel Henri de Saint-Simons zeigen, der die Entstehung des Industrialismus durch enge persönliche Verbindungen zu Dunoyer, Comte und vor allem seinen zeitweiligen Sekretär Thierry verfolgt und zunächst begrüßt. Dementsprechend formuliert er: "Die gesamte Gesellschaft ruht auf der Industrie. Die Industrie ist die einzige Garantie für ihre Existenz, die einzige Quelle für Reichtum und Wohlstand. Die positive Entwicklung der Industrie ist auch für die Gesellschaft positiv. Die Industrie sollte der Ausgangspunkt wie auch das Ende aller unserer Anstrengungen sein."[16] Saint-Simon kommen allerdings nach und nach eine Reihe von Zweifeln an bestimmten Aspekten des liberalen Industrialismus. Zunächst einmal ist er nicht davon überzeugt, dass das Phänomen einer neuen, nicht-produktiven Bürgerklasse, die den Erfolg der Französischen Revolution beeinträchtigte und die er im Gegensatz zur classe industrielle als classe bourgeois bezeichnet,[17] lediglich vorübergehend sein müsse. Sodann modifiziert er das Geschichtsbild des Industrialismus, da er davon ausgeht, dass mit dem Menschheitsfortschritt die menschlichen Ideen ein immer wichtigerer Faktor für weitere Fortschritte sind, so dass ein Fortschrittsautomatismus qua Produktionsfortschritten für ihn keineswegs gesichert ist. Schließlich beschäftigt ihn das Elend der niederen produktiven Klassen seiner Zeit, und er beginnt, sich intensiv mit der Situation dieser Klassen auseinanderzusetzen. Seine Schlussfolgerung aus diesen Zweifeln, die hier aufgrund der Uneinheitlichkeit und Unabgeschlossenheit seines Werks allenfalls angedeutet werden kann, lautet: Es ist zumindest für eine Übergangsphase angebracht, "die mächtigsten Industriellen mit der Lenkung des öffentlichen Geschicks zu betrauen"[18], wobei hier der Bedeutung der Ideen dadurch Rechnung zu tragen ist, dass in dieser Regierung der produktiven Klassen nicht nur führende Männer aus Industrie, Landwirtschaft und Finanzwesen, sondern auch Künstler und Wissenschaftler ihren Platz haben sollten, damit ein Ausgleich zwischen der geistigen Macht der Künste und Wissenschaften mit der weltlichen Macht der Industriellen möglich wird.[19] Ergänzend plädiert Saint-Simon insbesondere in seinem letzten Werk für eine Aufklärung der niederen produktiven Klassen durch die Etablierung eines neuen Christentums, denn: "Die von der Schule zurückgehaltenen wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen in angemessener Weise, die ihnen sakralen Charakter verleiht, vertreten werden, um sie den Kindern aller Klassen und den unwissenden Personen jeden Alters nahe zu bringen."[20]

Während in Frankreich durch diesen Anstoß Saint-Simons eine "Revolte gegen Positivismus und Ökonomismus"[21] in Gang kommt, hat die polit-ökonomische Reflexion auf die bestehenden Gründe des Elends der niederen produktiven Klassen in Großbritannien - neben der Entwicklung und Verbreitung utopischer Ideen sowie normativ-moralischer Aufrufe zur sozialen Versöhnung - eine höhere Bedeutung. In diesem Zusammenhang spielen David Ricardos "Principles of Political Economy and Taxation" (1817) eine besondere Rolle für die Entwicklung der Reichtumsdebatte. Zum einen geht er davon aus, dass der Tauschwert einer Ware voll und ganz auf die für ihre Herstellung notwendige Arbeitszeit zurückzuführen sei, zum anderen argumentiert er, dass Arbeitslohn und Unternehmerprofit in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stünden. Diese beiden Bestimmungen sorgen in der Folge dafür, dass die intendierte soziale Stoßrichtung der "Principles" immer mehr in den Hintergrund tritt. Denn war es eines der Ziele Ricardos mit seinen Ausführungen über den Fall der allgemeinen Profitrate die Grundbesitzer als unproduktive Klasse darzustellen[22] die einem anhaltenden Fortschritt der Gesellschaft für alle produktiven Klassen im Wege stehe, sorgt seine Arbeitswert- und Lohntheorie nun als theoretischer Bumerang dafür, dass die Produktivität des industriellen Bürgertums in den Mittelpunkt und ins Zwielicht gerät.[23] Doch damit längst nicht genug. Gerade Ricardos These vom umgekehrt proportionalen Lohn-Profitverhältnis treibt den Keil noch ein Stück weiter in die produktive Klasse, da der Interessengegensatz zwischen Lohnempfängern und Unternehmern jetzt für den aufmerksamen Leser als unabänderlicher Bestandteil der neuen bürgerlichen Gesellschaft erscheinen muss. So überrascht es dann keineswegs, wenn in der französischen Debatte bereits 1820 Sismonde de Sismondi in seinem Werk "Nouveaux Prinicipe d'Économie politique" unter Hinweis auf diesen Interessensgegensatz die emanzipative Hoffnung eines industrialistischen Zeitalters auf Grundlage der gegenwärtigen Produktionsbeziehungen verabschiedet.[24]

Bildlich gesprochen gelangt also die bürgerliche Reichtumsdebatte nach Ricardos Hauptwerk in eine Art theoretisches Grenzgebiet. Auf der einen Seite desselben liegt das seit knapp 150 Jahren inzwischen gut vermessene Land der Arbeit, mit seiner Eigentumstheorie, mit seiner Bedeutung für eine neue Geschichtsperspektive "von unten", mit seinen weitreichenden Implikationen für das Verständnis diverser sozialer Phänomene wie Politik, Kunst und Wissenschaft, mit seiner Theorie der produktiven Klassen bzw. des Kampfes zwischen produktiven und unproduktiven Klassen und schließlich mit seiner Hoffnung auf ein kommendes Zeitalter der emanzipierten und emanzipierenden Produktion. Auf der anderen Seite wiederum sorgt die von Ricardo provozierte These, dass die produktive Klasse diejenige der Lohnabhängigen ist, für den irritierenden Ausblick auf kaum bekanntes Terrain, in dem es scheint, als ob das Eigentum des Bürgertums zu unrecht erworben ist, in dem Geschichte "von unten" neue horizontale Interessenslinien zu berücksichtigen hat, in dem die Klassenkampftheorie sich gegen das Bürgertum zu wenden beginnt und in dem eine echte Emanzipation der Arbeit nur durch die Aufhebung der bürgerlichen Klasse und der sie bevorzugenden Produktionsverhältnisse erwartet wird.

Ein solcher Ausblick auf Unbekanntes muss verunsichern, so dass es bald zu einer Reihe grundsätzlicher Entscheidungen der diversen Grenzgänger kommt. Bereits acht Jahre nach Ricardos Tod (1831) ergreifen die etablierten bürgerlichen Ökonomen Großbritanniens im Political Economy Club fast geschlossen gegen diesen Partei, indem sie in einer Reihe von Debatten im Political Economy Club zu London fast einmütig zu dem Schluss kommen, dass alle wesentlichen Elemente der Theorie Ricardos zu verwerfen seien.[25] Mit diesem Schritt stellen die britischen Ökonomen zugleich die Weichen für die Abkehr von der Arbeit als zentraler Kategorie modernen bürgerlich-ökonomischen Denkens. Mutigere Grenzgänger wie William Thompson oder John Francis Bray betreten das neue Land der Arbeit, indem sie den Klassengegensatz von Arbeit und Kapital zur Grundlage einer neuen, "kämpferischen" Sozialwissenschaft zu machen suchen.[26] Dabei entdecken sie nicht nur weitere Bestimmungen der Arbeit wie die des Mehr-Werts und machen diese fruchtbar für das Verständnis der Entstehung des bürgerlichen Reichtums, sie bemühen sich zudem, praktikable Übergangsszenarien für die radikale Umwälzung bürgerlicher Verhältnisse zu entwerfen. Obgleich ihre Pionierarbeiten - gemessen an ihrem weitgehenden Anspruch - nicht immer überzeugen können, können sie als Wegbereiter der Erforschung der proletarischen Arbeit gelten. Davon zu unterscheiden ist schließlich eine Gruppe der Unentschiedenen in jenem Grenzgebiet. Einerseits halten diese Autoren wie etwa John Wade an den Bestimmungen der klassischen bürgerlichen Ökonomie fest und gehen dementsprechend davon aus, dass Unternehmer weiter Bestandteil der produktiven Klasse seien;[27] andererseits schreiben sie für die entstehende Arbeiterbewegung, d.h. sie sorgen nicht nur für die Verbreitung der klassischen politischen Ökonomie in der Arbeiterbewegung, sondern versuchen auch, ihre eigenen Erkenntnisse für selbige nutzbar zu machen. So verknüpft etwa Wade seine Theorie der endogenen bürgerlichen Wirtschafts- und Krisenzyklen mit dem Aufruf an die Arbeiter, in Zeiten guter Konjunktur für die folgenden Abschwünge vorzusorgen.[28] Auch wenn es diese Gruppe der Unentschiedenen bis zum heutigen Tag gibt, sie sogar in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine kaum zu unterschätzende Rolle spielte und spielt, so erschöpfen sich jedoch mit Mitte des 19. Jahrhunderts die Erkenntnisfortschritte dieser Gruppe. Dementsprechend endet hier das, was man vielleicht das heroische Zeitalter der bürgerlichen Theorie der Arbeit nennen könnte.

Nach diesem Durchgang durch die verschiedenen bürgerlichen Theorien der Arbeit vor Marx dürfte sicher sein, dass der Zusammenhang zwischen Produktion und Emanzipation keineswegs ein originär Marxscher ist, im Gegenteil. Basis-Überbau-Logik, Klassen- und Klassenkampftheorie, Staats- und Politikkritik, Zyklen- und Krisentheorie - all diese Elemente, die häufig genug als Besonderheit der Marxschen Theorie verstanden und tradiert wurden, erweisen sich nach diesem Rückblick auf die Zeit vor Marx als im Kern bereits von bürgerlichen Denkern vorgedacht. Allein, hat sich vor diesem Hintergrund der hier betriebene Aufwand überhaupt gelohnt? Unterstreicht dieser Text nicht lediglich, was im Anfang zumindest noch zweifelhaft schien, nämlich dass Marx durch die Aufnahme des bürgerlichen Produktivitätsprimats dieses in den emanzipativen Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft hineingetragen hat, so dass auch er dafür verantwortlich ist, dass dieser Kampf trotz proletarischer Vorzeichen arbeitsfetischistisch befangen blieb? Ohne diesen Fragen direkt entgegnen zu wollen, zum Schluss drei Überlegungen, die eine andere Interpretation des hier Entwickelten zumindest möglich machen.

Erstens: mag eine Relativierung des Produktivitätsprimats heute zwar als Charakteristikum einer offenen, nicht-dogmatischen Linken gelten, dann ist diese Relativierung historisch, wie das Beispiel Saint-Simon gezeigt hat, jedoch gleichfalls bürgerlichen Ursprungs. Dass diese Relativierung ebenso dazu führt, dass hinter der meist furchtbar undogmatischen Fassade des Anti-Ökonomismus fast immer ein harter und bornierter Kern politischer Emanzipations- bzw. Avantgardevorstellungen erscheint, zeigt übrigens die Geschichte der Arbeiterbewegung, denn in dieser war der Kampf gegen den Ökonomismus, der Kampf partei-kommunistischer Dogmatiker wie Lenin oder Gramsci gegen jene syndikalistischen Gruppen ihrer Zeit, die jenseits von Staat und Partei darum bemüht waren, ihr emanzipatives Augenmerk auf die Selbstorganisation der Arbeiter in der Produktion zu legen![29]

Zweitens: die augenscheinliche Nähe der Marxschen Theorie der Arbeit auf der einen und der bürgerlichen Theorie der Arbeit auf der anderen Seite könnte, statt schnelle Identifizierungen beider Theoriestränge nach sich zu ziehen, auch als Anstoß figurieren, das theoretische Mikroskop der Linken erneut zu schärfen. Wer die komplizierte und politisch aufgeladene Überlieferung und Edition der Marxschen Manuskripte kennt und wer die Philologiefeindlichkeit vieler Bewegungslinker erfahren hat, den würde es nicht wundern, wenn bei näherer Betrachtung insbesondere der Marxsche Produktionsbegriff noch einige bislang unbekannte Seiten und Implikationen entfalten würde. Dass dies kein bloßer Verdacht ist, dazu sei an den vielschichtigen Arbeits- und Produktivitätsbegriff erinnert, den Marx in den "Pariser Manuskripten", aber auch in den "Grundrissen" entwickelt hat, ebenso wie man als Interpret nicht vergessen sollte, dass für Marx eine radikale Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft und die Schaffung einer freien Assoziation der Produzenten stets auch die Aufhebung der Charaktermaske "Arbeiterklasse" unterstellte.

Schließlich: was spricht trotz dieser notwendigen Präzisierungsarbeit eigentlich grundsätzlich gegen die Annahme, dass Produktion und Emanzipation zusammen gehören? Oder mit den Worten von Marx: "Du sollst arbeiten im Schweiß deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab. Und so als Fluch nimmt A. Smith die Arbeit. Die 'Ruhe' erscheint als der adäquate Zustand, als identisch mit 'Freiheit' und 'Glück'. Daß das Individuum "in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit' auch das Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe, scheint A. Smith ganz fern zu liegen."[30] Warum also sollte die Linke nicht - anknüpfend an die fortschrittlichen Formen der hier dargestellten bürgerlichen Theorie - wieder stärker betonen, dass sie für eine Gesellschaft kämpft, in der alle Menschen ihr individuelles Bedürfnis nach "einer normalen Portion Arbeit" befriedigen können, für eine Gesellschaft in der Produktion und Emanzipation nicht nur wie in der bürgerlichen Gegenwart temporär und zufällig, sondern wirklich zueinander finden?



Anmerkungen

[1] Vgl. z.B. Hans Frambach: "Arbeit im ökonomischen Denken. Zum Wandel des Arbeitsverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart", Marburg 1999, S. 81-83

[2] Hierzu siehe Jochen Hartwig: "Petty - oder: die Geburt der Arbeitswertlehre aus den Problemen des frühen Kapitalismus", in: Historical Social Research, Nr. 4/2001 (26), S. 88-124

[3] Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Fragment Marxens über die Geschichte der politischen Ökonomie, in: MEGA I/27, S. 131-215

[4] Adam Smith: "Der Wohlstand der Nationen", Buch 1, Kapitel 1

[5] Adam Ferguson: "Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft", Frankfurt/Main 1988, S. 340

[6] Einen guten Überblick über diese Debatte gibt David M. Hart in seiner Doktorarbeit: "The Radical Liberalism of Charles Comte and Charles Dunoyer", in:
http://homepage.mac.com/dmhart/ComteDunoyer/index.html (27.11.2007), insbesondere Kapitel 3

[7] Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, Buch 1, Kapitel 9.

[8] Einige der wichtigsten Werke sind hierbei: Charles Hall: "The Effects of Civilisation on the People in European States" (1805); Robert Owen: "Essays on the Formation of Character" (1813) / "Two Memorials on Behalf of The Working Classes" (1818); Patrick Colquhoun: "A Treatise on the Wealth, Power and Resources of the British Empire" (1814); Francois Montlosier: "De la Monarchie Francaise" (1814); Henri de Saint-Simon: "L'Industrie ou discussions politiques, morales et philosophiques" (1817); Augustin Thierry:, "Des nations et de leurs rapports mutuels" (1817); Benjamin Constant: "Mémoire sur les cent jours" (1820); Francois Mignet: "Histoire de la Revolution francaise" (1824); Charles Dunoyer: "L'Industrie et la morale" (1825); Charles Comte: "Traité de legislation" (1827); Francois Guizot: "Cours d'histoire moderne, histoire générale de la civilisation en Europe" (1828); William Mackinnon: "On the Rise, Progress and Present State of Public Opinion" (1828); John Wade: "History of the Middle and Working Class" (1833); Peter Gaskell: "The Manufacturing Population of England" (1833). Einen ersten Einblick in die benannten englischen Werke gibt Asa Briggs: "The Language of Class in Early Nineteenth Century England", in: Ders. / John Saville (Hrsg.): "Essays in Labour History", London/New York 1960. Für die Französische Debatte s. die bereits zitierte Arbeit von David M. Hart. Vorläufer dieser Debatte sind im 18.Jahrhundert Millar in Schottland sowie Letrosne, Linguet, Turgot oder de Gournay in Frankreich

[9] Cheryl B. Welch: "Liberty and Utility. The French Ideologues and the Transformation of Liberalism", New York 1984, S. 158

[10] Vgl. David M. Hart, a.a.O., Kapitel 4, Abschnitt D

[11] Ebd. - Darüber hinaus vgl. Shirley M. Gruner: "Economic Materialism and Social Moralism. A study in the history of ideas in France from the latter part of the 18th Century to the middle of the 19th century", The Hague/Paris, 1973, S. 103-108. Über die unmittelbare Bedeutung dieser historischen Debatten für Frankreich nach 1815 und über die konservativen Gegenspieler in dieser Debatte gibt Auskunft: Stanley Mellon: "The Political Uses of History. A Study of Historians in the French Restoration", Stanford 1958. Eine neue Interpretation findet sich bei Ceri Crossley: "French Historians and Romanticism. Thierry, Guizot, the Saint-Simonians, Quinet, Michelet", London/New York 1993

[12] Shirley M. Gruner, a.a.O., S. 99

[13] Zitiert und übersetzt nach David M.Hart, a.a.O., Kapitel 4, Abschnitt D

[14] Shirley M. Gruner, a.a.O., S. 100f. (Übersetzung von S.C.)

[15] Der Begriff der Re-Moralisierung wird hier im Sinne der französischen Bedeutung von morale als Gesamtbegriff für Ideen, Normen, Geist, Mentalität etc. gebraucht.

[16] Zit. nach Jean Bruhat: "Der Französische Sozialismus von 1815 bis 1848", in: Jacques Droz (Hrsg.): "Geschichte des Sozialismus. Von den Anfängen bis 1875", Band II: Der utopische Sozialismus bis 1848, S. 117

[17] Shirley M. Gruner, a.a.O., S. 117

[18] Zit. nach Jean Bruhat, a.a.O., S. 121

[19] Ebd., S. 121

[20] Ebd., S. 122

[21] Shirley M. Gruner, a.a.O., S. 129ff.

[22] David Ricardo: "Grundsätze der Politischen Ökonomie und Besteuerung", Kapitel VI.

[23] Francois Bedarida: "Der Sozialismus in England bis 1848", in: Jacques Droz, a.a.O., S. 49-51

[24] Shirley M. Gruner, a.a.O., S. 132f.

[25] Vgl. Ronald L. Meek: "Der Untergang der Ricardoschen Ökonomie in England"; in: Ders.: "Ökonomie und Ideologie. Studien zur Entwicklung der Wirtschaftheorie", Frankfurt/M 1973, S. 94ff.

[26] Neben dem bereits zitierten Aufsatz von Francois Bedarida siehe hierzu auch die beiden Klassiker Edward P. Thompson: "Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse", Frankfurt/Main 1987, sowie Michael Vester: "Die Entstehung des Proletariats als Lernprozeß. Die Entstehung antikapitalistischer Theorie und Praxis in England 1792-1848", Frankfurt/ Main 1972

[27] Vgl. E.P. Thompson, a.a.O., S. 873

[28] Vgl. Daniele Besomi: "John Wades's early endogenous dynamic model: 'Commercial Cycles' and theory of crisis", in:
http://www.unil.ch/webdav/site/cwp/users/neyguesi/public/Wade.pdf (2.2.2008); in: European Journal of the History of Economic Thought, 15:4, Dezember 2008

[29] Michael Krätke: "Antonio Gramscis Beiträge zu einer Kritischen Ökonomie", in:
www.glasnost.de/autoren/kraetke/gramsci.html (8.3.2006)

[30] Karl Marx: "Grundrisse der politischen Ökonomie", Berlin 1974, S. 504f.

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Karl Reitter:

Knapp daneben ist auch vorbei

Ein Rezensionsessay zu Marx und die Philosophie von Urs Lindner

Mit dem Buch Marx und die Philosophie hat Urs Lindner eine umfangreiche Interpretation des gesamten Werks von Karl Marx vorgelegt. Diese genaue und sorgfältige Arbeit enthält eine Fülle interessanter Aspekte und scharfsinniger Überlegungen. Im Detail ist das über 400 Seiten starke Buch oftmals interessant und erhellend. Sehr trefflich finde ich seine Argumente, die Marx aus dem Bannkreis der Philosophie Hegels heraustreten lassen. Lindner zeigt auch überzeugend, dass es Marx letztlich gelungen ist, so etwas wie eine empirisch gestützte Sozialwissenschaft zu entwickeln, deren Elemente und Verfahren sich nicht auf Hegel zurückführen lassen. Ebenso finde ich seine Interpretation der Methodik von Marx im so genannten Manuskript M, einer Arbeit im Kontext der Abfassung der Grundrisse, sehr lesenswert.

Leider, so meine ich, kommt der Autor mit einigen ganz wesentlichen Positionen von Marx nicht wirklich zu recht und vor allem kann er die Aktualität des Denkens von Marx nicht plausibel begründen. Obwohl im Klappentext angesprochen wird nicht klar, warum wir heute mehr denn je mit Marx denken müssen, um die aktuellen Verhältnisse und Prozesse zu verstehen. Das ist schade, da sein Ausgangspunkt sehr vielversprechend klingt. "Je tiefer" sich der Autor in Marx hineindachte, "desto mehr wurde mir klar, dass nicht nur der 'Hegelmarxismus' sondern auch der von mir favorisierte französische Philosoph", gemeint ist Althusser, "sich in theoretischen und politischen Sackgassen festgefahren hatte." (7)[1] Insofern stimme ich mit Lindner völlig überein, eine angemessene Marxinterpretation kann sich nur jenseits von Hegelmarxismus und der Althusserschule entfalten. Hegelmarxismus definiert Lindner erstmals zutreffend in seinem Glossar folgendermaßen: "Hegelmarxismus: eine Deutung des marxschen Werks, die meint, das Kapital sei der hegelschen Logik nachgebildet, bzw. der Kapitalbegriff eine materialistische Fassung von Hegels 'Geist'" (419)

Wie geht Lindner vor? Der Autor arbeitet im wesentlichen mit zwei Textarten, mit sehr allgemeinen und überblicksartigen Kommentaren und mit sehr akribischen, oftmals all zu sehr am Wort orientierten Interpretationen, wobei er die Marxschen Texte in ihrer chronologischen Entstehung von den Frühschriften bis zu den späten Werken nacheinander diskutiert um so die Entwicklung des Marxschen Denkens dokumentieren zu können. Er schlägt folgende Periodisierung der Entwicklung der Marxschen Philosophie vor:

"1841-1844: Junghegelianische Sozialphilosophie
1845/46: Philosophischer Einschnitt und Entstehung einer realistischen Sozialphilosophie
1846-1859: Hochphase des historischen Materialismus
1950-1858 Übergang zur Sozialwissenschaft
1859-1883: Kritik der politischen Ökonomie
1868-1883: Abbau der Geschichtsphilosophie" (19)

Interessanterweise geht er nur auf den ersten Band des Kapital ein. Seine Textinterpretationen kann ich nicht im Detail nachzeichnen, aufgefallen ist mir, dass er oftmals über bloße Paraphrasierungen nicht hinauskommt und öfters zu sehr am Wort klebt. Lindner neigt dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. So überrascht es nicht, dass er das Buch des analytisch orientierten Philosophen A.G. Cohen Karl Marx's Theory of History sehr positiv einschätzt. (205f) Analytische Philosophie mag sich für die Untersuchung einzelner Aussagen oder Gruppen von Aussagen eignen, nicht jedoch für umfassende, komplexe Theorien, da das Nichtgesagte, nicht unmittelbar Ausgesprochene mit dieser Methode nicht untersucht werden kann und doch als bestimmend präsent ist. Lindner kann sich letztlich nicht entscheiden, ob er die Marxsche Philosophie als unabgeschlossenen Torso charakterisieren will - "Nach meiner Lesart ist das marxsche Werk von gegenläufigen Tendenzen durchzogen, die es zeitweise (fast) zerreißen." (216) - oder ob zumindest das Spätwerk in einer Sozialwissenschaft terminiert, welche ohne Hegelsche Geschichtsphilosophie auskommt und zudem eine gewisse Geschlossenheit und Systematik aufweist. Das Verhältnis von Bruch und Kontinuität im Marxschen Werk bleibt trotz oder gerade angesichts der Fülle von Aussagen eigentümlich unbestimmt. Fast beiläufig meint er, das Marxsche Werk sei "in einem elementaren Sinn heterogen und unabgeschlossen".(11) Nun, so heterogen stellt Lindner Marx andererseits wieder nicht dar, so betont er zum Beispiel völlig zu recht, dass es im "Kapital keinen Bruch mit der früheren Entfremdungsthematik" gäbe. "Vielmehr verteilen sich deren normative Gehalte nun auf ein komplexeres ethisches Begriffsvokabular." (346) Aber wie steht es um die Unabgeschlossenheit? Dieser Vorwurf führt uns ins Herz des Verständnisses der Kapitalanalyse. Was, so können wir fragen, wäre den ein Abschluss gewesen? Was hätte Marx schreiben müssen, damit sein Werk als abgeschlossen gelten kann? Die These der Unabgeschlossenheit korrespondiert direkt mit der Fehlinterpretation, Marx hätte im Kapital die kapitalistische Produktionsweise "in ihrem idealen Durchschnitt (MEW 25, 839)" (216) analysiert. Nun, ein idealer Durchschnitt lässt sich hypothetisch vollständig und zutreffend analysieren, aber liegt dem Gegenstand des Kapital tatsächlich ein solcher zugrunde? Bei Marx heißt es überdies, er untersuche die "innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt". Lindner übersieht gerade hier ganz großzügig den Ausdruck sozusagen.

Im Grunde geht es jedoch nicht um ein Wort, im Grunde geht es um die Frage, ob wir die Analyse des Kapitalverhältnisses von der Geschichte des Kapitalismus abkoppeln können? Marx hat nichts "abgeschlossen" weil es beim Thema Kapitalverhältnis nichts abzuschließen gibt. Die Geschichte des Kapitalverhältnisses ist kein belangloses Zubehör zur Analyse des "idealen Durchschnitt", das ist der Punkt. Da Geschichte nicht abgeschlossen ist, ist auch eine Theorie, die sich auf einen geschichtlich-gesellschaftlichen Gegenstand bezieht, nicht abzuschließen. Im Gegenteil, soll Aktualität des Marxschen Werkes eingeklagt werden, so ist der Blick auf die historische Abfolge der Versuche und Methoden der kapitalistischen Herrschaft das Klassenverhältnis durchzusetzen, zu sichern und permanent zu erneuern, unumgänglich. Er selbst wendet in den sehr überzeugenden Passagen zum Wissenschaftsverständnis bei Marx kritisch gegen Althusser ein: "In seiner [Althussers K.R.] Vorstellung von Erkenntnis als Produktion gibt es nämlich keinen eigenständigen Platz für Empirie." (243) Aber wo ist der Platz für Empirie in der Rezeption der Kapitalanalyse durch Lindner, wenn es doch angeblich um den idealen Durchschnitt geht?

Nach meiner Auffassung lassen sich bis dato vier Perioden der kapitalistischen Produktionsweise unterscheiden. Zwei davon hat Marx im Kapital untersuchen können, nämlich die Phase der Manufaktur und die darauffolgende Phase der "großen Maschinerie" (12. und 13. Kapitel im ersten Band). Fordismus und die aktuelle Phase des finanzgetriebenen Kapitalismus können wir nun mit den Begriffen und Analysen von Marx weiter untersuchen und verstehen. Die Marxsche Theorie liegt nach meiner Auffassung in Form vor, die es erlaubt damit zu arbeiten, Erkenntnisse zu gewinnen und Untersuchungen zu führen. Generationen von AutorInnen haben mit der Marxschen Theorie in dieser Weise gearbeitet und werden es weiter tun. Damit ist klarerweise nicht gemeint, Marx hätte jede Frage bis hinter die Kommastelle gelöst, aber wir haben weder einen Theoriesteinbruch noch inkompatible und sich widersprechende Theorieelemente geerbt.

Die Rezeption des Kapital durch Lindner

Die fehlende und unzureichende Begründung für die Aktualität des Marxschen Werkes liegt meiner Ansicht nach unmittelbar in der Lesart des Marxschen Hauptwerks durch Lindner begründet. Seine Darstellung unterstellt zwei Sprachen der Analyse bei Marx. Einerseits die Sprache, in der die eigentliche Kapitalbewegung dargestellt wird. "Auch das Kapital ist ein gegenständliches prozessierendes soziales Verhältnis, in dem diese Bewegung allerdings Selbstzweck ist." (307f) Zu der Analyse des prozessierenden Verhältnisses gesellt sich eine zweite Theoriesprache, jene der dichten ethischen Beschreibung. "Die Mehrwertproduktion evaluiert (sic!) Marx dabei mit dem dichten ethischen Begriff der Ausbeutung, dem er in der Untersuchung des Arbeitstages mit einem zugespitzten Metapherngebrauch die Drastik eines Schreckenszenarios verleiht." (308) Einerseits gibt es die Analyse der objektiven Kapitalmechanismen, andererseits evaluiert Marx und "verleiht" den Verhältnissen eine bestimmte ethische Färbung. Nun, die These von den zwei inkompatiblen Sprachen im Kapital wurde vor Jahrzehnten bereits im Kontext der Habermas Schule entwickelt, ich erinnere mich in diesem Zusammenhang gerne an meinen damaligen Dissertationsvater Ludwig Nagl. Lindner kommt ihr jedenfalls sehr nahe, ebenso findet die uralte Unterscheidung zwischen logischen und historischen Passagen bei unserem Autor eine Wiederauferstehung. Die Passagen von Marx zum Kampf um den 10 Stundentag in England kommentiert er nämlich folgendermaßen: Diese Passagen unterbrechen "die mechanismische Erklärungsfolge des Kapitals" und knüpfen "methodisch an den 18. Brumaire" an. (308) In das Kapital eingefügt sei eine "historische Narration sozialer Kämpfe". (307) Die logische Darstellung wird sozusagen durch die historische unvermittelt unterbrochen. Narration bedeutet nichts weiter als Erzählung, es gäbe also einerseits Analysen des "prozessierenden Verhältnisses" und eben eingestreute Erzählungen. Lindner präsentiert uns letztlich eine zwei Weltentheorie. Einerseits gäbe es die Welt des Kapitals, als prozessierender Selbstzweck, andererseits die Welt der "kontingenten Kräfteverhältnisse, überdeterminierte Konfliktverläufe und normativen Eigendynamiken" (308), schlichter ausgedrückt, die Welt der sozialen Kämpfe und der Rebellionen, die aber das eigentliche Klassenverhältnis keineswegs konstituieren. Die Welt der Klassenkonflikte wird fein säuberlich aus der Kapitalanalyse ausgegliedert, sie stellt sozusagen eine andere Baustelle dar. Das Immergleiche von Ware Geld, das Durchgängige der Bewegung G - W - G', kurzum auf die Dimension des "automatischen Subjekts" steht neben ethisch konnotierten geschichtlichen Erzählungen. Lindner hat sich von Althusser doch nicht so weit entfernt, wie es in manchen Passagen den Anschein hat.

Letztlich präsentiert uns Lindner eine Dichotomie von Kapitalverhältnis einerseits und ethischen Werten und Postulaten andererseits. Ich zitiere dazu eine sehr bemerkenswerte Passage: "Marx nimmt dabei einen positiven Freiheitsbegriff in Anspruch und kommt letztlich auch nicht ohne ein an diesem orientierten Gleichheitsideal aus. (...) Worum es hier geht, sind rudimentäre Ansätze eines Sozialstaates, dem es historisch im 20. Jahrhundert gelungen ist, zumindest vorübergehend und in manchen Regionen der Welt die im Kapital herausgearbeiteten Destruktionstendenzen der kapitalistischen Produktionsweise einzudämmen. Nach Marx müssen solche Regelungen dem Kapitalismus in sozialen Kämpfen abgetrotzt und gewissermaßen 'von außen' aufgezwungen werden." (353) Mit dieser Wende ist der Klassenkampf - ein Ausdruck den Linder scheut wie der Teufel das Weihwasser - gewissermaßen aus dem Kapitalverhältnis selbst externalisiert. Nebenbei, Gerechtigkeit ist kein Bezugspunkt für Marx, weil sich aus Gerechtigkeit die Formüberwindung nur sehr umwegig, wenn überhaupt, begründen lässt.

Lindner gewinnt aber dadurch eine theoriestrategische Möglichkeit. Wenn es neben der Kapitalanalyse noch eines philosophischen Diskurses über Ethik und Gerechtigkeit bedarf, dann ist der Weg auch zu Rawls, Habermas und Co, aber auch zum Diskurs um das Politische geebnet. Und tatsächlich kokketiert unser Autor auch ein wenig mit diesen Diskursen. Letztlich, und offenbar vom Wunsch getragen den Anschluss an die neomarxistische Debatte um das Politische nicht zu verlieren, Gott weiß warum, wird die von Marx propagierte Auflösung und Überwindung der Formen des Kapitalverhältnisse, auf Basis der im und durch dieses Kapitalverhältnis geschaffenen emanzipatorischen Gehalten - "wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechende Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie." (MEW 42; 93) - zu einem "mehr an Politik" (386) gemodelt. Das sich im Kapitalverhältnis immanent (!) die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft materiell und ideell eröffnet, ist Lindner offenbar sehr fremd.

Indem Lindner die Marxsche Theorie in zwei Bereiche aufteilt, kann er die politischen, ökonomischen, sozialen und emotionalen Formen der Herrschaftssicherung und des Widerstandes dagegen nicht als integraler Bestandteil der Kapitalanalyse erkennen. Der Klassenkampf konstituiert nichts, er ist dem Kapital wohl eingefügt, wie und mit welcher Bedeutung für die Dynamik des Kapitalismus bleibt offen. Dem synchronen, quasi ethisch neutralen Durchschnitt dieser Produktionsweise stellt er die genealogischen (gemeint ist historischen) ethischen Evaluationen und die Erzählungen über soziale Kämpfe entgegen. Wenn das Marxsche Werk derart zerrissen wird, dann ist wohl klar, dass uns Marxsche Kategorien und Begriffe kaum helfen können etwa den Überhang vom Fordismus zum Neoliberalismus zu verstehen. Dem Ökonom Marx wird der Historiker und Ethikphilosoph Marx entgegengestellt.

Verknüpft werden diese unterschiedlichen Theoriewelten mit einer Art Metatheorie: "Für die gemeinsame Komplexitätsorientierung beider Ansätze [salopp gesagt, Ökonomie und Politik, KR] ist nicht entscheidend, dass immer alles behandelt wird, sondern der Umgang mit Komplexität. Da die Welt unendlich vielschichtig ist, kann Wissenschaft ihre Gegenstände nie in deren ganzer verwickelter Vielfalt fassen. Auch für Marx geht es nach 1850 immer darum, die wesentlichen Eigenschaften seiner Objekte sichtbar zu machen - allerdings auf eine Weise, die diese nicht mehr, wie die klassisch-newtonianische Wissenschaft, unter ewige Gesetze subsumiert, sondern indem Zeit, Wandlungsdynamik und strukturierte Kontingenz in den Blick rücken." (259) Die "hegemonietheoretische Untersuchung des 18. Brumaire und die marxistische Kritik der politischen Ökonomie in ein und demselben Theorieprogramm zu verorten: einer historischen Sozialwissenschaft." (272) Aber diese "historische Sozialwissenschaft" ist ein bloßer Mantel, der dem überhistorischen "idealen Durchschnitt" und der kontingenten "hegemonietheoretischen Untersuchung" übergeworfen wird.

Staat und Politik bei Marx aus der Perspektive des Autors

Ich möchte im Folgenden meine These, Lindner neige dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, anhand einiger Themen näher illustrieren. Ich stelle dem immer eine knappe Skizze meiner Auffassungen als Kontrastfolie voran.

Wenn der Blick für das Wesentliche nicht in Details untergeht so kann doch über das Verhältnis von Staat, Ökonomie und Politik bei Marx folgendes gesagt werden: Marx unterscheidet sehr klar zwischen dem Kern des revolutionären Prozesses, der in der Überwindung des Kapitalverhältnisses und seiner Formen (Ware, Geld, Lohnarbeit, Eigentum an Produktionsmittel usw.) besteht und der sekundären, aber deswegen keineswegs zu ignorierenden Dimension des Sturzes der jeweiligen politischen Herrschaft und der Überwindung des Staates. Wobei, so meine Auffassung, Marx zwischen sozialer Herrschaft und politischer Herrschaft klar unterscheidet. Die politischen Machthaber sind keineswegs mit der Klasse der KapitalbesitzerInnen schlichtweg identisch und umgekehrt. In einer frühen Arbeit bestimmt Marx den Doppelcharakter der Umwälzung recht präzise: "Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch." (MEW 1, 409) Marx ordnet nun die soziale Revolution der politischen Revolution vor, es kann letztlich nicht um den Wechsel in der politischen Herrschaft, sondern muss um die Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst gehen. Diese Position entwickelt Marx nach und nach immer klarer und differenzierter.

Auch wenn diese kleine Skizze nicht akzeptiert wird, so wäre doch eine Alternative dazu angeraten. Lindner hat jedoch keinen Blick für diese theoretischen Zusammengänge, trotz oder gerade wegen einer Flut von Details und für sich stehender interessanter Überlegungen. Immer wieder ertrinkt er geradezu in den Details, wenn ich das so sagen darf. Schon bei seiner Analyse des Kreuznacher Manuskript, gemeint ist die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, schreibt Lindner haarscharf an der Pointe der Marxschen Kritik an Hegel vorbei. Marx kritisiert die von Hegel unterstellte Versöhnung von Staat und Gesellschaft und beharrt auf dem strikten Gegensatz. Dass der Prozess der Emanzipation den Staat überwinden muss, war Marx sehr rasch klar, ebenso, dass die Staatsmacht kein Mittel der Befreiung sein kann. Schreibt Marx 1843 noch davon, dass Emanzipation darauf beruht, dass der "wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt" und seine "gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt" (MEW 1; 370) so kann er angesichts der Pariser Commune nach 1871 diese Rücknahme als Ersetzung des Staatsapparates durch eine Rätedemokratie konkretisieren. Diese politische Dimension ist aber, soll sie geschichtsmächtige Dimension besitzen, auf die soziale Umwälzung angewiesen, eben auf die Auflösung der Formen der alten Gesellschaft, konkret die Überwindung der Lohnarbeit, die Überwindung des Eigentums an Produktionsmitteln, die Überwindung des zur Ware werden des Arbeitsproduktes, mithin die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise. Lindner hat für diese Doppelbestimmung des revolutionären Prozesses keinerlei Sinn und kommt so zu eigentümlichen Fehldeutungen. Lindner betont zwar die Marxsche Kritik an "staatszentrierter Politikvorstellungen". Zugleich will er aber die eigentliche Dimension der Befreiung bei Marx, eben die Umwälzung der Verhältnisse und Formen des Kapitalverhältnisses, allen voran die Überwindung der Lohnarbeit und somit der Klassen, in das Prokrustesbett des Politischen pressen und nennt die "Auflösung der alten Gesellschaft" "Sozio-Politik". Und so kommt Lindner zu folgender Schlussfolgerung: "Die marxsche Unterscheidung lässt sich auch ohne Probleme in die heutige postmarxistische Debatte um die Differenz zwischen 'Politik' und 'dem Politischen' übersetzen". (98) Wie bitte? Die ProtagonistInnen des Politischen wie Mouffe, Laclau oder Marchart, nicht zu reden von Hannah Arendt als erste Stichwortgeberin, kritisieren den Bezug zur Klassenlage als Kontaminierung des Politischen und konzipieren eine Handlungssphäre, in der weder die Formen des Kapitalverhältnisses noch die Klassenposition eine konstitutive Rolle spielen sollen. Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe, ist es das himmlische Leben im politischen Gemeinwesen (Marx, vergl MEW 1; 355) des citoyen, das zum Begriff des Politischen veredelt wird. Nur wenn der Begriff des Politischen so weit gedehnt wird, so dass alle und jede gesellschaftsverändernde Aktivität darunter fällt, nur dann macht es Sinn, die Auflösung der alten Gesellschaft unter diesen Begriff zu fassen, der dadurch jedoch jegliche Trennschärfe verliert. Um das Wirrwarr noch zu vergrößern behauptet Lindner es gebe eine "Würdigung der parlamentarischen Demokratie" (396) durch Marx im 18. Brumaire. Nun, wenn die scharfe Unterscheidung von Marx zwischen dem Staatsapparat und der dem Staat entgegengesetzten, an ihre Stelle tretenden Pariser Commune eingeebnet wird, dann lässt es sich auch behaupten, es handle sich in beiden Fällen um eine "Institutionalisierung des Politischen". (396) Wir lernen somit: ob Staat, Commune, Räte, Vollversammlung, immer institutionalisiert sich das Politische. Und diese Sichtwiese soll mit Marx vereinbar sein?

Entfremdung

Auch bei der Rezeption von komplexen Theorien sind zwei Extreme zu vermeiden. Die Auffassungen und Positionen sollen weder simplifiziert und zu griffigen Formen herabgestuft werden, noch darf das Ausgesagte durch all zu übertriebene Akribie und Differenzierung vernebelt und verdunkelt werden. Dies gilt auch für den Begriff der Entfremdung bei Marx. Lindner kommt erneut nicht auf den Punkt. Basierend auf meiner inzwischen jahrelangen Beschäftigung mit Marx meine ich, dass der Begriff der Entfremdung folgendermaßen charakterisiert werden kann: Entfremdung ist als Prozess zu begreifen, im Gegensatz zum Fetisch, der eine scheinbare Dingeigenschaft anzeigt. Das Wertsein der Ware ist ein Fetisch, ebenso die scheinbare Eigenschaft des Geldkapitals, sich ohne Zutun menschlicher Arbeit zu vermehren. Entfremdung hingegen verweist auf Prozesse, bei denen das Resultat des eigenen Tuns als fremd, unbeherrschbar und feindlich dem tätigen Subjekt entgegentritt. Es lassen sich bei Marx zwei Figuren der Entfremdung unterscheiden: Erstens die klassenübergreifende allgemeine Entfremdung durch das Wertgesetz; welches sich hinter dem Rücken vermittels krisenhafter Phänomene regelnd durchsetzt. Auch wenn es die herrschenden Klassen in der Regel weniger als die beherrschten betrifft, so gilt diese Form der Entfremdung auch für sie. Hingegen ist die entfremdete Arbeit klassenspezifisch. Es ist das Proletariat, das durch Lohnarbeit das Kapital produziert, welches als versachlichte Macht das Klassenverhältnis erneut befestigt und die materiellen Mittel sozialer Herrschaft produziert.

Lindner kommt mit dem Begriff der Entfremdung nicht zurecht. Ich räume gerne ein, dass in dem sehr frühen Werk von Marx, nämlich in seinen Exzerpten zu Mill aus 1843 der Prozesscharakter noch nicht klar hervortritt, im Gegensatz zu den etwas später verfassten Pariser Manuskripten. Im Mill Manuskript verknüpft Marx die Fremdbestimmung durch den Markt mit dem Begriff der Entfremdung. Dort dominiert der Gedanke, dass Arbeit und (deren) Produkt durch "fremde gesellschaftliche Kombination bestimmt wird". (MEW Erg. Bd., 454) Lindner überschätzt meiner Auffassung nach dieses sehr frühe Manuskript, bereits in den Pariser Manuskripten tritt der Prozesscharakter der Entfremdung deutlich hervor. Lindner kann mit diesem Marxschen Text offenbar nicht viel anfangen, seine Analyse gerinnt zur bloßen Paraphrasierung. Halberkenntnisse wie: "Entfremdung meint dementsprechend die wachsende Kluft zwischen akkumulierten Fähigkeiten und ihrer blockierten Verwirklichung" (117) helfen uns im Verständnis nicht weiter. Auch folgende Aussage ist nicht schlichtweg falsch, trifft aber den Kern des Entfremdungsbegriffes keineswegs: "Wie schon in den Pariser Manuskripten wird in den Grundrissen unter Entfremdung zunächst selbsterzeugte Ohnmacht und Reflexivitätsblockierung verstanden." (254) Statt zu klären wird kräftig vernebelt: "Innerhalb der deutschsprachigen Diskussion sind hier an erster Stelle Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa zu nennen, die Entfremdung als 'Beziehung der Beziehungslosigkeit' bzw. 'gestörte Aneignungsbeziehung' und als Blockierung von 'Resonanz' und 'Positivität' fassen." (107) Solche Formeln, die Entfremdung mit einem diffusen Unbehangen an der Welt identifizieren sind wertlos und irreführend. Da Lindner keinen klaren Begriff von Entfremdung entwickelt, identifiziert er damit schlichtweg viele Phänomene, die sich mit Hemmung, Fixierung, Blockierung usw. in Verbindung bringen lassen. So etwa auch die berühmte Passage aus der Deutschen Ideologie, in der Marx über die herrschende Form von Arbeitsteilung spricht, die das Individuum auf bestimmte Tätigkeiten fixiert und uns zwingt Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker zu sein und es bleiben zu müssen. (Verg. 183f) Das ist keineswegs mit Entfremdung gemeint.

Lieber nichts sagen, als etwas Angreifbares formulieren

Vage ist nicht nur seine Rezeption des Entfremdungsbegriffes, sondern auch des Wertbegriffs selbst. Lindner hat offenbar Probleme mit der Zeitbestimmung der Wertgröße bei Marx. Marxens Aussage: "Ökonomie der Zeit, darin löst sich alle Ökonomie auf." (MEW 42; 105) ist ihm offenbar nicht geheuer. Anstatt klar zu sagen, wie er den Wertbegriff bei Marx versteht, geht er folgendermaßen vor. Erstmals wird die "Arbeitsmengenlehre" (283) vollständig mit Ricardo identifiziert. Die entsprechende Kritik von Sraffa und Bortkiewicz treffe daher nicht Marx sondern eben Ricardo. Nun, was Bortkiewicz betrifft, so meine ich dessen Kritik am angeblichen (real nicht existierendem) Transformationsproblem (es geht um die Umwandlung der Werte in Produktionspreise) in meinem Buch Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen des freien Gemeinwesens gründlich zerpflückt zu haben. Lindner passt sich dem Mainstream an und akzeptiert ohne weitere Argumente die angeblich so treffende Kritik an der "Arbeitswertlehre" von Sraffa und Bortkiewicz bei Marx, leitet diese aber an Ricardo weiter, da es bei Marx so etwas wie eine "Arbeitswertlehre" gar nicht gäbe. Nun, eine simple Arbeitswertlehre existiert bei Marx in der Tat nicht, die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit nimmt im Kapitalverhältnisse eben die spezifische Wertform an, und diese Form ist wiederum Ausdruck der sozialen Beziehungen. Wir sollten also von einer gesellschaftlich-geschichtlichen Werttheorie bei Marx sprechen, obwohl sich alles letztlich in theoretisch messbaren Zeitquanten auflösen lässt. Ob Zeit messbare Zeit bleibt oder Wertform annimmt, in der die Zeitgröße nicht mehr ersichtlich ist, macht den Unterscheid ums Ganze aus. "Dass die Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist self-evident. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich historisch in verschiedenen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, in der sich jene Gesetze durchsetzen." (Brief von Marx an Kugelmann vom 11. Juli 1868)

Was behauptet hingegen Lindner? "Wert ist bei ihm gerade nicht Ausdruck einer messbaren Arbeitsmenge, sondern eine qualitative ökonomische Prozesskomponente, für die Wertsummen lediglich als Illustrationen dienen und für die Größen nur als Proportionalitäten relevant werden." (282) Was soll jene seltsame qualitative ökonomische Prozesskomponente sein, die durch Wertsummen illustriert werden. Was meint da illustrieren, was wird mit Wertsummen bebildert, warum diese Metapher? Und wieso sind die Größen der Prozesskomponenten für diese nur als Proportionalitäten bedeutsam? Verstehe wer will. In gerade 26 Zeilen schaffe es Lindner jegliche Klarheit bezüglich der Marxschen Werttheorie zu beseitigen und uns letztlich mit einer Formel abzuspeisen, die mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Im Übrigen ist die gesellschaftlich verfügbare Arbeitszeit selbstverständlich auch als absolute Größe relevant. Es ist keineswegs egal, wie viel Arbeitszeit in einer bestimmten konkreten Situation geleistet werden kann. Gesellschaftliche Aggregatsgrößen, wie die Summe des Mehrwerts, sind nicht relational, sondern absolut. Ebenso ist die Produktivkraft der Arbeit eine objektive Zeitgröße, was denn sonst! Ich kann mir diese Nullaussage nur durch das Bemühen von Lindner erklären, sich ja nicht all zu sehr aus dem Fenster zu lehnen. Ich kann mich des Eindrucks einfach nicht erwehren, dass Lindner vor lauter Vorsicht und Rücksicht klaren und daher auch angreifbaren Formulierungen immer wieder ausweicht und bei heiklen Fragen Formulierungen ohne Botschaft bevorzugt. Zu viel Immunisierungsstrategie schlägt oftmals ins Gegenteil um.

Resümee[2]

Viele detailreiche und interessante Überlegungen ergeben in Summe aber noch kein erhellendes Bild der Marxschen Philosophie. Und jegliche Rezeption beruht auch auf klaren Interpretationsentscheidungen, die nicht durch Materialfülle und bloße Untersuchungsreihen ersetzt werden können.



Anmerkungen

[1] Zahlen in Klammer beziehen sich auf die Seiten seines Buches Marx und die Philosophie, Stuttgart 2013

[2] Es gibt Passagen in Büchern, die provozieren. Es ist immer problematisch darauf zu reagieren, zumal die Replik positive Aspekte vernebelt und ein ausgewogenes Urteil verhindert. Aber ich frage mich schon, was sich unser Autor bei folgenden Aussagen gedacht hat. Lindner kritisch gegen Marx: "Für ihn [Marx] ist der Kapitalismus eine historische Notwendigkeit." (209) Daher, so die Schlussfolgerung, gäbe es bei Marx herrschaftsaffirmative Aspekte. Um Himmels willen, was soll das für eine Debatte sein? Sollen wir nun grübeln, ob der Kapitalismus doch zu vermeiden gewesen wäre? Und was wer wann und wie zu tun gehabt hätte um ihn zu verhindern? Oder trösten wir uns mit der Versicherung, Geschichte ist offen, also war sie offen. Zu behaupten, wer den Kapitalismus als historisch notwendig erachtet, bejahe Herrschaft, ist doch einigermaßen absurd, da die Gegenthese in reiner Spekulation versanden muss. Doch Lindner legt nach: "Wer heute an Marx anknüpfen will, sollte die Frage, ob es in seinem Denken Seiten gibt, in denen Stalin schlummert, niemals leichtfertig abtun." (211) Ich meine viel bescheidener, wer hier und heute ein Buch zu Marx (oder sonst wem) verfasst, sollte dem Druck des universitären, akademischen Milieus gewahr werden und vor allem der vorauseilenden Affirmation selbst der läppischsten Theorieströmungen, bloß weil deren ProtagonistInnen in den Pantheon der Wissenschaft eingegangen sind. Nicht der kleine Stalin in uns ist ein reales Problem, sondern der wachsende Anpassungsdruck. Ja nur keine angreifbaren Aussagen, ja nur kein übereiltes kritisches Wort, ja nur nicht Unsinn Unsinn nennen. Ja nur nicht die Anschlussfähigkeit verpassen. Ja sich nur keine Feinde schaffen und vor allem, immer alles irgendwie gelten lassen. Und bitte keine falsche Bescheidenheit: "Für Fehldeutungen und Schwächen des Buches, die trotz all dieser großartigen Unterstützung geblieben sind, ist natürlich keineswegs niemand anderer als ich selbst verantwortlich". (8) Aber keineswegs! Wir sind keine Stirnerische Monaden und all unser Tun, insbesondere das Schreiben von Büchern in hoch spezifischen Kontexten ist niemals das Werk einer einzelnen Autorin. Es mag in Grenzfällen wirklich unabhängige Denker geben, etwa Canetti und sein Buch Masse und Macht, aber gerade diesem Buch sieht man an der Nasenspitze an, dass es aus und für ein ganz bestimmtes Theoriemilieu verfasst wurde. Alle Vorzüge und Nachteile dieses Milieus finden sich gerade in diesem Buch geradezu eins zu eins abgebildet. Also lassen wir das mit dem Stalin und reflektieren wir ernsthaft über unsere intellektuellen und sozialen Existenzbedingungen.

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Buchbesprechung von Konrad Lotter

Colin Crouch: Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit

Wien: Passagen Verlag 2013, 233 Seiten, Euro 19,90


Aus seiner politischen Überzeug macht Colin Crouch keinen Hehl: "Nur eine Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen kann uns retten" (83), wobei er ergänzend hinzufügt, dass eine solche Koalition auf globaler Ebene zustande kommen müsse. Dazu bedarf es freilich einer bestimmten, d.h. einer "durchsetzungsfähigen Sozialdemokratie", die er nach zwei Seiten hin abgrenzt. Zum einen gegen eine erstarrte, "defensive Sozialdemokratie", die an den traditionellen Interessen der Industriearbeiter und dem Erhalt ihrer Besitzstände ausgerichtet, nicht mehr innovativ und den Herausforderungen der politischen Macht des Finanzkapitals nicht gewachsen ist; zum anderen gegen den "Sozialismus", der die Industrie verstaatlicht und den freien Markt aufhebt. Vor allem muss sich die "durchsetzungsfähige Sozialdemokratie" mit allen (christlich oder humanistisch motivierten) Umwelt-, Bürger- oder anderen Protestbewegungen verbünden und sich zu deren Fürsprecher machen.

Nach seinen beiden Büchern über die Postdemokratie (2008) und Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus (2012) hat Crouch ein neues Thema bearbeitet. Sein Blick ist nicht mehr auf die Vergangenheit oder Gegenwart, auf die Kritik des Neoliberalismus, die Aushöhlung der repräsentativen Demokratie durch die wachsende Macht der Lobbyisten und den Verfall der politischen Diskurse zu manipulierten Medienspektakeln gerichtet, sondern auf die Zukunft. "Jenseits des Neoliberalismus" kann für ihn nur eine erneuerte, wieder erstarkte und "durchsetzungsfähige Sozialdemokratie" stehen. Deren Grundprinzipien sind die Bejahung des kapitalistischen Systems mit seinem Privateigentum an den Produktionsmitteln sowie die Anerkennung des Marktes als Institution, die, wie Crouch meint, für die meisten Probleme doch die "beste Lösung" (22) bietet. Im Gegensatz zur neoliberalen Auffassung des Marktes aber glaubt die Sozialdemokratie nicht an die Selbstheilungsprozesse des Marktes und erhebt die Forderung nach seiner politischen Reglementierung. Diese Reglementierung zielt auf die Vermeidung dessen, was Crouch die "negativen Externalitäten", d.h. die unerwünschten Nebenwirkungen nennt, also auf den Schutz des natürlichen Lebensraumes oder auf die Verhinderung von Monopolbildungen und den Erhalt des Wettbewerbs im Interesse der Konsumenten. Sie soll von einer Sozialpolitik unterstützt werden, die am Wohlfahrtsstaat festhält, den Menschen bei der Arbeitssuche hilft, die soziale Anpassung an den technischen Fortschritt durch Umschulung und Weiterbildung fördert und einen sozialen "Wettlauf nach unten" verhindert.

Es sind vor allem zwei Formen des Neoliberalismus, denen Crouch den Kampf ansagt: dem "reinen Neoliberalismus", der alle Lebensbereiche dem Markt unterwerfen und die Rolle des Staates so weit wie möglich beschränken will, und dem "real existierenden Neoliberalismus", der durch Lobbyisten und den Einsatz von Firmen- und Privatvermögen den Staat zu einem Organ zur Durchsetzung seiner wirtschaftlichen Interessen macht. (43f.) Dagegen weist die "durchsetzungsfähige Sozialdemokratie" große Affinität zu einer dritten Form des (Neo-) Liberalismus auf, der Crouch mit Wohlwollen gegenübersteht. Deren Grundsatz wurde im Godesberger Programm der SPD (1959) formuliert: "Wettbewerb (Markt) so weit wie möglich. Planung (Staat) soweit wie nötig." Von diesem Programm ist Crouchs "Plädoyer für soziale Gerechtigkeit" inspiriert. Erstens wird darin die "Überlegenheit" des kapitalistischen Marktes über die sozialistische Planung anerkannt; zweitens bleiben aber doch verschiedene Lebensbereiche (Kultur etc.) aus dem Marktgeschehen ausgeklammert; drittens steht der Markt unter dem Vorbehalt der Reglementierung, sobald sich dies im Interesse der Bürger als notwendig erweisen sollte.

Für Crouch existiert infolgedessen nur die Alternative von ungerechtem (neoliberal verselbständigtem) und gerechtem (sozialdemokratisch gebändigtem) Markt, wobei er sich, was er philosophisch nicht weiter vertieft, an einem überzeitlichen Gerechtigkeitsbegriff orientiert. Auf der Höhe der Marxschen Einsicht in die Geschichtlichkeit der Gerechtigkeit und die Zwangsläufigkeit mit der die formale Gleichheit der Vertragspartner zur inhaltlichen Ungleichheit des Eigentums, der Chancenverteilung und der politischen Macht führt, befindet sich Crouch noch nicht. Statt die kapitalistischen Verhältnisse radikal, also an der Wurzel, zu kritisieren, begnügt er sich mit ein paar Verbesserungsvorschlägen. Diese greifen zudem noch romantisch auf die gute alte (Nachkriegs-)Zeit zurück, in der die Kluft zwischen Arm und Reich noch nicht so eklatant wie heute war, und man noch die Illusion haben konnte, der bürgerliche Staat sei eine von der Wirtschaft unabhängige Institution, mit der Kraft, dieser wirklich einschneidende Regeln vorschreiben zu können.

Ganz richtig stellt Crouch fest, dass wir "durch die Globalisierung des Kapitals und die damit verbundene steigende Ungleichheit ... in gewisser Hinsicht zu den ungleichen Klassenverhältnissen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgekehrt" sind. (218) Als letzte Ursache dafür nennt er aber nicht die kapitalistische Gesetzmäßigkeit der Mehrwertproduktion und -aneignung, sondern die neoliberale Wirtschaftspolitik, als hätte das Auseinanderdriften von Arm und Reich erst nach der Hochkonjunktur der Wirtschaftswunder-Zeiten, in der Ära von Ronald Reagan und Margaret Thatcher, und mit der Globalisierung begonnen.

Sympathisch ist Crouchs Eintreten für mehr Egalität, für eine starke Vertretung von Arbeitnehmerinteressen, für Frauenemanzipation, für das politische Anliegen von Umwelt-, Bürger- und Protestbewegungen. Er tut dies allerdings nicht um der betroffenen Menschen willen, nicht wegen des Zugewinns an (direkter) Demokratie und Freiheit. Sein letztes Kriterium sind vielmehr die Effizienz, die Wettbewerbsvorteile oder die Innovationsfähigkeit des Marktes, die seiner Auffassung nach daraus resultieren. Mehr Demokratie und Freiheit werden so zu Funktionen eines überlegenen Marktes, also um der "wirtschaftlich guten Leistungen" (117) geschätzt, die sie ermöglichen.

Europa ist für Crouch nicht nur der geeignete Erdteil für die Verwirklichung einer "durchsetzungsfähigen Sozialdemokratie", Europa ist für Crouch (im Gegensatz zu großen Teilen der kapitalistischen Elite, die die amerikanischen Verhältnisse auf Europa übertragen wollen) auch ein Konkurrenzmodell zu den USA. Trotz der extremen Ungleichheit seiner Bürger, trotz der extremen Schwäche seiner Gewerkschaften, der schlechten Arbeitnehmerschutzgesetze und der geringen Arbeitslosenunterstützung wird den USA eine "gute wirtschaftliche Lage" (151) attestiert. Wieder einmal geht es um eine Systemfrage: dieses Mal nicht zwischen Kapitalismus und Sozialismus (wie zu den Zeiten des Godesberger Programms), sondern zwischen amerikanischem Neoliberalismus und europäischer Sozialdemokratie. Um diese Frage zugunsten von Europa und der Sozialdemokratie zu entscheiden, bedarf es neuer und innovativer, weltweiter "Netzwerkexternalitäten" wie Umweltschutz, wirkliche Bankenregulierung oder sozialstaatliche Maßnahmen; vor allem aber muss sich die Überlegenheit Europas auf dem Markt unter Beweis stellen und zwar auf dem Weltmarkt.

Genau genommen bietet Crouch keine originellen Lösungen und Perspektiven an. Er fasst zusammen, was in vielen Ländern Europas und, in Ansätzen, sogar von überstaatlichen Organisationen wie der WTO, dem IWF, der Weltbank, der OECD oder der EU schon zum Programm erhoben und auf den Weg der praktischen Verwirklichung gebracht worden ist (z.B. der Kampf gegen Hunger und Armut). Das Problem, wie ein System, das sich durch seine immanenten Widersprüche und Krisen selbst an den Abgrund manövriert hat, in ein anderes, stabileres und menschlicheres überführt werden kann, wird nur halbherzig angegangen. Der Skandal, dass ein System, das auf der Ausbeutung der Arbeitskraft und dem Diebstahl des Ersparten beruht, dadurch aufrecht erhalten wird, dass es die Ausgebeuteten und Sparer über Steuern und Inflation, auch noch an der Aufrechterhaltung dieses Systems zur Kasse bittet, kommt nicht zur Sprache. Dabei wird doch auch die "durchsetzungsfähige Sozialdemokratie" nicht umhin kommen, das Erbe der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben anzutreten.

Der letzte Abschnitt des Buches ist "Grund zum Optimismus" überschrieben. Es spricht für Crouchs Aufrichtigkeit, dass er der Wiederbelebung der Sozialdemokratie, auf die sich sein Optimismus stützt, dann doch nicht so recht vertraut. Sein Optimismus gleiche, wie er anmerkt, dem Optimismus der polnischen Kavallerie, die im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Panzer anstürmte.

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Buchbesprechung von Robert Foltin

Harald Rein (Hg): 1982 - 2012. Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest. Dokumentation, Analyse und Perspektive.

Neu-Ulm: AG SPAK Bücher 2013, 260 Seiten, Euro 22,-


1982, vor dreißig Jahren, fand in Frankfurt am Main der erste Arbeitslosenkongress nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Harald Rein vom Frankfurter Arbeitslosenzentrum (FALZ) nahm diesen Jahrestag zum Anlass, eine Bestandsaufnahme der Erwerbslosenbewegung der letzten dreißig Jahre zu machen. Daraus ist ein gelungener Überblick über die unterschiedlichen Strömungen und Strukturen geworden, der die Unterschiedlichkeit der Erwerbslosenbewegungen sichtbar macht, ebenso ihre wenigen Erfolge und die trotzdem bestehende Kontinuität.

In einem ersten Beitrag Möglichkeiten des Protestes armer Leute (S. 11) geht es Rein darum, zu zeigen, dass nicht nur die der Arbeiter_innenbewegung verpflichteten Beschreibungen, sondern auch die sogenannten Bewegungsforscher_innen, dem Erwerbslosenwiderstand nicht gerecht werden können. Forscher_innen wollen unbedingt Sichtbarkeiten und Wirksamkeiten, sowie eine bestimmte Zahl von Organisierten sehen, um sie als Bewegungen anzuerkennen. Viele der beschriebenen Aktivitäten würden aus diesem Grund keinen Eingang in die Bewegungsforschung finden. Im Gegensatz dazu gibt es auch unsichtbaren Widerstand, der zum Erfolg führen kann. Ein Beispiel dafür ist die gescheiterte Verpflichtung von Hartz IV-Empfänger_innen zum Ernteeinsatz, der sich nicht durchsetzen ließ, weil diese unsichtbaren oder "unwahrnehmbaren" Widerstand leisteten.

Mag Wompels Vom Protest zur Revolte? (S. 19) setzt den alltäglichen Widerstand vor Ort gegen Großdemonstrationen, auch weil diese die Tendenz haben, die Politik der Repräsentant_innen (Gewerkschaftsfunktionäre, Attac, linke Splitterparteien) auf Kosten der Selbstorganisation zu fördern. Damit sollen Großdemonstrationen, die von unten organisiert werden, wie die am 1. November 2003 gegen die Einführung von Hartz IV, nicht abgewertet werden. Die kontinuierliche Arbeit können sie aber nicht ersetzen. Die "Arbeitslosen" wurden gerne als hilflose Opfer dargestellt oder gar als Basis für die faschistischen Bewegungen gesehen. Ein charakteristisches Zitat dazu ist das von Marie Jahoda: "Resignation scheint die vorherrschende Reaktion auf die Erwerbslosigkeit in den dreißiger Jahren gewesen zu sein." (S. 26 von Harald Rein zitiert) Harald Rein zeigt in den Traditionslinien des Erwerbslosenwiderstandes von der Weimarer Republik bis zu den Anfängen des Nationalsozialismus (S. 25), dass sich "Arbeitslose" auch in der Zwischenkriegszeit effektiv und militant organisierten und im Nationalsozialismus Widerstand gegen Zwangsarbeit und die Arbeitsdienste leisteten. Dieser Beitrag macht offensichtlich, dass dreißig Jahre Bewegung auch den Blick auf die Geschichte verändert.

Der Hauptbeitrag beschreibt die Geschichte des organisierten Erwerbslosenprotestes in Deutschland (S. 43). Über Organisationsformen in den 1950ern und 1960ern ist praktisch nichts bekannt, während sich in den 1970ern erstmals Erwerbslose im Kampf gegen die Arbeit und der Flucht aus der Lohnarbeit mit Jobberinitiativen zusammenfanden. Anfang der 1980er entstand kurzfristig eine Vielzahl von Gruppen von Erwerbslosen, die ein breites Spektrum abdeckten, das von autonomen über kirchliche bis zu gewerkschaftlichen Initiativen reichte. Besetzungen von Arbeitsämtern in Frankreich stießen in den 1990ern eine neuerliche Konjunktur der Bewegung an. Und schließlich sind die beiden Großdemonstrationen im November 2003 und im April 2004, sowie die spontan im Osten Deutschlands entstehenden Montagsdemonstrationen Ausdruck der Widerständigkeit gegen Hartz IV. Neben dem auf und ab der Bewegungskonjunkturen, den immer wieder neu auftauchenden Gruppen, gibt es auch eine Kontinuität, so besteht die ALSO seit Beginn des organisierten Erwerbslosenprotests. Rein arbeitet den immer wieder auftauchenden Widerspruch zwischen unabhängiger, autonomer Organisation und der Institutionalisierung etwa durch Gewerkschaften heraus, aber auch die Problematik der immer wieder auftauchenden Resignation durch die Erfolglosigkeit gegenüber den konkreten Forderungen.

Die darauf folgenden Beiträge zeigen in ihren Details die Facetten der Aktivitäten und die Vielfalt der unterschiedlichen Organisationen und Organisationsformen: Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen (S. 67), die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosenarbeit (S. 85), die Erwerbslosenarbeit bei der Dienstleistungsgewerkschaft verdi (S. 99), die Initiativen Erwerbsloser in Berlin (S. 109), das Aktionsbündnis Sozialproteste (S. 120), der Arbeitslosenverband Deutschland Bundesverband (133), die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung (S. 145), die Kampagne gegen Zwangsumzüge (S. 151) sowie schließlich die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (163), die neben dem FALZ zu den am längsten bestehenden Initiativen gehört. Eine Qualität dieses Buches ist, dass die unterschiedlichen Konzepte in ihrer Widersprüchlichkeit stehen bleiben. Dadurch wird ein breiter Überblick geboten, es zeigt sich aber auch, dass autonome Initiativen wie das ALSO weniger anfällig für Anpassung sind wie auch für Streitereien um vermeintliche Privilegien von einzelnen Aktivist_innen.

Zwei Diskussionsbeiträge zur Strategie der Erwerbslosen ergänzen den geschichtlichen Teil: Michael Bättig von der ALSO berichtet über die Verbreiterung und Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen Gruppen (S. 181). Die Frage des Hartz IV-Regelsatzes ist nicht unabhängig vom Kampf gegen die Lebensmittelindustrie und die industrielle Landwirtschaft zu sehen wie auch gegen den kapitalistischen Realzustand im Allgemeinen. Und Harald Rein tritt für das Existenzgeld und Gutes Leben (S. 187) ein.

Zum Schluss wird der Blick über die Grenzen geworfen, wobei für die Schweiz keine aktive Bewegung der Erwerbslosen beschrieben wird, sondern nur wie Arme in der reichen Schweiz protestieren (S. 209). Der Beitrag von Markus Griesser zu Österreich Jenseits von Marienthal. Schlaglichter auf die Geschichte von Erwerbslosenprotesten in Österreich (S. 223) gibt einen kompakten Überblick der Bewegungen von den 1930ern über den Neubeginn Anfang der 1980er bis hin zu den weiteren Entwicklungen in den 1990ern und 2000ern. Auch hier zeigt sich, dass die Erwerbslosen nicht so unsichtbar und angepasst sind, wie sie häufig dargestellt werden. Und wie schon im Titel zu erkennen ist, der Blick auf die historische Vergangenheit verändert wurde.

Der Herausgeber vertritt die autonomen Erwerbslosenbewegungen, bei denen auch meine Sympathie liegt. Dieses Buch bietet einen wertvollen Überblick und kann auch in Zukunft als Handbuch verwendet werden.

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Buchbesprechung von Philippe Kellermann

Juliane Rebentisch: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz.

Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2012, 396 Seiten, Euro 16,50


Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie/Ästhetik in Offenbach, bemüht sich in Die Kunst der Freiheit um eine "Apologie der Ästhetisierung" (S.11), die sie als grundlegenden Bestandteil der Demokratie, um genauer zu sein, der repräsentativen Demokratie versteht. Der Großteil des Buches widmet sich der Diskussion der Kritik dieser Ästhetisierung bei Platon, Rousseau, Kirkegaard, Carl Schmitt und anderen. Der Rückgriff auf Platon wird damit begründet, dass die von ihr diskutierte Problemstellung keineswegs ein "neues Problem" sei (S.13), sondern bis auf die in der Antike an der attischen Demokratie formulierte Kritik zurückreiche.

Der Grundgedanke ihrer durchaus sehr anregenden Ausführungen - vor allem wenn man sich für politische Philosophie unter dieser Fragestellung interessiert - besteht in einem nicht unbedingt atemberaubenden, aber schön aufbereiteten Gedanken: Das Subjekt ist nicht mit sich identisch, sondern in vielfältige Beziehungsgeflechte eingelassen und gerade das begründe seine Freiheit und ethische Existenz, denn: "nur weil die Einzelnen im lebendigen Austausch mit der Welt in eine Differenz zu sich selbst, und das heißt immer auch: zu ihrer jeweiligen Rolle als TeilnehmerInnen an einer sozialen Praxis geraten können, kann sich die normative Frage nach dem individuell wie sozial Guten überhaupt als Frage stellen" (S.21). Werde diese grundsätzlich mit dem Subjekt verbundene Struktur von diesem bewusst reflektiert und bejaht, existiere man als "demokratische[s] Subjekt" (S.363). Mit sehr viel Mühe widmet sich Rebentisch dann dem Nachweis, dass dieses "demokratische Subjekt" weder ein opportunistischer Wendehals noch wankelmütig sei, sondern sich in der dialektischen Struktur "zwischen stets voreiliger Entscheidung und der Möglichkeit ihrer nachträglichen Reflexion und Revision" (S.266) bewege.

All dies ist sympathisch und erscheint mir im Großen und Ganzen richtig. Umso erstaunter war ich, dass Rebentisch mit dem Dritten Teil: "Demokratie und Ästhetisierung" zu einer erstaunlich unkritischen Affirmation der repräsentativen Demokratie ansetzt. Sie knüpft dabei an einen in der "Einleitung" geäußerten Gedanken an (den sie auch fast wortwörtlich im Interview mit Pascal Jurt in der "Grundrisse" vertritt): "Die Regierungsform aber, welche die Möglichkeit der Infragestellung seiner jeweiligen Bestimmungen in ihren Begriff des Guten mit aufgenommen hat, ist, bereits Platon hat das klar gesehen, die Demokratie. Sie ist die einzige Regierungsform, in der es erlaubt ist, alles öffentlich zu kritisieren, alles öffentlich infrage zu stellen - einschließlich der jeweiligen konkreten Ausgestaltungen der Demokratie selbst." (S.21; vgl. Rebentisch 2012: S.42) Sieht man einmal davon ab, dass sich diese Erlaubnis (Wer erlaubt da eigentlich: Eine anonyme Struktur, ein Ideal, Menschen und wenn, dann welche und mit welchem Recht?) realhistorisch immer in gewissen Grenzen bewegt hat und keineswegs grundsätzlich gewährleistet ist, könnte man jedenfalls irgendeine kritische Nachfrage in Bezug darauf erwarten, ob diese "Blitzableiter"-Funktion von Parlamentarismus und Wahlrecht (denn Rebentisch geht es eigentlich immer nur um die repräsentative Demokratie) nicht auch problematisch ist. Rebentisch scheint dies nicht sonderlich zu interessieren, eher tendiert sie zu einer erstaunlich unkritischen Haltung, darüber frohlockend, dass der "Übergang von der außerparlamentarischen in die parlamentarische Opposition" in der Demokratie "konsequenterweise fließend" sei und dadurch, dass "die Wahl geheim ist", sie sich "der Kontrolle durch die jeweilige Macht" entziehe und so "dem System insgesamt seine Zukunftsoffenheit" sichere (S.337). Und in was für einer Wunderland-Demokratie leben wir eigentlich, wo angeblich die "Möglichkeit einer Revision der sie konkretisierenden rechtlichen und politischen Entscheidungen immer gegeben" sei (S.263)?

In ihren Anrufungen: "wir Demokraten" (S.56), ihrer Freude darüber, in der "Moderne" als "der eigentlich demokratischen Epoche" zu leben (S.87) und der "(liberal-)demokratische[n] Perspektive" (S.218), mag sie manches über das "Selbstverständnis der liberalen Demokratien" (S.231, vgl. S.264) erzählen, aber dies wirkt zu einem Gutteil wie eine Diskussion im platonischen Himmel der Ideen.

Interessant ist dann auch, dass Rebentisch die repräsentative Demokratie in erster Linie nicht deshalb gegenüber direktdemokratischeren Formen bevorzugt, weil "man nicht einfach das Modell der antiken Demokratie auf die Moderne übertragen" könne (Rebentisch 2012: S.41), sondern aufgrund der Vorzüge ihrer Struktur selbst: "Das Volk kommt grundsätzlich deshalb nicht mit seinen politischen Repräsentanten zur Deckung, weil seine einzelnen Mitglieder sich nicht schlechthin mit bestimmten Plätzen, Positionen oder Rollen identifizieren lassen. Deshalb kann es eine politische Einheit, die immer eine Platzordnung impliziert, nur in der politischen Repräsentation geben. Aus demselben Grund bleibt stets die Möglichkeit bestehen, dass sich die Kriterien ändern, nach denen der Gemeinwillen bestimmt wird, nach denen also festgelegt wird, was und wer und in welcher Hinsicht für die Gemeinschaft von Bedeutung ist und was und wer und in welcher Hinsicht nicht.

So nötig es ist, den Gemeinwillen zu bestimmen, weil es ohne eine solche Bestimmung - im Modus der Indifferenz - keine Gleichheit und keine Gerechtigkeit geben kann, so prinzipiell strittig bleibt doch zugleich seine Bedeutung." (S.331) Ich gebe gerne zu, dass ich diese Ausführungen womöglich nicht wirklich verstanden habe. Das jedenfalls, was ich zu verstehen meine, erscheint mir argumentativ äußerst schwach und keineswegs solcherart zwingend, wie Rebentisch es präsentiert. Will sie letzten Endes wirklich auf die Idee hinaus, dass das Subjekt, weil es nicht mit sich identisch ist, es dann letztlich auch egal ist, ob man sich selbst oder ein anderer mich bestimmt, bzw. repräsentiert? Warum ist es überhaupt nötig einen "Gemeinwillen" zu bestimmen, bzw. was impliziert das genau? Wie ist das mit der "politischen Einheit"? Warum setzt die Notwendigkeit von Gemeinwillen Souveränität voraus - staatliche wohlgemerkt, denn nur davon spricht Rebentisch? Hier wären so viele (Nach-)Fragen zu stellen...

Kein Zufall jedenfalls wohl, dass Rebentisch z.B. auch nicht von dem Problem der Parteien als "bürokratisch-hierarchische[n] Strukturen" (Castoriadis 1990: S.104) spricht, nicht von der möglichen Strukturadäquatheit von repräsentativer Demokratie und kapitalistischer Produktionsweise und so vielem anderen. Ihr sympathisches Anliegen, "eine radikale Kapitalismuskritik mit einer radikalen Totalitarismuskritik zu verbinden" (Rebentisch 2012: S.43) - also etwas, dass z.B. der Anarchismus seit jeher für sich in Anspruch nehmen kann - wirkt recht verbal und da Institutionen in der repräsentativen Demokratie allen Beteuerungen zum Trotz nicht so richtig das Problem sein können, so dass Probleme nicht in politischen Formen, sondern im falschen Inhalt gesucht werden muss: z.B. dem "verdeckten Einfluss von Wirtschaftseliten auf die Politik" (Rebentisch 2012: S.44). Allzu niveauvoll ist das nicht. Die von ihr anvisierte "radikale[.] Demokratietheorie" (S.43) mag so alles mögliche sein, nur nicht radikal. Sie ist im Grunde nichts anderes als die gute alte Idee Bernsteins: "Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist (...) Das Wahlrecht der Demokratie macht seinen Inhaber virtuell zu einem Teilhaber am Gemeinwesen, und die virtuelle Teilhaberschaft muss auf die Dauer zur tatsächlichen Teilhaberschaft führen" (Bernstein zit.n. Geras 1996: S.136).[1] Zwar erfährt man in einer Fußnote, dass es "unerträglich" sei, "den Klassenkonflikt zur Bedingung der Möglichkeit demokratischer Gesellschaften zu machen" (S.330) - Rebentisch eine solche Position also ablehnt -, aber wenn diese "mal unmerkliche[n], mal drastische[n], politische[n] Kämpfe um Anerkennung" (S.138) letztlich nur auf "Platzwechsel" (S.327) und "Perfektionierung" (S.321) hinauslaufen, fragt man sich schon ein wenig, was das alles soll. Kann aber auch egal sein, denn irgendwie ist alles jenseits der repräsentativen Demokratie auf dem besten Weg in den Totalitarismus. Dabei ist es völlig richtig, wenn sie eine "gewisse Skepsis gegenüber der Utopie sozialer Authentizität" hat, "weil sie auch dort, wo sie sich als demokratische versteht, latent oder manifest Züge autoritärer Vergemeinschaftung trägt." (Rebentisch 2012: S.42) Ich würde nur bestreiten, dass diese Idee jeder "radikal repräsentationskritischen Gesellschaftskritik" unterliegt, wie sie meint (Ebd.). Und die ganze Polemik gegen Rousseau und die volonté generale ist zwar wichtig, aber auch irgendwie langsam ausgelutscht. Und man brauchte auch nicht den Totalitarismus - wie sie suggeriert (vgl. Rebentisch 2012: S.43) -, um das zu wissen, denn merkwürdigerweise war es der radikal repräsentationskritische Anarchist Bakunin, der über Rousseau schrieb, dass dieser "dem Anschein nach der demokratischste Schriftsteller des 18.Jahrhunderts" sei, in ihm aber "der erbarmungslose Despotismus des Staatsmanns" brüte (Bakunin 1871: S.108).

Was konkret aus den Ausführungen Rebentischs (leider) zu folgen scheint, ist klassische Sozialdemokratie. Nehmen wir ein Beispiel aus ihrem Interview in grundrisse 43: "In dieser Fluchtlinie wäre Occupy nicht das Modell für ein ganz anderes (authentisches) Soziales, sondern der recht buchstäbliche Platzhalter für eine Wiedergewinnung des politischen Raums, in dem Konflikte ausgetragen werden können." (Rebentisch 2012: S.45) So hätte ein Sozialdemokrat 1918/19 argumentiert: 'Liebe Räte, ihr seid ganz nett als Platzhalter in den Zeiten des Verfalls der Monarchie, aber nun wählt doch bitte Eure Volksversammlung!'[2]

Da sich Rebentisch darüber hinaus explizit einer "ironischen Selbstverkleinerung staatlicher Politik" widersetzt (S.334), bleibt letztlich nur jene "Affirmation des Staates", wie sie Karl Reitter in bestimmten Diskursen über "das Politische" ausgemacht hat (Reitter 2013: S.5). Ist wohl auch besser so, denn es bedarf eben einfach "der Macht oder Kraft der Souveränität, die dem demos immer wieder eine politische Form, ein Gesicht gibt", wobei diese "auf die Anerkennung eines Publikums aus potentiellen Konkurrenten angewiesen bleibt" (S.320), was wohl kritisch gemeint sein soll. Von "Selbstregierung" (S.84) sprechen ist eine schöne Sache, aber ihre Reaktion auf Crouchs Kritik an der Rolle von PR ExpertInnenen in modernen Wahlkämpfen: "Wären unstrukturierte Diskussionen ohne den Einfluss von Experten besser?" (S.369), lässt aufblitzen, dass Rebentischs Begriff von Demokratie letzten Endes noch weit hinter Aristoteles und den klassischen Republikanismus zurückfällt.

P.S.: Die Größe der antiken Tragödie bestand darin - zumindest ist diese Interpretation faszinierend - einer aus freien und autonomen Polis-Bürgern zusammengesetzten Gesellschaft, die ihrer Freiheit innewohnenden Gefahren vor Augen zu führen. Selbst nicht mit Souveränität oder Befehlsgewalt ausgestattet, erfüllte sie die Funktion einer radikaldemokratischen Gesellschaft als "verbindender Geist" zu dienen, welcher einen Staatsapparat überflüssig machte. Das moderne Theater - Rebentisch wähnt sich selbst als Teil von dessen Avantgarde - ist dagegen nur ein schlechter Witz: Zeitvertreib für Bessergestellte oder all jene, die sich für gebildet oder avantgardistisch halten. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, aber an der ein oder anderen Bemerkung Rebentischs wird deutlich, zu welch abstruser Selbstüberschätzung man zu neigen beginnt, wenn man ein gewisses, nämlich das eigene Milieu, mit der Gesellschaft verwechselt oder in seiner gesellschaftlichen Relevanz überschätzt: "Die Demokratie hingegen ist umgekehrt von der differentiellen Repräsentationslogik des Theaters geprägt" (S.368) Dann weiterhin viel Erfolg im Berufsleben!



Anmerkungen

[1] Da Bernstein zumeist negativ konnotiert wird, will ich nur anmerken, dass man meines Erachtens von Bernstein durchaus auch lernen kann - in vieler Hinsicht mehr als von Kautsky oder Lenin jedenfalls...

[2] Wozu es bekanntermaßen auch kam. Der Anarchist Johann Most beschrieb einen solchen Vorgang wie folgt: "Diese Gelegenheit, aus den Trümmern alter Herrlichkeiten neue Gewalten hervorzuzaubern, hat sich stets in dem kritischen Augenblicke ergeben, wo das Volk alle Ketten und Banden zerbrochen hatte und dabei vor seiner eigenen Freiheit verrückter Weise erschrak und deshalb geneigt war, denjenigen ein offenes Ohr zu leihen, welche von der Notwendigkeit der Errichtung einer neuen - versteht sich 'guten' - Regierung faselten." (Most 1888: S.140)

Literatur:

Bakunin, Michael (1871): Gott und der Staat. Berlin: Karin Kramer Verlag, 2007.

Castoriadis, Cornelius (1990): Das griechische und das moderne politische Imaginäre, in: ders. Philosophie, Demokratie, Poiesis. Ausgewählte Schriften. Band 4. Lich: Edition AV, 2011. S.93-121.

Geras, Norman (1996): Rosa Luxemburg. Vorkämpferin für einen emanzipatorischen Sozialismus. Köln: Neuer ISP Verlag.

Most, Johann (1888): Der Narrenturm, in: ders. Die Freie Gesellschaft. Münster: Unrast Verlag, 2006. S.123-143.

Rebentisch, Juliane (2012): Genauer Hinblicken. Gespräch mit Pascal Jurt, in: Grundrisse 43 (2012). S.40-45.

Reitter, Karl (2013): Zwischenruf zum Thema "das Politische", in: Grundrisse 45 (2013). S.4-5.

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Buchbesprechung von Bernd Hüttner

Elisabeth Koch, Manuela Saringer, Rosemarie Schöffmann, Viktorija Ratkovic: "Gastarbeiterinnen" in Kärnten - Auf Spurensuche der weiblichen Arbeitsmigration

Klagenfurt: Drava Verlag 2013, 142 Seiten, Euro 14,80


"Gastarbeiterinnen" in Kärnten resultiert aus einem Forschungsprojekt an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, das die Spuren der weiblichen Arbeitsmigration untersucht. Es ist in drei Teile gegliedert: Nach der Einleitung wird der theoretische Rahmen der Arbeit zu Migration, Erinnerung und Geschlecht dargestellt, dann werden Tageszeitungen der 1960er und 1970er Jahre untersucht und zum Schluss Auszüge aus biografischen Interviews dokumentiert und reflektiert.

Migration und die damit zusammenhängenden Erfahrungen verändern Menschen und Gesellschaften, im Herkunfts- und im Ankunftsland. Sie müssen, so die Forderung der Autorinnen, sichtbar gemacht und damit Bestandteil der nationalgeschichtlichen Meistererzählung werden. Zwischen 1962 und 1973 werden in Österreich gezielt Arbeitskräfte angeworben, v.a. im benachbarten Jugoslawien. Ihre Zahl steigt von 24.000 im Jahr 1964 auf 204.000 im Jahr 1972. Dies entsprach ca. einem bzw. dann acht Prozent der abhängig Beschäftigten. Die Hälfte aller "Gastarbeiter_innen" in Österreich waren Frauen. Sie waren in der Regel nicht "nachziehende Familienangehörige", sondern migrierten selbstbestimmt. In Österreich herrscht seinerzeit ein wirtschaftlicher Boom und deshalb Arbeitskräftemangel. Die Arbeitgeber fordern eine Liberalisierung, die Gewerkschaften ein Gesetz gegen Ausländerbeschäftigung. Schließlich werden die auch aus anderen Ländern bekannten Kontingentlösungen vereinbart. In Folge kommt es ab Anfang der 1970er Jahre zu einer rassistischen Unter- und Umschichtung des Arbeitsmarktes: Die "Gastarbeiterinnen" arbeiten v.a. in den typisch weiblichen Berufen des schlecht bezahlten Dienstleistungssektors, etwa der Gastronomie und in den Industrieberufen mit hohem Handarbeitsanteil. Im Gegenzug haben Bio-Österreicher_innen bessere Aufstiegschancen.

Nach dieser Skizze der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen folgt der theoretische Teil, der deutlich zeigt, wie eng kollektive Erinnerung mit Macht verknüpft ist. Weder persönliche Erinnerungen noch das über die Familie hinausreichende "kulturelle" Gedächtnis sind statisch. Was dazu gehört und was - erst recht öffentlich - sagbar ist, ist einer permanenten Auseinandersetzung unterworfen. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass "Gastarbeiter_innen" vom kollektiven Gedächtnis ausgeschlossen sind. Dieses naturalisiert die Nation und ihre Angehörigen auch über nicht änderbare Tatsachen, etwa die Hautfarbe, das Geschlecht oder den Geburtsort. Die "anderen" sind ausgeschlossen und konstruieren durch diesen Ausschließungsprozess die Nation - und die dazu passenden Erinnerungen - mit. Die Autorinnen liefern hier auf wenigen Seiten eine fulminante Übersicht über die einschlägige Debatte zu Migration, Macht, Erinnerung und Geschlecht.

Der zweite Teil ist eine auf 360 Artikeln beruhende Quellenanalyse. Die Artikel stammen aus zwei Tageszeitungen, die der SPÖ bzw. der ÖVP nahe stehen, und deren Auflage zwischen 1964 und 1976 zwischen jeweils 25.000 und 40.000 schwankt. Ihr eindeutiger Tenor ist, das "Gastarbeiter_innen" als Problem dargestellt werden. Sie gehören nicht dazu, was schon allein daran deutlich wird, dass der Begriff in über hundert Artikeln in deren Überschrift steht. Gastarbeiterinnen werden oft als Opfer, "Gastarbeiter" als Täter dargestellt und die "Gastarbeiter_innen" dienen als Gegenfolie zum einheimischen "wir". Der hegemoniale Diskurs wiederum debattiert im Untersuchungszeitraum die Emanzipation der weißen österreichischen Frauen, unter anderem durch ihre steigende Berufstätigkeit - während Lohnarbeit für Migrantinnen längst Normalität ist.

Die Interviews im letzten Teil illustrieren das Thema dann noch auf eine sehr persönliche Weise: Sechs Frauen berichten über ihre Geschichte. Sie migrierten mit Hilfe von familiären oder freundschaftlichen Netzwerken. Kontakt zu den staatlichen Vermittlungsstellen hatte von den sechs Interviewten keine. Für sie waren die harte Arbeit und der geringe Lohn keine Umstände die sie in Frage stellten.

Zusammengefasst ist "Gastarbeiterinnen" in Kärnten ein kluges, gut geschriebenes und preiswertes Buch, in dem sich wissenschaftliche Themen und persönliche Passagen gut ergänzen. Seine Lektüre kann uneingeschränkt empfohlen werden. Es zeigt die Ambivalenzen der "Autonomie der Migration" und noch mehr, dass Migrantinnen damals nicht in erster Linie Ehefrauen und Mütter sind, die als Opfer unter dem Migrationsprozess zu leiden haben. Ob das nationale Narrativ nun um die Perspektive von Migrant_innen erweitert oder nicht besser radikal kritisiert werden sollte, das ist dann freilich eine ganz andere Debatte.

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IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 25. September 2013
Redaktionsschluss der Nr. 48: 30. September 2013

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Medieninhaberin: Verein für sozialwissenschaftliche Forschung, 1170 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin, Maria Gössler, Stefan Junker, Franz Naetar, Karl Reitter, Paul Pop, Walter S.

Layout: Stefan Junker.

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse"

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)

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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
herbst 2013, nr. 47
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2013