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GRUNDRISSE/042: zeitschrift für linke theorie & debatte, sommer 2014


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 50, sommer 2014


INHALT

Redaktion:
Editorial
Call for Papers

John Holloway:
"Das Kapital" lesen: der erste Satz

Antispeziesistische Aktion Tübingen:
Vegan-Hype: Ursachen und Vereinnahmung aus kämpferischer Perspektive

Stefan Bollinger:
Weltkrieg, "Urkatastrophe" und linke Scheidewege

Jannik Eder:
Schuld ohne Sühne

Karl Reitter:
Nichts geht mehr. Zum Propagandadebakel der Mainstream Medien im Falle der Ukraine

Ewgeniy Kasakow:
"Tendenz zeigt Tendenz" - eine Replik auf die Kritik von Roman Danyluk und Stefan Junker

Roman Danyluk:
Die Befreiung der Arbeit. Räte und Selbstverwaltung

Paul Pop:
"Lob des Kommunismus 2.0": Eine Kritik

Karl Reitter:
Buchbesprechung: Roland Atzmüller; Aktivierung der Arbeit im Workfare-Staat. Arbeitsmarktpolitik und Ausbildung nach dem Fordismus

Martin Birkner:
Warum ich als parteifreier Kommunist Europa anders unterstütze

*

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Eine komplette Schwerpunktnummer zum Thema Krieg - Information - Desinformation ist es nun doch nicht geworden. Einige Artikel zu diesem Thema findet ihr jedoch in dieser Ausgabe. Stefan Bollinger beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den Hintergründen und Ursachen des 1. Weltkriegs. Jannik Eder erinnert an die grausamen Pogrome, die vor zwanzig Jahren in Ruanda stattfanden und verweist auf die undurchsichtige Rolle der Kolonialmacht Frankreichs im Konflikt zwischen Hutu und Tutsi. Karl Reitter analysiert das Propagandadebakel der Mainstream Medien im Falle ihrer Ukraine Berichterstattung. In der nächsten Ausgabe wird die Beschäftigung mit der Kriegsfrage fortgesetzt, ihr könnt uns also gerne Artikel zu dieser Thematik zusenden. Sicher publiziert wird ein Text von Stefan Junker, der sich mit Lenins Defätismus im 1. Weltkrieg beschäftigt. Karl Reitter wird sich mit dem linken Tabu 9/11 auseinandersetzen.

Wir freuen uns sehr, euch die deutsche Erstveröffentlichung des Artikels "Das Kapital" lesen: der erste Satz von John Holloway vorlegen zu können. Holloway zeigt überzeugend auf, dass das Marxsche Hauptwerk nicht mit der Kategorie der Ware, sondern mit dem Thema des Reichtums beginnt. Bereits im ersten Satz dokumentiert sich das Interesse von Marx, die sprengenden und das Kapitalverhältnis überschreitenden Momente darzustellen. Der Antispeziesistische Aktion Tübingen verdanken wir eine interessante und kritische Reflexion über den aktuellen Vegan-Hype und was dies für die antispeziesistische Bewegung bedeuten könnte. Die Beiträge von Ewgeniy Kasakow und Roman Danyluk setzen die kontroverse Debatte um Räte als emanzipatorische Form der Selbstorganisation fort. Kasakow verweist mit beeindruckendem Detailwissen auf die Entwicklung von Räten in Baku im Jahre 1918 und knüpft daran eine Kritik an den Auffassungen von Stefan Junker und Roman Danyluk. Danyluk unternimmt in seinem Text einen Streifzug durch die historischen Versuche, Räte zu bilden, wobei er besonders auf Polen, Italien und Jugoslawien eingeht. Eine knappe Kritik von Paul Pop am Buch von Martin Birkner Lob des Kommunismus 2.0 und eine Besprechung des Buches Aktivierung der Arbeit im Workfare-Staat von Roland Atzmüller durch Karl Reitter beschließt das Heft. Etwas außerhalb der üblichen Gepflogenheiten unserer Publikationspraxis liegt die Polemik von Martin Birkner Warum ich als parteifreier Kommunist "Europa anders" unterstütze. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: dieser Text repräsentiert ausschließlich die persönliche Meinung unseres leider-nicht-mehr-Redakteurs und Mitherausgebers dieser Zeitschrift.

Abschließend wollen wir auch über unseren Versuch informieren, im Juni in Wien eine Veranstaltung zum Thema Bürgerkrieg in der Ukraine zu organisieren. Momentan sind wir noch auf der Suche nach kompetenten Referentinnen und Referenten. Wir sind auch gerne bereit, dabei mit anderen Gruppen und Personen zusammenzuarbeiten. Wir werden euch rechtzeitig über unseren Verteiler und auf unserer Webseite informieren.

Eure grundrisse Redaktion

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Call for Papers: Rot ist das neue Grün?

Mit dem Abflauen der ökologische Basisbewegungen und der Verbürgerlichung der Grünen ist die ökologische Frage aus dem Blickfeld der radikalen Linken gewandert. Mit der drastischen Entwicklung des Klimawandels und den Debatten um Peak Oil und Landgrabbing, ist jedoch die ökologische Frage zurück auf der Agenda radikaler Kritik. Gesellschaftliche Naturverhältnisse sind aufs Engste verzahnt mit der Transformation des Kapitalismus und seiner Vielfachkrise. Nicht zuletzt deshalb sind Fragen von Lebensmittelproduktion, internationaler Arbeitsteilung, Akkumulation durch Enteignung von Commons und Biopiraterie ins Zentrum linker Aufmerksamkeit gerückt. Das ein gutes Leben für alle mit dem kapitalistischen Wachstumsimperativ unvereinbar ist, ist heute nahezu eine Binsenweisheit, dass die "imperiale Lebensweise" der globalen Mittelschicht weder ökologisch tragbar noch politisch wünschbar ist, ebenso. Wie aber kann's gehen - und wie nicht? Zweckdienliche Hinweise mit nicht mehr als 40.000. Zeichen bitte bis 18. August 2014 an redaktion@grundrisse.net

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John Holloway:

"Das Kapital" lesen: der erste Satz
Oder Das Kapital beginnt mit dem Reichtum, nicht mit der Ware

Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine "ungeheure Warensammlung", die einzelne Ware als seine Elementarform. (MEW 23; 49)[1]

Einführung

Nur wenige der vielen Kommentierungen von Marx' Werk "Das Kapital" erwähnen überhaupt den ersten Satz des Buches.[2] Im Allgemeinen wird vertreten, dass die Ware den Ausgangspunkt für Marxkussion bildet. Der erste Satz wird deshalb eher als ein Einstieg betrachtet, anstatt ihm eine eigenständige Bedeutung zuzuschreiben: er führt uns einfach in das wichtige Thema ein, nämlich die Analyse der Ware. Wenn wir jedoch den ersten Satz lesen, sehen wir, dass Marx nicht mit der Ware beginnt, sondern dass er eine ganze Welt voller Fragen von grundlegender politischer und theoretischer Bedeutung eröffnet, noch bevor er überhaupt die Ware erwähnt.

Im Folgenden werde ich das Subjekt, das Objekt und das Prädikat des ersten Satzes untersuchen, um diese Welt der Fragen zu erforschen. Es ist nicht mein Anliegen, den "wahren Marx" zu entdecken, sondern den Text zu analysieren und ihn daraufhin zu befragen, was er dem gegenwärtigen Kampf gegen den Kapitalismus anzubieten hat.

Das Subjekt

Nicht die Ware ist das Subjekt des ersten Satzes. Es ist "der Reichtum" - "(d)er Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht". Dieser Reichtum "erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung'", aber wir werden uns zuerst auf das Subjekt, den Reichtum, konzentrieren.

Die Bedeutung des ersten Satzes wird genau wegen der in ihm vertretenen Behauptung leicht überlesen. Es ist eben der Umstand, dass uns, die wir in der kapitalistischen Gesellschaft leben, der Reichtum als eine Sammlung von Waren erscheint, der uns diese Erscheinung als gegeben hinnehmen lässt. Wir sind es gewohnt, den Reichtum auf diese Weise zu betrachten. Wenn wir an Reichtum denken, dann denken wir gemeinhin an materiellen Reichtum, an die Dinge, die eine Person hat, wahrscheinlich an Geld, das allgemeine Äquivalent der Waren. Wenn wir jemanden als reich bezeichnen, dann meinen wir im Allgemeinen, dass sie oder er sehr viel Geld haben und deshalb über eine gewaltige Anzahl von Waren verfügen können. Anders ausgedrückt führt die Form, in der der Reichtum erscheint, dazu, Reichtum und die ungeheure Warensammlung gleichzusetzen, sie als identisch zu behandeln. Wenn dies zuträfe, dann wäre es in der Tat richtig, den ersten Satz als Auftakt zu behandeln, als einen Satz dessen Bedeutung nur darin liegt uns zum zentralen Thema, die Ware, zu führen.

Die Formulierung "(d)er Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht" fordert uns dazu auf zu fragen, wie der Reichtum in einer Gesellschaft aussehen würde, in der die kapitalistische Produktionsweise nicht herrschte?[3] In den nur wenig früher verfassten Grundrissen beantwortet Marx unsere Frage unmittelbar:

"In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sog. Natur sowohl wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorgegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht? Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgendetwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist? In der bürgerlichen Ökonomie - und der Produktionsepoche, der sie entspricht - erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung; diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck" (MEW 42; 395-6).

Sobald wir in den Grundrissen[4] diese Beschreibung gelesen haben, leuchtet der erste Satz des Kapitals in viel lebendigeren Farben. Der Reichtum ist "die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen"[5]. Er ist kollektiv, er ist gesellschaftlich, das Produkt menschlicher Interaktion - die Fülle oder Reichhaltigkeit dessen, was häufig als das "Gemeinschaftliche", "das Commons" bezeichnet wird.[6] Er befindet sich in Bewegung: "Das absolute Herausarbeiten [...der] schöpferischen Anlagen [der Menschheit]", die "absolute Bewegung des Werdens".[7] Er ist vielfältig: die "Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, [...] zum Selbstzweck". Reichtum, die Fülle einer mit verschiedenen Traditionen und Lebensstilen gefüllten Straße, die Vielfalt der jahreszeitlichen Veränderungen, der Reichtum einer zum Gesang erhobenen Stimme, sei sie die eines Menschen oder eines Vogels. Der potenziell unbegrenzte Reichtum von Reichtümern: dies ist das, was in unserer Gesellschaft als "ungeheure Warensammlung" erscheint[8]. Dieser erste Satz ist kein unverfänglicher Einstieg. Marx eröffnet eine spannungsgeladene Welt. Er lädt unsere Empörung ein, unser Gefühl für die zerstörte Würde.

Diese Spannung ist nicht nur im Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat (Reichtum und Waren) manifest, sondern bereits innerhalb des Subjektes des ersten Satzes, "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht". Wir beginnen mit unserem unmittelbaren Ausgangspunkt: die kapitalistische Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweise (vor-)herrscht[9]. Dies ist die Gesellschaft, in der wir leben, dies ist die Gesellschaft, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Das Subjekt des Satzes ist ein historisch spezifisches Subjekt, aber es ist ein Subjekt, das über seine eigene historische Spezifizität hinausdrängt. Die Bestimmung des Subjektes ("Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht") ist eine Begrenzung, die auf ihre eigene Überwindung verweist: die Begrenzung des Reichtums setzt einen Reichtum als gegeben, der nicht so begrenzt ist. Indem das Subjekt derart begrenzt wird, verweisen wir bereits darauf, dass es etwas jenseits seiner Grenzen gibt, einen Reichtum, der, zumindest potenziell, nicht der Reichtum von Gesellschaften ist, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht. Reichtum ist unpassend: er wird nicht innerhalb der Grenzen "der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht" gehalten, er fließt über.

Wie ist dieses Überfließen, dieses Überwinden der dem Reichtum auferlegten Grenzen zu verstehen? Dadurch dass Marx den Reichtum in diesem Satz als Subjekt und nicht als Objekt des Satzes konstituiert, weist er darauf hin, dass der Reichtum selbst die Quelle der Bewegung über seine eigenen Grenzen hinaus ist. Er kündigt an, dass die Geschichte, die er gleich erzählen wird, die Geschichte des menschlichen Reichtums (die Menschheit in der absoluten Bewegung ihres Werdens) ist, der sich gegen und über die Fesseln, die ihn gefangen halten, hinaus bewegt. In diesen allerersten Worten, verdeutlicht Marx, dass in diesem Buch keine Theorie der Herrschaft ausgeführt wird, sondern eine Theorie des Drängens gegen die Herrschaft und tatsächlich gegen alle Begrenzungen.

Der Reichtum, der das Subjekt dieses Satz bildet, ist keine ahistorische oder transhistorische Kategorie, sondern eine Kategorie, die über ihre eigene historische Spezifizierung hinausdrängt. Er steht nicht außerhalb des Prädikats, er ist der Sammlung von Waren nicht äußerlich, sondern er steht in-gegen-und-jenseits davon. Der Reichtum, an den wir mit diesen einführenden Worten herangeführt werden[10], ist nicht der Reichtum eines ahistorischen Humanismus, sondern ein Reichtum, der in historisch spezifischer Revolte gegen seine eigene Begrenzung steht.

Reichtum, die Reichhaltigkeit der menschlichen Kreativität, steht also als Subjekt, als ruheloses, unbefriedigtes Subjekt. Als stolzes Subjekt, die ersten Worte des ersten Kapitels. Reichtum ist verwegen, Reichtum brüllt. Sicherlich voller Entrüstung, vielleicht mit Macht. Dies stellt einen Großteil des linken Denkens, das Armut und nicht den Reichtum als Ausgangspunkt nimmt, auf den Kopf. Der erste Satz des Kapitals bringt uns dazu, anders zu denken: wir kämpfen nicht weil wir arm sind, sondern weil wir reich sind. Nicht weil wir arm sind, kämpfen wir gegen den Kapitalismus, sondern weil die "absolute Entfaltung [unserer] kreativen Potentiale" frustriert ist, weil "die absolute Bewegung unseres Werdens" angeleint ist. Es ist unser Reichtum, der sein Haupt erhebt und brüllt, dass es seine Fesseln sprengen wird.

Das Prädikat

Reichtum, Reichhaltigkeit erscheint in kapitalistischen Gesellschaften als eine "ungeheure Warensammlung". Zu Beginn des zweiten Paragraphen teilt uns Marx mit, dass die Ware "zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt [ist]" (MEW 23; 49). Die Ware ist ein uns äußerliches Objekt, ein Ding, das für den Verkauf produziert wurde.

Marx nimmt uns in die Enge eines Kerkers mit. In diesem erstem Satz gibt es einen dramatischen Übergang von einer Welt der Reichhaltigkeit (Menschheit "in der absoluten Bewegung des Werdens") zu einer aus einer ungeheuren Sammlung uns äußerlicher Objekte zusammengesetzten Welt. Marx nimmt uns an der Hand und führt uns in die furchtbare Welt der Politischen Ökonomie. In dramatischer Form werden wir an den Untertitel des Buches erinnert: Eine Kritik der Politischen Ökonomie. Die Spannung zwischen dem Subjekt und dem Prädikat des ersten Satzes bildet die Grundlage der Kritik. Sobald wir einmal diesen schrecklichen Übergang vom Reichtum zu den Waren durchschritten haben, kann Marx in seinem zweiten Satz sagen: "Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Ware" (MEW 23; 49). Aber dies macht die Ware nicht zum Ausgangspunkt von Marx' Analyse. Es ist der Reichtum - jene Reichhaltigkeit, die in-gegen-und-jenseits der Welt der Waren steht - die den Ausgangspunkt bildet. Erst nachdem wir uns in die enge, dunkle Welt der politischen Ökonomie begeben haben, wird die Ware zum Ausgangspunkt. Wenn wir die Außenwelt, die Welt der Reichhaltigkeit vergessen, dann vergessen wir uns selbst, unsere Kritik, unsere Opposition, den wirklichen Ausgangspunkt.

Der Übergang im ersten Satz ist eine Verengung, eine Reduzierung der Reichhaltigkeit der Welt der politischen Ökonomie, der Waren. Marx wird häufig vorgeworfen, an dieser Verengung schuld zu sein, einen rein ökonomistischen Blick auf die Welt zu haben, die Reichhaltigkeit des Lebens und die Vielfalt von Unterdrückungsformen außer Betracht zu lassen. Aus dem ersten Satz geht hervor, dass nichts der Wahrheit ferner liegen könnte. Seine Kritik der politischen Ökonomie ist nicht nur eine Kritik der verschiedenen Theorien der Ökonomen, es ist eine Kritik der Ökonomie an sich, eine Kritik der Welt die die menschliche Reichhaltigkeit auf das Ökonomische reduziert. Dies ist genau der Punkt, um den es am Ende des oben aus den Grundrissen zitierten Abschnitts geht: "In der bürgerlichen Ökonomie - und der Produktionsepoche, der sie entspricht - erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung; diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck"[11]. Nicht Marx reduziert alles auf das Ökonomische, das jenes das nicht in die Warenlogik passt, ausschließt, sondern es ist die Welt selbst, die dies hervorbringt.

Die Bewegung vom Reichtum zu den Waren ist eine Bewegung hin zu einer Welt, die durch Gesetze gebunden ist, eine Welt fest gefügter gesellschaftlicher Kohäsion, eine Welt, die als Totalität verstanden werden kann, eine Welt der Synthese. Es gibt keinen inhärenten Grund, warum die Produktion des Reichtums irgendwelchen Gesetzen folgen sollte. Die völlige Herausarbeitung unserer kreativen Potenziale kann in viele verschiedene Richtungen erfolgen, aus unterschiedlichen Motiven, mit verschiedenen Rhythmen. So verhält es sich nicht mit den Waren: sie werden für den Austausch produziert und die Notwendigkeit sie auszutauschen, erlegt die Notwendigkeit auf, sie mit der gesellschaftliche notwendigen Arbeitszeit zu produzieren und dies schafft eine ganze Welt funktionaler Notwendigkeiten, gesellschaftlicher Bestimmungen, die als von jeglicher bewusster Kontrolle unabhängige Gesetze funktionieren. Marx untersucht diese Gesetze im Kapital, tut dies jedoch aus einem Blickwinkel heraus, der sich gegen-und-jenseits dieser gesetzesgebundenen Totalität befindet.

Die Bewegung vom Reichtum hin zu den Waren ist also die Bewegung hin zu einer quantifizierbaren und quantifizierten Welt. Der kleine Zusatz zum Prädikat, "die einzelne Ware als seine Elementarform" wird dabei bedeutsam. Wenn man sich Reichtum als die "absolute Herausarbeitung [menschlicher] kreativer Potenziale" vorstellt, dann ergibt es überhaupt keinen Sinn, sich diesen als in einzelne Einheiten oder in individuelle Stücke Reichtum unterteilt vorzustellen. Nur wenn dieser Reichtum auf eine Sammlung uns äußerlicher Objekte reduziert wird, ist es möglich von seiner Unterteilung in Einheiten zu sprechen: tatsächlich wird es dadurch nicht nur möglich, sondern die Unterteilung dieses Reichtums in austauschbare Einheiten oder individuelle Waren ist ein essentieller Bestandteil des Übergangs vom Subjekt des Satzes zu seinem Prädikat.[12]

Das Verb

Der Reichtum erscheint als eine ungeheure Warensammlung. Was bedeutet "erscheint als"?

1. Die Erscheinung ist keine falsche Erscheinung: Marx sagt nicht, "der Reichtum scheint eine ungeheure Warensammlung zu sein, aber dies ist ein Fehler, in Wirklichkeit ist es etwas anderes".[13] Solch eine Interpretation würde die Erscheinung von ihrem Substrat, ihrer Grundlage abtrennen, das heißt, von dem, was als solches erscheint und das Verhältnis zwischen Letzterem und Ersterem als zufälliges Ergebnis behandeln, wohingegen das Verhältnis zwischen Erscheinung und Substrat für Marx von zentraler Bedeutung ist. Die Erscheinung ist eine wirkliche Erscheinung, eine Erscheinung, welche allgemein gültig ist, eine gewisse Stabilität hat. Es ist keine Erscheinung, die verschwindet, sobald wir einmal hervorheben, dass es sich um einen Fehler handelt. Es ist eine Erscheinung, die von "Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht", hervorgebracht wird.

Wir können auf die Stabilität oder Realität dieser Erscheinung hinweisen, indem wir sagen, dass Reichtum in kapitalistischen Gesellschaften in der Form einer ungeheuren Warensammlung existiert. In diesem Zusammenhang kann der Begriff "Form" als "Existenzweise"[14] verstanden werden: die Existenzweise von Reichtum in kapitalistischen Gesellschaften ist eine ungeheure Warensammlung.

2. Die Erscheinung ist also allgemeingültig. Marx sagt nicht: "Der Reichtum dieser Gesellschaften erscheint Adam Smith oder David Ricardo als ungeheure Warensammlung". Er sagt ebenfall nicht: "Der Reichtum erscheint der Bourgeoisie als eine Masse an Waren, aber das Proletariat weiß, dass es nicht so ist"[15], oder, "der Reichtum wird durch die bürgerliche Ideologie als ungeheure Warensammlung präsentiert". Vielmehr sagt er, dass Reichtum in diesen Gesellschaften als Waren erscheint oder in der Form von Waren existiert. Es erscheint so den Mitgliedern dieser Gesellschaft und es erscheint so, weil es so ist, die Erscheinung ist real, Reichtum existiert wirklich in der Form einer ungeheuren Warensammlung. Dies ist wirklich die Art und Weise in der die Menschen mit dem Reichtum umgehen, dies ist die Kraft, die bestimmt, welcher Reichtum produziert wird und wie. Wir haben bereits dargelegt, dass die Macht dieser wirklichen Erscheinung den Schlüssel zum Verständnis dafür bietet, warum diesem ersten Satz in aller Regel keine tiefere Bedeutung beigemessen wird.

3. Dies bringt uns zu einem für die Lektüre des Kapitals zentralen Problem. Wenn Reichtum in dieser Form erscheint, was ermöglicht dann Marx, diesen Satz zu schreiben? Der Satz hätte nicht geschrieben werden können, wenn Marx nicht in der Lage gewesen wäre, diese Erscheinung in irgendeiner Weise zu transzendieren. Wie lässt sich dies erklären?

Dass der Grund in der Person des Autors liegt, wäre die offensichtlichste Erklärung. Marx war ein sehr schlauer Mensch und wir, die wir seine Einsicht teilen, sind auch sehr schlau, deshalb sind wir in der Lage die Erscheinungen zu brechen. Diese Erklärung ist aus zwei Gründen problematisch. Der erste ist, dass sie konträr zu Marx' eigener Methode liegt. Für ihn ist die Erscheinung eine wirkliche Erscheinung, eine die über ein wirkliches Substrat, eine wirkliche, in der gegenwärtigen Organisationsform menschlicher Aktivität liegende, Grundlage verfügt. Die Grenzen des Denkens von Smith und Ricardo sind zum Beispiel nicht Ergebnis von Fehlern oder Mangel an Intelligenz, sondern Ergebnis der Tatsache, dass ihre Füße und Köpfe in den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitalismus verortet waren.

Sie haben nicht bloß den Standpunkt der Bourgeoisie ergriffen, sondern ihre Ideen wurden durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sie angehörten, ermöglicht und auch begrenzt. Das zweite Problem mit dieser Art der Erklärung ist, dass sie zu einer persönlichen Trennung führt, zwischen denen, die verstehen, dass Reichtum mehr bedeutet als Produktion, Besitz und Konsumtion von Waren und den Massen, die in einer Welt der Erscheinungen gefangen sind. In diesem Fall liegt es in der Verantwortung der erleuchteten Wenigen, den Massen Erleuchtung (oder Bewusstsein) zu bringen. Die Erfahrungen des letzten Jahrhunderts zeigen jedoch, dass solch eine Vorstellung desaströse Folgen haben kann.

Damit Marx diesen Satz verfassen kann und wir ihn mit anderen teilen können, ist mehr als bloße Schläue, mehr als eine personifizierte Erklärung für dessen Entstehung erforderlich. Damit Marx die Erscheinung transzendieren kann und seinen Standpunkt jenseits von ihr einnehmen kann (wie er es in seinem ersten Satz tut), muss es eine nicht innerhalb der Erscheinung enthaltene Nicht-Erscheinung geben, ein Überfließen, ein Unpassendes, einen Rest. Damit Marx gedanklich über die Erscheinung hinausgehen kann, muss es in der Praxis einen Bruch mit der Erscheinung geben. Es ist die wirkliche Nicht-Erscheinung, die es uns erlaubt, den Blickwinkel einzunehmen, aus dem heraus wir sagen können, dass "Reichtum als Waren" erscheint. Wenn wir diese Äußerung tätigen, sagen wir im selben Augenblick unvermeidlicherweise: "Aber diese Äußerung ist nicht die volle Wahrheit, denn das Einzige, das uns erlaubt, diese Äußerung zu tätigen, ist die Tatsache, dass es gleichfalls zutrifft, dass Reichtum nicht als Waren existiert, dass Reichtum in-gegen-und-jenseits-von Waren existiert". In dem Satz schwingt notwendigerweise ein unausgesprochener Unterstrom mit, eine Nicht-Erscheinung. Die Erscheinung schließt das, was nicht erscheint, eine unsichtbare oder latente Grundlage aus unserer Sicht aus und es ist die wirkliche Existenz dieser Grundlage, dessen, "was nicht in Erscheinung tritt", das es uns erlaubt, den ersten Satz zu verstehen und als unseren anzunehmen. Wir könnten sagen, dass die Hälfte des ersten Satzes mit unsichtbarer Tinte geschrieben wurde.

Hier leben wir Lesende des Kapitals und hier wollen wir leben: in der Welt, die nicht in der Erscheinung des Reichtums als Waren aufgeht. Wenn wir uns die Bewegung vom Reichtum zu Waren als den Übergang in einen Kerker der Dinge vorstellen, dann befinden wir, die Lesenden des Kapitals, uns auf der Seite des Reichtums, unsere Hacken in die Erde bohrend, schreiend, dass wir nicht in den Kerker gezogen werden möchten, dass wir nicht in der verzauberten Welt der Erscheinungen aufgehen möchten, die droht uns in Gänze zu verschlingen. Klar: warum sonst sollten wir das Kapital lesen? Sobald wir einmal die Frage gestellt haben, wie diese Äußerung möglich ist (und es fällt schwer zu sehen, wie sie vermieden werden könnte), ändert sich das Kapital in Gänze. Von einer Geschichte, die beschreibt, wie die Sachen zusammenpassen, wird es zu einer Geschichte des Unpassendseins. Und dann stellen wir fest, dass unsere Freude beim Lesen daher kommt, dass wir auch Unpassende sind: wir leben in-gegen-und-jenseits dieses Systems, das wir zu verstehen versuchen.

4. Der erste Satz kann nur verfasst werden, weil das Verhältnis zwischen Reichtum und Waren nicht auf Identität beruht. Reichtum geht nicht rückstandslos in der Ware auf: es ist dieser Rückstand, der das Schreiben (und das Lesen) des Satzes möglich macht.

Das Verb "erscheint als" ist kein Verweis auf Identität. Der Begriff "erscheint als" wird von Marx nicht verwendet, um, grob gesprochen (wie wir es häufig tun), zu sagen, "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, ist eine 'ungeheure Warensammlung'". Nichtsdestotrotz drückt das Verb einen Prozess der Identifizierung aus. In dieser Gesellschaft wird der Reichtum als eine Sammlung von Waren identifiziert. Es gibt einen Prozess des Identifzierens, aber der Prozess ist nicht abgeschlossen, denn er sieht sich mit einer Bewegung in die entgegengesetzte Richtung konfrontiert, einem Widerstand. Anders ausgedrückt ist das Verhältnis zwischen Erscheinung und Nicht-Erscheinung ein antagonistisches. Es gibt einen lebendigen Antagonismus zwischen dem Hineinziehen des Reichtums in die Warenform und den Kräften, die gegen-und-jenseits dieses Prozesses drängen. Auf der einen Seite die Bewegung des "Erscheinen als", des Formens, Identifizierens; auf der anderen die Bewegung des Anti-Identifizierens, des Überfließens, des Nicht-Passendseins. Die Erscheinung, die Ware, stellt sich als nicht-antagonistisch dar, aber dahinter verbirgt sich der ihr zugrunde liegende Antagonismus. Der Reichtum dieser Gesellschaften erscheint als eine ungeheure Warensammlung: diese Erscheinung ist ein aktives Erscheinen, ein aktives Formieren oder Identifizieren, das sich aus dem Umstand ableitet, dass es gleichermaßen wahr ist, dass Reichtum nicht als eine Warensammlung erscheint, dass es über die Grenzen dieser Erscheinung fließt.

Das, was als fait accompli[16] erscheint (die Existenz von Reichtum in der Warenform) ist ein lebendiger Antagonismus. Wenn wir uns den Übergang vom Subjekt zum Prädikat des Satzes als ein Hineinziehen des Reichtums in den Kerker der Ware vorstellen, dann sagt uns das Überfließen, dass die Tür des Kerkers noch nicht scheppernd ins Schloss gefallen ist, dass das Hineinziehen noch anhält.

Weit davon entfernt, eine vollendete Tatsache zu sein, ist die Warenform ein beständiger Angriff auf ihre Grundlage, ein beständiger Kampf darum, sie in die Warenform zu zwingen und sie darin zu begrenzen und dieser Angriff sieht sich einem beständigen Drängen in die entgegengesetzte Richtung gegenüber, da das menschliche Schaffen des Reichtums sich dieser Begrenzung widersetzt und nach anderen Formen der Vergesellschaftung drängt.[17] Damit dieser Satz Sinn ergibt, müssen sowohl "Reichtum" als auch "Ware" eher als Verben denn als Substantive aufgefasst werden. Die Ware ist in Wirklichkeit eine Bewegung des Kommodifizierens und Reichtum ist eine Bewegung des Reichtum-Schaffens oder des Bereicherns, eine Bewegung gegen-und-jenseits der Warenform, ein Kommunisieren. Genauer gesagt bedeutet der Übergang vom Anfang bis zum Ende dieses ersten Satzes einen Übergang von einem aktiven Bereichern ("Herausarbeitung ... kreativer Potenziale") zu einem Substantiv, das nicht nur das Bereichern verbirgt, sondern auch seine eigene Dynamik als eine Bewegung der Kommodifizierung. Die Erscheinung auf die sich der Ausdruck "erscheint als" bezieht, ist beständig umkämpft.

Also eröffnet der Ausdruck "erscheint als" einen Raum der Hoffnung. Wir leben in einer Welt, in der wir mit dem Reichtum in der Form von Waren oder Geld, dem allgemeinen Äquivalent der Waren konfrontiert sind. Wenn der erste Satz des Kapitals uns sagt, dass es sich hierbei um eine Erscheinung handelt, sagt er uns, dass es wahr ist, aber auch, dass es unwahr ist, dass Reichtum mehr ist als dies, dass es einen Reichtum gibt, der jenseits seiner Form drängt. Wenn die Existenz des Reichtums als Waren eine Welt der Fremdbestimmung, eine Welt, in der die Entwicklung des Reichtums der menschlichen Fähigkeiten durch den Wert der Waren bestimmt ist, aufzeigt, dann macht uns das einfache "erscheint als" auf die gegenwärtige Realität eines Drängens zur Selbstbestimmung aufmerksam[18] (die Vorbedingung für das Verfassen des ersten Satzes).

In diesen Eröffnungsworten wird die Krise als Thema gesetzt. Der Ausdruck "erscheint als" sagt uns, dass die furchterregende Existenz des Reichtums in der Form von Waren nicht (oder nicht notwendigerweise) auf ewig bestimmt sein muss. Es gibt eine Nicht-Ewigkeit, eine Instabilität in der Existenzform des Reichtums. Bereits in diesem ersten Satz ist das Läuten der Totenglocke des Kapitalismus, die explizit erst ca. 700 Seiten später angeführt wird, zu hören. Vom Standpunkt des Kapitals aus betrachtet stellt der Ausdruck "erscheint als" eine Bedrohung dar. "Was ist dieses 'erscheint als'?", schreien die Kapitalisten, "Reichtum ist Geld und Waren, und mehr gibt es dazu nicht zu sagen". In dem Ausdruck "erscheint als", liegt eine Drohung, etwas jenseits ihres Horizontes, jenseits ihrer Kontrolle.

Das, was jenseits ihrer Kontrolle liegt, ist das, was latent ist, der Reichtum, der nicht "[als] erscheint", der nicht in die Warenform fällt, oder nicht vollständig in ihr aufgeht. Dies ist die Bedrohung. Offensichtlich birgt der erste Satz keine vollentwickelte Krisentheorie, aber er weist uns in eine bestimmte Richtung. Er weist uns auf eine Krisentendenz hin, die sich aus dem, das nicht erscheint, ableitet, die uns den Standpunkt vermittelt, von dem aus wir die Wörter "erscheint als" aussprechen können. Reichtum, die Reichhaltigkeit menschlicher Kreativität ist die Krise ihrer eigenen Begrenzung - der Reichtum, der aus seiner eigenen Begrenzung überfließt, der sich weigert, begrenzt zu werden, drängt jenseits zu einer anderen Art der gesellschaftlichen Kooperation, hin zu einer freien Assoziation der Erschaffenden.[19]

Die von dem Ausdruck "erscheint als" angekündigte Krise ist eine Krise der Transformation des Reichtums in Waren. Reichtum erscheint jetzt als ungeheure Warensammlung, aber dies wird es nicht ewig tun. Es wird dies nicht ewig tun, weil die Behauptung bereits ihre eigene Unwahrheit beinhaltet. Es ist bereits wahr, dass es in der Bewegung der Kommodifizierung/Totalisierung/Synthese/Schließung des Reichtums ein Bewegen in die entgegengesetzte Richtung, eine Enttotalisierung[20], ein Auseinanderreißen, eine Entkommodifzierung, ein Bereichern, ein Kommunisieren, das die Krise der Warenform konstituiert. Es ist die letztere Form, die später im Kapital als "gesellschaftliche Produktionskräfte" auftaucht.

5. "Erscheint als" positioniert uns im Zentrum all dieser Entwicklungen, in der Mitte des Schlachtfeldes. Es gibt kein Versteck.

Wir lesen den Satz dreimal. Beim ersten Lesen ist es wahrscheinlich (wie wir es gesehen haben), dass wir einfach drüber hinweggehen, dass wir den Satz als wenig bedeutungsvoll behandeln. Wir lesen, dass "der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, [...] als eine 'ungeheure Warensammlung' [erscheint]", denken, "natürlich tut er das", und fahren fort, um die Ware zu analysieren. Anders ausgedrückt, fallen wir auf die Erscheinungen herein, die wir zu kritisieren glauben. Schlimmer noch: indem wir dem ersten Satz keine Bedeutung beimessen, partizipieren wir wirklich an der Erscheinung von Reichtum als Ware.

Wenn wir den Satz ein zweites Mal lesen, schreien wir vor Entrüstung. Wir verstehen das Grauen dessen, was Marx sagt: dass der unbegrenzte Reichtum des menschlichen Werdens in die Form einer ungeheuren Warensammlung gezwungen wird.

Marx hat uns direkt zur Vorstellung von Wissenschaft als Kritik geführt. Noch bevor irgend etwas über die Ware gesagt wurde, hat er sie als Objekt der Kritik konstituiert. Indem er uns sagt, dass Reichtum als Ware erscheint, fordert er uns dazu auf, diese Erscheinung zu kritisieren, zu versuchen zu verstehen wo dies herkommt, welche Beziehung zu den Kräften besteht, die es [den Reichtum in Form von Waren; Anm.Red.grundrisse.] hervorbringen. Marx sagt tatsächlich: "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware". Im selben Atemzug setzt er den Reichtum als Standpunkt der Kritik: der Reichtum der als Warensammlung erscheint und nicht erscheint, der Reichtum, der jenseits seiner gegenwärtigen Existenzform drängt. Kritik ist also die Selbstentdeckung dessen, was durch die Erscheinung verborgen ist.

Wenn wir den Satz ein drittes Mal lesen, schreien wir erneut: nicht nur mit Empörung gegen die Welt, sondern mit gegen uns selbst gerichtetem Entsetzen. Wie war es uns möglich, den Satz ein erstes Mal zu lesen, ohne zu schreien? Wie konnten wir das Entsetzen über die Transformation menschlicher Reichtümer in eine ungeheure Warensammlung einfach so hinnehmen? Wie konnten wir gegenüber dem Leiden, das der Satz wiedergibt, so unsensibel sein? Wir können nicht anders, als uns zu fragen, ob dies die Unsensibilität ist, die Auschwitz ermöglichte[21], die es verhindert, Guantanamo zu schließen und die all den Hunger und all die Zerstörung der Welt ermöglicht. Und wir wissen, die Antwort lautet: ja. Kritik wird zur Selbstkritik. Aber es handelt sich nicht nur um eine persönliche Selbstkritik, denn wir wissen, dass dieses Lesen-ohne-Schreien das allgemeine Verständnis des ersten Satzes des Kapitals wiedergibt. Eben genau weil der Satz "erscheint als" sich nicht auf eine falsche, sondern auf eine richtige Erscheinung bezieht, stellt er nicht nur für die kapitalistische Gesellschaft sondern auch für uns selbst eine Herausforderung dar. Da die Erscheinung in dieser Gesellschaft über eine allgemeine Validität verfügt, leben wir auch in ihr, egal wie schlau oder revolutionär wir uns gerne sähen. Unser Leben innerhalb der Erscheinung drückt sich in der Lektüre des ersten Satzes aus. Die Kritik wird also nicht nur gegen die Existenz des Reichtums in der Warenform gerichtet, sondern auch gegen unsere eigene Art des Denkens (und tatsächlich auch gegen unsere eigene Existenzform). Die Aussage, dass der Standpunkt unserer Kritik der Reichtum ist, der jenseits der Warenform drängt, befreit uns nicht von den Erscheinungen, die durch diese Form hervorgebracht werden. Um wissenschaftlich zu denken, müssen wir uns gegen uns selbst wenden. Wenn wir sagen, "der Reichtum in diesen Gesellschaften erscheint als Waren", erkennen wir an, dass wir innerhalb dieser Erscheinungen leben und stellen uns gleichzeitig gegen-und-jenseits dieser Erscheinungen, als Kritik der Erscheinungen. Wir anerkennen, dass unserer Anwesenheit in dieser Gesellschaft uns als selbst-antagonistisch konstituiert, als schizophren im allgemeinen Sinne des "Selbst-Gespalteten". Aus diesem Grund ist jegliche Vorstellung revolutionärer Reinheit oder theoretischer Korrektheit absurd.

Aber es sind nicht nur wir. Auch Sie, Herr Marx. Es muss so sein. Marx lebte ebenfalls in dieser Welt der Erscheinungen in der die Existenz menschlichen Reichtums als Warensammlung einfach hingenommen wird. So wie er das Entsetzen über das, was geschieht, hervorhebt, gibt es gleichzeitig Momente, in denen er es als gegeben hinzunehmen scheint, Momente, in denen er sich auf die Welt der Formen (Ware - Geld - Kapital) zu konzentrieren scheint und sein Stehen-gegen-und-jenseits dessen, was, angefangen mit den ersten Worten des Buches, seiner Analyse ihren kritischen Zugang gibt, vergisst. Es ist unmöglich, das Kapital zu lesen ohne mit der Frage konfrontiert zu sein, "welcher Marx, welche Lektüre"?

Die Eröffnungsworte (das "erscheint als") künden von einer Spannung, die unvermeidlich sowohl Marx als auch uns alle durchläuft. Selbstverständlich gibt es zwei Marxe, so wie ebenfalls von uns jeweils zwei gibt, aber die Spannung besteht nicht zwischen dem jungen und dem alten Marx (wie Althusser behauptete) sondern zwischen einer Spannung, die sich aus dem Antagonismus zwischen der Erscheinung und ihrer Grundlage ableitet. Hätte Marx seinen ersten Satz ausgepackt, hätte er vielleicht geschrieben: "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung', und da diese Erscheinung nicht einfach ein Fehler ist, sondern durch das Wesen dieser Gesellschaften hervorgebracht wird, folgt daraus, dass unmöglich ist, diesen Erscheinungen vollständig zu entfliehen, solange es den Kapitalismus weiterhin gibt. Wenn wir also diese Erscheinungen kritisieren, was wir dadurch tun, das wir sie einfach als Erscheinungen aufzeigen, weisen wir auch auf eine in uns bestehende Spannung zwischen unserer Existenz innerhalb dieser Erscheinungen und unserer Kritik der Erscheinungen als Erscheinungen hin. Erwartet also nicht, einen wahren Marx oder die richtige Lesart zu finden, wenn ihr dieses Buch lest: nehmt den Text vielmehr als eine Anregung, die Teil Eurer eigenen widersprüchlichen Existenz werden kann".

Er hätte dies vielleicht schreiben können, er tat es aber nicht.

Resonanzen

Die hier entwickelte Argumentation ist ganz einfach: Marx' Kapital beginnt mit dem Reichtum, nicht mit der Ware und die theoretischen und politischen Implikationen dieser Unterscheidung sind enorm.

1. Hier wird entgegengesetzt zu den Hauptströmungen der Kommentare zum Kapital argumentiert. Relativ wenige Kommentierungen erwähnen den ersten Satz überhaupt und von denen, die es tun, zieht keiner die Schlussfolgerungen, die hier vorgeschlagen werden. Es ist nicht meine Absicht, die anderen KommentatorInnen zu kritisieren, aber kurze Anmerkungen zu den drei einflussreichsten und herausragendsten Kommentierungen werden helfen, die Unterscheidungsmerkmale der hier vorgelegten Argumentation hervorzuheben.

David Harveys Marx' Kapital lesen zitiert den ersten Satz auf der ersten Seite des ersten Kapitels (2011: 26) und macht auf die Bedeutung des Begriffs "erscheint als" aufmerksam, der "darauf [... hinweist], dass hinter der oberflächlichen Erscheinung noch etwas anderes vor sich geht" (2011: 26). Er interpretiert den ersten Satz dahingehend, dass "Marx ausschließlich die kapitalistische Produktionsweise behandelt" (2011: 26)[22], was sich ziemlich von der hier vorgeschlagenen Interpretation unterscheidet, nämlich, dass sich die Bedeutung des ersten Satzes aus dem Umstand ableitet, dass Marx seinen Blick nicht auf den Kapitalismus begrenzt, sondern darüber hinaus drängt. In Einklang damit widmet Harvey der Frage des Reichtums keine Aufmerksamkeit und bewegt sich unmittelbar auf das Ende des Satzes, die Ware, zu. Zehn Seiten später fasst er seine Sicht auf den Anfang des Kapitals so zusammen: "Bisher ist der Gedankengang in etwa folgender: Marx erklärt, er wolle entschlüsseln, wie die kapitalistische Produktionsweise funktioniert. Er beginnt mit dem Begriff der Ware ..." (2011: 37).

Michael Heinrichs beeindruckend klare Einführung in das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie: eine Einführung (2004)[23] zitiert den ersten Satz zu Beginn seines Kapitels über "Wert, Arbeit, Geld" und geht dann unmittelbar weiter zur Ware, wobei er darauf aufmerksam macht, dass die Ware nur im Kapitalismus die typische Form des Reichtums ist. In einem weiteren Buch Wie das Marxsche Kapital lesen? Leseanleitung und Kommentar zum Anfang des Kapitals (Heinrich 2008; 50-54) widmet derselbe Autor einen ganzen Abschnitt mehrerer Seiten dem ersten Absatz des Kapitals. Nachdem er hervorgehoben hat (so wie wir es hier getan haben), dass "Viele Leser und Leserinnen ... sich bei diesem Absatz nicht lange aufhalten" werden wollen (Heinrich 2008; 50) macht er auf die Bedeutung des Ausdrucks "erscheint als" aufmerksam, indem er es sowohl von "ist" als auch von "scheint" unterscheidet. Er hebt hervor, dass hier eine implizite Kritik von Adam Smiths Der Wohlstand der Nationen enthalten ist. "Smith spricht vom Reichtum ganz unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsform, was ihm später erleichtert, kapitalistische Verhältnisse als 'natürliche' zu charakterisieren." (Heinrich 2008; 52) Danach fährt er mit einer Erörterung der Ware fort, wobei er die Bedeutung dieses ersten Absatzes auf eine Einführung in das zentrale Thema reduziert: "Im Grunde sagt der erste Absatz nur aus, dass Marx seine Darstellung mit der Ware beginnt und dass er glaubt, dafür gute Gründe zu haben." (Heinrich 2008; 53) Weder kommt hier das zentrale Thema unseres Artikels, nämlich die Spannung zwischen Reichtum und Ware zur Sprache, noch wird die Frage aufgeworfen, was es Marx erlaubte, diese Äußerung zu tun. Heinrich führt die Implikationen seines Verständnisses der Ware und der Werttheorie aus: "Mit der Werttheorie will Marx eine bestimmte gesellschaftliche Struktur aufdecken, der die Individuen folgen müssen, egal was sie sich dabei denken." (Heinrich 2004; 44, kursiv im Original)

Harry Cleavers wichtiges Buch Das Kapital politisch lesen (1979/2011) steht der hier entwickelten Interpretation näher. Er versteht die Logik der Warenform nicht als unausweichliche Struktur, sondern als Kampf: "Es gibt sicherlich gewisse Regelmäßigkeiten oder "Gesetze" des Warentausches, ebenso wie es eine Logik in der Warenform selbst gibt, aber diese Logik und diese Gesetze sind nur diejenigen, deren Durchsetzung dem Kapital gelingt. Was Marx uns im Kapital zeigt, sind die vom Kapital festgelegten "Spielregeln". (Cleaver 2011; 165) Obgleich er die Warenform als Kampf versteht, bleibt Cleaver jedoch der traditionellen Auffassung verhaftet, dass das Kapital mit der Ware beginnt. Er zitiert den ersten und den zweiten Satz (1979, 175) und fährt dann fort: "Er beginnt mit der Ware, weil sie die elementare Form des Reichtums in der kapitalistischen Gesellschaft ist. Wenn wir den Rest des Kapitals lesen, entdecken wir, warum der gesamte Reichtum in der bürgerlichen Gesellschaft die Warenform annimmt." (Cleaver 2011; 175) Obgleich also Cleaver die Bedeutung der Sichtweise betont, die Kategorien Wert, Geld, Kapital und so weiter als Kategorien des Kampfes zu sehen, bleibt doch der Kampf gegen diese Formen der Analyse des Kapitals rein äußerlich. Im Gegensatz dazu wird hier entwickelt, dass bereits die Eröffnungsworte "der Reichtum" als Ankündigung des antikapitalistischen Kampfes angesehen werden müssen. Der Kampf ist kein Ergebnis des Aktivismus, der von außerhalb der Herrschaft kommt, sondern ist vielmehr bereits in die Herrschaftsbeziehung selbst eingeschrieben und wohnt unserer Alltagserfahrung inne. Die Kategorien selbst erzählen ihre Geschichte der Revolte.[24]

Es würde unserer Argumentation nicht helfen, dieser Diskussion noch weitere Autoren hinzuzufügen. Andere Kommentatoren des Kapitals nehmen die hier vorgelegte Perspektive nicht ein. Soweit mir bekannt, stellt niemand die Frage danach, was es Marx erlaubt hat, die von ihm analysierten Erscheinungen zu durchbrechen und niemand stellt das Verhältnis zwischen Reichtum und Ware als eines des aktiven Kampfes dar. Die praktisch universelle Position ist, dass Marx mit der Ware beginnt[25] und die allgemeine Sicht scheint die von Harvey artikulierte zu sein, nämlich, "Marx erklärt, er wolle entschlüsseln, wie die kapitalistische Produktionsweise funktioniert." (Harvey 2010; 37) Da diese Gesetzmäßigkeiten unabhängig vom menschlichen Willen funktionieren, scheint daraus zu folgen, dass, wie Heinrich es ausdrückt, ihnen "die Individuen folgen müssen, egal was sie sich dabei denken." (Heinrich 2004; 44, kursiv im Original)

2. Es ist nicht das Ziel, die richtige Lesart von Marx herauszufinden oder zu entdecken, was er wirklich gemeint hat. Es ist von sekundärem Interesse, ob Marx sich aller Implikationen, dessen was er schrieb, bewusst war. Viel wichtiger ist, dass wir über einen Text sprechen, der einen ungeheuren Einfluss auf die Formung antikapitalistischen Kampfes ausgeübt hat. Da sich die Formen des Kampfes ändern, müssen wir seine anhaltende Bedeutung beständig hinterfragen und die Antwort auf diese Frage ist untrennbar mit dessen Interpretation verbunden. Es gibt keine ahistorische oder gar unpolitische Möglichkeit das Kapital zu lesen.

Zwischen der traditionellen Lesart des Kapitals (die annimmt, dass Marx mit der Ware beginnt und dass sich das Buch darum dreht, die "Gesetzmäßigkeiten" des Systems zu erklären) und einem Begriff revolutionärer Veränderung, der die Revolution in der Zukunft verortet und sie mit der Übernahme der Staatsmacht und dem Ersatz eines Systems durch ein anderes assoziiert, hat es eine symbiotische Beziehung gegeben. Diese Sichtweise der Revolution ist durch die Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts und die Dringlichkeiten der Gegenwart in großen Misskredit geraten. In nur wenigen Ländern gibt es eine Partei, die auch nur entfernt über die Aussicht verfügt, die "zukünftige Revolution" anzuführen.

Das zentrale Thema ist Schließung. Wenn wir mit der Ware beginnen, stellen wir uns bereits innerhalb des Systems, das wir kritisieren. Was sich daran anschließt, kann als machtvolle Analyse des Gefängnisses angesehen werden, innerhalb dessen wir gefangen sind. Dieses Gefängnis ist durch eine hochgradig strukturierte Kette gesellschaftlicher Formen konstituiert. Beginnend mit der Warenform (die Warenform als Form gesellschaftlicher Verhältnisse), führt uns Marx zu immer entwickelteren Formen der Totalität gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich voneinander ableiten: die Wertform aus der Warenform, die Geldform aus der Wertform, die Kapitalform aus der Geldform und so weiter.[26] Marx gibt sich große Mühe (insbesondere in seinen Kritiken an Proudhon), die Koppelungen zwischen den Formen zu erklären, wie etwa, dass es wenig Sinn ergibt, von einer Gesellschaft zu träumen, die auf dem Warentausch basiert, aber nicht über Geld verfügt, oder eine Gesellschaft mit Geld aber ohne Kapital. Die unterschiedlichen Formen hängen eng miteinander zusammen um eine Totalität zu bilden. Wenn wir da aufhören, dann haben wir eine Analyse, die darauf hindeutet, dass die einzige Art diese Totalität zu brechen, darin besteht, es als Ganzes zu tun, dass Versuche, bestimmte Aspekte zu brechen, aufgrund der integrierenden Macht des Ganzen von vorne herein zum Scheitern verurteilt sind.

Wenn wir das Kapital als exakte Analyse eines geschlossenen Systems auffassen, kann uns das in zwei Richtungen führen. Die erste führt hin zur Partei, die die zukünftige Revolution anführen wird: die einzige Art und Weise die Totalität als Ganzes zu brechen besteht im Aufbau einer starken, vereinten revolutionären Partei. Alternativ, und ich denke, dass diese in den letzten Jahren die dominante Tendenz war, löst sich die Lesart des Kapitals zunehmend von jeder Erwägung der Revolution: da die Revolution total sein muss, es aber keine Partei gibt, die die Perspektive hat, sie auszuführen, wird die Lektüre des Kapitals einfach deswegen als wichtig angesehen, um zu verstehen, wie das System funktioniert. Eine exakte Lesart des Kapitals kann sehr leicht mit einem apolitischen Pessimismus einhergehen, der von der tatsächlichen Bewegung des antikapitalistischen Kampfes sehr weit entfernt ist. Die Lektüre des Kapitals und der antikapitalistische Kampf treiben einfach auseinander.

Der Widerspruch zur traditionellen Sichtweise, dass Marx mit der Ware beginnt, ist nicht nur politischer Natur. Es ist textlicher Natur. Es stimmt ganz einfach nicht, dass Marx mit der Ware beginnt: er beginnt mit dem Reichtum. Es handelt sich nicht darum, ihn dazu zu zwingen, dass er das sagt, was wir von ihm möchten. Dort steht es schwarz auf weiß. Marx beginnt mit dem Reichtum.

Marx beginnt nicht damit, dass er uns in das System versetzt, das wir kritisieren. Im Gegenteil, er beginnt mit einem Reichtum (Reichhaltigkeit), der nicht restlos in der Warenform aufgeht. Bevor er uns überhaupt in das engsitzende Gewebe kapitalistischer gesellschaftlicher Formen bringt, stellt er uns eine Kategorie vor, die unpassend ist und bezieht seinen Standpunkt auf ihr. Dies schwächt die Stärke der Ableitung der gesellschaftlichen Formen nicht, aber es lässt uns diese Formen als Prozesse verstehen, als Form-Prozesse, als Formierungsprozesse.[27] Die kapitalistische Totalität ist also ein Prozess der Totalisierung, ein beständiger Kampf, die reine Unruhe des Lebens[28] der Logik des Kapitals zu unterwerfen, jegliche menschliche Aktivität in eine enge gesellschaftliche Kohäsion einzubinden. Was wie ein eng gewebtes Gefängnis der Kapitallogik erscheint, muss vielmehr als machtvolle und kohärente Angriffsdynamik verstanden werden, aber ein Angriff, der seine eigene Krise in sich trägt, ein Angriff, den wir nur deshalb verstehen können, weil er nicht vollständig effektiv ist. Alle gesellschaftlichen Formen sind Prozesse des Formierens eines aufsässigen Inhalts und diese Inhalte passen sich einfach nicht ihren jeweiligen Formen an: Reichtum passt sich nicht der Warenform an, Gebrauchswert passt sich nicht der Wertform an, konkrete Arbeit passt sich nicht der abstrakten Arbeit, die Fähigkeit zu arbeiten, passt sich nicht der Ware Arbeitskraft an, die Produktionskräfte passen sich nicht der Kapitalform an und so weiter[29]. Diese Formen sind so viele Prokrustesbetten, aber Prokrustesbetten, die inhärent fehlerhaft sind, die unfähig sind, ihre Inhalte vollständig zu formen.[30] In jedem der Fälle fließt der Inhalt über die Form hinweg, existiert er nicht nur in sondern auch gegen und jenseits seiner Form.

Das Kapital, beginnend mit seinen Eröffnungsworten, ist eine Erzählung, die die Kräfte des Unpassendseins gegen die Kräfte einer unterdrückerischen gesellschaftlichen Kohäsion in Stellung bringt. Es beginnt mit der Würde der Rebellion, nicht mit dem Horror der Herrschaft. Reichtum, menschliche Kreativität, unsere absolute Bewegung des Werdens: dies ist sein Thema. Marx führt uns in eine Welt des Unpassenden, in der unsere Kreativität eingeschlossen ist, aber niemals vollständig eingeschlossen ist, innerhalb der Gesetze kapitalistischer Entwicklung, in der die gesellschaftlichen Formen, die uns in Ketten legen würden, ihre eigene Krise in sich tragen. Das Buch eröffnet eine Erkundung der Möglichkeiten und der Schwierigkeiten des Denkens und Erschaffens einer Revolution durch vielfältige Revolten dessen, was nicht in die kapitalistischen Formen passt, die vielzählige Perforation dieser Formen. Die Party ist vorbei, die zukünftige Revolution tot, das Brechen des Kapitals hier und jetzt mittels einer Million Risse ist eine verzweifelte Notwendigkeit und geschieht bereits. Deswegen ist so wichtig, das Kapital zu lesen. Beginnend mit dem ersten Satz.



Anmerkungen

[1] Auch der erste Satz des Werks "Zur Kritik der politischen Ökonomie", das 1859, acht Jahre vor der Erstausgabe des "Kapitals", zum ersten Mal erschien, sollte beachtet werden: "Auf den ersten Blick erscheint der bürgerliche Reichtum als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als sein elementarisches Dasein" (MEW 13; 15).

[2] Weiter unten erörtere ich einige der Kommentare, die ihn erwähnen.

[3] Dieser Frage geht folgender Absatz Holloways voraus: "Jedoch ist diese Vorstellung von Reichtum nicht zwingend. Für des Englischen Mächtige lässt sich dies vielleicht einfacher nachvollziehen, wenn wir uns auf den ursprünglich von Marx verwendeten Begriff, "Reichtum", der statt mit "wealth" genausogut mit "richness" [Reichtum/Pracht/Großartigkeit/Fülle/Reichhaltigkeit oder ggf. Vielfalt; Anm.d.Ü.] hätte übersetzt werden können: Die Fülle/Reichhaltigkeit der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung'. Es gibt im Englischen sicher keine scharfe Trennlinie zwischen den Begriffen Fülle/Reichhaltigkeit und Reichtum, aber beim Begriff Fülle/Reichhaltigkeit/Vielfalt fällt uns doch dessen breiteres Bedeutungsspektrum ins Auge: ein prächtiger Wandteppich, eine bereichernde Unterhaltung, ein erfülltes Leben oder eine bereichernde Erfahrung, eine Fülle verschiedener Farben." Sind auch im Deutschen die Bedeutungen der Begriffe zumeist enger und spezifischer gefasst, lässt sich hieran doch zumindest die Intention nachvollziehen: Reichtum ist, auch in Marxens Sprachgebrauch, nicht zu reduzieren auf die Gleichsetzung mit Geldbesitz, sondern umfasst auch Bedeutungen, die das Gemeinsame der menschlichen Spezies charakterisieren. Da zudem auch der Begriff Wohlstand heutzutage in erster Linie mit den materiellen Realisierungen des Sozialstaates verknüpft wird und nicht etwa mit Vorstellungen des Guten Lebens, des Buen Vivir, wie er in indigenen lateinamerikanischen Communities entwickelt wurde, bietet er sich für eine einfache Gegenüberstellung zum Begriff Reichtum, wie er hier gedacht ist, nicht an. [Anm.d.Ü.]

[4] Nach meiner Wahrnehmung sind die Grundrisse ein Rohentwurf, der uns hilft, Licht auf die Interpretation des Kapitals zu werfen. Die Veröffentlichung der Grundrisse spielte eine wichtige Rolle dabei, die traditionelle Lesart des Kapitals infragezustellen. Allerdings bin ich nicht der Meinung, dass man einen Widerspruch zwischen den "revolutionären" Grundrissen und dem "weniger revolutionären" Kapital ausmachen kann.

[5] Es ist offensichtlich, dass Marx hierbei nicht an den Warentausch denkt. In einem sehr hilfreichen Kommentar zu einer früheren Version dieses Artikels hat Richard Gunn hervorgehoben, dass das deutsche Original dem "universellen Austausch" einen größeren Stellenwert einräumt und schlägt deshalb vor, den "universellen Austausch" als gegenseitige Anerkennung aufzufassen und damit entsprechend zu vertreten: "Reichtum IST gegenseitige Anerkennung".

[6] Es handelt sich in der Tat um einen gemeinsamen Reichtum ("common wealth"). Diese Wortwahl stimmt mit dem Titel des dritten Buches von Hardt und Negris Trilogie überein (2010), aber die Ausformulierung der Idee führt sie in eine andere Richtung: sie stellen den im ersten Satz des Kapitals aufgeworfenen Widerspruch zwischen gemeinschaftlichem Reichtum ("common wealth") und der Warenform nicht in den Mittelpunkt.

[7] Marx, Karl, "Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie", in: MEW Bd. 42, S. 396.

[8] Ähnlich formuliert Vaneigem 2012, 14: "Das beste Heilmittel gegen diesen Mangel an Leben, der die Krankheit des Überlebens ist, besteht in der Entdeckung des eigenen Reichtums an Freude, an Erschaffung, an Liebe, an Begehren, trunken davon sich von der Unterdrückung durch die Ware zu befreien".

[9] [Anm. d. Ü.: Holloway weist mit dieser Schreibweise auf den Unterschied zwischen herrschen (= to rule) und vorherrschen (= to prevail) hin: Der Begriff vorherrschen ermöglicht es, an eine friedliche Koexistenz mit anderen Produktionsformen zu denken, wohingegen der Begriff herrschen darauf hinweist, dass jegliche andere Produktionsform nur im Antagonismus zur kapitalistischen existieren kann. Letztere Version scheint mir exakter zu sein.]

[10] Massimo De Angelis (2007) spricht von der Bedeutung anderer Werte im Gegensatz zum Wert der Waren, aber er schreibt dieses einer Externalität gegenüber dem kapitalistischen Wert zu. Ich begreife dieses Verhältnis vielmehr als ein inhärent antagonistisches. Die Ware existiert nicht einfach neben anderen Formen des Reichtums: sie ist vielmehr eine beständige Aggression, ein beständiger Antrieb alle anderen Formen des Reichtums aufzusaugen.

[11] MEW 42, 396

[12] Ich danke Richard Gunn dafür, dass er mich darauf aufmerksam gemacht hat.

[13] Siehe Heinrich (2008: 51) zur Diskussion über den Unterschied zwischen "erscheint" und "scheint" in diesem Zusammenhang.

[14] Siehe Gunn (1992: 14) zum Begriff der Form als Existenzweise.

[15] Dies ist das zentrale Thema in Lukács' immer noch wundervollem, aber problematischem Buch Geschichte und Klassenbewusstsein (1923).

[16] Frz. Für: vollendete Tatsache (Anm.d.Ü).

[17] Das Schlachtfeld des geistigen Eigentums ist gegenwärtig ganz offensichtlich. Allgemeiner ausgedrückt ist die Kommodifizierung der Reichhaltigkeit (oder die Einhegung der Allmende, wie sie auch häufig bezeichnet wird) eine erschreckend blutige Schlacht, die den Kern heutiger menschlicher Erfahrung ausmacht.

[18] Ich danke meinem Freund Sergio Tischler für diese Formulierung.

[19] Marx bezeichnet dies auch als "Produktionskräfte", ein Begriff, der von der nachfolgenden Tradition des Marxismus in einen Ausdruck der Erstarrung verändert wurde, der aber besser als der Antrieb der Menschheit zur "absoluten Bewegung des Werdens" verstanden werden sollte.

[20] S. Tischler zur Frage der Enttotalisierung (2014).

[21] Dies ist einfach nur eine Wiederholung von Adornos Diktum: "Auschwitz bestätigt das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod." (1966, 355)

[22] Ich weiche hier von der deutschen Übersetzung ab, da das vorliegende Original folgendes Zitat vermerkt: "[...] Marx is exclusively concerned with the capitalist mode of production" (2010:15). Dies wurde im Deutschen folgendermaßen wiedergegeben: "Es geht ihm nicht um antike Produktionsweisen, sozialistische Produktionsweisen oder gar Mischformen, sondern um die kapitalistische Produktionsweise in ihrer ziemlich reinen Form" (2011: 26). [Anm.d.Ü.]

[23] Heinrichs Buch wurde von meinem Freund Werner Bonefeld (im Klappentext) als "die beste und umfassendste Einführung in das Marxsche Kapital, die es gibt", gepriesen. Ich habe keinen Anlass, diese Beschreibung infragezustellen, denn die Ausführung über das Kapital sind extrem klar, aber ich teile die Interpretation, die Heinrich vorlegt, nicht.

[24] Siehe meinen Kommentar zu Cleavers Ablehnung der konkreten Arbeit als Kategorie des Kampfes in Holloway (2002: 217-218).

[25] Die herausragende Ausnahme, die einzige die ich finden konnte, ist ein Kapitel von León Rozitchner über Kooperation und den produktiven Körper bei Marx und Freud, wo er betont, dass Marx das Kapital nicht mit der Ware, sondern mit dem Reichtum beginnt und er bei dem Begriff des Reichtums explizit auf den Abschnitt der Grundrisse verweist, der hier zitiert wird (MEW 42; 88, 98). Er entwickelt daraus jedoch nicht den Antagonismus im Verhältnis zwischen Reichtum und Ware, der hier betont wurde. Ich danke Bruno Bosteels aufs Herzlichste dafür, dass er mich auf Rozitchners Arbeit aufmerksam gemacht hat.

[26] Die von Autoren wie Reichelt, Backhaus, Postone und Heinrich vorgelegte "neue Marx-Lektüre" ist wahrscheinlich die differenzierteste Entwicklung dieses Ansatzes. S. Bonefeld (2014).

[27] S. Sohn-Rethel (1972), Holloway 1979/1991, 2002, 2010 zu Formen als Form-Prozessen.

[28] S. Hegel zur "reinen Unruhe des Lebens" (1966; 27).

[29] Und, so könnte man hinzufügen: "Unsere Träume passen nicht in Eure Wahlurnen".

[30] Ich nehme zur Kenntnis, dass Michael Perelmann (2011) die Metapher des Prokrustesbett zur Beschreibung der ökonomischen Institutionen und Praxen einsetzt, die Menschen dazu zwingen, die Disziplin des Marktes zu akzeptieren. Entscheidend ist jedoch, dass Marx uns dieses Prokrustesbett (die Warenform) vermittelt durch dessen eigene Krise (der Reichtum, der nicht passt) vorstellt.



Literatur

Adorno, Theodor W. (1966) Negative Dialektik, Frankfurt am Main

Bonefeld, Werner (2014) Critical Theory and the Critique of Political Economy, London

Cleaver, Harry (2011) Das Kapital politisch lesen. Eine alternative Interpretation des Marxschen Hauptwerks. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Renate Nahar, Wien

De Angelis, Massimo (2007) The Beginning of History: Value Struggles and Global Capital, London

Gunn, Richard (1992) Against Historical Materialism: Marxism as a First-order Discourse, in Bonefeld, Werner, Richard Gunn and Kosmas Psychopedis (eds) (1992) Open Marxism, Vol. 2. Theory and Practice, London, Seite 1-45

Hardt, Michael and Antonio Negri (2010) Common Wealth: das Ende des Eigentums, Frankfurt am Main

Harvey, David (2011) Marx' Kapital lesen: ein Begleiter für Fortgeschrittene und Einsteiger. Aus dem Amerikanischen von Christian Frings, Hamburg

Hegel, Georg W. F. (1966) Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main

Heinrich, Michael (2004) Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart

Heinrich, Michael (2004/2012) Introduction to the Three Volumes of Karl Marx's Capital, New York

Heinrich, Michael (2008) Wie das Marxsche Kapital lesen? Leseanleitung und Kommentar zum Anfang des Kapitals, Stuttgart

Holloway, John (1980/1991) The State and Everyday Struggle, in Clarke (1991), pp. 225-259

Holloway, John (2002/2010) Change the World without taking Power, London, New edition 2005.

Holloway, John (2002) Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster

Holloway John (2010) Crack Capitalism, London

Lukács, Georg (1923) Geschichte und Klassenbewusstsein: Studien über marxistische Dialektik, Berlin

Marx, Karl (MEW 13) Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin, Seite 3-160

Marx, Karl (MEW 23) Das Kapital, Bd. 1, Berlin

Marx, Karl (MEW 42) Grundrisse, Berlin

Perelmann, Michael (2011) The Invisible Handcuffs of Capitalism, New York

Rozitcher, León (2003) Freud y los Problemas del Poder, Buenos Aires

Sohn-Rethel, Alfred (1972) Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, revidierte und ergänzte Ausgabe, Frankfurt am Main

Tischler, Sergio (2014) Detotalization and Subject. On zapatismo and critical theory, South Atlantic Quarterly, no. 113:2

Vaneigem, Raoul (2012) Lettre à mes Enfants et aux Enfants du Monde à Venir, Paris

Wright, Steve (2005) Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus, Berlin und Hamburg

*

Antispeziesistische Aktion Tübingen:

Vegan-Hype

Ursachen und Vereinnahmung aus kämpferischer Perspektive

Was heute alltäglich ist, hätte noch vor fünf Jahren kaum jemand aus der Tierrechtsszene für möglich gehalten: Geschäfte werben damit, dass sie vegane Artikel führen, große, bürgerliche Zeitungen wie Die Süddeutsche oder Die Zeit behandeln den Veganismus in ganzseitigen Artikeln, im Privatfernsehen wird über Veganismus gesprochen, große Fleischkonzerne bringen vegane Produktlinien heraus.[1] Sind wir dabei zu gewinnen? Nein und ja...

Der Hype in Zahlen

Es herrscht ein Vegan-Hype, das ist nicht zu leugnen. Und an seinem Aufkommen sind wir[2] Tierbefreierinnen[3] maßgeblich beteiligt. Seit Jahrzehnten stehen sich Generationen von Tierrechtlerinnen und Tierbefreierinnen auf den Straßen dieser Welt die Beine in den Bauch, um Veganismus-Flyer zu verteilen, streiten sich mit Laden- und Restaurantbesitzerinnen, um etwas ohne Milch, Ei und Fleisch zu bekommen und sorgen mit nächtlich sabotierten Tierbetrieben ab und zu für Schlagzeilen. Den Vegetarismus und den Veganismus in der Welt bekannt zu machen, hat uns Jahrzehnte der Mühe, Arbeit, des Aktivismus, der gemeinsamen Kämpfe, der Kreativität und so weiter gekostet. Das war nicht umsonst, denn ohne uns gäbe es diesen Vegan-Hype heute sicher nicht. Da können wir uns getrost gegenseitig auf die Schultern klopfen und feiern!

Dennoch sollten wir uns auch von diesem ersten großen Erfolg nicht blenden lassen. Schließlich bedeutet der Vegan-Hype keineswegs, dass dadurch weniger Tiere[4] gefangen gehalten, gequält und ermordet werden. Obwohl sich die Zahl der Vegetarierinnen in Deutschland laut einer Studie der Universitäten Göttingen und Hohenheim seit 2006 verdoppelt[5] hat (laut diesen Zahlen auf 3,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, andere Zahlen geben schön länger weit höhere Prozentsätze an) und dem Meinungsforschungsinstitut forsa nach rund 52 Prozent der Bundesbürgerinnen angeben, weniger Fleisch essen zu wollen, kann der Bundesverband der Deutschen Fleischwarenindustrie gelassen berichten, dass der Pro-Kopf-Jahresfleischverbrauch in Deutschland von 2001-2012 stabil war und erst 2013 um 2,1 Kilo auf 59,2 Kilo sank.[6] Dies bestätigt die Prognose des marxistischen Antispeziesisten Marco Maurizi, dass der Veganismus nicht die Ausbeutung der Tiere* beenden kann.[7] Die individuelle Konsumhaltung ist im Kapitalismus nicht direkt mit der Produktion verknüpft, da dort nicht zur Befriedigung von Bedürfnissen, sondern für Profite produziert wird. So könnte beispielsweise eine starke vegane Bewegung dazu führen, dass das Fleisch billiger wird und die fleischkonsumierende Bevölkerung umso mehr Fleisch isst. Genau das könnte auch die momentane Situation erklären, ist aber nur eine der vielen komplexen Wechselwirkungen der Ökonomie. Hinzu kommt, dass die Fleischindustrie durch die EU und die Bundesländer auch noch millionenschwer subventioniert wird; die PHW-Gruppe (Wiesenhof) erhielt beispielsweise alleine vom Land Niedersachsen im Jahr 2007 4,2 Millionen Euro.[8]

Reaktionen der Fleischindustrie

Doch die Fleischindustrie reagiert schon früh auf den Trend des reduzierten Fleischkonsums. Einerseits wird verstärkt auf den Export gesetzt; so erhöhte sich der Anteil des jährlich exportierten Fleisches von 2001 bis 2010 um 250 Prozent auf 3,7 Millionen Tonnen.[9] Zwar scheinen Fleischexporte im Wert von 8,17 Milliarden Euro[10] bei einem insgesamten Exportvolumen von 951 Milliarden Euro[11] nur wenig Bedeutung zu haben, jedoch ist das im Autoland und Exportvizeweltmeister Deutschland bereits schon sehr viel (Zahlen für 2010).[12] So werden in Deutschland die dritt-meisten Schweine weltweit geschlachtet: 59 Millionen Tiere im Jahr, während es bei den beiden Spitzenreitern China 661 Millionen und in den USA 110 Millionen sind. Diese Masse an Produktion erreicht Deutschland, wie andere Produktionsstandorte, auch durch intensive Massentierhaltung, extremes Lohndumping und Ausbeutung oft migrantischer Arbeiterinnen, Billigfuttermittelimporte usw. Die Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte zu einem Stundenlohn von 3-5 Euro erfolgt unter schlimmsten Bedingungen und strengen Vorkehrungen, um zu verhindern, dass die Betroffenen ihre Bedürfnisse erkämpfen können (Kasernierung, Redeverbote). Diese Umstände haben sogar den niedersächsischen Wirtschaftsminister Olaf Lies dazu bewegt, die Verhältnisse in den Schlachtfabriken mit "moderner Sklaverei" zu vergleichen.[13]

Die zweite Reaktion der Fleischindustrie ist die Entdeckung des Wachstumsmarkts "vegane Produkte". Da dieser Markt noch sehr wenig bedient wird, sehen auch große Fleischkonzerne hier enorme Wachstumsmöglichkeiten. Der Fleischkonzern Vion, größter Schweinefleischverarbeiter Europas und weltweit unter den Top 10, betreibt neben den Marken Lutz (Kochschinken) und Weimarer (Echte Thüringer Wurst) auch die Marke Vegetaria, die seit 2013 auf Anstoß der Albert-Schweitzer-Stiftung von vegetarischen auf vegane Produkte umstellte.[14] Gut für arme oder geizige Veganerinnen, schlecht für die Seitan- und Tofu-Pioniere wie Topas in Mössingen oder Taifun in Freiburg. Solange die Lebensmittel industriell hergestellt werden, ist jedoch eine großindustrielle Produktion von speziell veganen Fleischersatzprodukten wohl ein notwendiger Schritt, damit Veganismus zum Massenphänomen werden kann. Vegane Landwirtschaft mit lokalen Produktions- und Verteilungsstrukturen in Gesellschaftseigentum und unter basisdemokratischer Kontrolle dagegen wäre das, was wir anstreben würden. In diesem Spannungsfeld kann diese Entwicklung gesehen werden.

Krisen und neue Märkte

Letztlich sind solche neue Märkte, die durch Labels wie Bio, Vegan oder Fairtrade entstehen, notwendig für das Wachstum des Kapitals. Schließlich durchleben wir seit 2007 eine der heftigsten weltweiten Wirtschaftskrisen überhaupt, auch wenn deren Folgen durch die Transformation Deutschlands zum Niedriglohnland und der hiesigen Euro-Politik noch großteils kaschiert werden können. Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass das Kapital sich nicht mehr verwerten kann, d.h. zu "wenig" Profit bei Investitionen herausspringt oder zu "wenig" Zinsen bei Kapitaleinlagen entstehen. Stagnierendes Wachstum, also z.B. gleichbleibende statt wachsende Nachfrage nach Produkten, ist, auch wenn das an sich für eine nachhaltige Gesellschaft notwendig wäre, für die kapitalistische Wirtschaft eine Katastrophe und kann zum Auslöser einer Rezension werden. Insgesamt sind Krisen jedoch ein Teil des kapitalistischen Wirtschaftssystems, und solange der Kapitalismus herrscht, kommt es regelmäßig zu Krisen weil regelmäßig auf der Seite des Kapitals zuviel Kapital angehäuft wird (Überakkumulation) und auf Seite der Konsumentinnen zuwenig Geld übrig ist und so die Kaufkraft sinkt. Und ohne neue Kaufkraft gibt es weniger Konsum, weniger Nachfrage, weniger Profite. Das Aufkommen von Krisen kann in Zyklen beschrieben werden, auch wenn die klassische und neoklassische Wirtschaftstheorie dies bestreitet und stets menschliches "Versagen" für Krisen verantwortlich machen will. Neue Märkte und Wirtschaftswachstum können Krisen nicht abwenden, aber in einem System internationaler Konkurrenz können einzelne Staaten durch verstärktes Wachstum die Krisenlasten auf andere "wirtschaftsschwächere" Länder abwälzen: Das was an Kaufkraft bei den Konsumentinnen übrig bleibt, kauft dann vermehrt aus den wirtschaftlich starken Ländern Importiertes; die Wirtschaft schwächerer Länder ist damit doppelt betroffen. So gilt in den einen Ländern wie Deutschland die Krise als "überwunden" oder "kaum angekommen", während sie in den anderen, wie den südeuropäischen Ländern, umso heftiger zuschlägt und als Vorwand für die Zerschlagung sozialstaatlicher Strukturen herangezogen wird.[15]

Ein neuer Markt, also zuvor nicht dagewesene Nachfrage nach neuen Produkten, sorgt für Wachstum und das Kapital strömt in die Produktion, in die Werbung und den Vertrieb dieses Marktes, was heißt, dass Kapital dort investiert wird. Ein Siegel oder Label, welches diesen neuen Markt umreißt, ist dazu ideal. Bio machte eine ähnliche Bewegung durch wie Veganismus heute: Jahrzehnte lang organisierte und ackerte (oft auch im wörtlichen Sinne) die Umweltbewegung, um Bewusstsein und Verfügbarkeit von Produkten ohne Kunstdünger und Gifte zu erreichen. Verbunden war dies oft mit einer (wenn auch mitunter diffusen) Kritik am Kapitalismus und mit der damit verbundenen Entfremdung der wichtigsten aller Produkte: der Nahrung. Entfremdung heißt auch, dass niemand mehr weiß, wer die Nahrungsmittel angebaut hat und wo genau, wie und wann sie angebaut wurden. Die Beziehung zur Ökobäuerin um die Ecke, zum Hofladen und zum kleinen noch halbwegs transparenten Bioladen sollte dagegenwirken: Sowohl Intransparenz als auch Konkurrenz sollten durch lokale und regionale Versorgungswege verhindert oder zumindest abgemildert werden.

Jedoch nahm das Kapital die Wachstumschancen des Bio-Sektors dankend an und bediente diesen Markt vor allem mithilfe des EG-Bio-Siegels: Klare, aber minimale Regeln, die ein Produkt zum Bio-Produkt machen, ermöglichten es, innerhalb des Bio-Minimal-Konsens (insofern die Regeln überhaupt eingehalten werden) denselben Wahnsinn von Konkurrenz (Lohndruck) und Werbung (Intransparenz) weiterzutreiben. Landgrabbing und Vertreibungen, Monokultur und Mega-Plantagen, Regenwaldabholzung und Vernichtung von Ökosystemen, Lohndumping, Sklaverei, Massentierhaltung, irreführende Verpackungen, verblendende Werbekampagnen - all das ist seither auch bei den meisten Bio-Produkten Standard. Nur noch strengere Labels, die dafür nur teurere Produkte schmücken und deshalb auf dem Markt schlechtere Zukunftsaussichten haben, wie Bioland, Naturland oder Demeter, schränken genannte Phänomene ein. Denn schließlich müssen diese Labels, die "echte" Biowaren kennzeichnen, im (Bio-)Supermarkt mit EG-Bio-Plantagenprodukten konkurrieren.

Ähnliches geschieht mit der Fairtrade-Bewegung: Auch hier baute eine Bewegung in Abgrenzung zum herkömmlichen Kapitalismus und zu den Supermärkten eigene Läden, eigene Vertriebstrukturen und unzählige Kooperativen auf. Auch hier wurde versucht, über Aufklärung in den Weltläden und über solidarische Ökonomie der Intransparenz und der Konkurrenz entgegenzutreten. Aber auch hier entstand ein Label, das Max-Havelaar-Fairtradelabel, welches kreiert wurde, um den fairen Handel in die Supermärkte zu bringen, so die ungehemmte Kommerzialisierung vereinfachte und dessen Mindestanforderungen an soziale Arbeitsbedigung in der Herstellung der Produkte weit unter denen der traditionellen Fairhandelshäuser liegen. Seit 1997, nach der Fusion mit zwei anderen Siegeln, heißt das Label nun nur noch Fairtrade-Siegel.

Da im Fairtrade-Bereich das ehrenamtliche Engagement und das solidarische Wirtschaften eine größere Bedeutung hat als im Bio-Sektor,[16] wich diese Entwicklung etwas von der der Bio-Bewegung ab: Die Weltläden verstanden sich großteils noch bis in die 1990er und 2000er Jahre sowohl als Aufklärungskollektive als auch als Verkaufsorte, waren also besser über die Umstände und Arbeitsbedingungen informiert und begannen daher früh, das Fairtrade-Siegel abzulehnen. Dabei wurde sich eher auf die traditionellen Fairtrade-Häuser El Puente, DWP und Gepa verlassen, die durch konsequenten fairen Handel ein gewisses Vertrauen errungen hatten. Auch das größe Fairtrade-Haus Gepa, welches als einziges auch auf Supermärkte setzt, nahm das Fairtrade-Siegel von seinen Verpackungen und steht lieber mit eigenem Namen für die Arbeitsbedingungen.[17]

Das liegt daran, dass das Fairtrade-Siegel in Kritik geriet. Denn der Fairtrade-Sektor boomt wie der Bio- und der Vegan-Sektor: In Frankreich stieg der Umsatz im Fairtrade-Bereich von 94 Mio. Euro im Jahr 2004 auf 408 Mio. Euro, also um 334 Prozent, im Jahr 2012. Die arte-Dokumentation Fairer Handel auf dem Prüfstand zeigt aber auf, dass die Anforderungen des Fairtrade-Siegels (Mindestlohn, ein freier Tag in der Woche, Organisationsfreiheit, Diskriminierungsverbot) kaum kontrolliert werden und so unterbezahlte Knochenarbeit und elende Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten, die auch noch Übergriffen ausgesetzt sind, vorkommen. Und dabei liegen diese ohnehin weit unter den Selbstverpflichtungen der traditionellen Fairtradehäusern. Zwar sind die Waren in den Weltläden vor solchen Katastrophen bisher sicher, doch die enormen Wachstumsraten spiegeln sich nur zu einem kleinen Teil in den Weltläden wieder. Auch hier kann davon gesprochen werden, dass das Kapital[18] die Bewegung zu einem großen Teil vereinnahmt und dadurch sinnentleert hat, und dennoch kleine Erfolge erzielt wurden.

Vereinnahmung in der Herrschaft

Im Kapitalismus, wie auch in der Entwicklung von Herrschaft allgemein, lassen sich immer wiederkehrende Bewegungen ausmachen. Eine Bewegung gegen Herrschaft wird unter der Bedingung von Kompromissen selbst an der Herrschaft beteiligt, wodurch die Herrschaft erneuert und stabilisiert wird. Diese Herrschaftstechnik wurde schon immer verwendet und ist schon in der römischen Parole "teile und herrsche" ("divide et impera") ausgedrückt. Ein sehr gutes Beispiel zeigt sich unter Otto von Bismarck in den 1880er Jahren; Bismarck ließ zwar Sozialdemokratinnen und Kommunistinnen verfolgen, führte aber Sozialgesetze ein, um nicht durch die Forderungen der damals sehr starken Arbeiterinnenbewegung gefährdet zu werden. Er gestand offen, dass er dies tat, um den Sozialistinnen "die Wurzel abzugraben", also keineswegs aus eigenem Interesse an der Situation der Arbeiterinnen, auch wenn er ironischerweise trotz seiner sonstigen Verbrechen dafür bis heute geehrt wird. Die Vereinnahmung geschah durch die teilweise Erfüllung der Forderungen bei gleichzeitiger Verfolgung und Unterdrückung der Bewegung. Ähnlich verlief die Vereinnahmung bei der SPD 1914, welche durch den Wechsel zu einem Pro-Kriegs-Kurs unter ihrem rechten Flügel mit Noske und Ebert, welche selbst linke Sozialdemokratinnen verfolgen ließen, zur Regierungsmacht werden konnte.

Ähnliches geschah auch mit der grünen Partei 1998, die ohne Zusagen an die neoliberalen Reformen Gerhard Schröders wohl nie eine Regierungsbeteiligung erreicht hätte. Diese Erkenntnis erhärtet sich in Anbetracht des Falls der Ernennung Gerhard Schröders zum Kanzlerkanditaden der SPD 1998. Es wurde nachgewiesen, wie die Leitmedien die SPD dazu drängten, Schröder, nachdem er 1996 vor dem Wirtschaftsrat der CDU vorsprach, zum Kanzlerkandidaten zu machen. Sowohl Bild als auch Der Spiegel und andere bürgerliche Medien machten klar, dass sie nur im Falle von Schröders Kandidatur, welcher in einer Urabstimmung der SPD zuvor abgewählt worden war, die SPD als wählbar darstellen würden.[19]

Um kämpferische Perspektiven zu analysieren, können solche gesellschaftlichen Entwicklungen als Klassenkämpfe zwischen der Kapital-Seite und der Seite der Ausgebeuteten angesehen werden. Es entsteht also immer von Seiten der Unterdrückten eine linke Strömung, Initiative, Partei, oder ähnliches, die, wenn sie stark genug wird, durch das Kapitals vereinnahmt wird, um die Ausbeutungssituation zu erneuern und zu stabilisieren. Dabei erringen je nach Kräfteverhältnis natürlich auch die Unterdrückten größere oder kleinere Erfolge, welche auch als Zugeständnisse der Kapital-Seite gesehen werden können: Sozialgesetzgebung, demokratische Wahlen, Frauenrechte, Atomausstieg und aktuell die Wiedereinführung des Allgemeinen Studierendenausschusses (Asta) in Baden-Württemberg. All diese erkämpften Zugeständnisse sind zugleich einerseits kleine Siege im Klassenkampf wie andererseits Teil der, wenn man es mit Marcuse so nennen mag, Konterrevolution. Solche Erfolge können als Ausdruck einer relativen Schwäche des politischen Gegners gewertet werden: Der militaristische Adelige Bismarck wird während der Einführung der Sozialgesetze mit den Zähnen geknirscht haben; die konservativen Machteliten werden Bauchschmerzen gehabt haben, als sie freie Wahlen zulassen mussten und als sie hundert Jahre später die Beteiligung der Grünen an der Regierung erlauben mussten. Solche Vereinnahmungen sind daher auch Zeichen unserer relativen Stärke: Die Herrschenden können nicht ihre Ziele kompromisslos durchsetzen, sondern sind gezwungen, zumindest kleine Schritte auf unsere Forderungen zuzugehen. Ohne diese Form von Teilerfolgen, auch wenn sie immer gleichzeitig Gegenstrategien der Herrschenden waren, um unseren Widerstand zu brechen, lebten wir heute auch hier noch in Sklaverei, Leibeigenschaft oder Hunger, je nachdem, von wo wir in der Betrachtung ausgehen. Wir müssen also weiterkämpfen, um Sklaverei, Leibeigenschaft und Hunger weltweit und für alle, auch für Tiere, abzuschaffen![20]

Vereinnahmung durch das Kapital

Ähnliche Bewegungen lassen sich auch im wirtschaftlichen Bereich finden. Die sexuelle Befreiung der 68er, die vor allem Frauen aus biederen und patriarchalen Normvorstellungen und Herrschaftsverhältnissen befreite, wurde von der Porno- und Sexarbeitsindustrie vereinnahmt, welche durch die vermehrte Ausbeutung ärmerer Frauen Milliardengewinne einstreicht. Die Anti-AKW-Bewegung hat durch Jahrzehnte der Öffentlichkeitsarbeit, Demonstrationen und direkten Aktionen einen (langsamen) Atomausstieg in der Politik erreicht; worauf die Industrie mit einem Ausbau von Kohlekraftwerken reagiert, die Treibhausgase in Massen ausstoßen. Der Natur und somit nicht zuletzt uns werden Tonnen von Pestiziden und Kunstdüngern erspart, jedoch wird dafür heute hektarweise Land z.B. in Osteuropa angeeignet (Landgrabbing) und Regenwald in Südamerika abgeholzt, um quadratkilometergroße Monokulturplantagen anzulegen. Aber die Bewegung hört an diesen Punkten nicht auf: Die ausgebeutete Seite, die nicht auf der Seite des Kapitals die Ausbeutung vorantreibt, muss ihre Lage erkennen und darauf reagieren. So kämpft seit Jahren die Frauenbewegung gegen Ausbeutung durch Prostitution, eine Anti-Kohlekraft-Bewegung mobilisiert seit 2005 mithilfe von Klimacamps und großangelegten Besetzungsaktionen gegen den Klimawandel und die jährlichen Demonstrationen gegen die industrielle Landwirtschaft unter dem Motto "Wir haben es satt!" werden trotz (oder gerade wegen?) der Kommerzialisierung des Bio-Booms immer größer (dieses Jahr über 30.000 Teilnehmerinnen).

Horkheimer und Adorno beschreiben im Kapitel zur Kulturindustrie der Dialektik der Aufklärung, wie das Kapital kulturelle Gegenbewegungen als Wachstumsmöglichkeiten vereinnahmt und so rebellische Ideen zu handelbaren Waren macht. Doch auch die kommerzielle Vereinnahmung von Gegenkultur kann, wenn richtig mit ihr umgegangen wird, gegen dessen sinnentleerende Wirkung, politisieren.[21] Die Dinge realistisch zu sehen heißt also zu erkennen, dass sowohl unsere Seite als auch die Seite des Kapitals immer weiter kämpft, gewinnt und verliert, und dadurch sozialer Wandel in Gang gesetzt wird.

Vereinnahmung von Veganismus

Was also mit dem Veganismus passiert, ist die ganz normale Vereinnahmung durch das Kapital. Ein Merkmal, welches für die kapitalistische Vereinnahmung optimal ist, ist die Konsum-Orientierung. Kein Wunder also, dass von allen Elementen der Tierbefreiung vor allem der Veganismus zur Zeit boomt. Einige Bedingungen, die die Vereinnahmung ermöglichen oder optimieren, lassen sich an einem zentralen scheinbaren Protagonisten des Vegan-Hype ablesen: dem veganen sogenannten Starkoch Attila Hildmann. Der eigentliche Akteur hinter ihm ist das Kapital, also die Profitlogik im Kopf der Kapitalbesitzerinnen und Managerinnen, die sich der Maximierung des Kapitals widmen. Diese tritt dann in der Politik, z.B. des Medienkonzerns ProSiebenSat.1 Media AG zu Tage. Denn noch einige Jahre vor dem Vegan-Hype fiel ProSieben in seiner Pseudo-Wissenschaftssendung Galileo dadurch auf, dass es unterschwellig Fleischkonsum massiv bewarb: In jeder Folge von Galileo war Fleisch ein Hauptthema; mal ging es dabei um Zusammensetzung des Fleisches selbst, mal um die Funktionsweise von Wok-Pfannen, die natürlich anhand des Bratens von Schweinefleisch getestet wurden. Über Jahre hinweg war die Fleisch-Werbung bei "Galileo" so ausnahmslos anzutreffen, dass wirtschaftliche Verbindungen zur Fleischindustrie mehr als wahrscheinlich sind. Und gerade diese Sendung verschaffte Attila Hildmann im Juli 2010 seinen ersten großen Fernsehauftritt. Es sind Medienkonzerne wie ProSiebenSat.1, die sich unter allen Veganköchinnen und sonstigen möglichen Protagonistinnen der Bewegung für den Veganismus ausgerechnet Hildmann aussuchen.

Aber warum Attila Hildmann? Einerseits, weil seine Schwerpunkte, wie die Titel seiner bekanntesten Kochbücher Vegan for Fit und Vegan for Fun zeigen, auf egoistisch orientierten Themen liegen. (Die eigene) Fitness und (die eigene) Gesundheit sind zentrale Themen derjenigen Menschen, die von Marktforscherinnen zum Konsummilieu der LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability) gerechnet werden. Da es dabei um die eigenen Vorteile wie die individuelle Gesundheit geht - alles andere ist in der kapitalistisch-individualistischen Grundstimmung ohnehin schon verdächtig -, profitiert der Bio-Boom davon ebenso wie der Vegan-Boom. Fairtrade, mit seinem ethischen Schwerpunkt, trifft dieses Bedürfnis nicht, versucht aber über das Bewerben der besonders hohen Qualität seiner Produkte, auch auf diesen Zug aufzuspringen. Zum anderen ist Hildmann der Mann für den Boom, weil er sich im Gegensatz zu den meisten Vegan-Köchinnen in seinen Statements fast völlig vom politischem Anspruch der Tierbefreiung lossagt und ihre Aktivistinnen sogar noch als Dogmatiker und Hippies beschimpft.[22] Genau diese Eigenschaft ist wichtig für das Kapital, um Veganismus hypen zu können, hat es doch in der Angst um seine Profite durch die Fleischindustrie dafür gesorgt, dass in den großen Medien das Bild von Veganismus und Veganerinnen durch Angst und Lächerlichkeit bestimmt ist. Um trotzdem plötzlich Veganismus verkaufen zu können und ohne Tierbefreiungsaktivismus dadurch aufzuwerten, war ein Vegan-Koch, dem es um "Fitness, Lifestyle, Spaß" geht (so ist Hildmanns Homepage überschrieben) und der von Gesellschaftskritik und Politaktivismus nichts wissen will, genau der richtige; genau das ist es, was für die Vereinnahmung des Veganismus gebraucht wird. Hat deshalb ProSieben im Jahre 2010 Hildmann so gepuscht, der erst danach bei den kleineren Sendern MDR und WDR auftauchte?

Die Zeit schreibt zum neuen, hippen Vegan-Image: "Die neuen Veganer pflegen keinen Überlegenheitsmythos. Sie gehen nicht mit ihren politisch-moralischen Ansprüchen hausieren und sie begreifen Veganismus nicht als Ideologie".[23] Dass Veganismus nicht eine Erfindung der Hildmanns und Co. ist, sondern wir Radikalen die Basisarbeit leisteten, gibt diese bürgerlich-liberale Wochenzeitung wie auch die Ernährungstrendforscherin Karin Frick in einem Interview mit dem Bio-Werbemagazin Schrot&Korn zu: "Es braucht immer die Radikalen, die die Ideen hervorbringen. Die Extremen sind die Impulsgeber, diejenigen, die die neuen Themen in die Welt bringen."[24] Auf die Vereinnahmung anderer Bewegungen geht auch Die Zeit im bereits zitierten Artikel ein: "Die Ideen der Grünen oder der Frauenrechtsbewegung gehören heute nur deswegen zum bildungsbürgerlichen Standardrepertoire, weil sie in ihrer Frühzeit nicht ungehört verhallten".

Für die wirtschaftliche Vereinnahmung ist es also am besten, wenn die politische Dimension einer Strömung entsorgt wird. Des Weiteren ist die Konsumierbarkeit wichtig, denn nur dadurch lassen sich neue Produkte erzeugen und neue Märkte erschließen. Für diese ist der egoistische Gewinn ein bedeutender Teil - und diesen nicht als primäre Motivation zu haben gilt im patriachalen Kapitalismus nicht nur als sentimental, sondern, wie Horkheimer und Adorno schon festgestellt haben, gar als Abfall von der Kultur. Ideal ist, wenn das dann auch noch mit dem laufenden Fitness-Boom und der verstärkten Privatisierung der Gesundheit (in der jede selbst für ihre Gesundheit verantwortlich ist und diese Frage keine gesellschaftliche oder politische mehr sein kann) verknüpfbar ist. Dies bietet der Veganismus ebenso wie Bio und Fairtrade immerhin zu Teilen, oder, ein Jahrhundert vorher, die Lebensreformbewegung, deren bekanntestes Überbleibsel die "Reformhaus" genannten Geschäfte sind. Aus linker Sicht ist die Lebensreformbewegung ambivalent zu beurteilen, als positive Folge ist sicherlich zu verzeichnen, dass die relativ starke Verbreitung von Vegetarismus, ökologischem Bewusstsein, Naturheilkunde und FKK in der BRD heute zu Teilen auf sie zurückgeführt werden kann; es muss aber auch beachtet werden, dass Teile der insgesamt eher bürgerlichen Lebensreformbewegung sich reaktionär, antisemitisch und völkisch orientierten, wie etwa die noch existierende Kommune "Eden" in Oranienburg. Wie unser Aktivist Matthias Rude im Kapitel über die Lebensreformbewegung im theorie.org-Buch Antispeziesismus[25] herausgearbeitet hat, zeichnete sie sich durch die Privatisierung der sozialen Frage, durch die Beschränkung auf den Appell ans individuelle Konsumverhalten aus. Hierbei handelt es sich, so Rude, "um eine Einstellung, die auch heute wieder in weiten Teilen der veganen Bewegung anzutreffen ist und die entsprechend kritisiert werden muss."[26]

Veganismus als Weg?

Wie Marco Maurizi darlegt, kann Veganismus alleine keine Tierbefreiung erreichen. In Anbetracht der mäßig erfolgreichen Kampagne gegen Coca-Cola prognostiziert er einem Boykott einer so breiten, unspezifischen Produktpalette wie tierlichen[27] Produkten wenig Erfolg bei der Abschaffung der Tierausbeutung. Selbst wenn sich direkte Tierprodukte nicht vermarkten ließen, würde das Kapital Tierausbeutung trotzdem weiter überall betreiben, wo es am Ende nicht im Produkt erkennbar ist. Aber Maurizi macht sich trotzdem für den Veganismus stark, auch abseits seiner Funktion des ökonomischen Boykotts. Schließlich zeigen Veganerinnen auf, dass es von der Konsumentinnenseite her schon mal möglich ist, ohne Tierausbeutung zu leben. Die Vermassung des Veganismus, deren ersten großen Schritt wir jetzt geschafft haben, ist eine ausgezeichnete Basis für weitere Tierbefreiungsarbeit, auch wenn jetzt die Taktik geändert werden muss. Wenn tierliche Produkte nicht mehr Teil der Nahrung, also der unmittelbarsten Basis des menschlichen Lebens der meisten Menschen sind, können diese Menschen wahrscheinlich leichter ihr "ja" zur Tierbefreiung geben. Je mehr Menschen also vegan lebe n, desto einfacher ist die politische Forderung von Tierbefreiung, auch in einem revolutionären Prozess, durchsetzbar.

Gleichzeitig sollte hier aber auch betont werden, dass diese Forderung auch von nicht-vegan lebenden Menschen mitgetragen werden kann. Veganismus ist sicher ein wichtiges Element, um sich dem Ziel der Befreiung von Mensch und Tier* zu nähern, aber er muss nicht unbedingt die Grundlage politischen Kampfes, nicht der einzige Weg und nicht einmal der unproblematischste sein. So liegt Veganismus heute z.B. vielen Unterschichtsjugendlichen[28] ferner denn vielen anderen, weil sie im Gegensatz zu Mittelschichtsjugendlichen weniger Zeit und Energie haben, sich um Probleme zu kümmern, die nicht direkt die ihrigen sind. Dazu kommt, dass vegane Produkte mit vergleichbarem Geschmack einfach noch um ein Vielfaches teurer sind als Tierprodukte. Wem es also nicht passiert, sich der Tierausbeutung derart bewusst zu werden, sodass sie die Kraft schöpft die Konditionierung auf Fleisch abzulegen, ist draußen aus dem (durch die Struktur unserer Gesellschaft noch elitären) Kreis der Veganerinnen. Vegan zu leben ist entgegen dem bürgerlichen Schein nur zum Teil der eigene Verdienst und zu einem beachtlichen Teil eben eine von außen herangetragene Möglichkeit, die, mit einigen Zufällen durchmischt, strukturell ungleich auf die Gesellschaft verteilt ist. Eine politische Vereinnahmung des Veganismus und/oder der Tierbefreiungsbewegung könnte, wenn wir nicht aufpassen, in einigen Jahren dazu führen, dass die Ausbeutung der Unterschichten mit dem Argument ihres mangelnden ethischen Verhaltens gegenüber Tieren* legitimiert wird oder dass Kriegsakte gegen ein Land außerhalb des NATO-Bündnisses mit dessen grausamen Verhalten gegenüber Tieren* gerechtfertigt werden.[29] Allerdings können wir, was das angeht, stolz auf uns als Tierbefreiungsbewegung sein, denn im Gegensatz zur Tierschutzbewegung ist bei uns bisher konsequent jeder Vereinnahmungsversuch von rechts abgewehrt worden, durch ausreichend politisches Bewusstsein und wachsame, aktive Gruppen und Einzelpersonen innerhalb der Bewegung. Dennoch gilt es, weiterhin wachsam zu bleiben und besonders dem Elitarismus gegenüber kritischer zu werden.

Fazit für die Bewegung

Das Fazit aus diesen Überlegungen und Analysen müssen die Akteurinnen der Tierrechtsbewegung selbst ziehen. Da es psychologisch gesehen wichtig ist, Siege zu feiern, läge das Fazit nahe, den Vegan-Hype trotz aller Kritik erstmal als Teilerfolg zu feiern. Aus der Reflektion des laufenden Vereinnahmungsversuchs könnte diese Feier dann zum Anlass genommen werden, ein geändertes Verhältnis zum Veganismus einzuläuten: War früher die Bewerbung des Veganismus an sich schon ein politischer Akt, so wird diese mühsame Arbeit heute für die sicherlich begrenzte Zeit des Booms von Attila Hildmann mit einer Auflage von 100.000 Stück seines Kochbuchs Vegan for Fit, durch die Sonderausgaben Schrot&Korn: Vegan&Bio und anderen Mainstream-Medien übernommen.[30] Wir könnten nun einerseits versuchen, klar zu machen, dass der Veganismus mit politischen Schlussfolgerungen fest verknüpft war, ist und bleiben sollte, um somit auch die Neu-Veganerinnen zu politisieren und zu radikalisieren. Denn auch wenn Menschen aus Gesundheitsgründen ihre Ernährungsweise umgestellt haben, können sie sich dann vielleicht trotzdem eher eine Welt ohne Tierausbeutung vorstellen. So könnte an der neuen Massen-Identität angeknüpft werden, egal aus welcher Motivation heraus sie entstand, wobei dabei mit dem elitären Potential der Identität vorsichtig umgegangen werden muss.

Oder wir könnten uns dafür entscheiden, dafür einzutreten, dass emanzipatorische Politik nicht mit einem Konsumstil verknüpft sein muss oder darf und uns auf den Aufbau einer politischen Bewegung abseits des Veganismus konzentrieren. Schließlich könnten viel mehr Menschen, vielleicht auch größere Teile der Unterschicht, die doch ein wichtiger Teil der ausgebeuteten Klasse ist, sich für Tierbefreiung als eine von vielen wichtigen Forderungen begeistern, wenn bei dieser nicht der Verzicht im Hier und Jetzt im Vordergrund stände, sondern das zu erkämpfende gute Leben für alle! Das würde jedoch eine Menge Überzeugungsarbeit innerhalb der bisherigen Tierbefreiungsbewegung bedeuten, die teilweise noch wenig zwischen Veganismus und Tierbefreiung zu unterscheiden scheint. Welche Konsequenzen auch gezogen werden, für uns ist klar, dass eine befreite Gesellschaft für Mensch und Tier* nur erreicht werden kann, wenn der Kapitalismus besiegt wird. Die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien, worunter auch die Lebensmittelindustrie fällt, und eine Konversion der tierverarbeitenden Fabriken in Werke für vegane Lebensmittel, die als Commons[31] unter basisdemokratische Kontrolle gestellt würden, wäre eine mögliche Richtungsforderung,[32] die einen wichtigen Schritt hin zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung bedeuten würde.



Anmerkungen

[1] https://de-de.facebook.com/permalink.php?story_fbid=556929351067831&id=134443886649715

[2] Wir machen hier die Kollektivindentität Tierrechtlerinnen und Tierrechtler/Tierbefreierinnen und Tierbefreier auf, in dem Bewusstsein, dass das keine Vereinheitlichung sein soll und wir sehr unterschiedlich sein können, aber auch, dass Kollektividentitäten sehr viel Stärke verleihen können, die für emanzipatorische Kämpfe unabdingbar ist.

[3] In diesem Text verwenden wir das generische Femininum, wenn allgemeine Begriffe zur Bezeichnung von Personen gleich welchen Geschlechts verwendet werden.

[4] Korrekt müsste es statt "Mensch und Tier" "Mensch und andere Tiere" heißen. Da wir jedoch an das Alltagsbewusstsein andocken wollen und unsere Sprache nicht zu sehr fremd machen wollen, sprechen wir trotzdem von "Mensch und Tier" und erinnern mit einem Sternchen "*" daran, dass dies ein sehr unkorrekter und speziesistisch-ideologischer Begriff ist.

[5] http://www.proplanta.de/Agrar-Nachrichten/Verbraucher/Verbraucher-in-Deutschland-kaufen-immer-weniger-Fleisch-und-Alkohol_article1331799063.html

[6] http://www.bvdf.de/presse/mgv2013_pressemeldung/">http://www.bvdf.de/presse/mgv2013_pressemeldung/

[7] http://www.tierrechtsgruppe-zh.ch/?p=1344

[8] http://www.welt.de/wirtschaft/article118425725/Deutschland-ist-Europas-Schlachthaus.html

[9] http://www.taz.de/!86176/

[10] http://www.v-d-f.de/zoom/deutschland_aussenhandel_2010

[11] http://www.zeit.de/wirtschaft/2011-02/export-deutschland

[12] Heinrich-Böll-Stiftung: Fleischatlas 2014, S. 19

[13] http://www.ndr.de/regional/niedersachsen/fleischindustrie115.html

[14] http://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/vegetaria-produkte-jetzt-vegan

[15] Durch massiven Sozialabbau, Lohndumping, Verelendung der Ärmsten kann ein Land so billig produzieren, dass die Arbeitslosigkeit und das dadurch entstehende Elend weniger in diesem Land erscheint, sondern in den Ländern, die den Konkurrenzkampf verlieren. Das passiert gerade in Europa: Während Deutschland durch neoliberale Politik die Krise im eigenen Land zu leugnen vermag (trotz der um 15 Prozent gesunkener Reallöhne), wird nur in anderen Ländern Europas die Krise wirklich deutlich: Spanien, Italien, Griechenland, Portugal, Irland aber langsam auch Frankreich und England. Die sogenannte Troika, einem Zusammenschluss der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Währungsfonds, nutzen die Krise um derzeit in diesen Ländern eine neoliberale Politik gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheiten und trotz deren massiven Proteste vor allem in Südeuropa durchzusetzen. Infos: www.blockupy.org

[16] In Deutschland gibt es inzwischen 700 Weltläden. Das mangelnde Bewusstsein über die unfairen und neokolonialen Welthandelsverhältnisse war neben den fehlenden Alternativen ein zentrales Problem für die sog. Dritte-Welt-Bewegung in den 1970er Jahren. Die Dritte-Welt-Läden, später in Eine-Welt-Länden und schließlich nur noch Weltläden umbenannt, verkauften daher nicht nur faire gehandelte Produkte, sondern führten zahlreiche Zeitschriften und Bücher, die sich mit dem Welthandel beschäftigten - natürlich aus linker Perspektive und der Perspektive der Ausgebeuteten im globalen Süden selbst. Informationsveranstaltungen und Demonstrationen waren ebenso wichtig wie fairer Kakao, Rohrzucker, Tee und Kaffee. Im Laufe der 1990er und 2000er Jahre jedoch wandelten sich Weltläden immer mehr zu nur noch "schönen" Geschäftchen, die sich auf Kunsthandwerk und Schokolade spezialisierten und die Bücher und Zeitschriften verbannten. In Tübingen vollzog sich dieser Wandel erst 2006; anstatt der lern- und wissensorientierten Studierenden übernahmen vermehrt wohltätig gesonnene Menschen oft im Rentenalter die ehrenamtlichen Verkaufsschichten. In Baden-Württemberg ist vor allem der Weltladen Konstanz zu nennen, der dem alten Prinzip treu geblieben ist und neben der üblichen breiten, fairen Produktpalette noch ein breites Sortiment an Fachbüchern zu diesem Thema führt.

[17] http://www.gepa.de/service/faq/frage//show/3-warum-tragen-jetzt-viele-gepa-produkte-kein-fairtrade-siegel-mehr.html

[18] Wir sprechen von "dem Kapital", weil dies im Kapitalismus den eigentlichen Akteur darstellt. Zwar sind es Managerinnen und Kapitaleignerinnen, die stellvertretend für das Kapital die rücksichtslose Profitlogik umsetzen und ihr oder das von ihnen verwaltete Vermögen in die Ausbeutung von Mensch, Tier* und Natur investieren, um es zu vermehren. Aber diese Personen sind austauschbar, und was mit dem Vermögen getan wird, ist relativ unabhängig davon, wer konkret damit hantiert.

[19] isw-Report Nr. 80: Kapitalmacht oder Pressefreiheit: Medien und Demokratie in Deutschland. Erhältlich unter www.isw-muenchen.de

[20] Diese klassenkämpferische Geschichtsperspektive wird u.a. im (Post-)Operaismus vertreten, welcher im deutschsprachigen Raum am häufigsten hier in der Grundrisse diskutiert wird. Das Kapital ist dabei nicht eine Ansammlung moralisch "böser" Menschen, sondern die Ausbeutungs- und Profitmaximierungslogik des Reichtums, welches sich selbst zu vergrößern trachtet und sich in den Handlungen von Großgrundbesitzern, Kapitaleignern, Managern aber manchmal auch kleineren Kapitalisten oder ihren Handlangern äußert. Die Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse ist in uns allen vertreten und tritt für das gute Leben je von sich selbst wie von allen gemeinsam ein. Verkörpert wird diese Klasse, oder weil sie sich nicht so scharf abgrenzen lässt auch Multitude genannt, durch alle, Arbeitende, Hausarbeitende, Arbeitslose, Migrantinnen, Geflüchtete, auch außerhalb des Arbeitsverhältnis Marginalisierte wie Schwule und Lesben, Bi- und Transexuelle, aber ein Stück weit auch durch die Seite in der Managerin oder der Kapitalistin, welche gegen die Profitlogik handelt, alles hinwerfen und aussteigen will. Kämpfende Äußerungen der Arbeiter(innen)klasse oder Multitude sind die Arbeiter(innen)bewegung und die sozialen und ökologischen Bewegungen aber auch unorganisierte Streiks und Sabotageakte, Aufruhr und Aufstände, mit all ihren Widersprüchen.

[21] Wie z.B. die Band "Rage against the Machine" trotz ihrer MTV-Laufbahn weltweit Jugendlichen antikapitalistische Motivationen näher brachte.

[22] https://www.facebook.com/AttilaHildmannOfficial

[23] http://www.zeit.de/community/2013-11/veganismus-social-media-blogs/seite-2

[24] http://www.schrotundkorn.de/2014/201403b01.php

[25] https://www.facebook.com/Antispeziesismusbuch

[26] Matthias Rude: Antispeziesismus. Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und der Linken, Stuttgart 2013, S. 84.

[27] Da die Endung mit "-isch" im Gegensatz zu der auf "-lich" meist negativ konnotiert ist (z.B. "kindisch" gegenüber "kindlich", "weiblich" gegenüber "weibisch"), verwenden wir hier das Wort "tierlich" statt "tierisch".

[28] Wir sollten uns beim Umgang mit Unter- und Mittelschicht bewusst bleiben, dass beide und vielleicht auch Teile der Oberschicht zu unserer Klasse gehören. Um uns die Ähnlichkeit der Situation, in der wir alle stecken, deutlich zu machen, hilft es aber auch manchmal die Unterschiede zu benennen: Prekarisierte Akademikerinnen werden wie Arbeiterinnen mit geringen Bildungsabschlüssen ausgebeutet, haben dabei aber einen vielfach erleichterten Zugang zu gesellschaftlich anerkannten Mitteln, wie gehobener Sprache, schulischen Titel, juristischem Vorgehen usw.

[29] Historisch nutzte beispielsweise das Vereinigte Königreich kurz nachdem sie selbst die Sklaverei abschafften, die Unmenschlichkeit von Sklaverei als Argument um ökonomisch interessante Länder, wie um die Jahrhundertwende das Ashanti-Reich in der Gegend des heutigen Ghana, oder das burische Südafrika zu erobern. Heute wird kriegerische Stimmung gegen geopolitisch interessante Länder wie den Iran unter der Fokussierung auf die Verletzung der Menschenrechte dort vor allem gegenüber Frauen geschaffen, während Saudi-Arabien, welches frauenrechtlich gesehen noch einiges schlimmer ist als der Iran, weiterhin Bündnispartner des Westens bleibt.

[30] http://www.buchmarkt.de/content/57190-media-control-jahrescharts-der-hundertjaehrige-siegt-erneut.htm;
http://www.schafschoki.de/shop/Sehen-Hoeren-Mehr/Buecher/Schrot-Korn-Vegan-Bio-Der-neue-Genuss-1-Stueck.html

[31] Common heißt Gemeingut. Es geht dabei um Güter die für möglichst alle zugänglich sein sollen und von unten verwaltet werden, wie Wohnprojekte, selbstverwaltete Kulturzentren, Genossenschaften usw. Die Idee ist, dieses Konzept auf möglichst viele Güter zu übertragen und so eine Vergesellschaftung ohne bürokratische Verstaatlichung zu erreichen. Anregungen:
http://arranca.org/ausgabe/41/die-commons-in-zeiten-der-cholera

[32] http://arranca.org/ausgabe/41/transformationen-des-kapitalismus-und-revolutionaere-realpolitik; http://arranca.org/ausgabe/47/eine-konstituierende-perspektive-radikaler-politik

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Stefan Bollinger:

Weltkrieg, "Urkatastrophe" und linke Scheidewege

Mit dem Niedergang von Realsozialismus und Ostblock wird Geschichte neu geschrieben. Lückenlos. Verorteten einst Marxisten-Leninisten in der Oktoberrevolution einen Epochenanfang, dem nachhaltigsten und gewaltsamstem Ausbruch aus dem 1. Weltkrieg - was unter je eigenen Vorzeichen als Beginn eines Weltbürgerkriegs bis in die Rechte hinein akzeptiert wurde -, so wird nun die "große Unübersichtlichkeit" der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart weit in die Vergangenheit transferiert. Zugleich wird Eric Hobsbawms Diktum vom "Zeitalter der Extreme"[1] in diesem ideologischen Kampf um Geschichtsdeutung und Sicherung der heutigen kapitalistischen Politik verfälscht: Es sei ja eine von linken wie rechten Totalitarismen geprägte Zeit, die erst mit der assistierten "Selbstbefreiung" des Ostblocks 1989/91 glücklich zu Ende ging.

Das Jubel- und Erinnerungsjahr 2014 wird so zur glücklichen Fügung, in der die Jahrestage von 1914, 1939 und 1989, dazu noch 2004 (EU-Osterweiterung) zusammenfließen. Die "Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur" kann so das Konzept dieser Erinnerungspolitik rechtzeitig festschreiben: "2014 lässt sich somit aufzeigen, wie die Geschichte von Demokratie und Diktatur im Europa des 20. Jahrhunderts miteinander verflochten sind. Der Blick auf die europäische Zeitgeschichte vermag das Verständnis dafür zu schärfen, dass die ökonomischen Probleme der europäischen Gegenwart vor dem Hintergrund der unseligen gemeinsamen Vergangenheit lösbar sind und gemeinsam gelöst werden müssen [...]. Eine Perspektive auf die europäische Zeitgeschichte, die die Jahre 1914/1939/1989 verbindet, kann dazu beitragen, die europäische Erinnerungskultur zusammen zu führen, in der die Teilung Europas vor 1989 bis heute fortbesteht."[2] Die Stiftung scheut keine Kosten und Mühen, das Jahr 2014 mit einer Wanderausstellung und reichlichem Druckmaterial zu begleiten. Gemeinsam mit dem Münchener Institut für Zeitgeschichte wird versprochen zu "zeigen, wie die 'Urkatastrophe' des 1. Weltkriegs mit ihrer Gewalterfahrung den Aufstieg der totalitären Bewegungen im 20. Jahrhundert begünstigt" habe. Letztlich erzählt die Ausstellung "Diktatur und Demokratie im Zeitalter der Extreme" "Europas 20. Jahrhundert als dramatische Geschichte zwischen Freiheit und Tyrannei, zwischen Demokratie und Diktatur"[3].

Dieser Weg des Triumphs der Demokratie muss kritisch unter die Lupe genommen werden, wozu sich das Jubiläum 1. Weltkrieg zwangsläufig anbietet. Dabei werden 2014 die Erinnerungen und (Neu-)Bewertungen des ersten großen Krieges des 20. Jahrhunderts zentral sein. Wobei ein nahtloser Übergang auch zu einer Erinnerung an den folgenden Weltkrieg Nummer Zwei als Revanche-Krieg des Verlierers wesentlich sein wird. Letzterer wird dabei zweifelsohne als ein Krieg beschrieben werden, der von zwei Paria der Weltgemeinschaft, von Hitlers Deutschland im Bündnis mit Stalins Sowjetunion verursacht wurde - gegen die Demokratien Europas. Beide Diktatoren werden als Produkt dieser Urkatastrophe deklariert. Nicht untypisch, wenn auch etwas grotesk ist das anekdotenhafte Beschreiben einer möglichen Begegnung des Bildermalers Adolf Hitler und des Berufsrevolutionärs Josef Stalin im Park des Wiener Schlosses Schönbrunn. Dank des hochgelobten Bestseller-Autor Florian Illies wird die sonst noch heile, obschon fragile Welt des Jahres 1913 zum Panoptikum glücklicher wie unglücklicher Intellektueller am Ende der Belle Époque, wird die totalitarismusschwangere, natürlich unbelegte Begegnung der künftigen Diktatoren zur ernst gemeinten Farce. So liefert auch das Feuilleton zeit- und termingerecht das Gewünschte.[4]

Streit um Geschichte ist Streit um Gegenwart

Diverse Historiker, eher Männer als Frauen, und Organisationen erinnern sich jener Ereignisse vor 100 Jahren, die damals und für die Zwischenkriegszeit, aber auch noch für die Auseinandersetzungen im und nach dem 2. Weltkrieg relevant schienen. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks sind die erledigt geglaubten Nationalismen wieder aufgetaut und schaffen neue Feindschaften. Gleichzeitig sucht eine künstlich belebte Europa-Euphorie einstige Gräben zuzuschütten, während dank Weltwirtschafts- und Euro-Krise teilweise genau in den damals als Pulverfass wirkenden Regionen diese Gräben und das Ringen um zumindest europäische Vormacht neu aufbrechen. Dabei zeichnen sich einige zentrale Verständnislinien ab, die für eine kritische, emanzipatorische Theorie, Geschichtspolitik und Politik eigentlich Anlass zum Gegenhalten sein müssten. Dies zumal, weil Anlässe und faktische Auslöser des Krieges - Stichwort Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 - wenig mit den tieferen Ursachen von Krieg und imperialistischer Konkurrenz zu tun haben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil selbst diese Attentats-Auswahl selektiv ist und zum Verständnis jener Konstellation von 1914 zumindest für die Linke ein zweites Attentat, jenes auf den französischen Sozialistenführer Jean Jaurès am 31. Juli in Paris, hinzugezogen werden müsste. Der vehemente Kriegsgegner wurde von einem Nationalisten - natürlich ungesühnt - ermordet, der Linken wie den Pazifisten ihre Grenzen gewiesen. "Kaltes Blut tut not", Jaurès Aufmacher für die "L'Humanité" von diesem Tage verhallte ungehört.[5]

In heutigen Sichtweisen auf den 1. Weltkrieg ist es schwierig, die wirklichen sozialen, ökonomischen, ideologischen und machtpolitischen Konstellationen zu erfassen, gar Grundmechanismen von Kapitalismus und Imperialismus. Einstige marxistische Darstellungen sind verdrängt und vergessen. Selbst ihre Autoren erinnern vor allem der Grenzen und Einseitigkeiten parteipolitischer Korrektheit.[6] Dadurch ging manch komplexerer Zug von Ereignissen, Organisationen und Personen verloren, weniger die klare sozioökonomische Verordnung des Krieges, seiner Anstifter und Profiteure.[7] Es gibt gute neuere Gesamtdarstellungen mit dem besonderem Schwerpunkt auf die politischen und militärpolitischen Aspekte,[8] es greifen konzentrierte Gesamtdarstellungen nicht zuletzt auch aus deutscher Sicht,[9] es gibt gar kritische Versuche linksliberaler Suche nach den Kriegsursachen[10], die aber schon jenseits des Mainstreams ihre Leser finden müssen.

Neuerdings überlagert eine gesteuerte Bestsellermanie um Christopher Clarks "Schlafwandler"[11] alle Diskussion jenseits einer historisch-kritisch, sozial-ökonomisch fundierten, geschweige denn marxistischen Analyse. Dagegen finden sich bei manchen Autoren, die die Kriegs- und Gewaltprozesse des 20. Jahrhunderts kritisch analysieren durchaus bedenkenswerte Einsichten[12] und der Blick auch auf die Kriegsgegner[13]. Hier können die für die politische und theoretische Auseinandersetzung mit dem Krieg relevanten Verständnislinien nur skizziert werden:

Erstens wird der Krieg von 1914 als Bruch in einer eigentlich friedlichen, demokratischen, sich gar sozialistisch-sozialdemokratisch entwickelnden europäischen Welt eines langen Friedens mindestens seit 1871 interpretiert. Ein genauerer Blick lässt erkennen, dass selbst diese eurozentristische Sicht bewusst in die Irre leitet. Der Focus richtet sich vor allem auf das Neben- und Zusammenleben dreier zivilisierter Mächte - Deutsches Reich, Frankreich, Großbritannien, dazu einige zentraleuropäischer Staaten. Da interessieren die permanenten Kriege an der Peripherie Europas, insbesondere auf dem Balkan nur insofern, als ihr erneutes Aufflackern 1911-1913 den Glutfunken für die Zündschnur zum großen Knall lieferte. Der Balkan und speziell die serbische Frage werden zum Nabel der Welt. In dieser Region trafen die unterschiedlichen Interessen der Großmächte aufeinander, insofern wirkte sie als Katalysator[14], aber eben nicht als Ursache dieser imperialistischen Konflikte. Dabei wird ausgeblendet, dass vermeintlich so zivilisierten Länder weltweit, mitunter gemeinsam, gelegentlich in Wettbewerb und Konfrontation Kriege in und um Kolonien und abhängige Gebiete führten. Jede der 1914 beteiligten Armeen, vom British Empire bis zum heimtückisch überfallenen neutralen Belgien, hatte Blut sehr ungleicher Kampfhandlungen in der später so apostrophierten 3. Welt an den Händen zu kleben. Es waren Kriege, die, wenn auch oft etwas verstiegen, für ökonomische Ziele, um Rohstoffe und Märkte geführt wurden. Die heute beschworene Friedensordnung der Vorkriegszeit ist die einer bis dato mehr oder minder austarierten Ordnung der Großmächte, die den langen Frieden vor allem als eine langfristige Vorbereitung auf einen künftigen Waffengang zur eigenen Expansion betrieben. Dafür rüsteten sie zu Lande und zur See, bald auch in der Luft und schmiedeten oft brüchige Allianzen - zwischen Dreibund (Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien) und Triple Entente (Frankreich, Russland, Großbritannien). Diese Bündnisse erwiesen sich im Ernstfall als nicht unbedingt zuverlässig (Italien schwenkt nach kurzer Neutralität 1915 zur Entente). Ausschlaggebend waren machtpolitische und wirtschaftliche Interessenlagen und vor allem Möglichkeiten. Die "Völkergefängnisse" Österreich-Ungarn, Osmanisches Reiches und Russisches Reich waren mit nationalen und sozialen Konflikten geschlagen. Sie suchten, ihre Einflusszonen zu behaupten, was sie speziell am Balkan aufeinandertreffen ließ - mit oft fragilen, aber reinweg kampfeslüsternen Verbündeten. Die zaristische Selbstherrschaft war zudem nach dem Krieg mit Japan und der Revolution von 1905 in ihren Grundfesten erschüttert. Andere einstige Großmächte in Europa (Spanien) oder in Asien (China) waren lange ausgeschaltet, hatten nach Niederlagen gegenüber den USA bzw. Japan kaum Spielräume. Mit beiden letzteren Mächten, vor allem der "virtuellen Großmacht" USA,[15] deutete sich eine in Europa nur vage, vielleicht als "gelbe Gefahr" erahnte grundsätzliche Machtverschiebung zu Lasten des alten Kontinents an. Frankreichs (trotz der Niederlage 1870) und Großbritanniens Macht und Kolonialreiche waren unumstritten. Ihre Probleme lagen in den Kolonien, für die Briten selbst am anderen Ufer der Irish Sea.

Indes trat seit 1871 das Deutsche Kaiserreich mit "Blut und Eisen" als neue Großmacht mit dem damals dynamischsten Wirtschaftswachstum, wachsendem Wohlstand und unbändigem Expansionsdrang auf die Tagesordnung. Was 1887 noch vage Zukunftsmusik schien, als der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow unter Bravo-Rufen der Reichstagsabgeordneten verkündete, "wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne"[16], war bald Realität - in den deutschen Rüstungsschmieden, die weltweit verkauften, in den deutschen Kasernen und nun auch auf den Ozeanen. Nach des Kaisers Palästinareise (1898) und vor allem dem Bau der Bagdad-Bahn (ab 1903), dem deutschen Engagement bei der Niederwerfung des Boxeraufstands 1900, der "Pazifizierung" der wenigen deutschen Kolonien, dem "Panthersprung" nach Agadir (1911) halfen auch die vermeintlich guten Verwandtschaftsbeziehungen der Herrschaftshäuser und die intellektuelle Freizügigkeit wenig. Der Kuchen musste neu verteilt werden. Ein russischer Revolutionär schrieb später: "Für den Imperialismus ist gerade das Bestreben charakteristisch, nicht nur agrarische Gebiete, sondern sogar höchst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (Deutschlands Gelüste auf Belgien, Frankreichs auf Lothringen), denn erstens zwingt die abgeschlossene Aufteilung der Erde, bei einer Neuaufteilung die Hand nach jedem beliebigen Land auszustrecken, und zweitens ist für den Imperialismus wesentlich der Wettkampf einiger Großmächte in ihrem Streben nach Hegemonie, d.h. nach der Eroberung von Ländern, nicht so sehr direkt für sich als vielmehr zur Schwächung des Gegners und Untergrabung seiner Hegemonie (für Deutschland ist Belgien von besonderer Wichtigkeit als Stützpunkt gegen England; für England Bagdad als Stützpunkt gegen Deutschland usw.)."[17] Berlin war eine akute politische Bedrohung für die anderen Mächte. Trotz einer achtbaren pazifistischen Friedensbewegung mit Bertha von Suttner, Norman Angell und anderen bürgerlichen Aktivisten, trotz einer sich antimilitaristisch und internationalistisch erklärenden Arbeiter_innenbewegung, trotz der Versuche, dem Krieg seine Schrecken durch internationale Verträge zu nehmen: Es war nur ein langer Frieden, in dem sich die Herrschenden, die Unternehmer, vor allem die Militärs und nicht wenige Intellektuelle auf einen neuen Krieg vorbereiteten. Zudem ist nicht zu übersehen, dass diese Friedensordnung zumindest im Herzen Europas mit dem Tod von zehntausenden Männern und Frauen der Kommune in Paris 1871 eingeleitet wurde. Über alle nationalistischen Dünkel hinweg wussten deutsche Autokraten wie französische Demokraten, dass der wirkliche Feind im Zweifel im eigenen Land gegen sie stehen wird. Die Kommunarden waren Opfer eines Klassenkrieges, der nun in neuer Weise neben die Kriege und Metzeleien der nationalistisch drapierten Eroberungskriege trat.

Zweitens ist das expansive Bestreben der meisten der Großmächte mit veränderten innenpolitischen Bedingungen verbunden. Starke Arbeiter_innenbewegungen und linke Parteien suchten Einfluss und Macht zu gewinnen. Sie taten dies mit unterschiedlicher Radikalität und waren mit differenzierten Gegenstrategien der Herrschenden konfrontiert. Zwischen der Russischen Revolution von 1905 und dem Millerandismus[18] des Klassenkompromisses lagen Welten. Beide Prozesse verweisen aber auch auf die Schwierigkeiten des Übergangs zum Monopolkapitalismus und den Konflikt zwischen revolutionärem oder reformistischem Strategien gegen den Kapitalismus wie den Gegenstrategien der Herrschenden. Noch schien die Sozialdemokratie entschlossen, die Verhältnisse umzustürzen und sah die Gefahr eines großen Krieges, der all ihre Fortschritte zunichtemachen würde. Dagegen waren sie grenzüberschreitend bereit zu kämpfen, wie der Stuttgarter Sozialistenkongress 1907 als Grundsatz festschrieb: "Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet ­..., alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen."[19] Dennoch war dieser Resolutionstext nicht unumstritten und vorsätzlich so vage gefasst. Sowohl die russischen Sozialdemokraten wollten Verschärfungen als auch die französischen. Letztere wollten die Kampfmethoden klar benannt haben. August Bebel wandte sich gegen "Uniformregeln". Wortreich wurde vor den Delegierten betont, dass die deutschen Sozialdemokratie dies "nicht aus Furcht vor Verfolgungen getan hätten". Vielmehr waren es "die Bedürfnisse der Partei [...], die uns veranlassten, eine andere Form zu wählen, die unseren Notwendigkeiten entsprach".[20] Sieben Jahre später wurde manches klarer, auch die Folgen des unabgeschlossenen Ringens mit revisionistischen und überzogen reformistischen Positionen. Die SPD war wie die Genossen in den meisten europäischen Staaten von den Aussichten des Parlamentarismus beeindruckt, begriff sich in weiten Teilen mehr und mehr als staatstragend. Dies, obwohl trotz erheblicher Stimmgewinne der Zugang zur Macht bis zum Kriegsende verwehrt bleiben sollte. Trotzdem wurden die Klassenkämpfe auch in den scheinbar zivilisierten europäischen Staaten oft hart ausgetragen, war der Einsatz der repressiven Gewalt schnell zur Hand. Nicht nur in Russland, auch in Deutschland schwebte die Gefahr einer gewaltsamen Unterdrückung ständig über der Linken.

Die Konkretheit der Analyse

Drittens verschwimmt dank vielfältiger Forschungen und dem Streben, eine andere Geschichtsinterpretation durchzusetzen wieder die Schärfe der Analyse zu Ursachen, Interessenlagen und Strategien, die schließlich zum großen Krieg führten. Bezeichnend ist die Einsicht Clarks, den nicht das Warum, sondern nur noch das Wie des Weges in den Krieg interessiert.[21] Letztlich dürfte seine aktuell hochgekochte "Schlafwandler"-These dominieren. Sie entspricht dem positivistischen Zeitgeist, bedient das Personalisieren von Geschichte, scheint Parallelen zu heutiger Politikinterpretation zu bieten - und wird massiv medial verbreitet. Überforderte Politiker (und heute auch Politikerinnen) schlittern in einen Krieg, in dem Sachzwänge alle Schritte bis hin zum großen Kladderadatsch vorbestimmen. Was bewegt da die lange Vorbereitung auf den Krieg, die Interessen der Rüstungsindustrie, was bedeutet da die militärstrategische, materielle, ideologische Zurichtung der Gesellschaften in allen Großmächten.[22] Wozu bedarf es da einer kritischen Hinterfragung des Chauvinismus und Militarismus, die keineswegs nur deutsche Spezifika waren. Da braucht es dann keiner Imperialismustheorien, keines John A. Hobson, keiner Rosa Luxemburg oder gar eines Wladimir Iljitsch Lenins - wobei letzterer im Krieg selbst dessen sozialökonomische Logik sezierte und beschrieb.[23] So bleibt kein Platz für die sozialökonomische Logik, die sich aus der imperialistischen Entwicklung, hier der großen Staaten, und ihren Interessenlagen ergab - die Expansion notwendig machte zumal für die, die zu spät gekommen waren. Dabei dominierte damals der offene militärische Einsatz, weniger das Setzen auf die ökonomischen Argumente eines stealth imperialism,[24] wobei dessen Methoden, wie der Bau der Bagdad-Bahn zeigte, durchaus bekannt und zielführend sein konnten. Allerdings auch mit der Sonderheit, dass das Deutsche Reich mit seinem Engagement im Nahen und Mittleren Osten sowie auf dem Balkan überfordert war. Indirekt stellt sich naturgemäß auch die Frage, ob 1918 die Phase des Imperialismus beendete, was heute Gemeinplatz ist, oder ob genau diese imperialistische, expansive Profitmacherei zum Wesensmerkmal kapitalistischer Politik und Wirtschaft gehört. Auf jeden Fall ging es nicht um das Retten der Demokratie und Verhindern despotischer Diktatur. Abgesehen davon, dass alle Kriegsparteien sich wahlweise jeweils der Demokratiefeindschaft bezichtigten - der Kaiser den Zaren, Paris und London den Kaiser usw. usf. machten alle Kriegsbeteiligten selbst den Weg zur faktischen Militärdiktatur durch.

Viertens stellt sich in diesem Kontext die Frage nach der Kriegsschuld. Im Zuge des Neuschreibens der Geschichte, zumal der deutschen, bahnt sich eine Entschuldung des Deutschen Reiches wie ihrer politisch und wirtschaftlich herrschenden Klassen an. Dabei steht die Frage nach der besonderen Verantwortung jener Mächte, die jenseits der zwar tödlichen, aber doch sekundären Konflikte auf dem Balkan tatsächlich Expansionsbedingungen global suchten. Das betraf zuerst jene, die zu spät gekommen waren, um ihren "Platz an der Sonne" zu gewinnen. Logischerweise war dies für das Deutsche Reich von zentraler Bedeutung und erst nach Jahrzehnten der Verharmlosung und Schuldleugnung mit Fritz Fischers "Griff nach der Weltmacht"[25] endlich geschichtsnotorisch gemacht. Genau dies wird heute in multikausalen Ansätzen aufgelöst. Der Versuch einer Neuaufteilung der Welt durch das zu spät gekommene Deutsche Reich entfesselte einen Weltkrieg, indem die anderen imperialistischen Mächte begierig und mit eigenen Interessen eingriffen. Darum standen Wilhelm II. und die Militärs der K.u.k.-Monarchie bei. Dass keiner der Beteiligten den Krieg bekam, den er wollte und den bald jubelnde Massen erhofften, lag in der Logik der Sache. Verständlich ist auch, dass diese Logik unter dem Eindruck der Nachgeschichte des 1. Weltkriegs und des Weges in den 2. zumindest für Deutsche kaum zu verdrängen sein sollte. Das allerdings ist eine zusätzlich Bürde, die dem Wunsch und der Realität deutscher nationaler Normalität und Hegemonie in der Gegenwart im Wege steht. Wer will schon immer die Pickelhaube und das Hakenkreuz vorgehalten bekommen, wenn deutsche Euros und Rettungsrezepte für Ordnung und Abhängigkeit sorgen. Immerhin könnte sich eine solche Sicht auf Normalität auf die weitsichtigen Europa-Ideen der Reichsleitung berufen. In seinen im September 1914 aufgeschriebenen Kriegszielen warb Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg "Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventl. Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren."[26] Davor stehe allerdings die dauerhafte Niederwerfung und Ausplünderung Frankreichs, das Herausdrängen Russlands einschließlich des Brechens der russischen "Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker", die Verwandlung Belgien in einen "Vasallenstaat", Annexionen in Frankreich (Erzbecken von Briey) und Belgien (Lüttich und Verviers), der Anschluss Luxemburgs usw.[27] Später machte Friedrich Naumann[28] diese Europa-Idee weiter hoffähig. Es schert heute wenig, dass sie bis 1945 zur deutschen Vorherrschaft und nach 1945 zur antikommunistischen Blockbildung gebraucht wurde, ohne das Linke wirklich dieses Europa zu prägen vermochten.

Freilich steht ein solches Betonen einer deutschen Kriegsschuld oder zumindest einer hervorgehobenen Mit-Schuld im Kontrast zu linker Politik. Für die war diese Frage im Unterschied zu den Konfliktgegnern sekundär - auch im Blick auf die Friedensbewegung und die Linke. Sie machten hier keine großen Unterschiede, trieben doch alle Mächte, ihre Unternehmer, ihre Intellektuellen zum Krieg. Für die Kriegspropaganda war die Schuldfrage relevant, gab sie doch Argumente für die Vaterlandsverteidigung für alle Kriegsbeteiligte. Insofern war sie auch für die SPD wichtig, die nun alle Marx-Zitate zum russischen Despotismus hervorkramte. Die Schuldfrage wurde mit der Frage von Despotie und Unterdrückung noch verstärkt - ob gegen Russland oder Deutschland gerichtet. Nicht zuletzt wurde die Schuldfrage durch die einseitige Belastung Deutschlands die Grundlage für den Friedensvertrag von Versailles 1919, der die Gründe für neue Konflikte und Vertreibungen bot, vor allem aber für den Revanchekrieg eines deutschen Faschismus ebnete.

Unbenommen von diesen Einschränkungen ist jedoch die besonders aggressive deutsche Kriegsführung: Mit dem Brechen der Neutralität von Belgien und Luxemburg, Kriegsverbrechen gegen vermeintliche Franc-tireurs, mit frühzeitigen Luftbombardements, der aktiven Hinnahme des Völkermordes an Armeniern durch die verbündeten Osmanen, den Abnutzungsschlachten á la Verdun, dem Ersteinsatz von Chemiewaffen und dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg schrieb Deutschland Kriegsgeschichte und beschleunigte den Weg der Massenvernichtung für das 20. Jahrhundert. Nicht zuletzt erprobte Deutschland im Osten ein perfektes System der Unterwerfung "neuen Lebensraumes" gegenüber den eroberten Slawen wie der bolschewistischen Gefahr.[29]

Gegen den Krieg, gegen den Kapitalismus

Das große Verhängnis des Krieges, das Zerplatzen aller Illusionen vom friedvollen Zusammenleben, aber auch von den Möglichkeiten einer organisierten proletarischen Bewegung war das Scheitern der Antikriegsbewegung(en) im August 1914. Es gab Resolutionen, Protestkundgebungen. Dann aber triumphierten Kriegspropaganda, Chauvinismus und Militarismus allerorten - auch unter Arbeitern und Arbeiterinnen, Parteimitgliedern und ihren Funktionären wie Intellektuellen - gleichwohl in Berlin, Wien, London, Paris oder St. Petersburg. Das Schicksal der bürgerlichen, pazifistischen Bewegung gehört dazu, aber noch mehr das Scheitern der Sozialdemokratie und der II. Internationalen. Sie ergriffen mit ihren Mitgliedern und Anhängern angesichts der Kriegsgefahr die Gelegenheit beim Schopfe, nun national und "staatstragend" werden zu können. Das galt für alle Linken mit der Ausnahme der Bolschewiki und der Bulgarischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Engsozialisten). Die erfolgreiche Manipulation der Gesellschaften und die nationalistische wie militaristische Verblendung wirkten in allen europäischen Ländern, aber eben auch in dem Land mit der stärksten Linken. Um den Preis der politischen Anerkennung durch die Herrschenden war hier die SPD in ihrer Mehrheit bereit, die Anti-Kriegspolitik auf dem "Feld der Ehre" zu opfern. Typisch ist jene Erklärung von Hugo Haase, dem Parteivorsitzenden, am 4. August 1914 bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten: "Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen [...]. Wir hoffen, dass die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor dem Kriege wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird." Davon "geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite".[30] In Deutschland fand sich hierfür der Begriff der "Burgfriedenspolitik", der aber nicht abdeckt, dass einflussreiche Sozialdemokraten sich längst in der Verantwortung für die bestehende Ordnung und längerfristige Reformen in ihr sahen. Wilhelm II. kannte nun sowieso keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.[31]

Allerdings bewegte die Kriegsgegner, zumal die Linke, die Kriegsschuld weniger, wenn man die Positionen der radikalen Kräfte rekapituliert. Sie waren überzeugt, dass allein der Kampf gegen die jeweiligen nationalen Kriegstreiber Frieden bringen konnte. Dass hier die radikale Linke Lenins vorpreschte und die letzte Konsequenz der Umwandlung der imperialistischen Krieges in eine Revolution beschritt, war eine Option, die dann tatsächlich eine neue historische Situation mit Chancen wie Risiken eröffnete. In Konfrontation mit den anderen linken Parteien und im Bruch mit erheblichen Teilen der sich zur "Vaterlandsverteidigung" bekennenden Sozialdemokratie in Russland ließ Lenin keinen Zweifel, dass der reaktionäre Charakter des Krieges und seine sozialen Folgen die Stimmung anheizen würden. "Es ist unsere Pflicht, diese Stimmungen bewusst zu machen, zu vertiefen und ihnen Gestalt zu geben. Diese Aufgabe findet ihren richtigen Ausdruck nur in der Losung: Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg, und jeder konsequente Klassenkampf während des Krieges, jede ernsthaft durchgeführte Taktik von 'Massenaktionen' muss unvermeidlich dazu führen. Man kann nicht wissen, ob eine starke revolutionäre Bewegung im Zusammenhang mit dem ersten oder mit dem zweiten imperialistischen Krieg der Großmächte, ob sie während des Krieges oder nach dem Kriege auf flammen wird, jedenfalls aber ist es unsere unbedingte Pflicht, systematisch und unentwegt in eben dieser Richtung zu wirken."[32] In der Konsequenz unterschiedlich wird das Umfallen der Sozialdemokratie im Sommer 1914 zum Ausgangspunkt für eine dauerhafte Spaltung der organisierten Arbeiter_innenbewegung und zum Bruch zwischen reform- und revolutionsorientierten Linken, zw ischen Sozialdemokraten und Kommunisten, wie sie bald heißen sollten. Mit den Konferenzen in Zimmerwald und Kienwald 1915 bzw. 1916 formierte sich mühsam eine internationale linke Zusammenarbeit gegen den Krieg und das Preisgeben der linken Friedensziele. In Deutschland war dies der Weg über die Gruppe Internationale, den Spartakusbund und die USPD bis hin zur Gründung der KPD. Karl Liebknecht, dessen Ablehnung der Kriegskredite am 2. Dezember 1914 endlich auch im Reichstag den offenen Bruch mit der Kriegspolitik und der SPD-Politik demonstrierte und Rosa Luxemburg wurden in Deutschland zu den herausragenden, aber auch verfolgten Führern einer Antikriegsbewegung und einer Neuformierung der Linken. Haase brach schließlich auch mit der SPD, wurde Mitbegründer der USPD und wie die beiden anderen 1919 Opfer eines Mordanschlages.

Zu den wichtigsten Erfahrungen dieser sich reorganisierenden antimilitaristischen, internationalistischen Arbeiter_innenbewegung wie auch pazifistischer Kräfte und vieler einfacher Soldaten, Bürger und Bürgerinnen, insbesondere der Arbeiterfrauen gehörte, dass Widerstand schwierig, aber möglich war. Das belegt nicht allein das private Ausbrechen von tausenden Soldaten Weihnachten 1914 [33] oder das Handeln anarchistischer Arbeiter[34] und die vielfältigen Protest- und Widerstandshandlungen desillusionierter, oft schlich hungernder Frauen und Jugendliche. Dazu gehörten in deutscher Perspektive die Streiks 1916, 1917, der Munitionsarbeiterstreik 1918, der Aufstandsversuch in der Hochseeflotte 1917. In Österreich kam es 1918 zum Jännerstreik, hinter den französischen Linien wurde 1917 gemeutert und gestreikt, selbst im fernen Australien gab es im gleichen Jahr einen Generalstreik. Nicht zuletzt erwiesen sich die russischen Revolutionen 1917, vor allem die Oktoberrevolution mit ihrem "Dekret über den Frieden", als wichtige Katalysatoren von Antikriegsbewegung wie sozialem Umbruch.

Urkatastrophe als Zäsur und Katalysator

Set drei Jahrzehnten macht der Begriff "Urkatastrophe" als Synonym für den 1. Weltkrieg seine Runde. Georg F. Kennan, einst einer der "Erfinder" des Kalten Krieges, kam in seinem späteren Leben zu Einsichten, die nicht nur die Blockkonfrontation als Irrweg ansahen. Er untersuchte auch den Zusammenbruch jener feingestrickten, auf Ausgleich bedachten Sicherheitsarchitektur des alternden Reichskanzlers Otto von Bismarck, die seine Nachfolger angesichts der sich neu eröffnenden globalen Perspektiven so leichtfertig zerstörten. In diesem Kontext schrieb er: "Viel später, nach Jahren im kommunistischen Russland und nationalsozialistischen Deutschland und angesichts des Phänomens des Zweiten Weltkrieges, wurde mir klar, in welch überwältigendem Maß die entscheidenden Zeiterscheinungen der Spanne zwischen den beiden Kriegen - der russische Kommunismus und der deutsche Nationalsozialismus - wie auch der Zweite Weltkrieg selbst das Resultat jener ersten großen Vernichtungskatastrophe von 1914/1918 waren: Die Rache der Natur, wenn man so will, für das entsetzliche Verbrechen am Ablauf des menschlichen Lebens, das jene Massenvernichtung dargestellt hatte; jedoch, wie das offenbar in der Natur liegt, eine Rache an einer späteren, unschuldigen Generation. So kam ich dazu, den Ersten Weltkrieg so zu betrachten, wie ihn viele denkenden Menschen zu sehen gelernt haben: als die Ur-Katastrophe dieses Jahrhunderts, das Ereignis, in dem stärker als in irgendeinem anderen - mit Ausnahme der Entdeckung von Kernwaffen und der Entwicklung der Bevölkerungs- und Umweltkrise - Versagen und Niedergang unserer westlichen Zivilisation begründet liegen."[35] Auch wenn diese Ereignisse nicht als Naturprozesse, sondern als in der Natur einer profitdominierten Gesellschaft gesehen werden, in denen jedoch die politischen und sozialen Akteure ihre eigenen Entscheidungsspielräume haben, bleibt dieser besondere Charakter des Einschnitts von 1914/18 und seiner revolutionären wie konterrevolutionären Nachwehen. Dass dieser Krieg nur Teil einer Gesamtgeschichte, einer globalen Durchsetzung des Kapitalismus war, könnte unstrittig sein.[36] Hilfreich ist allerdings, genauer Einschnitte und neuen Qualitäten zu benennen, die diesen Krieg so prägend für die imperialistischen Rivalitäten und Klassenkämpfe einschließlich der alsbaldigen Systemauseinandersetzung mit den kommunistischen Ausbrechern machen sollte. Der Weltkrieg wirkte tatsächlich als "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts. Und dies in mehrfach:

Zunächst war er der Beginn eines ungeheuren Zivilisationsbruchs, in dem Massenarmeen Krieg führten und in hoch industrialisierten, vermeintlich zivilisierten Ländern Verfahren der industrialisierten Massentötung - noch vor allem als Kriegsinstrument - praktizierten. Gewalt wurde Alltag für Millionen Männer und Frauen in Europa und zeitgleich in weiten Teilen der Welt. Die mühsam in den vorhergehenden Jahrzehnten gewachsene zivilisatorische Kruste zerbrach, Gewalt wurde selbstverständlich und so wurden alle anderen Konflikte in der Folge offen oder verdeckt ausgetragen oder drohten ausgetragen zu werden.

Gleichzeitig brachte dieser Krieg und das Verhalten der Linken ein verhängnisvolles, dauerhaftes, bis heute wirkendes Schisma zwischen vermeintlich staatstragend-reformorientierten, aber eben "vaterlandsverteidigenden" Linken und jenen hervor, die keine Alternative zum revolutionären Beenden von Krieg und Kapitalismus mehr sahen. Darüber hinaus ist festzustellen, so bedeutsam die Antikriegsaktivitäten während des Krieges waren, ihre Zuspitzung fanden sie regelmäßig und letztendlich im Versuch, bei teilweisem Erfolg einer gewaltsamen Antikriegspolitik durch Aufstände und schließlich Revolutionen. Vor allem brachte der Krieg den zumindest versuchten radikalen Bruch mit jenen, die für ihn verantwortlich gemacht wurden. Tatsächlich rollten die Kronen über das Pflaster und eine ganze Periode revolutionärer Aufbrüche und ihrer konterrevolutionären Niederschlagung durchzogen Europa, aber auch Kolonien und abhängige Länder.[37] Schließlich formierte sich in diesem gewaltsamen Ringen der extremste politische Ausdruck diese Urkatastrophe, faschistischer Bewegungen und Diktaturen, die den Weg in Richtung Sozialismus und umfassenderer Demokratisierung aufhalten wollten. Schlussendlich. Die Fortsetzung dieses Krieges und seines ungerechten Friedens von Versailles war in diesem Gemisch von Bekämpfung der Linken, neuem Nationalismus und Revanche die konsequente Folge. Dazu kann der Zusammenhang zu dem Revanchekrieg von 1939 hergestellt werden, in dem nun ein faschistisches Deutschland mit seinen Verbündeten die Folgen von Versailles und Russischem Oktober korrigieren wollte und gleichzeitig seinen Chauvinismus und Antisemitismus tödlich über Europa, Nordafrika und Asien zu stülpen suchte. Das wäre allerdings ein neues Kapitel, das vielleicht mit dem Ende des Kalten Krieges und der staatlich organisierten radikalen Linken geendet haben könnte.

Jupp Schleifstein hatte kurz nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus auf die Gemeinsamkeiten der Krisen der Linken ab 1914 und ab 1989 verwiesen.[38] Dieser Ansatz ist anregend. Denn von der radikalen Linken damals im harten Ringen in Gestalt kommunistischer Parteien und sich sozialistisch verstehender Revolutionen gefundene Lösungen haben sich als so problematisch erwiesen, dass sie das Material für den Zusammenbruch 1989/91 lieferten. Unverkennbar ist allerdings, dass der Rückblick auf das linke Versagen 1914 vor allem hochaktuelle Fragen offenbart, auf die es wieder keine einfachen Antworten - zumal nach den anderen Ereignissen des 20. Jahrhunderts - gibt: Wie "staatstragend" darf linke Politik im Kapitalismus sein, wieweit kann sie mit den Herrschenden zusammengehen, ohne sich zu verbiegen? Kann im Interesse eines gesicherten Platzes in Gesellschaft und politischem System die Analyse der kapitalistischen Ordnung, ihres Profitprinzips wie ihres Expansionismus, ihres Imperialismus abgeschwächt werden? Bedeutet das Verlagern der expansiven Züge der Profitrealisierung weg von offener militärischer Gewalt zu den Formen struktureller, nicht zuletzt ökonomischer Gewalt ein Ende des Imperialismus? Wie ernst muss linke Politik ihren antimilitaristischen, friedensorientierten Anspruch nehmen, wo sind mögliche Zugeständnisse zu machen? Wie muss linke Politik zu jenen Begründungen für militärische Mittel stehen, in denen es um die Verteidigung von Demokratie, Menschenrechten oder um die Beseitigung der Unterdrückung anderer Völker und Gruppen geht? Kann Europa bei einem gegebenen Kräfteverhältnis ein linkes Projekt sein? Die Ursachen und Kämpfe des 1. Weltkrieges harren ihrer (Wieder-)Aneignung durch emanzipatorische Bewegungen. Manch gesicherte antiimperialistische Erkenntnis ist mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus leichtfertig begraben worden. Es ist eine Zeit des Kampfes um Frieden und eines Kampfes um das politische Profil einer Linken. Es ist aber auch die Zeit der verhängnisvollen Entwicklung von Fortschritts- und Demokratiefeindlichkeit, von Konterrevolution und Terror.



Anmerkungen

[1] Siehe Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München-Wien 1995.

[2] Wanda Ott/Ulrich Mählert: Editorial, in: Aufarbeitung aktuell. Ein Newsletter der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Berlin 2012, H. 2, S.1.

[3] Diktatur und Demokratie im Zeitalter der Extreme. Streiflichter auf die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Eine Ausstellung des Münchner Instituts für Zeitgeschichte und der Bundesstiftung Aufarbeitung. o.O. o.J. (Berlin-München 2013), S.2 -
http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/uploads/2014-ausstellung/werbeflyer_web.pdf [09.11.2013 17:46].

[4] Siehe Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2012.

[5] Siehe Volker Ullrich: Krieg dem Krieg. Ein Leben lang kämpfte Frankreichs Sozialistenführer Jean Jaurés gegen das große Morden - am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde er in Paris erschossen, in: Die Zeit. Hamburg 2009, H. 37, S.88.

[6] Siehe Fritz Klein: Die Weltkriegsforschung der DDR, in: Gerhard Hirschfeld/ Gerd Krumeich Irina Renz, (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn-München-Wien-Zürich 2009, akt. u. erw. Studienausgabe, S.315-319.

[7] Siehe umfassend Fritz Klein: Deutschland im Ersten Weltkrieg. 3 Bd. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Fritz Klein. Berlin 1970/71; Neuausgabe Leipzig 2004.

[8] Siehe u.a. Gerhard Hirschfeld/ Gerd Krumeich Irina Renz, (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. A.a.O.; Stephan Burgdorff/Klaus Wiegrefe (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. München 2004; Sönke Neitzel: Weltkrieg und Revolution 1914-1918/19. Berlin 2008; Oliver Janz: Der Große Krieg. Frankfurt/M. - New York 2013.

[9] Siehe z.B. Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918. Stuttgart 2002, 10., völlig neu bearb. A.; Jürgen Angelow: Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europas 1900-1914. Berlin-Brandenburg 2010.

[10] Siehe Luciano Canfora: August 1914. Oder: Macht man Krieg wegen eines Attentats? Köln 2010.

[11] Siehe Christopher M. Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013.

[12] Siehe z.B. Michael Howard: Der Krieg in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zu den neuen Kriegen der Gegenwart. Bonn 2010, 2., akt. A.; James J. Sheehan: Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden. Bonn 2008.

[13] Siehe Adam Hochschild: Der Große Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg 1914-1918 [Originaltitel: To End all Wars. A Story of Loyalty and Rebellion]. Stuttgart 2013.

[14] So die durchgängige Argumentation Christopher M. Clarks: Die Schlafwandler. A.a.O., z.B. S.703.

[15] Eric Hobsbawm: The Age of Empire. 1875-1914. London 1989, S.23.

[16] Bülow, Bernhard von: Deutschland und Haiti - Kiautschou. Sitzung des Reichstages vom 6. Dezember 1897, in: Fürst Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik. Mit Erlaubnis des Reichskanzlers gesammelt und hrsg. von Johannes Penzler. 1. Bd. 1897-1903. Berlin 1907, S.8.

[17] Wladimir Iljitsch Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriss, in: ders.: Werke. Bd. 22, Berlin 1960, S.273.

[18] Der Sozialist Alexandre Millerand trat 1899 in eine bürgerliche Regierung als Minister ein, fünf Jahre später trennte sich seine Partei von ihm. Seine Person und der Millerandismus standen um die Jahrhundertwende im Zentrum innerlinker Auseinandersetzungen nicht nur in Frankreich. 1914/15 war er französischer Kriegsminister.

[19] Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart, 18. bis 24. August 1907. Berlin 1907, S.66.

[20] Ebd., S.67.

[21] Siehe Christopher M. Clark: Die Schlafwandler. A.a.O., S.17.

[22] Siehe exemplarisch zur Wirkungsweise dieser Nationalismen u.a. Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918. Frankfurt/M. 1997; Jakob Vogel: Nationen im Gleichschritt. Der Kult der "Nation in Waffen" in Deutschland und Frankreich 1871-1914. Göttingen 1997; Sabine Grabowski: Deutscher und polnischer Nationalismus. Der Deutsche Ostmarken-Verein und die polnische Straz 1894-1914. Marburg 1998; Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Berlin und Paris im Vergleich. München 1999.

[23] Siehe Stefan Bollinger (Hrsg.): Imperialismustheorien. Historische Grundlagen für eine aktuelle Kritik. Wien 2004.

[24] Chalmers Johnson: Blowback. The Costs and Consequences of American Empire. New York 2001, S.65.

[25] Siehe Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Königstein/Ts. 1979, 2. A. [1967, 1. A.].

[26] Aus den ganz geheimen Richtlinien Theobald v. Bethmann Hollwegs vom 9. September 1914 über die Kriegszielpolitik und dem Begleitschreiben des Reichskanzlers an Staatssekretär Clemens Delbrück, in: Dokumente zur deutschen Geschichte 1914-1917. Hrsg. vom Dieter Fricke. Bearbeitet von Willibald Gutsche. Berlin 1976, S.44.

[27] Ebd., S.43/44.

[28] Siehe Friedrich Naumann: Mitteleuropa. Berlin 1916.

[29] Siehe Vejas Gabriel Liulevicus: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonialisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2002; Carola Sachse (Hrsg.): "Mitteleuropa" und "Südosteuropa" als Planungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege. Göttingen 2010.

[30] Aus der Erklärung des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Hugo Haase, im Namen der sozialdemokratischen Fraktion zur Bewilligung der Kriegskredite im Reichstag am 4. August 1914. In: Dokumente zur deutschen Geschichte 1914-1917. A.a.O., S.30. Erklärung und Person stehen aber auch für die Zwiespältigkeit der Situation, dann Haase hatte sich vehement gegen die sozialdemokratische Unterstützung des Krieges gewandt. Die Führungsgremien votierten anders und der Ko-Vorsitzende (neben Friedrich Ebert) exekutierte die Beschlusslage.

[31] Siehe mit unterschiedlichen Bewertungen u.a. Jürgen Kuczynski: Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie. Chronik und Analyse. Berlin 1957; Susanne Miller: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Düsseldorf 1974; Heinz Niemann: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie 1914-1945. Berlin 2008.

[32] Wladimir Iljitsch Lenin: Sozialismus und Krieg (Die Stellung der SDAPR zum Krieg), in: A.a.O. Bd. 21. Berlin 1960, S.314.

[33] Siehe Michael Jürgs: Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten. München 2003.

[34] Siehe z.B. Helge Döhring: Syndikalismus in Deutschland 1914-1918. "Im Herzen der Bestie". Lich/Hessen 2013.

[35] George F. Kennan: Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875 bis 1890. Frankfurt/M. - Berlin-Wien 1981, S. 11f.

[36] Siehe kritisch Aribert Reimann: Der Erste Weltkrieg - Urkatastrophe oder Katalysator?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zu Das Parlament. Bonn. 2004. H. B 29-30, S.30-38.

[37] Das hatte schon 27 Jahre zuvor Friedrich Engels prophezeit: ders.: Einleitung [zu Sigismund Borkheims Broschüre "Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807"], in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 21. Berlin 1975, bes. S.350f.

[38] Siehe Josef Schleifstein: Historische Krisen und ihre Verarbeitung. Das Beispiel des August 1914 [Erstdruck 1990], in: Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Essen. 2012, H. 91, S.126-131.

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Jannik Eder:

Schuld ohne Sühne

Die Streitfrage um eine mögliche Komplizenschaft Frankreichs mit dem Völkermordregime Ruandas ist 20 Jahre nach den Massakern immer noch aktuell. Dies liegt vor allem an den militärischen Verstrickungen Frankreichs in diesem Konflikt begründet.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges fand das "kurze 20. Jahrhundert" (Eric Hobsbawn) sein Ende. Die zwei alles überschattenden Ereignisse dieses Jahrhunderts waren die zwei großen Katastrophen, der Erste und der Zweite Weltkrieg, die mit diesem Jahr ihren 100. bzw. 75. Jahrestag erreichen. Von Seiten der Politik werden solche Jahrestage gern zum Anlass für staatliche Zeremonien genommen, die erinnern und zugleich mahnen sollen. "Nie wieder!" schallt es dann aus den Mikrofonen, in die die PolitikerInnen ihre Gedenkreden vortragen. Nur drei Jahre nach dem Ende des kurzen 20. Jahrhunderts kam es allerdings schon zur nächsten Katastrophe - und auch diese hat mittlerweile ihren 20. Jahrestag begangen: In Ruanda startete am 6. April 1994 der systematische Völkermord durch extremistische Hutu an 800.000 bis zu einer Million Tutsi und gemäßigten Hutu. Gleichzeitig kann diese Tragödie bis dato als der krasseste Widerspruch zur "Nie Wieder!"-Losung gesehen werden. Der Völkermord in Ruanda, so ist es heute weitgehend Konsens, stellte der internationalen Gemeinschaft ein moralisches Armutszeugnis aus, da trotz der theoretischen Möglichkeit, keine praktischen Unternehmungen gemacht wurden, um die Massaker zu verhindern.

Der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi war zunächst in den Augen von nicht wenigen eine innerafrikanische Angelegenheit; oft wurde das Ganze in exotistischer Manier als "Stammesfehde" interpretiert, oder besser gesagt: abgetan. Doch die Metropolstaaten Europas, die USA und die internationalen Organisationen wie UN und NATO waren nicht einfach außenstehende Akteure. Besonders Belgien, die ehemalige Kolonialmacht Ruandas, und das traditionell am afrikanischen Kontinent sehr präsente Frankreich waren schon lange eng in die Entwicklungen des Landes verstrickt. Daneben unterhielten zahlreiche andere Staaten, wie z.B. Deutschland, nicht nur im Rahmen der klassischen Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch über Militärkooperation, enge Verbindungen nach Ruanda.[1] Nun ist gegenwärtig vor allem in Frankreich der Völkermord von 1994 immer noch ein spannungsgeladenes Thema, das für Diskussionen und Kontroversen sorgt. Das liegt insbesondere daran, dass bis heute nicht eindeutig geklärt ist, inwiefern Frankreich sich nicht wie viele andere Akteure schlicht passiv verhielt und somit die Katastrophe geschehen hat lassen, sondern vielmehr aktiv am Kampfgeschehen teilgenommen hat. Die staatlichen Dokumente über die französische Ruanda-Politik rund um den Völkermord, die solche Fragen zum Teil beantworten könnten, unterliegen nach wie vor der Geheimhaltung.

Das bisher letzte Kapitel über das Verhältnis von Ruanda und Frankreich, welches vor allem diese Frage nach Frankreichs Rolle kurz vor und während des Genozids beinhaltet, wurde im April dieses Jahres geschrieben. Ruandas Präsident Paul Kagamé warf Frankreich vor, am Genozid mitschuldig zu sein. Frankreich bestreitet eine Mitschuld seit jeher und reagierte erwartungsgemäß verstimmt. Der eigentlich vorgesehene Besuch der Justizministerin Christiane Taubira an der Gedenkveranstaltung zum 20. Jahrestag wurde abgesagt.[2] Nach ein wenig Hin und Her nahm schließlich mit dem Botschafter Michel Flesch doch ein offizieller Repräsentant Frankreichs an der Veranstaltung in der ruandischen Hauptstadt Kigali teil. Der ganze Streit zeichnete sich bisher zumeist durch gegenseitige Anschuldigungen, darauf folgende Dementi und einigen diplomatischen Zwist aus. Bei einer genaueren Betrachtung lässt sich allerdings durchaus nachvollziehen, dass die Frage nach der Rolle Frankreichs in Ruanda immer wieder für Kritik und Skepsis sorgt.

Weitgehend bekannt ist, dass Frankreich in und nach der Entkolonialisierungswelle der 1950er und 1960er stets versuchte, seine Interessen am afrikanischen Kontinent zu wahren. Unabhängigkeitsprozesse sollten möglichst kontrolliert ablaufen um die französische Vormachtstellung nicht zu gefährden. Das Konzept "La Françafrique" sah vor, mit den ehemaligen Kolonien und anderen französischsprachigen Staaten Sonderbeziehungen zu etablieren, die eine fortwährende militärische Präsenz und den Zugriff auf wichtige Rohstoffe garantierten.[3] Dafür vonnöten waren selbstverständlich pro-französische Regierungen. Deshalb versuchte Frankreich systematisch Einfluss zu gewinnen und Abhängigkeiten zu schaffen. Dieses Anliegen Frankreichs wurde in manchen Fällen von militanten Oppositionsbewegungen torpediert, welche von der französischen Regierung einem pro-sowjetischem Spektrum zugerechnet wurden. Zur Bekämpfung dieser Gruppen und zur Eindämmung des "kommunistischen" Einflusses entwickelte man die so genannte "Französische Doktrin", auch bekannt als "anti-subversiver Krieg".

Diese militärische Methode kam zum ersten Mal im Algerien-Krieg zum Einsatz. Denn eine Erkenntnis der führenden französischen Militärs aus der Niederlage im Indochina-Krieg war, dass in solchen asymmetrischen Konflikten den gegnerischen Guerilla-Streitkräften mit den konventionellen Formen der Kriegsführung nicht beizukommen war. Die neue Militärstrategie umfasste ein reichhaltiges methodisches Set: von der "Eroberung" der Bevölkerung durch Propagandamaßnahmen, über die (Aus-)Bildung von zivil-militärischen Organisationsformen wie Milizen, bis zu "schmutzigen" Praktiken wie systematischer Folter, Attentate, Entführungen, Ermordungen und geheimen Militäroperationen wurden verschiedenste Maßnahmen ergriffen um in "kleinen Kriegen" effektiv Erfolge erzielen zu können.[4] [5] Die Anwendung dieser größtenteils menschen- und völkerrechtswidrigen Methoden im Algerien-Krieg sorgte bei der französischen Öffentlichkeit und auch darüber hinaus zwar für Empörung, aber dennoch fanden die Techniken des anti-subversiven Krieges Eingang in eine Vielzahl weiterer Konflikte.[6] Das Konzept wurde quasi exportiert und bald darauf in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen Argentiniens und Chiles angewandt, wobei französische Veteranen oft eine beratende Rolle einnahmen. Vor allem erfreuten sich die Praktiken bei den Militärs und Nachrichtendiensten Großbritanniens und der USA großer Beliebtheit und wurden über die Jahrzehnte stetig weiterentwickelt.[7] Das Resultat dieser Entwicklungen sind nicht nur rechtsfreie Zonen und Foltergefängnisse wie in Abu Ghuraib, sondern auch eine dem neoliberalen Duktus entsprechende Auslagerung militärischer Tätigkeiten an paramilitärische Organisationen.

Doch zunächst zurück nach Ruanda. Für das Land ergab sich in der Entkolonialisierungsphase folgende Situation: Nachdem das Land zusammen mit Burundi ein Teil von "Deutsch-Ostafrika" bildete, gelangte es 1919 per Völkerbund-Mandat unter Kontrolle von Belgien. Die Kolonialzeit legte auch den Grundstein für die späteren Konflikte. Die drei Gruppen der Hutu, Tutsi und Twa waren eng miteinander verbunden, sprachen die gleiche Sprache und hatten dieselben kulturellen und religiösen Sitten. Keine Gruppe besaß ein einzelnes Gebiet. Anfang und Mitte der 1930er war der Plan der belgischen Kolonialmacht die Bevölkerungsgruppen Ruandas zu kategorisieren. Aufgrund des Mangels anderer Bestimmungskriterien, begannen die Kolonialherrscher die Menschen Ruandas anhand der Anzahl ihrer Rinder einzuteilen. Von hier an gehörten alle erwachsenen Männer einschließlich ihrer Familien, die mehr als zehn Rinder besaßen, zum "Volk der Tutsi" (ca. 10% der Bevölkerung). Diejenigen, die weniger als zehn Rinder besaßen wurden als "Volk der Hutu" (ca. 90%) bestimmt und diejenigen, die keine Rinder besaßen gehörten zum "Volk der Twa" (ca. 1%).[8] Die nun erfolgte ethnische Zuordnung wurde in den Ausweisdokumenten festgehalten.[9] Belgien herrschte nach dem Divide-et-Impera-Prinzip und pflegte eine Partnerschaft mit den Tutsi. Damit wurde ein feudal-rassistisches System gefördert, in dem eine kleine Elite der Tutsi zur Befehlsausführung benutzt wurde. Ab Mitte der 1950er fand allerdings ein Bündniswechsel hin zu einer Zusammenarbeit mit den Hutu statt. In diesem Zusammenhang traten die gesellschaftlichen Spannungen offen zu Tage. Es kam zu ersten Verfolgungen und Massakern der Hutu gegen die Tutsi. Die neu-gebildete Partei Parmehutu machte die Tutsi für den jahrelangen politischen Ausschluss der Hutu verantwortlich. Es wurde der Gedanke propagiert, dass die Tutsi ihre Wurzeln nicht in der Region Zentralafrikas hätten, sondern eine zugewanderte, fremde "Rasse" seien, die die Hutu unterdrücken. An die 150.000 Tutsi flüchteten in diesen Jahren in die Nachbarländer Uganda und Burundi. Im Jänner 1961 übergab Belgien die Macht an eine provisorische Regierung unter Führung der Parmehutu. Am 1. Juli 1962 wurde Ruanda offiziell unabhängig. Als 1963 die Tutsi einen Aufstand wagten um die Macht wiederzuerlangen, wurde dieser blutig niedergeschlagen und es kam zu einem Bürgerkrieg. Dabei fanden bereits ethnische Säuberungen statt.[10]

Belgien war in der Folge politisch nicht mehr stark genug um weiterhin eine Vormachtstellung auszufüllen. Stattdessen engagierte sich Frankreich nun mehr in Ruanda, welches zum frankophonen Bereich und somit zum französischen Interessensgebiet gehörte. Als sich Juvénal Habyarimana 1973 an die Macht putschte und ein Einparteienregime errichtete, war es Frankreich, welches das Regime als erstes offiziell anerkannte, auch wenn die systematische Diskriminierung der Tutsi weiterging. Man sah sich sozusagen als "Demokratisierungshelfer" und die Beziehungen wurden über die Jahre ausgebaut.

Im Laufe der 1980er verdichteten sich in Ruanda krisenhafte Tendenzen: Missernten und Dürreperioden sowie der Einbruch des Weltmarktpreises für Kaffee (Ruandas wichtigstem Exportgut) sorgten für enorme ökonomische Schwierigkeiten. Zudem hatte das flächenmäßig kleine Ruanda mit einer hohen Bevölkerungsdichte zu kämpfen.[11] Ebenso brachten die Reformen hin zu einem Mehrparteiensystem viele Veränderungen in Ruandas Politikbetrieb und der neue Pluralismus destabilisierte die Stellung der Machthabenden.[12] In diesen Zeitraum fielen die ersten militärischen Angriffe der Rwandan Patriotic Front (RPF), eine Bewegung, die sich aus den geflüchteten Tutsi in Uganda gegründet hatte. Ihre zentralen Forderungen waren ein Ende der Tutsi-Diskriminierung sowie die Möglichkeit der Rückkehr aller vertriebenen Tutsi. Aus der Perspektive Frankreichs war man also mit der Frage konfrontiert, ob man das Regime in Kigali angesichts eines sich anbahnenden Bürgerkriegs stützen will. Die Entscheidung, dem Habyarimana-Regime auch weiterhin zur Seite zu stehen, ließ nicht lange auf sich warten. Einerseits wollte man ein Zeichen der Verlässlichkeit setzen, das anderen verbündeten Regierungen signalisieren sollte, dass Frankreich seine Partnerländer nicht hängen lässt - auch wenn man dabei mit VerbrecherInnen paktiert.[13] Andererseits sah Frankreich bei einem Sieg der RPF anglophone Einflüsse auf den Vormarsch in ein Gebiet, das frankophon geprägt war. Denn die RPF hatte ihre Ausgangsbasis im englischsprachigen Uganda und stand zu Teilen in Verbindung mit dem ugandischen Regime. Im Falle eines Umsturzes in Ruanda hätte gemäß der Domino-Theorie als nächstes das rohstoffreiche Zaire (heutige Demokratische Republik Kongo) von Frankreich abfallen können.[14] Alles in allem galt es für Frankreich also einen Regimewechsel in Ruanda zu verhindern.

Und hier schließt sich der Kreis zu den vorherigen Ausführungen. Frankreich war militärisch bisher nicht selbst in den Bürgerkrieg verstrickt. Dennoch wurde das Szenario als eine Art Stellvertreterkrieg gesehen, bei dem das frankophone Gebiet gegen eine aufständische Bewegung verteidigt werden musste. Zur Abwehr bediente man sich wieder aus dem Methodenkoffer des "anti-subversiven Krieges". Ab 1990 intensivierte Frankreich die militärische Kooperation mit Ruanda. Diese umfasste zum einen die Ausbildung und Ausrüstung ruandischer Streitkräfte - also auch jener Milizen, die später den Genozid durchführen sollten. Das Milizsystem in Ruanda entstand folglich unter Mitwirkung französischer Experten. Zwischen 1990 und 1994 waren zeitweise an die 150 Militärberater im Land tätig, die finanzielle Militärhilfe in diesen Jahren betrug jährlich etwa 20 Millionen Francs.[15] Zum anderen waren französische Soldaten bald aktiv in die Kämpfe eingebunden. Nachdem die RPF die ruandische Regierungstruppen am 1.10.1990 angegriffen hatte, trafen bereits am 3.10.1990 die ersten französischen Truppen in Kigali ein. Ebenso wie belgische Soldaten, hatten diese offiziell die Aufgabe, für die Sicherheit der eigenen Staatsangehörigen zu sorgen. Darüber hinaus übte das französische Militär aber einige weitere Aufgaben aus: immer wieder standen die RPF-Rebellen in den Gefechten nicht nur Hutu-Kämpfern gegenüber, sondern auch französischen Elitesoldaten. Berichtet wurde zum Beispiel von französischen Offizieren, die Kampfhubschrauber flogen und nicht auf nur Kämpfer der RPF, sondern auch auf die Zivilbevölkerung schossen.[16]

Der besonders bedrückende Aspekt ist jener, dass Frankreich all diese Unternehmungen anstellte, obwohl es relativ klar ersichtlich war, welche besorgniserregenden Dynamiken sich in Ruanda entwickelten. Dass die sozialen Proteste gegen die von den Kolonialmächten erst institutionalisierten Ungleichverhältnisse zwischen Tutsi und Hutu nicht selten in Pogrome mündeten, war bereits bekannt. Ebenso konnte nicht unbemerkt geblieben sein, dass die rechtsextremistische Hutu-Power-Bewegung mittlerweile keinen Hehl mehr daraus machte, dass ihr Ziel die Vernichtung der Tutsi sei. Die Stimmung im Land war offensichtlich extrem bedrohlich - dies konstatierte auch der in Kigali weilende französische Militärattaché und kommunizierte in mehreren Schreiben an seine Regierung, dass in Ruanda ein Vorspiel zum organisierten Völkermord stattfand. Trotz aller Erkenntnisse entschied Frankreich aus geopolitischen Motiven heraus, dem verbündeten ruandischen Regime beizustehen und die RPF als Gegenspielerin zu sehen. Nach offiziellen Angaben fand nach Ausbruch des Völkermordes nur eine einzige militärische Operation von Seiten Frankreichs statt, bei der zwischen 8. und 14. April französische StaatsbürgerInnen ausgeflogen wurden. Jedoch ranken sich über einzelne Geschehnisse viele Spekulationen. So ist bis heute etwa unklar, wer für den Abschuss des Flugzeugs von Präsident Habyarimana verantwortlich ist. Der Tod des Präsidenten markierte den Auftakt für den organisierten Völkermord. Die neue Regierung des Landes bildete sich währenddessen einige Tage später in den Räumlichkeiten der französischen Botschaft. Auch ungeklärt sind manche pikante Details, zum Beispiel, warum Paul Barril, ein ehemaliger Mitarbeiter des Elysée-Palasts, im Mai 1994 mit der ruandischen Regierung einen Vertrag über 3,3 Millionen Dollar mit dem Titel "Opération insecticide" (deutsch: "Operation Insektenvernichtungsmittel") abschloss.[17]

Nach zwei Monaten des Wegschauens durch die internationale Gemeinschaft entschied die französische Regierung auch auf Druck der Öffentlichkeit, die "Opération Turquoise" als humanitäre Intervention zu starten. Die Konfliktparteien sollten dabei getrennt und den Opfern geholfen werden. Groteskerweise wurden die französischen Truppen in Ruanda herzlich willkommen geheißen - von Milizen und Soldaten der Hutu. "Vive la France!" hieß es beim Einzug des französischen Kontingents, denn die Extremisten waren bis dahin der Meinung, die Franzosen seien "Waffenbrüder".[18] Dies zeigt bereits, dass der humanitäre Charakter dieser Operation in Frage gestellt werden muss. Die hochgerüstete Truppe "versäumte" es nicht nur in vielen Fällen, tatsächlich bedrohte Menschen zu schützen und somit Leben zu retten, sondern hatte die Aufgabe Stellungen der RPF auszukundschaften. Eine weitere Erkenntnis ist, dass die Operation vor allem dazu diente, den Abzug der Milizen zu decken und führenden Mitglieder aus dem Hutu-Regime die Flucht ins Ausland zu ermöglichen, als die RPF im Juli 1994 Kigali einnahm.[19]

Frankreichs Rolle im ruandischen Konflikt ist in dieser Hinsicht durchaus eine äußerst dubiose. Aussagen wie solche, dass man dem Grauen ein Ende bereiten wollte, dabei aber "aus Versehen" auf der falschen Seite stand, wirken nur verzerrend. Frankreich versuchte vielmehr auf einem zu weiten Teilen intransparenten und inoffiziellen Weg postkoloniale Befindlichkeiten zu befriedigen. Dass Frankreich und andere Akteure des globalen Nordens für Katastrophen kleineren und größeren Ausmaßes in aller Welt oft eine elementare Mitverantwortung tragen ist allerdings eine Einsicht, die nicht überraschen mag. Frankreich und seine Kooperation mit dem Völkermordregime in Ruanda ist deshalb nur eine von vielen Geschichten, aus denen abgelesen werden kann, welche militärstrategischen Anstrengungen Großmächte unternehmen um ihre geopolitischen Einflusssphären zu wahren.



Anmerkungen

[1] Ein interessanter Bericht zur Rolle Deutschlands lässt sich hier nachhören:
http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiofeature/genozid-in-ruanda-100.html

[2] http://www.jeuneafrique.com/Article/ARTJAWEB20140405193338/christiane-taubira-genocide-rwandais-paul-kagame-rwanda-rwanda-la-france-annule-sa-participation-aux-commemorations-du-genocide.html

[3] Schmid, Bernhard (2011): Frankreich in Afrika. Eine (Neo)Kolonialmacht in der Europäischen Union zu Anfang des 21. Jahrhunderts. Münster: Unrast Verlag. 29

[4] Schmid, Bernhard (2014): Frankreich - Ruanda. Auch ein französisches Verbrechen. In:
http://www.trend.infopartisan.net/trd0414/t280414.html

[5] Klose, Fabian (2011): Antisubversiver Krieg. Militärstrategische Transferprozesse im Zeichen der Dekolonialisierungskriege. In: Bührer, Tanja / Stachelbeck, Christian / Dierk, Walter (Hg.): Imperialkriege von 1500 bis heute. Strukturen, Akteure, Lernprozesse. Paderborn, München, Wien, Zürich: Verlag Ferdinand Schöningh. 483-501

[6] Die Methoden führten letztlich zwar nicht zu einem Sieg Frankreichs, aber die Militärs waren dennoch von ihrer Wirksamkeit überzeugt

[7] ebd.: 483ff., 500f.

[8] Muyombano, Célestin (1995): Ruanda. Die historischen Ursachen des Bürgerkrieges. Stuttgart: Verlag Stephanie Naglschmid. 27f.

[9] Dies machte es den Hutu-Milizen später um einiges einfacher ihre Opfer anhand des Vermerks im Ausweis zu identifizieren

[10] Schmid 2011, 112ff.

[11] Schmid 2011, 117

[12] Mehler, Andreas (1994): Geschichte und Gegenwart der ruandischen Tragödie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Jg. 39, H. 8

[13] Schmid 2014, o.S.

[14] Schmid 2011, 119

[15] Mehler 1994, o.S.

[16] Muyombano 1995, 83

[17] Schmid 2014, o.S.

[18] Muyombano 1995, 86

[19] Schmid 2011, 101

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Karl Reitter:

Nichts geht mehr

Zum Propagandadebakel der Mainstream Medien im Falle der Ukraine

Dieser kleine Artikel hat bloß den Anspruch, das bemerkenswerte Debakel der Mainstream Medien rund um die Geschehnisse in der Ukraine zu dokumentieren. Ein Debakel, das in dieser Form und in diesem Ausmaß nicht zu erwarten war. Ich beginne mit einem kurzen Rückblick auf die Ereignisse.

Nachdem der regulär gewählte und als kompetenter Verhandlungspartner akzeptierte Staatspräsident Wiktor Janukowytsch (auch Viktor Janukowitsch geschrieben) das geplante Abkommen mit der EU im November 2013 platzen ließ, erhöhte sich der Druck im Wochentakt. Einerseits nahmen die Proteste in Kiew qualitativ und quantitativ an Stärke zu, zugleich agierten VertreterInnen der USA und der EU, nicht zuletzt die deutsche Diplomatie, immer fordernder und drohender. Der Ausdruck Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates ist fast Understatement; arrogant und aggressiv sollte der Regierung in Kiew diktiert werden, was sie zu tun und zu lassen hätte. Zu den Forderungen zählte auch die sofortige und bedingungslose Freilassung der ehemaligen Staatspräsidentin Julija Tymoschenko (andere Schreibweise: Julia Timoschenko). Dem doppelten Druck der EU einerseits und dem immer militanteren Straßenprotesten hielt das Regime nicht stand, am 22. Februar flüchtete Wiktor Janukowytsch. Schon vorher konnte kaum kaschiert werden, dass der Einfluss rechtsradikaler, ja faschistoider Kräfte Woche um Woche zunahm. Dieser Einfluss steigerte sich nach dem Sturz von Janukowytsch offenbar noch, da diese Organisationen Positionen der Staatsmacht erringen konnten und nicht zuletzt die gewählten ParlamentarierInnen nach ihren Gutdünken drangsalierten. Ohne durch parlamentarische Wahlen oder Abstimmungen legitimiert zu sein, zog die an die Macht gespülte Regierung eine Reihe von Gesetzen durch, wie die de facto Legitimierung bewaffneter Banden und die Verwässerung des Sprachengesetzes von 2012, das der russisch sprechenden Minderheit bestimmte Rechte sicherte. Am 21. März 2014 wurde das Kooperationsabkommen mit der EU unterzeichnet. So ganz reibungslos erfolgte die Integration der Ukraine in die ökonomische und militärische Vorherrschaft der EU und der NATO doch nicht, in einem Referendum am 16. März stimmte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim für die Loslösung von der Ukraine und den Anschluss an Russland. Die schwache und zweifellos in sich gespaltene neue Regierung in Kiew konnte dem nichts entgegensetzen. Die Forderung von Tymoschenko, die NATO sollte militärisch eingreifen, verhallte ohne Reaktion. Im Osten des Landes nahm der Widerstand der pro russisch orientierten Bevölkerung zu, wobei diese ähnliche Methoden anwandten, wie zuvor die Oppositionen, also Plätze und offizielle Gebäude besetzte. Russland wurde aktive Teilnahme an den Protesten, ja deren Organisation unterstellt. Die martialischen Rufe nach Krieg gegen Russland des vorläufigen Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk, sind zum Glück unerhört verhallt. Dazu dürfte die Niederlage an der (Des)Informationsfront auch ein winziges Scherflein beigetragen haben. So weit in aller Kürze die allgemein bekannten Eckdaten der Entwicklung der letzten Monate.

Was mich geradezu verblüffte war das erstaunliche oder vielleicht doch nicht so ganz erstaunliche Propagandadebakel der Mainstream Medien, wobei ich mich auf die Situation in Österreich und Deutschland beziehe; es wäre spannend zu wissen, wie sich die Situation in anderen Ländern, insbesondere in den angrenzenden osteuropäischen Staaten, darstellt. Hierzulande war das Schauspiel wahrlich beeindruckend. Mit Verve wurde ein Szenario entworfen, in dem auf der einen Seite der korrupte und autoritäre Oligarch Janukowytsch offenbar mit dem autoritären Herrscher Putin im Bunde, positioniert wurde. Auf der anderen fanden wir das nach Demokratie und Freiheit strebende, aufopfernd kämpfende Volk. Julija Tymoschenko fungierte dabei als Märtyrerin und Mahnmal zugleich. Dass die offiziöse Presse schon längst im Gleichschritt agiert ist nichts neues, aber im Falle der Ukraine war der Gleichklang besonders beeindruckend. Wenn ich mich nun auf die österreichische Zeitung Der Standard beziehe, so kann deren Agitation als exemplarisch verbucht werden. Der Standard ist das neoliberale Sprachrohr hierzulande. Bei Fragen die Drogen, Migration oder dem Gebaren der österreichischen Justiz schreibt dieses Blatt in einem guten Sinne liberal, also gegen die hysterische Dämonisierung von Cannabis, gegen plumpen Alltagsrassismus (solange sich die Betroffenen nicht all zu sehr wehren), gegen krasse Fehlurteile bei Gericht. Geht es aber ans Eingemachte, so ist die Marschrichtung klar: pro neoliberal umgeformten Kapitalismus. So auch im Falle der Proteste in Kiew. Alle Register wurden gezogen. Da durften Experten diverser Think Thanks nachdenkliche Analysen über die obsolete, historisch zum Scheitern verurteilten Perspektive der damaligen Regierung vorlegen, ukrainische KünstlerInnen und Intellektuelle schrieben herzergreifende Pamphlete mit dem Tenor: "Wir verteidigen eure Werte". AktivistInnen vor Ort geißelten die offenbare Gleichgültigkeit der Menschen hierzulande gegenüber den blutenden FreiheitskämpferInnen. Je mehr der Charakter der hegemonialen Kräfte auf dem Maidan klar wurde, desto mehr legte sich Der Standard ins Zeug. Ein Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Kiew durfte erklären, so schlimm sei das mit den rechtsradikalen Kräften auch wieder nicht, diese habe die Zivilgesellschaft durchaus im Griff. Eine Studentin aus der Ukraine, die sich offenbar ein Studium in Salzburg, einer der teuersten Städte Österreichs leisten kann, beschwor erneut die Kluft zwischen Freiheit und Despotie.[1] Der Gipfel der Peinlichkeit war ein Interview mit SchülerInnen einer deutschsprachigen Schule in Lemberg, satte 450 km von Kiew entfernt. "Hier in Lemberg wollen alle zur EU - und wir wollen Janukowitsch im Gefängnis sehen!" lässt Der Standard eine 15jährige Schülerin ins Mikrofon plaudern.[2] Selbst nachdem offenbar dem Dümmsten klar werden musste, dass der Propagandakrieg verloren war, legte Der Standard nach. Nun war es die Kunst, die retten sollte. "Binnen fünf Wochen gelang es, eine Ausstellung mit der künstlerischen Produktion rund um die Maidan-Proteste in Kiew zu füllen."[3], jubelte am 14. April Michael Freund.

In den Kommentar- und Postingspalten jedoch wehte den SchreiberInnen jedoch ein kalter Wind ins Gesicht. Das ist keineswegs der Normalfall. Bei vielen Fragen ist die neoliberale Hegemonie (nicht nur) in dieser Zeitung ungebrochen. Plädiert etwa ein selbsternannter Experte regelmäßig für die Anhebung des Rentenantrittsalters, so ist ihm mehrheitlicher Applaus gewiss. Im vorliegenden Falle jedoch kamen die Argumente nicht durch. Auf "Wir verteidigen eure Werte" wurde höhnisch geantwortet, ja ja, diese Werte kennen wir schon, sozialer Kahlschlag und maximaler Profit. Auf Freiheit für Tymoschenko wurde mit der Frage nach den Quellen ihres erstaunlichen Reichtums geantwortet. Die Jubelberichte über die aufopfernde Opposition wurden mit Bildern und Videos faschistoider Banden konterkariert. Dem Gezeter über die angebliche Illegalität der Abstimmung auf der Krim wurde die Illegalität der Regierung in Kiew entgegengehalten und so nebenbei auf das Kosovo verwiesen, für das offenbar ganz andere Kriterien gelten würden, als für die Krim.

Nachdem die Existenz und der Einfluss rechter und faschistoider Banden nicht mehr zu leugnen war, vollzogen die Mainstream Medien einen bemerkenswerten Schwenk. Deren Aktivitäten waren ja nicht mehr zu kaschieren, ganz offen prügelten Abgeordnete der ultrarechten Opposition vor laufenden Kameras im ukrainischen Parlament auf einen unliebsamen Konkurrenten ein, die Aufstellung einer Nationalgarde, aus Freiwilligen und sogenannten Maidan Selbstverteidigungsgruppen spricht ebenfalls eine eindeutige Sprache. In einem vom russischen Geheimdienst abgehörten und auf Youtube veröffentlichten Telefonat von Tymoschenko mit Nestor Schufritsch, einem ukrainischen Abgeordneten, stößt sie mehrere martialische Drohungen gegen ihre Gegner aus, die, wenn ich das mit etwas Süffisanz sagen darf, sie nicht gerade als bedächtige und auf Ausgleich bedachte Politikerin porträtiert. Auch mit der Krim war kaum noch Stimmung zu machen. Dass der Ausgang der Abstimmung der tatsächlichen Meinung der überwiegenden Mehrheit entsprach, konnte nicht bestritten werden. Zwar wurden Parallelen mit der Deportierung der Krim Tataren durch Stalin 1944 suggeriert, aber selbst fanatische KampfschreiberInnen verwarfen die Prognose, dieses würde sich nun aufgrund des Beitritts der Krim zu Russland 70 Jahre später wiederholen. Wohl wurde der eine oder andere 80jährige traumatisierte Krim-Tatare vor die Kamera gezerrt, aber so richtig glaubt doch niemand an einen neuen Genozid. Nun kam der Schwenk zu Putin und seiner psychischen Verfasstheit. Im wunderbaren Song Weil ma so fad is ..., gesungen von Helmut Qualtinger, gibt es die Strophe: "Und dann später wors wiera Kommando: Jeder schalnt se wie Marlon Brando". An diese Liedzeile musste ich angesichts des verblüffenden Gleichklangs des Schwenks in den Medien denken. An die Stelle von Marlon Brando trat die Psyche des Herrschers im Kreml und seine finsteren Expansionspläne. Die Ukraine und die dortigen Verhältnisse traten aus den Augen, aus dem Sinn. Nun wurde über diese ernst blickende Figur spekuliert, analysiert und psychologisiert was das Zeug hielt. Nun hießt es: Stoppt Putin, stoppt Russland. Dass primär auf den Umsturz in der Ukraine und die ökonomischen und vor allem militärischen Folgen reagiert hat - zuvor agierte Russland in den üblichen diplomatischen Bahnen und Gepflogenheiten - dieses Faktum wurde schlichtweg verleugnet. Indem nun Russland im Fokus stand, wurde aus einem betroffenen und herausgeforderten Staat der Aggressor und Drahtzieher. Der Schwenk von der Unterstützung einer vorgeblich demokratischen und freiheitsliebenden Bewegung zum Bedrohungszenario sollte retten, was noch zu retten war, so nach dem Motto, wenn uns schon niemand mehr den emanzipatorischen Charakter der Maidan Bewegung abkauft, präsentieren wir unserem Publikum wenigstens ein runderneuertes Feindbild.

Warum dieses Debakel?

Falls meiner Auffassung zugestimmt wird stellt sich die Frage nach dem Warum.[4] Ich stelle einige Überlegungen zu Diskussion, die dieses Phänomen erklären könnten. Einen Hintergrund finden wir in der offensichtlichen Nichtmobilisierbarkeit der Menschen für solche Fragen. Was meine ich damit? Der steigende gesellschaftliche Druck auf die alltäglichen Lebensbedingungen lässt die Frage, wer denn nun in Kiew tatsächlich die Regierung stellt angesichts des verschärften Kampfes ums Dasein verblassen. Es ist tatsächlich ein Moment der Einsicht, wenn auch oftmals nicht bewusst formuliert, dass es kaum einen Unterschied für die Situation im Job, in der Ausbildung, für die Lebensperspektive im allgemeinen und den vielen Problemen und Sorgen im besonderen macht, ob nun die Janukowytsch, Tymoschenko oder sonst wer das Zepter in Kiew schwingt. Letztlich ging und geht es bloß um die Auswechslung von Eliten und Oligarchien, die kaum Auswirkungen auf die reale Lebenssituation der Massen hat. Was selbst für die Ukraine nur für eine schmale Schicht von Profiteuren Bedeutung hat, wird jenseits der Grenzen der Ukraine zur Fußnote. Nicht zu Unrecht wird bürgerliche Politik als eine dem Alltag entrückte Sphäre wahrgenommen. Insbesondere jene, die unter Erwerbarbeitslosigkeit, Hartz IV Gesetzen oder miesen Verhältnissen am Arbeitsplatz leiden, nehmen an Parlamentswahlen kaum mehr teil und erleben Politik als Spektakel, analog zu Olympiaden oder Weltmeisterschaften. Ein Teil der Linken beklagt dies als fehlendes Bewusstsein, ein anderer feiert dies als ersten Schritt in Richtung einer substanziellen Kritik an Parlamentarismus und Politik als bürgerliches Schauspiel. Lassen wir erstmals beide Ansichten auf sich beruhen. Fakt scheint jedenfalls zu sein, dass die Formen der kapitalistischen Verhältnisse mehrheitlich als selbstverständlich und unhintergehbar akzeptiert werden, die Mobilisierung pro oder contra spezifischer Inhalte jedoch ein Minderheitenprogramm darstellt. Klarerweise gibt es die Engagierten, aber das alltägliche Alltagsleben, wenn ich diesen Pleonasmus verwenden darf, wird vom aktiven politischen Engagement kaum durchdrungen.

Einen weiteren Mosaikstein meine ich im Charakter des Putin Regimes zu erkennen. Während zur Zeiten des Kalten Krieges die Sowjetunion sowohl ihrem eigenen Selbstverständnis nach als auch in den Fremdzuschreibungen als sozialistisch oder gar kommunistisch tituliert wurde, stellt Russland heute einfach ein weiteres autoritär geführtes kapitalistisches Land dar, so wie viele andere auch. Wohl wurde seinerzeit von großen Teilen der Linken mit guten Gründen der emanzipatorische oder gar kommunistische Charakter der Sowjetunion bestritten, aber so ganz konnte man der Geiselhaft nicht entkommen. Wer nur irgendwie links denkt, musste sich quasi mit diesem Regime identifizieren. Dementis gegen diese Zuschreibung drangen nur schwer durch. Die demagogische Alternative Freiheit oder Sozialismus war durchaus diskursbildend. Aber gegenwärtig? Putin steht für keine gesellschaftliche und politische Alternative. Daher zeigt auch die Propagandadrohung, wer nicht für die inzwischen siegreiche Opposition ist, sei auf der Seite der russischen Staatsführung, so wenig Wirkung. Seinerzeit besaß das "geh doch rüber" einen kleinen aber doch plausiblen Kern, immerhin war die Sowjetunion aus der Russischen Revolution entstanden. Aber heute steht Russland, im Gegensatz zu China, nicht einmal für einen kapitalistischen Sonderweg. Was konnte also dem skeptischen Publikum, welches die Propaganda der Mainstream Medien mit Kritik, Spott und Hohn quittierte, unterstellt werden? Dass Russland, sein Wodka oder die Weiten Sibiriens so geliebt werden? Dass man heimlich Sympathien für autoritäres aber entschlossenes Durchgreifen empfindet? Dass Kritik am Putsch in der Ukraine und den Strategien der EU und der USA keineswegs besondere Sympathien für das Regime in Russland impliziert, wurde als Denkunmöglichkeit gehandelt. Putinversteher seien sie alle, phantasierte die Mainstream Presse und nahm damit dem spöttelnden Publikum die Maske vom Gesicht. Erneut war es Der Standard, der zu einem rhetorischen Mittel griff, das jeder ernsthaften Debatte unwürdig ist: der Drohung mit der ungewollten Einheitsfront mit dem Bösen. Auch Marine Le Pen würde das Vorgehen des Westens kritisieren und Lob für Putin spenden.[5] Komisch, so richtig gruselte es niemandem ob dieser entlarvten Wahlverwandtschaft mit der Front National. Zweifellos wurde auch aus rechten und rechtspopulistischen Motiven gegen die Darstellungen in den Mainstream Medien opponiert, schließlich geht es ja um den Einfluss der EU und den USA in diesem Raum. Aber das Misstrauen durchgehend als rechts motiviert darzustellen ist schlichtweg demagogisch und unkorrekt. Für ganz entscheidend halte ich das Faktum, dass sich niemand mehr für dumm verkaufen lassen möchte. Medien zu misstrauen ist nicht per se links oder rechts, es ist einfach dem Bedürfnis nach halbwegs korrekter Information geschuldet. Sehr interessant und bezeichnend ist der Umstand, dass nun viele Interessierte beginnen, selbst zu recherchieren. Dank der Informationsmöglichkeiten die das Internet bietet, wurde zum Beispiel die Rede von den gefangenen OSZE Mitarbeitern als Falschmeldung entlarvt. Bei den inzwischen freigelassenen Geißeln in der Ostukraine handelt es sich nachweislich nicht um Personen, eine offizielle Mission im Auftrage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Sinne der Friedenssicherung zu erfüllen hatten, sondern um eine "bilaterale Mission unter Führung des Zentrums für Verifikationsaufgaben der deutschen Bundeswehr",[6] wie es offiziell dann hieß. Das hinderte Den Standard nicht daran trotz der nachgewiesenen Unrichtigkeit weiterhin "OSZE-Beobachter"[7] zu schreiben.

Eine weitere, wesentliche Ursache meine ich in der sich öffnenden Kluft zwischen den vollmundigen Begründungen und Argumenten der westlichen Mächte, allen voran der USA, und den tatsächlichen Handlungen und Folgen eben dieser zu erkennen. Ein Beginn dieses Debakels waren zweifellos die nicht auffindbaren Massenvernichtungswaffen Saddam Hussein. Was als Befreiung vom Wiedergänger Hitlers, (so eine seinerzeitige Bezeichnung durch deutsche Boulevardzeitungen), angekündigt wurde, erwies sich nach abertausenden von ermordeten und ums Leben gekommenen Iraker und Irakerinnen als blanke Besetzung; Foltergefängnisse und jede Menge grausamer Willkür von bezahlten Söldnertruppen inklusive. Eine nächste Station war zweifellos Libyen. Ein ölreiches Land, ein unberechenbarer und unkalkulierbarer Herrscher von Altersstarrsinn und politischem Abenteurertum gebeutelt; ausgezeichnete Gründe für die wesentlichen Mächte dieses Regime zu stürzen. Erneut mit der Begleitmusik von Freiheit und Friede untermalt. Diese neue Freiheit, die nicht zuletzt die Situation der Frau deutlich verschlechterte, entpuppte sich als bewaffnete Rivalität konkurrierender Gruppen just zu jenem Zeitpunkt, zu dem mit sehr vergleichbaren Argumenten die Maidan Bewegung eben jenen Charakter zugesprochen bekam wie zuvor die Opposition im libyschen Bengasi. Ein weiterer Aspekt waren zweifellos die Enthüllungen von Edward Snowden. Dass der war on terror bloß einen Freibrief für halblegales, ja oftmals illegales Durchgreifen insbesondere von us-amerikanischen Institutionen darstellt, war ja nicht unbekannt. Aber dass eine gigantische Organisation Namens NSA systematisch das gesamte Internet, den Telefonverkehr und den sonstigen Datentransfer ausspioniert, inklusive dem Mobiltelefon der deutschen Bundeskanzlerin, das war doch in diesem Ausmaß nicht unbedingt zu erwarten. Dass die USA jahrelang Geheimgefängnisse betrieb in denen mit Duldung und Billigung der höchsten Regierungskreise Folter zum Alltag gehört, erwies sich bloß als erster Stein in einer Kette von Enthüllungen. Solche Gefängnisse gab (?) es unter anderem in Polen, deren derzeitiger Außenminister Radoslaw Sikorski als Kronzeuge für die finsteren Ränke Russlands auftritt. Dass die US Behörden großzügig verkündigten, Edward Snowden würde ihm im Falle seiner Rückkehr in die USA keine Todesstrafe drohen, zeigt ja an, dass zumindest offen daran gedacht wurde.

Über die Übernahme und die Kopie linker Aktionsmethoden

Diese Niederlage an der Propagandafront kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es erstmals nach 1945 auf europäischem Boden erfolgreich gelang, eine gewählte Regierung zu stürzen, deren Legitimation dem üblichen westlich parlamentarischen Standard entsprach. Und zwar keineswegs bloß mit den bekannten CIA Methoden, wie sie etwa 1973 in Chile zum Einsatz kamen, sondern auch mit kopierten Methoden des linken Widerstandes. Demonstrationen und Platzbesetzungen, ein primär friedlicher Widerstand der sich auf die Kraft von Argumenten und Enthüllungen stützt und nicht zuletzt die Pluralität innerhalb der Bewegung als positiv einschätzt - solche Vorgehensweisen wurden von der Linken in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder praktiziert. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Buch von Gene Sharp, Von der Diktatur zu Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung. Penibel werden in zehn Kapiteln alle Möglichkeiten und taktischen Schritte für den Sturz von Regime durchbesprochen, wobei sich der Autor auf seine Erfahrungen in der sogenannten Demokratiebewegung in Myanmar[8] stützt. Soziale und ökonomische Verhältnisse existieren in diesem Buch nicht, von einer selbst noch so zart angedeuteten Kapitalismuskritik ist nicht einmal in den Fußnoten die Rede. Dass eine nach Demokratie strebende Bewegung auch soziale und ökonomische Forderungen beinhalten müsse, existiert in der Welt des Herrn Sharp nicht. Ganz klar, diese Schrift kann auch probat in den links regierten Ländern Lateinamerikas eingesetzt werden. Der politizistische Formalismus dieser Schrift ermöglicht dies problemlos. Worauf will ich mit der Erwähnung dieses Buches hinaus? Zumindest zu Beginn der Proteste gegen die Regierung Janukowytsch erinnerte die Form der Agitation zweifellos an linke Strategien. Die Linke hatte sich, soweit ich informiert bin, nie vollständig und schon gar nicht blindlings mit der Maidan Bewegung identifiziert. Sie hat stets die Frage gestellt, welche Kräfte denn dort tatsächlich am Werk waren. Aber so mache meinten doch einen vertrauten Stallgeruch zu schnuppern. Nämlich den Stallgeruch eines linken Protestes, wobei die Form, eben das Verweilen im öffentlichen Raum das entscheidende Signal darstellte.[9] Niemand kann eine Bewegung herbeizaubern, auch nicht mit bedeutenden Geldsummen. Aber im Falle der Ukraine ist es offensichtlich, dass die westlichen Mächte, allen voran die USA und Deutschland, massiv Einfluss über zivilgesellschaftliche Kanäle ausübte. Den herrschenden Mächten stehen dabei eine ganze Reihe von Institutionen und Vereinigen zur Verfügung. Die Ereignisse in der Ukraine zeigen, dass die herrschenden Klassen auch auf ihr zivilgesellschaftliches Klavier vertrauen. Und dies besitzt viele Tasten. Zu nennen wären vor allem die diversen Think Thanks und die NGOs. Ein Akkord erklingt mittels respektabler Institutionen, die mit Expertise, Beziehungen, Geld und Schulungen zivilgesellschaftliche Kräfte formen und prägen. Etwa Human Rights Watch. Das ist kein Zusammenschluss von Personen, die sich in ihrer Freizeit für Menschenrechte engagieren, sondern ein millionenschweres Unternehmen. 400 hauptamtliche MitarbeiterInnen werden beschäftig. "Im Geschäftsjahr 2012 verfügte Human Rights Watch über ein Budget von 59 Millionen US-Dollar."[10] Oder erwähnen wir das Peterson Institute for International Economics, einen neoliberalen Think Thank mit Sitz in den USA, das mit einem Jahresbudget von "11 million $"[11] auch nicht gerade am Hungertuche nagt. Auch im kleinen Österreich dürfen wir uns über eine intellektuelle antilinke Produktionsstätte freuen. Sie nennt sich Institut für die Wissenschaften vom Menschen und wurde vom polnischen Philosophen Krzysztof Michalski mit Hilfe von Geldern des Vatikans 1982, so wurde das kolportiert, gegründet. "Jedes Jahr vergibt das IWM rund fünfzig Fellowships an Wissenschaftler, Journalisten und Übersetzer, die am Institut an ihren Projekten arbeiten."[12], lesen wir auf ihrer Webseite. Der Verfasser dieser Zeilen hat sich um ein derartiges Stipendium noch nicht beworben, die Aussichten auf Zuerkennung dürfen bescheiden sein. Wir könnten noch eine ganze Reihe derartiger Institutionen nennen, zumindest die Bertelmann Stiftung sollte erwähnt werden. Diese Institutionen agieren nun keineswegs plump oder allzu einseitig. Ein gewisses Ausmaß an Pluralismus der Auffassungen und Sichtweisen zählt ebenso zum Funktionieren wie Aktivitäten, die in Einzelfall durchaus mit Sympathie betrachtet werden können. Auch auf ein bestimmtes Niveau der Analysen wird geachtet. Für billige Propaganda sind andere Strukturen zuständig. Aber unter dem Strich ist die Ausrichtung klar: ideelle und theoretische Affirmation kapitalistischer Verhältnisse, ideologische Vorbereitung zu konservativen und antirevolutionären Aktivitäten, Parteilichkeit für die westliche politische und ökonomische Orientierung.

Auf diesem Klavier finden wir weiters die mit diesen Think Thanks verzahnten diversen NGOs (Nichtregierungsorganisation), wobei das nicht in der Regel die große Lebenslüge dieser Organisationen darstellt, denn viele sind über tausend Fäden durchaus direkt oder indirekt mit staatlichen Stellen, oder mit solchen, die im Auftrag von Staaten arbeiten, verbunden. In welchem Ausmaß und wohin nun Gelder dieser Institutionen in die Taschen der ukrainischen Zivilgesellschaft geflossen sind, ist offenbar schwer nachzuvollziehen, aber dass sie geflossen sind, ist unbestreitbar. Und da es sich bei diesen Institutionen oftmals um private Stiftungen und Institute handelt, sind diese weder der Öffentlichkeit noch parlamentarisch legitimierten Kontrollstellen irgendeine Rechenschaft schuldig.

Trotz alledem: der Neoliberalismus auf Kurs

Das Propagandadebakel der Mainstream Medien gibt Anlass zu Optimismus. Die politisch interessierte Bevölkerung konnte mehrheitlich weder auf einen kriegslüsternen Kurs gegen Russland eingeschworen werden, noch unterstützt sie blindlings Sanktionen, die setzt mit einseitigen Schuldzuweisungen legitimiert werden. Wirklich beeindruckt sind die herrschenden Klassen jedoch davon nicht. Da sich führende Kräfte in der EU offenbar auf kein militärisches Abenteuer einlassen wollen, bündelt sich die Kritik an der offiziösen Berichterstattung auch nicht in eine unmittelbare politische Handlungsperspektive. Aber immerhin dürfe das allgemeine Misstrauen gegenüber den Mainstream Medien gewachsen sein, und das ist immerhin auch etwas.



Anmerkungen

[1] Das Durchschnittseinkommen in der Ukraine schwankt in etwa zwischen 250 Euro Monatslohn im Westen und 500 Euro im stärker industrialisierten Osten der Ukraine.

[2] http://derstandard.at/1395056774597/Zwischen-Protestbewegung-und-Pruefungsstress

[3] http://derstandard.at/1397302058334/Von-Anarchie-bis-Agitprop-aus-aktuellem-Anlass

[4] Ich vertrete die Auffassung, dass komplexe und auch widersprüchliche Stimmungen in (Teilen der) Bevölkerung keinesfalls mit dem Instrumentarium von Meinungsumfragen zureichend erfasst werden können. Dass dieses Instrumentarium kein taugliches Mittel wissenschaftlicher Erkenntnis darstellt, halte ich nach jahrzehntelanger Erfahrung mit diesen Instrumentarien für evident.

[5] http://derstandard.at/1397521095713/Putins-magnetische-Anziehungskraft. Gerhard Schröder, Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer wurden objektive WeggefährtInnen genannt.

[6] http://www.heise.de/tp/artikel/41/41616/1.html

[7] http://derstandard.at/1397521924497/Russland-zieht-Truppen-aus-Grenzgebiet-zur-Ukraine-zurueck

[8] Diese sogenannte Demokratiebewegung musste als unmittelbares Interventionswerkzeug westlich-kapitalistischer Interessen eingeschätzt werden. Dafür garantierte insbesondere Aung San Suu Kyi, die als Nobelpreisträgerin in den Medien landauf, landab gefeiert wurde. Ein Blick auf die Hintergründe klärt einiges. Dass im Falle Myanmar eine Frau an der Spitze einer Oppositionsbewegung stand, darf keinesfalls mit feministischem Emanzipationsbestreben verwechselt werden. Sowohl in Opposition als auch an der Spitze der Regierung finden wir in Pakistan, Indien, Sri Lanka und Bangladesh immer wieder Frauen. Der Grund ist einfach. In diesem Raum beanspruche Clans die politische Herrschaft, der wohl bekannteste Familienclan sind die Gandhis in Indien. Wenn nun kein Mann diesen Clan vertreten kann, tritt einen Frau an deren Spitze. Auch im Falle Aung San Suu Kyi war das so. Ihr Vater, ursprünglich im China Maos politisch ausgebildet, spielte in Kampf um die Unabhängigkeit Myanmar eine ganz bedeutende Rolle. Über diese Erbmentalität werden wir in den hiesigen Medien nichts lesen, es sei denn, es handelt sich um Nordkorea.

[9] Inwieweit manche linke Strömungen sich von der Form derart blenden ließ, dass sie am Kampf um Hegemonie innerhalb der Bewegung festhielt, obwohl diese schon längt zugunsten ultrarechter Kreise verloren war, ist eine Frage, die im Detail zu diskutieren wäre.

[10] http://de.wikipedia.org/wiki/Human_Rights_Watch, abgerufen am 20.4.2014

[11] http://en.wikipedia.org/wiki/Peterson_Institute_for_International_Economics

[12] http://de.wikipedia.org/wiki/Institut_f%C3%BCr_die_Wissenschaften_vom_Menschen, abgerufen am 20.4.2014

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Ewgeniy Kasakow:

"Tendenz zeigt Tendenz"

Eine Replik auf die Kritik von Roman Danyluk und Stefan Junker

"Einzige wahrhaft proletarische Regierung" - Räte als Alternative zu den Bolschewiki, Beispiele Baku und Aschchabad

Am 31. Juli 1918 siegten in Baku, der Hauptstadt der Erdölförderung des ehemaligen Russischen Reiches, die Räte über die Bolschewiki. Genauer genommen haben die Fraktionen der Sozialrevolutionäre, der Menschewiki (Sozialdemokraten) und der armenischen national-sozialrevolutionären Partei "Daschnakzutjun" sich erst am 25. Juli im Rat der Kommune von Baku mit ihrem Vorschlag durchgesetzt, die britischen Truppen aus Persien zur Verteidigung der Stadt gegen die türkische "Kaukasische Islam-Armee" zu Hilfe zu rufen. Der bolschewistische Rat der Volkskommissare (die Regierung der Kommune) ist daraufhin zurückgetreten. An der Stelle der Volkskommissare regierte nun ein neues Gebilde, das sich offiziell "Zentralkaspische Diktatur" nannte. "Zentralkaspij" war die Abkürzung für das Zentralkomitee der Kaspischen Militärflottille, einem im November 1917 gewählten Vertretungsorgan der Matrosen, welches nun das Provisorische Exekutivkomitee der Sowjets von Baku stütze. Die ehemalige bolschewistische Regierung versuchte zwar per Schiff mit etlichen Geschützen in das von der Roten Armee kontrollierte Astrachan zu fliehen, wurde aber gewaltsam zur Rückkehr gezwungen und inhaftiert. Beide Seiten hatten durchaus plausible Gründe für ihr Handeln. Die "Kommune von Baku" wurde seit der blutigen Niederschlagung der aserbaidschanischen "Müsavat"-Partei in März 1918 von einer Koalition zwischen Bolschewiki und Daschnaks regiert. Die türkische Offensive fand unter der muslimischen Bevölkerung von Aserbaidschan und Dagestan viel Zustimmung. In Baku befürchtete die armenische Bevölkerung die Rache für die März-Ereignisse (zurecht, wie die Zukunft zeigen sollte) und sah keine Alternative zu einem Hilfsappell an die Entente. Der bolschewistische Rat der Volkskommissare war zum einem gebunden an den Vertrag von Brest-Litowsk - jegliche Kooperation mit der Entente könnte einen neuen Angriff der Mittelmächte nach sich ziehen. Zum anderen hatten sie strikte Anweisung aus Moskau, das dringend benötigte Öl zu verteidigen. Der Versuch der Kommissare zumindest Geld und Waffen nach Sowjetrussland wegzuschaffen, wurde als Verrat gedeutet - Arbeiter und Matrosen wandten sich von den Bolschewiki ab. Bereits am 4. August begann die Landung der britischen Truppen in Baku, die jedoch nicht verhindern konnten, dass die Stadt am 15. September von der Islam-Armee eingenommen wurde. In den eineinhalb Monaten der zentralkaspischen Räteregierung in Baku agierten nach wie vor Gewerkschaften und Fabrikkomitees, die den neuen Kurs mittrugen. Die Briten akzeptierten ihrerseits die Existenz der Räte.[1] Als "Zentralkaspij" schon dabei war die Flucht aus Baku anzutreten, kamen die Kommissare frei, doch es gelang ihnen nicht ein Schiff nach Astrachan zu finden. Der von Moskau zu Hilfe gesandte Anarchist Fjodor Drugow musste selber fliehen, weil die Matrosen seines Schiffes gegen die Bolschewiki meuterten.[2] Die Mannschaft des Dampfers "Turkmen" mit den Kommissaren von Baku am Bord lenkte (aus bis heute nicht ganz geklärten Gründen) nach Krasnowodsk (heute Türkmenbasy).

Dort herrschte bereits seit dem 11. Juli 1918 eine weitere antibolschewistische Räteregierung - die "Transkaspische Provisorische Regierung" (TPR). In Zentralasien hatten die Bolschewiki von Beginn an einen schweren Stand, da sie unter den Einheimischen kaum Anhänger hatten, während die russischen Eisenbahnarbeiter einen eher gemäßigten Sozialisten unterstützen. Als im Sommer 1918 die ersten Schritte zur Mobilisierung in die Rote Armee eingeleitet wurden kam es erst zu Streiks und später, nach Repressionen der bolschewistischen Regierung, zu bewaffneten Unruhen. Das von den Sozialrevolutionären und Menschewiken dominierte Streikkomitee übernahm faktisch die Macht. Die Transkaspische Provisorische Regierung war eigentlich ein Exikutivkomitee der Räte, angeführt von dem Lokomotivführer Fjodor Funtikow, Mitglied der Sozialrevolutionäre. Bereits am 21. Juli kontrollierte die TPR fast das gesamtes Territorium vom heutigen Turkmenistan. Zwei Tage später wurden die neun "Aschchabader Kommissare" hingerichtet, am 20. September ebenso die Kommissare von Baku und diejenigen, die dafür gehalten wurden. 26 Passagiere von "Turkmen" wurden erst festgenommen und dann ohne Verfahren geköpft. Der sowjetische Heldenmythos der "26 Bakuer Kommissare" war geboren. Die Transkaspische Regierung sah sich nach wie vor als Räteregierung, es gab keine Minister, sondern Kommissare, es gab keine Einteilung in Legislative und Exekutive. Die sowjetischen dissidentischen Historiker Michail Heller und Alexander Nekritsch nannten die TPR mit Häme "einzige wahrhafte proletarische Regierung im revolutionären Russland".[3] Die Zusammensetzung war in der Tat "proletarischer" als bei der Baku-Kommune. Nur ein einziger Kommissar hatte einen Hochschulabschluss. Die TRP konnte zumindest anfänglich verschiedenste gesellschaftliche Kräfte hinter sich bringen. Sowohl russische Liberale aus der Partei der "Konstitutionellen Demokraten" (Kadeten), als auch aus dem Kaukasus geflohene armenische Daschnaks, als auch ehemalige Offiziere, als auch turkmenische Stammesführer akzeptierten zuerst die Regierung des Streikkomitees der Eisenbahnarbeiter. Jedoch war die TRP, genauso wie "Zentralkaspij" von Anfang an auf die Hilfe der Entente angewiesen. Schon am 28. Juli wurde die britische Militärmission um Unterstützung angefragt und am 19. August ein Bündnis geschlossen, welches britischen Truppen den Einmarsch in Zentralasien ermöglichte. Anderes als in Baku waren die Briten nicht lange bereit die Räteregierung zu dulden. Im September plädierte TPR schon für die Einberufung der Konstituierenden Versammlung (also einer Rückkehr zum Parlamentarismus) und die Sowjetstrukturen waren von da an nur noch geduldet, verloren aber ihre wirtschaftlichen Funktionen.[4] Am ehesten war ihre Rolle mit der heutigen Arbeiterkammer vergleichbar.[5] Nachdem es zu Arbeiterunruhen in Aschchabad kam, ließ der britische General Wilfred Malleson die TPR am 19. Januar 1919 auflösen und einige Mitglieder verhaften. Die neue Regierung war zwar deutlich weiter rechts, aber auch sie musste am 20. März auf Druck der Briten vom "Delegiertentag der Vertreter der Städte, Bauern und Gewerkschaften" neugewählt werden. Erst nachdem die Briten aus Zentralasien Mitte 1919 abzogen, hat sich die Regierung endgültig den "Weißen" unter General Denikin untergeordnet.

Die Geschichte des Kampfes der Räte gegen die Bolschewiki in der Region war aber damit noch nicht beendet. Am 18. Januar 1919 brach in Taschkent ein Aufstand gegen die Bolschewiki los. An der Spitze standen der Konstantin Osipow, Kommandierende der Truppen der Turkestanischen Autonomen Sowjetrepublik, und Wasilij Agapow, der Kommissar der Eisenbahnwerkstätte - beide Bolschewiki seit vorrevolutionärer Zeit. Im Bündnis mit ehemaligen zaristischen Offizieren sollten die Differenzen zwischen aus Moskau entsandten und lokalen bolschewistischen Kadern ausgenutzt werden - ähnlich wie in Aschchabad waren die Arbeiter vor Ort zunehmend unzufrieden. Der Plan die Arbeiter auf die Seite der Rebellion zu ziehen, scheiterte aber an der Position der militärischen Fraktion der Aufständischen. Die geheime Organisation der Offiziere war nicht bereit, das Weiterbestehen der Räte auch ohne Bolschewiki zu akzeptieren. Der Aufstand brach nach zwei Tagen zusammen. Die Eisenbahnarbeiter wandten sich nach anfänglichem Zögern gegen Osipows Rebellen.[6] Paradoxerweise waren es die loyal gebliebenen linken Sozialrevolutionäre, die in Taschkent "Räte mit Bolschewiki" gegen "Räte ohne Bolschewiki" (von den Abweichlern der Partei selbst gefordert) verteidigten.[7] Die Geschichte des Osipow-Aufstandes zeigt, dass auch nach der Erfahrung der Transkaspischen Provisorischen Regierung die Parole "Räte ohne Bolschewiki" für die Arbeiter in der benachbarten Region anziehend wirkte.

Weshalb ist an diese Stelle die Geschichte des Kampfes gegen die Bolschewiki im Namen der Räte skizziert? Zunächst um zu zeigen, dass die Probleme der Räte in der Russischen Revolution real etwas anderes waren, als es sich oft vorgestellt wird und um Stefan Junker auf seine Frage, mit welcher Berechtigung die Bolschewiki sich die Räte untergeordnet haben, Antwort zu geben. Sie hatten nicht vor, den Bürgerkrieg zu verlieren. Man kann ihr Programm ablehnen, ihre Herrschaftspraktiken anprangern, ihre Theorie kritisieren - aber es ist eine zutiefst alberne Erwartung, sie hätten ihre gewaltsam errungene Macht dem abstrakten Prinzip der Räte geopfert. Aber es geht bei der Debatte über die Räte um wesentlich mehr, als um eine Bewertung der Geschichte. Es geht eher um ein fundamentales Problem der linken Vorstellungen: nämlich wie die eigene Programmatik zum Wollen der Mehrheit steht.

Projektion und Widerspruch

Bolschewiki sind die beliebteste Negativfolie der linken Selbstpositionierung. Oft hat es wenig mit theoretischer Kritik oder historischer Analyse zu tun, sondern ist nur kitschige Verklärung aller Kritiker und Gegner, die den Ruf haben, irgendwie linker als Lenin und seiner Partei zu sein. Rosa Luxemburg, Kronstädter Matrosen, Machnos Bauernarmee und Rätekommunisten sind im eklektischen linken Märtyrerpantheon aufgenommen und fristen dort ihren Dasein, geschützt von ernsthafter Kritik durch das Prädikat "irgendwie sympathischer als Lenin". Werfen wir doch mal ein Blick auf die Prämissen der Bolschewiki in Bezug auf Demokratie. Lenin sah Demokratie recht unverblümt tatsächlich als eine Herrschaftsform an. Selbstverständlich gibt es dort immer Gewinner und Verlierer. Er ging davon aus, dass "es in der kapitalistischen Gesellschaft in jedem kritischen Moment (...) allein entweder die Diktatur der Bourgeoisie oder die Diktatur des Proletariats geben kann".[8] Demokratie stand für ihn gar nicht im Widerspruch zu Diktatur. Seine Kritik an der parlamentarischen Demokratie war, dass sie in Wirklichkeit die Diktatur einer Minderheit sei, währenddessen die »Diktatur des Proletariats« eine richtige Demokratie wäre, wo die wirkliche Mehrheit eine Diktatur über die Minderheit ausüben wird. Zugleich hat die teleologische Geschichtsgläubigkeit die Bolschewiki zur Annahme geführt, dass es ja nur eine Frage der Zeit sei, bis die Mehrheit sich mit richtigen Erkenntnissen bewaffnet und sich dem Sozialismus anschließt. Die relative Leichtigkeit ihres Sieges 1917 erschien ihnen als Bestätigung ihrer Einsicht in die Gesetze der Geschichte. Doch 1918 trat etwas ein, was in den Theorien, in denen das "Sein das Bewusstsein" prägen sollte, nicht vorgesehen war: Die massenhafte Abwendung der Basis des "Arbeiter- und Bauernstaates" von der Partei, welcher diesen Staat proklamierte.[9]

Die linke Geschichtsschreibung, soweit diese kritisch gegenüber der Sowjetunion eingestellt ist (und das ist sie heute größtenteils), wählt meist eine bequeme Erklärung. Bolschewiki waren autoritär und haben die besseren sozialistischen Konzepte im Keim erdrosselt. Wäre "Spontanität der Massen" am Werk gewesen, wäre anstelle des bolschewistischen "Kriegskommunismus" bestimmt etwas erblüht, was den heutigen undogmatischen Linken besser gefallen hätte. Dieser Punkt ist leider nicht viel mehr, als das Ergebnis einer Projektion. Die Linken, die so argumentieren, versuchen ihre eigenen Ideale als Wunsch der Mehrheit darzustellen. Man könnte auch nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass die Ideen der Linken weder durch die historische Entwicklung die Mehrheit ergreifen, noch als spontaner Instinkt oder Trieb bei jeder sozialer Bewegung entstehen und daher jede Menge Überzeugungsarbeit nötig ist. Aber für die dogmatisch undogmatischen Linken, wie Stefan Junker, wäre dies autoritär.

Junker schreibt: "Ewgeniy Kasakow unterstellt hier dem (linken) Rätewesen, dass es nur Entscheidungen akzeptiere, die im Interesse ihrer theoretischen Präsumptionen liegen. Das wäre bolschewistisch gedacht, stimmen die Räte für die Parteilinie, sind sie unterstützenswert, wenn nicht, nicht. Aber wer ist es hier, der oder die sucht? Theoretisierende Linke oder die Arbeitenden in ihren revolutionären Erhebungen selbst?"

Wenn "theoretisierende Linke" die "Arbeitenden" (zu denen diese anscheinend per se nicht dazu gehören) nicht kritisieren dürfen, weil sie ja gerade "in ihrer revolutionärer Erhebung" sind (was nie so ganz ohne Theorie von statten geht), folgt daraus nur devotes Bejahen von allem, was die "Selbstorganisation" so hervorbringt. Inklusive deren Selbstaufhebung. Das geht bei Junker soweit, dass er fast bei der alten, guten Geschichtsgläubigkeit angelangt ist. "Räte, Sowjets usw. sind keine Alternative für das politische System der bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind vielmehr ihr revolutionärer Gegenentwurf. [...] Die geschichtliche Tendenz moderner Revolutionen zeigt die Tendenz, dass die ökonomische Umwälzung mit freier Assoziation in genossenschaftlich organisierte Arbeit ihren Ausgang nimmt." Es ist nicht bolschewistisch, sondern schlicht politisch gedacht, dass kaum jemand Gremien unterstützen würde, welche ein entgegengesetztes politisches Programm umsetzt.[10] Man kann es als autoritär, elitär oder "eduktionistisch"[11] abstempeln, aber in Wirklichkeit haben auch die größten Antidogmatiker ziemlich klare Vorstellungen davon, was sie für politisch richtig oder falsch halten. Ganz dogmatisch erlaubt man sich doch "theoretische Präsumtionen" (um bei Junkers Wortwahl zu bleiben), dass Lohnarbeit nicht das Beste für Lohnabhängigen sei, Abschiebungen zu stoppen und Sarrazin-Lesungen zu stören sind. "Mit welcher Berechtigung?" - könnte Stefan Junker jetzt fragen.

Aufklärung = autoritär? Selbstorganisation = Wert an sich?

Stefan Junker hat in den Grundrissen Nr. 45 einen Artikel veröffentlicht, der einen wichtigen Beitrag zur Systematisierung verschiedener historischer Räteformen leistet. Zugleich beinhaltet der Artikel jedoch einige fatale programmatische Vorschläge.

"Es ist ein tief verwurzelter Irrtum zu glauben, das Handeln der Menschen sei durch ihren bewussten Willen bedingt, dass alles was sie tun, zuerst von ihnen gedacht werde. Sigmund Freud hat mit diesem Mythos aufgeräumt und gezeigt, wie bedeutend das Unbewusste in das menschliche Handeln hineinmische und nicht selten bewusste Absichten konterkariere. Trotzdem spielt das Bewusstsein eine bestimmende Rolle für die Lebensentscheidungen, nur ist es häufiger nicht so sehr die Ursache des Handelns als Folge. Nicht selten merkten die Revolutionäre erst nach der Revolution, dass sie eine Revolution gemacht hatten. Die Revolution schuf das revolutionäre Bewusstsein, nicht umgekehrt revolutionäres Bewusstsein die Revolution."[12]

Freud hat zwar das Unbewusste entdeckt, nie aber affirmativ als Alternative zum Bewusstsein gefeiert. Sein Wahlspruch war bekanntlich: "Wo Es war, soll Ich werden". Das Unbewusste hat wesentlich etwas mit Trieben zu tun, nicht einfach irgendwie mit allem, was man nicht so recht weiß. Um Triebe im Freudschen Sinn, d.h. Wünsche, Sexualität etc., geht es in dem Zitat nun wiederum nicht wirklich. Ein Moment des Wahren ist ja an den letzten beiden Sätzen von Junker daran: Die Praxis der Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg war wahrscheinlich revolutionärer als die recht schlichte Theorie. Umgekehrt würde es noch mehr stimmen: Nicht selten merkten die Revolutionäre erst nach der Revolution, dass sie keine Revolution gemacht hatten. Das hat aber weniger mit "dem Unbewussten" - d.h. weniger mit dem Freudschen als dem Marxschen Unbewussten (sie wissen das nicht, aber sie tun es). Junker benutzt Freud nun, um die Räte zu retten - das Argument ist ja: In den Räten spiegele sich das Interesse der Arbeiterschaft wider - das Interesse ist der Trieb der Arbeiter, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung zu errichten. "So verschieden die Namen auch waren, sei es als Arbeiterräte, Betriebsräte, Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, Fabrikräte, Kollektive oder Kooperativen, so finden sich in ihnen die Interessen der Arbeitenden wieder. In den unterschiedlichen Namen drücken sich nur die unterschiedlichen politischen und historischen Erfahrungen der jeweiligen Arbeiterinnen und Arbeiter aus. All diesen Formen gemein ist hingegen der Trieb, eine Gesellschaft ohne Unterdrückung und ohne Ausbeutung zu errichten, mit anderen Worten eine Gesellschaft ohne Klassen. Dabei spielt es gar keine so große Rolle, ob den Akteuren im Augenblick ihres Handelns die historische Dimension ihrer Aktion bewusst ist oder nicht." Abgesehen davon, dass die Freudsche Theorie gerade zeigt, dass nicht unmittelbar "ein Trieb" die Geschichte lenkt, und schon gar nicht per se ein Trieb nach Glück, gibt es bei der These ein weiteres Problem. Junker versucht allen "Kollektiven" einen Trieb gegen Unterdrückung zu unterstellen - dagegen ließe sich einwenden, dass historisch gesehen die meisten Kollektive vielmehr schlussendlich gegen diesen von Junker angenommenen "Interesse-Trieb" agierten. Junker nimmt zwar an, dass "[d]as Rätewesen darum verstanden werden [kann], wenn von einer umfassenden Umgestaltung der Produktionsverhältnisse ausgegangen wird, hin zu einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit und mithin ohne Klassen." Aber es geht nur, wenn man beharrlich ignoriert, wie oft die historischen Räte mit solchen Zielsetzungen nichts anfangen konnten.

Junkers Ausführungen zeigen, wie mythisiert inzwischen bei den Linken der Begriff der "Selbstorganisation" ist. Wichtiger als Programme erscheint die Tatsache, dass etwas selbstorganisiert ist. Aber das Prädikat "selbstorganisiert" verdienen nur solche Handlungen, die den linken Lobsängern der Selbstbestimmung passend erscheinen. Stefan Junker schöpft den Verdacht, das für mich "das Vertrauen, Menschen würden sich in Freiheit und Demokratie für ihre Interessen entscheiden, als eitler Wunsch zu gelten habe. Aber wie sollte es denn anders gehen? Wer sollte denn anstelle der Betroffenen die Entscheidungen treffen?" Man kann aber nicht so tun, als wäre man per se mit allem einverstanden, was "die Betroffenen" (was eine sehr unpräzise Kategorie ist) wollen. Messianischer Glauben an die aufständische Spontanität und Selbstorganisation ist keinen Deut besser als der Glaube an die durch die Geschichte ermächtigte, unfehlbare Partei, mit dem er genealogisch verwandt ist. Da Aufklärung für Stefan Junker anscheinend gleichzusetzen ist mit einer Minderheitsdiktatur über die Nichtaufgeklärten (und eben nicht die Beseitigung dieses Unterschiedes), ist er als besonderes radikaler Demokrat bereit, für eine Verfahrensweise zu plädieren und sich nicht mit möglichen Ergebnissen auseinanderzusetzen. In kritischer Auseinandersetzung mit dem demokratischen Verfahren wittert Junker sofort ein Plädoyer für eine Diktatur: "Weil die arbeitenden Menschen zu dumm, zu ungebildet, zu verführt usw. seien, ihre eigenen Interessen ernst zu nehmen, darum musste die durch den Marxismus geschulte Avantgarde (Lenin), die Aufgabe an sich reißen, die Arbeiterinnen und Arbeiter zum Sozialismus zu erziehen." Sind die "arbeitenden Menschen" zu dumm, zu ungebildet, zu verführt (oder mit falschen Urteilen über die Gesellschaft ausgerüstet), dass sie massenhaft für Frau Merkel oder Herrn Strache stimmen? Die ach so antielitäre Kritik an Aufklärung nimmt die Entscheidungen der Mehrheit für Markt und Staat, für Nation und Standort, Parlamentarismus und soziale Partnerschaft gar nicht ernst. "Selbstorganisiert" ist immer die VoKü im besetzten Haus, aber nie der CDU-Ortsverein, obwohl auch dort Leute (ja, auch arbeitende) freiwillig eingetreten sind und meinen dort ihre Interessen besser durchsetzen zu können. Wenn Stefan Junker jetzt doch auf die Existenz von objektiven Interessen pochen würde, hat er sofort das Problem, dass es dann Menschen gibt, die solche auch erkennen und welche, die es nicht tun und damit wieder das Avantgarde-Problem am Hals. Tut er das nicht, dann muss er erklären, warum Selbstorganisation, die für ihn scheinbar ein Wert an sich ist, nicht im Falle des CDU-Ortsverbandes gilt. Der CDU-Ortsverband ist für Parlamentarismus? Das waren größere Teile der Räte in Deutschland und Russland - zumindest zeitweilig - auch!

Durch Geschichte geadelt?

Roman Danyluk kritisiert in seinem Artikel völlig zu Recht die Vorstellung, dass die Übernahme der Betriebe durch die Belegschaft automatisch zur Änderung der Produktionszwecke führt. Das Problem bei Danyluks Kritik ist, dass sie entmystifizierend und mystifizierend zugleich wirken will. Während Junker sich klar gegen Aufklärung wendet und in einem weiteren Text für die faktische Abschaffung der Wissenschaft plädiert[13], will Danyluk zugleich gegen Geschichtsmythen ankämpfen und weiter die Räte hochhalten, dafür dass diese a) basisdemokratischer als Parlamente sind und b) bei jeder Revolte immer wieder spontan entstanden sind.[14] Bei allen Aufständen und Umbrüchen entstanden ad-hoc Koordinierungsorgane, aber ob diese auch in Friedenszeiten für die Verwaltung tauglich sind, ist nochmal eine andere Frage, die sich nicht einfach empirisch beantworten lässt. Fragwürdig ist allemal die Theorie, die Räte wären immer ureigene Produkte der Revolten. Der angeblich erste Sowjet von 1905 in Iwanowo entstand als die Unternehmer sich weigerten mit der Menschenmenge der Streikenden zu verhandeln und nach gewählten Delegierten verlangten. Der im gleichen Jahr (vermutlich früher als der von Iwanovo) entstandene Petersburger Sowjet entwickelte sich aus der so genannten "Schidlowskij-Kommission", in der Regierungsbeamte, Unternehmer und gewählte Arbeitervertreter die Ursachen für "Arbeiterunzufriedenheit" ermitteln sollten. Die Räte der Februarrevolution nahmen ihren Ursprung in von Unternehmern während der ersten Krieges eingerichteten "Militärisch-industriellen Komitees".[15] Einige Autoren pochen darauf, dass die Idee der Räte noch von den Anarchisten im I. Internationale formuliert wurde - das torpediert wiederum die Argumentation, dass die Räte unmittelbar aus dem Kampf und nicht aus den Projekten der organisierten Agitatoren und Theoretiker entstanden.[16]

Auch die Geschichte der Fabrikkomitees in der Russischen Revolution ist durchaus bezeichnend. Als ihre dringendste Aufgabe sahen diese oft die Versorgung des eigenen Betriebs mit Rohstoffen - wofür die Vertreter der Belegschaft lange Reisen unternahmen, um Kontakte mit Fabrikräten der Zuliefererbetriebe aufzunehmen. Arbeiterparteien und Gewerkschaften beäugten dies mit Misstrauen und beschuldigten die Fabrikkomitees im Sinne der Unternehmer zu agieren.[17] Wie der Historiker Wladimir Buldakow feststellt, war das Agieren der Komitees keineswegs eine russische Spielart des Anarchosyndikalismus, sondern war auf eine enge Kooperation mit dem Staat, der die Betriebe vor Bankrott retten sollte, ausgerichtet.[18] Die Gewerkschaften sahen in den Fabrikkomitees oft Laufburschen der Unternehmer. Dennoch: Die Bolschewiki wussten die Fabrikkomitees gegenüber den, von den gemäßigten Sozialisten dominierten, Sowjets und Gewerkschaften seit dem Sommer 1917 in Stellung zu bringen. Doch auch nach dem Oktober waren Fabrikkomitees ein Dorn im Auge vieler Anhänger der Gewerkschaften nach westlichem Vorbild in den Reihen der Bolschewiki. Sie befürchteten - nicht völlig zu Unrecht -, dass der "Betriebsegoismus" der Komitees jegliche Planung unmöglich machen wird. Die Frage nach dem Verhältnis von Arbeiterkontrolle und Staatskontrolle über die Wirtschaft wurde bis zum Sommer 1918 parteiintern kontrovers diskutiert.[19]

Es sollte nicht vergessen werden, dass Lenin nicht nur der Totengräber der Sowjets war, sondern als einer der Ersten seine Partei auf ihre Bedeutung hingewiesen hat. Entgegen vielen Einwänden seiner Genossen erhob er Streikorgane zu einem Dreh- und Angelpunkt der postrevolutionären Ordnung.[20] Auch die Gegenüberstellung von Parlamenten und Räten wurde gerade von Lenin und seiner Partei hervorgehoben. Explizit antiparlamentaristisch waren Rätestrukturen, deren Entwicklung in der Geschichte Junker und Danyluk nachverfolgen, eher selten.[21]

Der Sozialhistoriker Michail Feldman verweist auch auf die Entwicklung der Zusammensetzung der Sowjets während der Revolution. Selbst in industriellen Ballungsgebieten wie Ural waren die Exekutivkomitees von Berufsrevolutionären dominiert, die die meiste Lebenszeit im Untergrund, in Gefängnissen und in der Verbannung verbracht hatten, nur kurz in Arbeiterberufen beschäftigt waren und wenig Berührungspunkte zum Alltag im Gebiet, welches sie vertraten, hatten.[22] Gleichzeitig betonten die Räte, sowohl in Russland, als auch in Deutschland ihren exklusiven Charakter. Das ist ein wichtiger Unterschied zu den heutigen Linken, die Räte für eine besonders inklusive Form der Demokratie halten. Räte haben sich gerade dadurch selbstlegitimiert, dass sie nur bestimmten Bevölkerungsgruppen Mitsprache einräumten. Dort, wo Räte explizit den Parlamenten entgegengesetzt wurden, wurden sie als Organe der Klassenherrschaft gesehen - was die Existenz der rechtlosen Minderheit implizierte.[23] Das hat recht wenig mit heutigen Schwärmereien der Linken über Herrschaft der "Betroffenen" über sich selbst zu tun - "betroffen" von einer Entscheidung über einen Betrieb sind sowohl der Besitzer, als auch die Belegschaft. Eine unscharfe Definition von "Basis", "Betroffenen" etc. eröffnet großes Konfliktpotenzial und macht jedes formalisierte Entscheidungsverfahren äußerst krisenanfällig.

Parlamente = korrupt?

Ein weiterer wichtiger Punkt aller linken Rätedebatten ist die Frage, was eigentlich die Rätebefürworter an den Parlamenten kritisieren. Wenn Roman Danyluk parlamentarische Demokratie "korrumpiert" nennt, offenbart dies Probleme im anarchistischen Verständnis von Staat und Demokratie. Der Vorwurf der korrumpierten Mächtigen tut so, als würden sich die Politiker an etwas vergehen, was eigentlich gut sei. Wer von korrumpierten Herrschenden spricht, unterstellt, dass es eine Herrschaft zum Wohle der Untertanen gäbe, die nur nicht zu Stande käme, weil sich die Herrschenden an den eigentlich guten Aufgaben der Herrschaft versündigen. Wenn aber mal wieder im Interesse der Standortpflege Löhne sinken, Kündigungsschutz gelockert oder gegen Arbeitslose härter vorgegangen wird, dann ist dies nicht Ergebnis von Korruption oder Wahlbetrug. Genau das wurde auch im Wahlkampf "mitversprochen", wenn davon die Rede war "unsere Wirtschaft stark" oder "das Land konkurrenzfähig" zu machen. Dagegen hilft auch kein imperatives Mandat. In der allgemeinen Konkurrenz, die es in der Marktwirtschaft nun mal gibt, muss eine Macht sozusagen "außerhalb der Gesellschaft" das allgemeine Wohl verkörpern, dass es sonst nirgendwo gibt. Allgemeinwohl, auf das sich die Politik beruft, ist nie als Wohl jedes Einzelnen gemeint worden. Die Formulierung des jeweiligen allgemeinen Wohls liegt in der Hand der Regierung, die ja gerade nicht Interessen einzelner Konkurrenzteilnehmer bedienen soll. Der Begriff der Korruption sagt gerade, dass dies als Störung des normalen Betriebsablaufs gesehen wird und nicht als Prinzip von diesem.

Es gibt auch nichts Alberneres, als bei jeder Verletzung der eigenen Interessen aufzuschreien, es sei ja "undemokratisch". Demokratie in jeder Form geht von einer Existenz des Interessenkonfliktes aus, sonst bräuchte es diese nicht. Demokratie gibt es damit nicht ohne Verlierer. Als Herrschaftsform jedoch ist auch jede Demokratie permanente Gewalt - bei einigen Formen ist der Ablauf reglementiert und die Anwendung an feste Regeln (in heutiger Form über die Verfassung) gebunden. Damit das eine ungemütliche Veranstaltung wird, braucht es nicht verdorbene Charaktere in der Herrschaft.

Die Existenz der Herrschaft zeugt davon, dass die Interessen, das die Programme der Herrschenden offensichtlich nicht mit denen der Beherrschten deckungsgleich sind, sonst bräuchte es weder Herrschaft noch Regierung. Aber es sagt noch nichts über den Inhalt der Interessen. Die Tatsache, dass zum Beispiel die Bolschewiki diktatorisch regiert haben, besagt noch gar nichts über die Programme derjenigen, gegen die sich ihre Maßnahmen richteten. Diese müssen im Einzelnen untersucht werden. Das Argument, dass aus der Form kein Inhalt folge, also auch rätedemokratisch z.B. Pogrome beschlossen werden können, ist kein Argument gegen die Räte per se. Es ist ein Argument dagegen, Räte zu feiern, nur weil sie Räte sind. Also die Form losgelöst vom Inhalt zu bejubeln. Es ist ein Argument dafür, genau zu prüfen, was die Leute in ihren Räten organisieren wollen und gegebenenfalls auch etwas Selbstorganisiertes zu kritisieren.



Anmerkungen

[1] Die Kaspische Flottille haben die Briten allerdings Anfang 1919 aufgelöst - die Matrosen haben lange gezögert, ob sie sich den Weißen unter General Denikin, den Roten in Astrachan oder der nationalen Regierung der Aserbaidschan anschließen. Siehe: Denikin, Anton. Ocerki russkoj smuty. Minsk, 2002. S. 230-233.

[2] Genis, Vladimir. Fedor Pavlovic Drugov. Voporsy istorii. Nr. 3. 2010. S.55-75.

[3] Heller, Michail; Nekrich, Alexander. Geschichte der Sowjetunion. Bd.1: 1914-1939. Königstein, 1981. S. 82.

[4] Cvetkov, Vasilij. Mezu belym jugom i Sibir'ju. Specifika upravlenija v zaksapijskoj oblasti v 1918-1920 gg.
http://www.permgani.ru/publikatsii/konferentsii/grazhdanskaya-vojna-na-vostoke-rossii/v-zh-tsvetkov-mezhdu-belym-yugom-i-sibiryu-spetsifika-upravleniya-v-zakaspijskoj-oblasti-v-1918-1920-gg.html

[5] Faktisch dasselbe geschah bei der größten Arbeiteraufstand gegen Bolschewiki - Aufstand im Ischewsk im August 1918 an der Kama. Siehe: Curakov, Dmitrij. "Tret'ja sila" u vlasti: Izevsk, 1918 god. Voprosy istorii. Nr. 5. 2003. S. 30-45. Hier: S. 35.

[6] fon Klemm, Wil'jam. Ocerk revoljucionnych sobytij v russkoj Srednej Azii. Voprosy istorii. Nr. 1. 2005. S. 3-23.

[7] Medvedev, Ivan. Mjatez kommisara Osipova: Kuda podevalos' sokrovisce Taskentskogo banka? Rodina. Nr. 3. 2002. S. 68-70.

[8] LW 29, 302.

[9] Schon im März 1918 beschloss VII. Parteitag der RKP(b) die Kompetenzen der Räte zu beschneiden, aber da die Bolschewiki das Einbüßen der Massenunterstützung für vorübergehend hielten, ließen sie wie Boris Semzow hinweist, in der ersten sowjetische Verfassung (von den Räten in Juli 1918 eingenommen) bereits in die Praxis verworfene Prinzipien festhalten. Siehe: Zemcov, Boris. Konstitucionnye osnovy bol'scevistskoj vlasti (Pervaja sovetskaja Konstitucija 1918 g.). Rossijskaja istorija. Nr. 5. 2006. S. 65-74.

[10] Die Ablehnung von "politischer Logik" und "Machtpolitik", die Junker und Danyluk um die Wette einfordern, ist in der Auseinandersetzung - und jeder Konflikt über die Verfassung der Gesellschaft ist ein solcher - schlicht nicht möglich. Das ablegen der Machtpolitik ist nur nach der Klärung der Machtverhältnisse machbar. Wer dies leugnet, läuft Gefahr Machtpolitik zu betreiben, ohne diese als solche zu erkennen - was nur eine besonders perfiden Autoritarismus hervorbringen kann.

[11] Siehe: Graf, Jakob. Führung, Masse, wir und die? Edukationismus - ein Problem linker Politik. Grundrisse. Nr. 48. S.34-39.

[12] Junker, Stefan. Die Eroberung der Demokratie. Grundrisse. Nr. 45. 2013. S. 15-24. Hier: S. 17.

[13] "Die Menschheit wird sich dann nicht weiter irgendwelchen "ExpertInnen", WissenschaftlerInnen, TechnikerInnen, MedizinerInnen, HistorikerInnen usw. ausliefern lassen. Unsere Gefühle und Empfindungen werden nicht mehr als Störungen unseres Arbeitsvermögens wahrgenommen, sondern als Bedingungen unseres Daseins. Möglicherweise wird sich ein Wissenschaftsverständnis entwickeln, das sich gegenüber unserem heutigen so abhebt, wie dieses vom Aberglauben des Mittelalters." Junker, Stefan. Die Eroberung der Demokratie. Grundrisse. Nr. 45. S. 15-24. Hier: S. 24.

[14] Philosophische Argumente wie "Befreiung ist sowieso nur als permanenter (weltweiter) Prozess denkbar, die Emanzipation des Menschen wird nie abgeschlossen sein" machen die Sache nicht besser. Wovon sollen die Menschen sich permanent emanzipieren? Ist Herrschaft eine anthropologische Konstante?

[15] Ajrapetov, Oleg. Generaly, libaraly i predprenimateli: Rabota na front in a revoljuciju (1907-1917). M., 2003.; Holquist, Peter. Making War, Forging Revolution: Russia's Continuum of Crisis, 1914-1921. Cambridge, 2002. S. 141-239.

[16] Vassilev, Pano. L'idée des Soviets. Marseille, 1997.; Dam'e [Damier], Vadim. Stoletie sovetov i sovremennye rossijskie levye. Neprikosnovennyj zapas. Nr.6 (44). S. 28-38.

[17] Curakov, Dmitrij. Russkaja revoljucija i rabocee samoupravlenie. 1917. M., 1997.

[18] Buldakov, Vladimir. Krasnaja smuta. Priroda i posledstvija revolucionnogo nasilija. M., 1997. S. 81-102.

[19] In einigen Ländern des Ostblocks gab es anfänglich ebenfalls Reibungsverhältnis zwischen Arbeiterräten und Komitees (mit Fabrikkomitees in Russland und Betriebsräten in Deutschland vergleichbar) einerseits und den Gewerkschaften andererseits. Da die Gewerkschaften schneller unter Parteikontorolle gerieten, fiel die Entscheidung zu ihrem Gunsten aus. In Polen z.B. wurden die 1945 eingeführten Arbeitsräte bereits 1947 in die Gewerkschaften integriert. Siehe: Volobuev, Vladimir. Problemy rabocego samoupravlenija v obscestvenno-politiceskoj sisteme PNR i rabocie vystuplenija 1956-1980 gg. Slavjanovedenie. Nr. 5. 2011. S. 26-39. In der Tschechoslowakei fand endgültige Verschmelzung von Fabrikräten und Gewerkschaft erst 1959 statt. Siehe: Heumos, Peter. Arbeitermacht im Staatssozialismus. Das Beispiel Tschechoslowakei 1968 . In: Ebbinghaus, Angelika (Hrsg.). Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa. Hamburg, 2008. S.51-60.

[20] Usyskin, Grigorij. V.I. Lenin v Peterburgskom Sovete rabocih deputatov. Voprosy istorii. Nr. 4. 1989. S. 20-36.

[21] Siehe z.B.: Keller, Márkus. Hoffnung und Ignoranz. Die ungarischen Arbeiterräte in den wissenschaftlischen Diskurse. Deutschland Archiv. Nr. 6. 2006. S. 1048-1052.

[22] Fel'dman, Michail. Bol'saja tajna sovetskoj istorii (Istoriografija Sovetov v gody Grazdanskoj vojny). Obscestvennye nauki i sovremennost'. Nr. 5. 2013. S. 127-137.

[23] In der Sowjetunion wurde allgemeines Wahlrecht erst mit der s.g. "Stalin-Verfassung" von 1936 verankert.

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Roman Danyluk:

Die Befreiung der Arbeit

Räte und Selbstverwaltung - Eine kritisch-historische Betrachtung

Auf dem Weg zur Emanzipation stellt sich den Menschen die wichtige Aufgabe, das gesamte soziale und wirtschaftliche Leben neu zu gestalten. Die indirekte Demokratie, ein System der Stellvertretung und die kapitalistische Wirtschaftsweise kommen dafür ganz offensichtlich nicht in Frage. Doch auch alle staatskapitalistischen und zentralstaatlichen Planwirtschaftsmodelle haben sich als untauglich erwiesen. Seit dem ersten proletarischen Revolutionsversuch durch die Pariser Kommune 1871, haben aufbegehrende Lohnabhängige unzählige Male auf Konzepte und Praktiken der Arbeiterkontrolle, der Räte sowie der Selbstverwaltung zurückgegriffen. In den zurückliegenden 140 Jahren wurden daher genügend Erfahrungen gesammelt, die den Stoff für eine kritische Diskussion liefern. Diese rätedemokratischen Basisinitiativen haben sich unter drei grundlegend verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen ereignet: Unter privatkapitalistischen Verhältnissen, während einer Revolution und im staatskapitalistischen Realsozialismus. Daher fielen die realen Erfahrungen mit der Arbeiterkontrolle bzw. den Räten und der Selbstverwaltung auch ziemlich unterschiedlich aus. Wenn ich im Folgenden vor allem auf die Probleme, Unzulänglichkeiten und Niederlagen dieser Versuche eingehe, dann im Bewusstsein, dass eine egalitäre, emanzipierte Gesellschaft nur durch eine rätedemokratische und auf Selbstverwaltung sowie Gemeineigentum beruhende Art und Weise vorstellbar ist.

Arbeiterkontrolle im Kapitalismus

Bei nichtkapitalistischen Wirschaftsweisen war und ist die Kontrolle der Arbeitenden über den Arbeitsprozess und das Produkt der Arbeit meist gegeben. Erst die kapitalistische Produktionsweise hat hier für Trennungen und somit für neue, entfremdete Verhältnisse gesorgt. Die Forderung nach Arbeiterkontrolle kann als Bedingung für eine Gesellschaft ohne Staat gemeint sein, das heißt, sie kann im Bewusstsein zur Überwindung des Kapitalismus gefordert und praktiziert werden. Doch die Kontrolle über den Betrieb kann auch innerhalb der kapitalistischen Ordnung bzw. Logik erfolgen, ohne einen transformatorischen Anspruch zu verfolgen. Der Kampf und das Streben der Lohnabhängigen um die Kontrolle und Macht am Arbeitsplatz bedeutet nicht automatisch, die Bosse oder den Staat und die Regierung grundsätzlich in Frage zu stellen. Dies ist z.B. oft der Fall, wenn Betriebe besetzt werden, um deren Schließung zu verhindern. Selbstverwaltete oder Kollektivbetriebe innerhalb des Kapitalismus sind meist klein und auf bestimmte Bereiche beschränkt. Sie hantieren noch mit einigen kapitalistischen Praktiken, die sich immer dann verstärken, wenn der Betrieb wächst. Aber auch im "Normalbetrieb" sind genossenschaftliche, kooperative und Kollektivbetriebe immer den kapitalistischen Marktmechanismen - Preis, Ware, Lohn, Konkurrenz - unterworfen.

Die ersten militanten Fabrikbesetzungen des Weltproletariats haben im September 1920 in Italien gleich das Grundproblem einer jeden Arbeiterselbstverwaltung innerhalb des Kapitalismus aufgezeigt. Obwohl die kommunistischen, sozialistischen und syndikalistischen MetallarbeiterInnen in den Mailänder Fabriken an einem Strang zogen, und die besetzten Betriebe durch Schützen- und Laufgräben sowie mit Maschinengewehren bewaffnet verteidigten, lief diese Selbstverwaltungsinitiative nach vier Wochen ins Leere.[1] Der kurzzeitige Erfolg der revoltierenden BesetzerInnen blieb begrenzt, da sie ihren Einfluss nicht über die Betriebsgrenzen hinaus ausdehnen konnten. Dies bedeutet, dass ein System isolierter Arbeiterselbstverwaltung allein nicht genügt, sondern darüber hinaus Faktoren bestehen müssen, die die Kollektivwirtschaft politisch und sozial ausweiten sowie notfalls auch bewaffnet beschützen. Die Erfahrungen der Fabrikkomitees in Russland und der Ukraine 1917 oder der Fabrikräte in Italien 1919/20[2] haben gezeigt, dass diese innerhalb des Kapitalismus faktisch zur Klassenzusammenarbeit mit den Unternehmen führt. Da die Arbeiterkontrolle eine Struktur der Doppelherrschaft in den Betrieben ist, bleibt den Komitees, Ausschüssen und Räten gar nichts anderes übrig. Eine andere Problematik für Betriebe, die von den ArbeiterInnen innerhalb kapitalistischer Verhältnisse übernommen werden, zeigte sich in Argentinien 2001. In der damaligen Wirtschafts- und Staatskrise übernahmen sie Betriebe, denen es schlecht ging oder die Konkurs angemeldet hatten. Damit waren die argentinischen Lohnabhängigen entweder mit hinterlassenen Schulden konfrontiert oder mussten an die ehemaligen kapitalistischen EigentümerInnen Ablöse zahlen. Die Startvoraussetzungen waren also denkbar schlecht. Es herrschte für die zahlreichen übernommenen Betriebe ein ständiger Kapitalmangel und sie mussten die Rechtsform einer Kooperative wählen. Dies bedeutete wiederum Lohnarbeit, veraltete Maschinen und unzureichende Auslastung. Für Kollektivbetriebe im Kapitalismus ist es daher typisch, dass sie den Produktionsprozess unverändert lassen und Veränderungen nur bei der Aufteilung der Tätigkeiten stattfinden. Kooperativen sind der kapitalistischen Logik unterworfen, müssen Gewinne erwirtschaften und für den anonymen Markt produzieren. Ganz allgemein gilt, dass, wenn die Teilhabe und Mitbestimmung nur über die Eigentumsrechte am Betrieb definiert werden, die ArbeiterInnen automatisch kapitalistische Funktionen ausüben.

Arbeiterräte während einer Revolution

Räte haben als direktdemokratische Organe wesentliche Vorteile gegenüber den herkömmlichen Arbeiterorganisationen. Gerade in unruhigen Zeiten können sie der Dynamik sozialer Prozesse in den Betrieben und auf den Straßen viel effektiver Ausdruck verleihen. Durch das den Räten (Komitees, Ausschüsse, usw.) innewohnende Prinzip ständiger Abwahlmöglichkeit, können die basisdemokratischen Organe sofort auf sich verändernde Stimmungen, Ansichten und Forderungen reagieren. Parteien und Gewerkschaften sind dagegen durch einen bürokratischen Apparat mit festen BerufsfunktionärInnen strukturell verkrustet und somit meist unbeweglicher als eine auf einem versammlungsdemokratischen Delegiertensystem basierende Rätebewegung. In umgekehrter Richtung unterstützen die Rätestrukturen die Eigeninitiative und die ständige Aktivität der Menschen. Daher verwundert es kaum, dass in so gut wie allen bisherigen proletarischen Erhebungen Räte entstanden.In den Milizeinheiten der Pariser Kommune 1871 wurden die Vorgesetzten und Delegierten gewählt und konnten jederzeit von der Basis wieder abberufen werden. Delegierte aus den Milizen bildeten ein zentrales Komitee, das als erster Arbeiterrat bezeichnet werden kann. Auch in der russisch-ukrainischen Februarrevolution 1917 entstanden auf breiter Basis Fabrikkomitees, die sich jedoch zunächst nur auf die Kontrolle der (alten) Betriebsleitungen, von Einstellungen und Entlassungen sowie über die Löhne und Arbeitszeiten beschränkten. Sie übernahmen noch keine Verantwortung für die technische und organisatorische Leitung der Betriebe oder für die wirtschaftliche Ausrichtung der Produktion. Die zaristische Monarchie war zwar gestürzt, jedoch durch eine bürgerlich-demokratische Regierung ersetzt. Erst der Oktoberaufstand 1917 änderte die Machtverhältnisse in Richtung einer Arbeiterdemokratie. Nun gingen die gewählten Fabrikkomitees von der Kontrolle zur Leitung der Betriebe über. Doch ebenso wie unter privatkapitalistischen Verhältnissen müssen die Werktätigen auch in einer Revolution die politischen Machtverhältnisse im Auge behalten. Die neue Sowjetmacht in Russland und der Ukraine setzte nämlich von oben Verwaltungsdirektoren in den Betrieben ein, die von den Fabrikkomitees zwar beaufsichtigt werden sollten, aber dennoch das letzte Wort hatten.

Arbeiterselbstverwaltung im Realsozialismus

Das jugoslawische Modell der 1950 von oben gesetzlich eingeführten Arbeiterselbstverwaltung führte zur Entstehung einer sozialistischen Marktwirtschaft. Diese beruhte auf der Grundlage des Wertgesetzes und des kollektiven Eigentums. Die selbstverwalteten Betriebe sollten eine sozialistische Warenproduktion für den Tausch über Märkte bereitstellen. Es entstand ein Widerspruch zwischen den von gewählten Arbeiterräten mitverwalteten Betrieben und dem Rest der jugoslawischen Gesellschaft. Die Lohnabhängigen wurden zu TeilhaberInnen, die versuchten ihren Gewinn zu maximieren. Diese Belegschaften kämpften für Marktreformen und eröffneten Konfrontationen mit den politischen sozialistischen Strukturen in Jugoslawien. In dieser Logik erschienen Bündnisse der ArbeiterInnen mit dem Management und den TechnikerInnen ihrer Betriebe sinnvoller als mit Instanzen aus der offiziellen Politik bzw. dem sozialistischen Staat. Gleichzeitig gerieten die Arbeiterräte der selbstverwalteten Betriebe immer stärker unter Druck, Anreize für mehr Profitabilität zu schaffen, etwa durch Rationalisierung, professionelles Management oder über Lohnanreize. Damit zerstörten die (sozialistischen) Marktanforderungen den egalitären Anspruch der Anfangsjahre der südslawischen Arbeiterselbstverwaltung. Je mehr den ArbeiterInnen klar wurde, dass die Arbeiterräte und die Selbstverwaltung nicht zur Emanzipation von der Lohnarbeit führen und die Entfremdung am Arbeitsplatz fortlebte, nahmen sie ein funktionales Verhältnis zur Arbeiterselbstverwaltung ein und misstrauten den rein formalen Rechten für Arbeitende. Die Arbeiterräte in Jugoslawien verwalteten die Betriebe und kamen so nicht dazu, sich für die allgemeinen politischen Interessen der ArbeiterInnen einzusetzen. Ihre Hauptaufgabe blieb das Management von Betrieben, anstatt als Ausgangspunkt für die direkte Durchsetzung der proletarischen Belange in der Gesellschaft zu fungieren. Die Autonomie der Betriebe, die oft zu Trennungen von den in der Gesellschaft bestimmenden politischen und staatlichen Strukturen führte, gebar noch ein weiteres Problem. Es kam zu einer ungleichen ökonomischen Entwicklung der jugoslawischen Regionen, unglücklicherweise auch noch entlang ethnischer Grenzen.[3] Insgesamt stellte die südslawische Wirtschaft einen Kompromiss bzw. eine Zwischenlösung zwischen Plan- und Marktwirtschaft dar. In den 1960er Jahren zog sich der Staat zunehmend aus der Wirtschaft zurück und die autonomen Firmen setzten auf den Markt und ausländische Partner.

Der in Europa bisher letzte Versuch, auf breiter gesellschaftlicher Ebene eine Arbeiterselbstverwaltung durchzusetzen, bildeten die Ereignisse 1980/81 in der Volksrepublik Polen. Die dabei in den Betrieben gewählten Arbeiterräte sollten nicht mehr nur mitbestimmen, sondern die staatlich eingesetzten Betriebsleitungen ersetzen. Regionale, überbetriebliche Koordinationen verschiedener Komitees der Arbeiterselbstverwaltung sollten sich zu landesweiten Koordinationen zusammenschließen, um die Steuerung und Planung der Entwicklung der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft in die Hand zu nehmen. Der erste nationale Kongress der Massengewerkschaft Solidarnosc, in der über die Hälfte aller Lohnabhängigen organisiert war, verabschiedete im Herbst 1981 eine Resolution, in der sie den Umbau der polnischen Gesellschaft in Richtung einer echten Arbeiterselbstverwaltung forderte. Eine demokratische und selbstverwaltete Reform in allen sozialen Bereichen sollten eine arbeiterdemokratische Gesellschaft schaffen, die Plan, Selbstverwaltung und Markt miteinander verbindet. Die Arbeiterklasse radikalisierte sich mehr und mehr und die Kräfteverhältnisse entwickelten sich beständig in Richtung der Arbeitermacht und einer sozialen Demokratie in den polnischen Betrieben. Die ArbeiterInnen hatten begonnen, einen eindeutig revolutionären Weg einzuschlagen. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Basisbewegung in den Betrieben die Machtfrage gestellt hätte. Die realsozialistische Bürokratie entschloss sich in dieser ausgewachsenen Staatskrise, die militärische "Lösung" zu suchen. Im Dezember 1981 wurde das Kriegsrecht ausgerufen und eine Militärdiktatur installiert. 10.000 AktivistInnen von Solidarnosc fanden sich in Internierungslagern wieder, alle von ArbeiterInnen besetzten Betriebe wurden von Panzern umstellt. Auch in diesem Fall zeigte sich die Tatsache, dass, egal wie stark die Arbeitermacht in den Betrieben verankert ist, die Rätebewegung die gesellschaftliche Machtfrage nicht vernachlässigen darf.

Konfliktlinien und offene Fragen

Aus den bisher angehäuften Erfahrungen mit der Arbeiterkontrolle, den Räten und der Selbstverwaltung ergibt sich erheblicher Diskussionsbedarf. Dabei muss genau zwischen vollständiger Selbstverwaltung mit uneingeschränkter Arbeiterkontrolle und einer Praxis der Mitverwaltung oder der Teilhabe im Rahmen staatlicher Institutionen differenziert werden. In Zeiten großer Veränderungen und gesellschaftlicher Umbrüche regen sich Belegschaften in den Betrieben und erlangen nicht selten Handlungsmacht. Doch dadurch überwiegen praktische Momente und unmittelbare Handlungsweisen vor Ort, was häufig den Blick der Basisinitiativen trübt, um zu erkennen, dass noch andere Ziele, beispielsweise machtpolitischer Art, im Spiel sind. Auch von Vollversammlungen gewählte Räte und Komitees garantieren nicht automatisch das Verschwinden von hierarchischen Strukturen und seien sie nur informeller Art. Die algerische Erfahrung mit der Selbstverwaltung 1962-1965 zeigt zudem, dass eine gesetzliche Absicherung bzw. Regulierung eher zur Aushöhlung der autonomen Strukturen in den Betrieben führt als zu ihrer Stärkung. Selbst in Fällen (vorübergehend) erfolgreicher Revolutionen tauchten in größerem Umfang Probleme in den selbstverwalteten Betrieben auf. Eine der Konfliktlinien betraf das Spannungsverhältnis von Basismacht und Gewerkschaften. In Spanien 1936/37 waren die Fabrikkomitees der CNT und UGT zwar demokratisch gewählt, aber ihre Interessen prallten auf diejenigen Teile der Belegschaften, die den Kampf gegen die Lohnarbeit fortsetzten. Das Verhältnis von abseits stehenden Beschäftigten, den Betriebskomitees und den landesweiten Gewerkschaften scheint sehr konfliktreich zu sein. Die Komitees sind basisdemokratische Organe der gesamten Belegschaft, die von Vollversammlungen eingesetzt, kontrolliert und gegebenenfalls auch wieder abgesetzt werden. Die Gewerkschaften sind hingegen die Interessensvertretungen der organisierten Teile der Belegschaften und zwar aller selbstverwalteten Betriebe. Betriebskomitees sind Organe einer einzelnen Arbeitsstätte und somit Ausdruck eines Arbeitsplatzes. Gewerkschaften hingegen sind Interessensgemeinschaften der gesamten Arbeiterklasse und somit nicht arbeitsplatzbasiert. Auch im autonomen Kampfzyklus der ArbeiterInnen 1967-1980 in Italien ergaben sich an ähnlichen Fragen größere Verwerfungen innerhalb der radikalen Linken. Diese spitzen sich zwischen dem Konzept der autonomen Arbeiterversammlungen in den Betrieben und den gewählten Fabrikräten zu. Operaistische und autonome Betriebsmilitante lehnten das Delegiertensystem der Fabrikräte ab und trugen damit dazu bei, dass die Gewerkschaften nach und nach ihren Einfluss in den Räten ausweiteten. Die Linksradikalen waren also an der Frage über die Beurteilung der Delegiertenräte gespalten und uneinig. Doch nicht nur innerhalb der selbstverwalteten Betriebe brechen Konflikte auf. Spanien 1936/37 hat gezeigt, dass das Überleben einer sozialen Revolution entscheidend davon abhängt, ob eine alternative Struktur zur staatlichen Macht aufgebaut wird. Es braucht ein verbindliches Netzwerk aus Komitees, Kollektiven und Kommunen sowie eine landesweite, verlässliche Koordination des politisch-wirtschaftlichen Lebens. Ohne Zweifel muss den revolutionären Komitees und den Kollektivbetrieben auch eine freiwillige Miliz zur Seite gestellt werden, um die Entstehung oder Restaurierung eines Staatsapparates verhindern zu können.

Die spanische Erfahrung lehrt, dass die Revolution nicht nach einem ersten großen Paukenschlag gewonnen ist, sondern viele Probleme damit erst anfangen. Daraus ergibt sich, dass eine nur auf selbstverwaltete Betriebe bezogene Strategie zwangsläufig scheitern muss. Das Schicksal eines Systems der Arbeiterselbstverwaltung wird im politischen Bereich entschieden. Selbst wenn eine Welle von erfolgreichen Enteignungen und Inbesitznahmen von Betrieben durch die Lohnabhängigen eine funktionierende libertäre Ökonomie in Gang setzt, entscheiden über den Fortgang der Kollektivwirtschaft die politischen Machtverhältnisse in der Gesellschaft.

Die historischen Erfahrungen der letzten einhundert Jahre haben gezeigt, dass die verschiedenen Formen der Arbeiterselbstverwaltung auch an ihren eigenen Begrenzungen gescheitert sind. Obwohl sich die ArbeiterInnen dabei oft in wichtigen Wirtschaftsbereichen der Kontrolle über die Produktionsmittel bemächtigt haben, haben sie es regelmäßig versäumt, die Selbstverwaltungsstrukturen in die Gesellschaft hinein auszuweiten. Dies gilt sowohl in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht. Ökonomisch muss die Arbeiterkontrolle von den Lohnabhängigen beständig ausgedehnt werden und die einzelnen selbstverwalteten Betriebseinheiten in einem größerem Rahmen koordiniert bzw. aufeinander abgestimmt werden. Eine ökonomistische Bewegung, die gleichzeitig keine politische Macht von unten aufbaut, steht den gesellschaftlichen Gegenkräften bald hilflos gegenüber.

Vorläufige Schlussfolgerungen

Isolierte selbstverwaltete Betriebe können den ungleichen Kräfteverhältnissen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nicht standhalten. Jenseits von Betriebsegoismus müssen Bemühungen in Richtung wechselseitiger Planungsprozesse und gesamtwirtschaftlicher Koordination erfolgen. Selbstverwaltungsinitiativen müssen sowohl auf Betriebsebene wie auf gesellschaftlicher Ebene zur Geltung kommen, denn die Atomisierung der Selbstverwaltung war bisher ein ernsthaftes Problem. Daher muss eine sinnvolle Regelung für den Interessensgegensatz zwischen einzelnen selbstverwalteten Betrieben und dem Allgemeinwohl, dem übergeordneten gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen gefunden werden. Es braucht also eine überregionale Koordination der selbstverwalteten Betriebe, Stadtteile und Kommunen. Und es wird eine landesweite und internationale Wirtschaftsplanung vonnöten sein. Doch auch diese politische und ökonomische Planung muss auf basisdemokratische Art und Weise, das heißt durch Räte von unten nach oben, vonstattengehen. Die bisher besprochenen Schwierigkeiten mit der Selbstverwaltung konzentrierten sich vor allem auf drei Faktoren:

a) Betriebsinterne Probleme;

b) Das politische Machtverhältnis zwischen Betrieb und Gesellschaft;

c) Überbetriebliche Ausweitung und überregionale Koordination.

Doch die soziale Emanzipation beinhaltet mehr als die Übernahme der Betriebe und die Ersetzung des Staates durch eine Rätedemokratie. Selbstverwaltung in der Ökonomie heißt Dezentralisierung und Autonomie in der Produktion sowie Entschleunigung der Wirtschaftsleistung, da die kapitalistischen Produktionsmethoden nicht einfach übernommen werden können. Es muss ein qualitativer Wandel stattfinden und die Trennung zwischen dem Politischen und dem Ökonomischen, das heißt zwischen Leben und Arbeit, aufgehoben werden. Dazu wird eine gesellschaftliche Kultur der Gleichheit vonnöten sein, die den bisherigen Geist der hierarchischen Autorität ersetzt. Das Rätewesen muss als klare Alternative zu den bisherigen ökonomischen und staatlichen Strukturen und Institutionen verstanden und praktiziert werden. Eine Art Mischform zwischen Räten und Parlamenten bzw. staatlichen Verwaltungen, sind der allmähliche oder sofortige Tod einer jeden Rätebewegung. Doch Befreiung hat auch eine soziale Dimension und die äußert sich unter anderem durch einen neuen, auf den Menschen bezogenen Inhalt in den gesellschaftlichen Beziehungen. Wie bereits angeklungen, spricht vieles dafür, dass zur Emanzipation die Trennung von Produktion und Konsum, von Leben und Arbeit aufgehoben werden muss. Die Geschichte der bisherigen Arbeiterräte wirft diesbezüglich jedoch mehr Fragen auf als sie Antworten darauf gibt. Alle Versuche der Arbeiterselbstverwaltung praktizierten zwar eine interne Demokratie und waren weitgehend antibürokratisch bzw. antihierarchisch, doch niemand richtete bisher die kapitalistischen Produktionsmethoden neu aus, um eine nichtkapitalistische, libertäre Ökonomie zu etablieren. Dies scheint einer der Knackpunkte einer auf Selbstverwaltung aufgebauten Kollektivwirtschaft zu sein.



Anmerkungen

[1] Die zahlreichen Fabrikkomitees waren als spontane Initiative von unten und ohne das Zutun oder der Anleitung von sozialistischen Parteien in den Betrieben entstanden. Sie waren ihrem Selbstverständnis nach zunächst nur Organe der Mitbestimmung bzw. Arbeiterkontrolle und somit noch nicht Ausdruck des Selbstverwaltungswillen der Werktätigen.

[2] Das Neue an der von Turin ausgehenden Bewegung der Fabrikräte war zum einen der offen formulierte Anspruch der ArbeiterInnen, nicht mehr nur LohnempfängerInnen zu sein, sondern als ProduzentInnen aufzutreten, das heißt, die volle Kontrolle über die Produktion zu erlangen. Darüber hinaus vertraten die Fabrikräte die Auffassung, dass sich alle Arbeitenden an dieser Initiative beteiligen konnten, was sie unweigerlich in Konflikt mit den herkömmlichen Gewerkschaften brachte.

[3] In der multiethnischen Sozialistischen Föderation Jugoslawien existierte eine regionale Selbstverwaltung, die zunächst auch funktionierte. Doch die Begleichung der enormen Auslandsschulden führte in den 1980er Jahren u.a. zu einem Reallohnverlust von 40 Prozent und trieb Jugoslawien in den Ruin. Die sozioökonomischen Ungleichgewichte zwischen den nördlichen Teilrepubliken (Slowenien und Kroatien) und den übrigen Bundesstaaten (Serbien, Bosnien, Montenegro, Makedonien) vertieften sich in der Folge und mündeten zuerst in einem innerjugoslawischen Wirtschaftskrieg und später in einem Bürgerkrieg.



Quellen und Literatur zum Weiterlesen:

Dario Azzellini/Immanuel Ness (Hrsg.): "Die endlich entdeckte politische Form". Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute. Neuer ISP Verlag, Köln 2012

Roman Danyluk: Befreiung und soziale Emanzipation. Rätebewegung, Arbeiterautonomie und Syndikalismus. Edition AV, Lich 2012

Oskar Anweiler: Die Rätebewegung in Russland 1905-1921. E.J. Brill, Leiden 1958

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Paul Pop:

"Lob des Kommunismus 2.0": Eine Kritik *

"Mit einem Wort, die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände. In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor."

Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei


Martin Birkner hat einen lobenswerten Versuch unternommen in einem Essay den Kommunismus als vernünftige und plausibelste Alternative zum Kapitalismus darzustellen. Geschickt verbindet er die Grundsätze der post-operaistischen Weltanschauung mit aktuellen Debatten der deutschsprachigen Linken. Obwohl er eingesteht, dass selbst in den sozialen Bewegungen die KommunistInnen (in Europa) meist eine kleine Minderheit darstellen, verbreitet er Zuversicht, da schon in der gegenwärtigen Gesellschaft Elemente bzw. Vorboten des Kommunismus zu finden seien. Glaube und Hoffnung sollen auch helfen.

Birkner will möglichst breite Allianzen schmieden und schlägt daher einen versöhnlichen Ton bezüglich anderer linker Gruppierungen an: Er selbst versteht den Kommunismus in erster Linie als Bewegung, die die gegenwärtigen Zustände aufhebt. Diese Bewegung müsste sich jenseits des Staates konstituieren. Eine linksreformistische Partei im Parlament könnte trotzdem von Nutzen sein, wenn es um die Durchsetzung fortschrittlicher Reformen oder die Abwehr von Repressionen ginge. Kommune-Projekte, Solidarische Ökonomie, Hausbesetzungen usw. können zur Umwälzung der Gesellschaft beitragen, wenn die Beteiligten über den Tellerrand der eigenen Szene herausblicken würden. Eine Partei sei heute nicht mehr eine Mittel der Befreiung, trotzdem brauche man Organisierung und Konstituierung von neuen Institutionen, die eine Beteiligung der Betroffenen an den wichtigen Entscheidungen möglich machen, ohne allerdings in einem "permanenten Plenum" die Gesellschaft zu erschöpfen.

Klassenfrage und "imperiale Lebensweise"

Besonders wichtig ist dem Autor die globale Perspektive eines "guten Lebens für alle". Nur durch eine Überwindung der "imperialen Lebensweise" in den Metropolen auf Kosten der Natur und den Menschen im Süden könne der Planet Erde gerettet werden. Die ArbeiterInnenklasse des globalen Nordens hätte in dieser Hinsicht viel vom Süden zu lernen (S.80-81). Ein Konsumverzicht in den reichen Ländern sei notwendig, sprich kein Auto, Verzicht auf häufigen Fleischkonsum, kein Einfamilienhaus usw. Der Leser wird aufgefordert, jetzt schon "kommunistisch" zu leben und möglichst auf Privilegien sowie bürgerliche Karriere zu verzichten (S.92-93). Hier entsteht der Eindruck, dass die Not zur Tugend gemacht wird. Ich denke bei diesen Ausführungen unweigerlich an die gegenwärtige Lebensweise des prekär-beschäftigen kinderlosen Aktivisten der österreichischen Linken.

Dass der Verzicht des Konsums von Kaffee, Haschisch, Tabak oder FIFA-Weltmeisterschaften hingegen nicht genannt wird, mag reiner Zufall sein oder auch nicht. Die "imperiale Lebensweise" breitet sich auch unter den neuen Mittelschichten aufsteigender Länder wie China, Indonesien, Indien oder Brasilien aus, was z.B. ein zentraler Faktor beim Anstieg des globalen Fleisch- und Zuckerkonsums ist. Trotz ätzenden Smogs und Dauerstaus scheinen diese neuen Mittelschichten in den Metropolen des Südens nicht vom Wunsch nach Auto und Eigenheim mit privaten Bediensteten in der Vorstadt abzubringen zu sein. Der österreichische Arme, der ohne Auto in einer Gemeindebauwohnung lebt, erscheint dagegen als relativ harmlose Figur. Die "imperiale Lebensweise" ist auch eine Klassenfrage.

Der Staatssozialismus war in seiner Sturm- und Drangphase nicht zuletzt eine Erziehungsdiktatur zur Begrenzung des Konsums. Mit den diversen Formen des späteren "Gulaschkommunismus" wurde das Programm der revolutionären Umgestaltung endgültig aufgegeben und ein hoffnungsloser Wettbewerb mit dem Westen um die bessere Konsumgesellschaft aufgenommen. Ob der Verzicht auf die "imperialen Lebensweise" auf Grund basisdemokratischer Entscheidungen herbeigeführt werden kann oder ob es so weiter geht bis das Öl ausgeht und die Rohstoffe zu teuer werden, sei einmal dahin gestellt. Eine verordnete Begrenzung des Konsums durch Rationierung von oben, und zwar für alle gleich, wäre noch eine dritte Möglichkeit, die in Betracht zuziehen wäre.

Soziale Bewegung als Projektionsfläche

Birkners Essay will Hoffnung produzieren, trotzdem macht er es sich oft zu einfach: Es entsteht der Eindruck, dass die Leerstellen, die die Partei und Arbeiterklasse als revolutionäre Subjekte in der Theorie hinterlassen haben, nun die sozialen Bewegungen füllen sollen. Sie sind schwer zu instrumentalisieren und unterliegen einem Zyklus des Aufkommens und Abflauens. Welche sozialen Bewegungen haben jedoch den in den letzten Jahren wirklich die kapitalistische Gesellschaftsordnung in Frage stellt? In den USA richtete sich die "Occupy"-Bewegung (2011-2012) gegen die Macht der Banken. Während des "Arabischen Frühlings" (2010-2011) wurde die soziale Frage nur am Rande gestellt und selbst in China fordern Protestierende selten den Sturz des bestehenden Systems.

In Südeuropa handelt es sich in erste Linie um Abwehrkämpfe. Alan Badoiu nannte die Bewegung in Ägypten sogar kommunistisch, obwohl sich die große Mehrheit der Beteiligten nie so bezeichnen würde. Nachdem die Linke ihre Hoffnung erst auf die Arbeiterklasse und dann die "bekämpften Völker der 3. Welt" projiziert hat, sind nun die sozialen Bewegungen dran.

In diesem Jahr zeigt es sich auch an den Beispiel der Proteste in Thailand und der Ukraine, dass soziale Bewegungen auch reaktionären Charakter annehmen können. In Thailand fordern die urbanen Mittelschichten die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts. In der Ukraine findet keine Abgrenzung von der faschistischen Swoboda-Partei und Nazi-Schlägern statt. Die Besetzung von Plätzen, Errichtung von Zeltlagern, "Karneval der Subjektivitäten", solidarische Versorgung der Protestierenden durch die Bevölkerung oder "Basisdemokratie" sind nicht unabhängig von den Zielen automatisch anti-staatlich und fortschrittlich.

Die Eigentumsfrage und ihre Feinde

Birkners Kommunismus scheint außerdem dem Staat und dem Kapital nicht viele Feinde zu haben. Marx und Engels hoben das Eigentum als die zentrale Frage des Kommunismus hervor. Birkner will hingegen den Gegensatz zwischen privaten und öffentlichen Eigentum relativieren, da die Verstaatlichung im Realsozialismus nicht zur Befreiung der ArbeiterInnenklasse geführt hätte. Er führt stattdessen den Begriff des "Entaneignung" ein und schreibt: "Er [der Kommunismus] wird eigentumslos sein, oder eben kommunistisch, und zwar nicht in der Bedeutung einer allgegenwärtigen Enteignung (wie die AntikommunistInnen bis heute nicht aufhören zu behaupten), sondern im demokratischeren und freieren Nutzen des gemeinsam produzierten Reichtums." (S.103) Die private Aneignung des Reichtums beruht aber nun mal auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln sowie Grund- und Boden. Wie soll gerecht "entangeeignet" werden ohne vorher zu enteignen? Ein großes Problem war in der Geschichte der kommunistischen Bewegungen in Westeuropa, dass Teile der Bauern und des Kleinbürgertums unter der Parole der Verteidigung des Privateigentums von der Reaktion mobilisiert werden konnten. Nicht nur in den Metropolen, sondern auch im globalen Süden besitzen nicht nur eine kleine Elite, sondern breite Teile der Bevölkerung Boden, Wohnungen oder Häuser in der ein- oder anderen Form. Dazu will Birkner auch noch die Kleinfamilie abschaffen, die eng mit dem Privateigentum verbunden ist. Der Kommunismus als Bewegung wird wohl nicht wenige Feinde haben und die Frage der Enteignung von Fabriken, Büros, Grund und Boden sowie Häusern ist nicht durch eine rhetorische Floskel zu umschiffen.

Birkner argumentiert, dass die Herrschenden oft Revolutionen in Blut erstickt haben, dennoch sollte man sich einer primär militärischen Strategie verweigern, da es schwer ist auf diesem Gebiet Paroli zu bieten und bewaffnete Bewegungen oft ihr emanzipatorisches Potential verloren hätten. Stattdessen kann sich der Autor "reflektierte Gewalt gegen Sachen" oder "Wehrkraftzersetzung" vorstellen (99-100). Siegreichen Revolutionen wurden oft durch ausländische Interventionen eine militärische Logik aufgezwungen (z.B. Frankreich 1792, Russland 1918 und 1941, Vietnam 1964-1975 oder Iran 1979). Die Verbindung von sozialer Umwälzung, politischer Mobilisierung und Nationalismus brachte eine beachtliche Fähigkeit des Staatssozialismus zur Führung moderner Kriege hervor. Es bleibt zumindest zu diskutieren, ob die Kriegserfahrung der Grund für das spätere Scheitern der Revolutionen war oder nicht. Birkner präsentiert eine sinnvolle Diskussionsgrundlage für die Diskussion was unter Kommunismus heute verstanden werden kann. In dem mollig warmen Wohlfühl-Pamphlet ist er allerdings einigen schwierigen Fragen aus dem Weg gegangen. Auch aus den Erfahrungen des Staatssozialismus ist sicher noch mehr zu lernen.


(*) Dieser Text bezieht sich auf das Buch: Martin Birkner, Lob des Kommunismus 2.0, Wien: Mandelbaum 2014, 108 Seiten, 10 Euro.

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Buchbesprechung von Karl Reitter

Roland Atzmüller: Aktivierung der Arbeit im Workfare-Staat
Arbeitsmarktpolitik und Ausbildung nach dem Fordismus

Münster: Verlag westfälisches Dampfboot, 2014, 198 Seiten, Euro 24,90

Roland Atzmüller ist ein ausgezeichneter Kenner der Regulationsschule und ihrer Debatten. Aus diesem Blickwinkel thematisiert der Autor die Transformation des so genannten Welfare-Staats in den Workfare-Staat. Schon in der Einleitung stellt Atzmüller klar, dass es kaum einen guten Grund gibt, rückschauend den klassischen Sozialstaat - Ziel von neoliberalen Attacken - zu idealisieren. "Durch die erzwungenen defensiven Kampfformen entsteht die Gefahr, dass die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz des Wohlfahrtstaates in kapitalistischen Gesellschaften ausgeblendet wird, die Bewahrung des Erreichten dieses in ein allzu positives Licht taucht." (10) Auch im Wohlfahrtstaat des Fordismus ging es darum, Menschen strukturell in Arbeitskräfte zu verwandeln und sie der "damit verbundenen Lebensweise" (12) anzupassen. Neu im Workfare-Staat ist nun die systematische Rekommodifizierung der Arbeitskraft und aller damit verbundenen Lebensbereiche steht. Das bedeutet, dass die "Reproduktion der Individuen und Familien in zunehmendem Maße zu einer (fiktiven) Ware werden" (16); die Sozialsysteme werden finanzialisiert, was zur paradoxen Situation führt, dass die gut verdienenden Arbeitskräfte vermittelt über die "kapitalgedeckten Fonds" (17) ein Interesse an hohen Profiten insbesondere im Finanzsektor entwickeln. Damit verknüpft kann ein wichtiges Kalkül des Workfare-Staat herausgearbeitet werden, nämlich Verhältnisse zu schaffen, in denen die "Instabilität und Krisenhaftigkeit ... der kapitalistischen Produktionsweise von den Individuen bewältigt werden muss." (20) Dieses in der Einleitung skizzierte Szenario wird nun in fünf Abschnitten genauer diskutiert.

In ersten Abschnitt knüpft Atzmüller an die Staatstheorie bei Nicos Poulantzas an und diskutiert dessen Bestimmungen wie die relative Autonomie des Staates gegenüber der Gesellschaft und die These, der Staat sei als materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen zu dechiffrieren. Der Rückgriff auf Poulantzas scheint deshalb nahezuliegen, als Poulantzas seine "kritische Analyse des Staates" mit der "Kritik der kapitalistischen Arbeitsteilung" (25) verbindet. Wenn sich also die Arbeitsteilung innerhalb der Produktion ändert, dann müsste sich auch der Charakter des Staates ändern, so eine von Atzmüller eher indirekt angesprochene Schlussfolgerung. Allerdings bringt der Autor gegen die Staatskonzeption von Poulantzas einige Einwände vor, die unter anderem in folgender Kritik terminiert: "Da für Poulantzas aber der kapitalistische Staat die intellektuelle Arbeit und das Wissen, von dem die Arbeitskräfte ausgeschlossen sind, verkörpert, können meines Erachtens wichtige Dimensionen der Regulation der Widersprüche der kapitalistischen Arbeitsteilung und der Erzeugung und Reproduktion des Gebrauchswerts der Ware Arbeitskraft nicht ausreichend erfasst werden." (40)

Im zweiten Abschnitt, den ich für den besten im vorliegenden Buch halte, beschäftigt sich Atzmüller insbesondere mit den Thesen von Schumpeter und der an Schumpeter anknüpfenden neo-schumpeterianischen Diskussion. Ich halte diesen Abschnitt schon deshalb für bedeutend, weil darin klar wird, wie sehr die gesellschaftliche Realität (auch) das Ergebnis systematischer und bewusster Interventionen und Eingriffe darstellt. Aus dem bloßen Wirken des Wertgesetzes allein können die Umbrüche vom Welfare-Staat zum Workfare-Staat keineswegs verstanden werden. Atzmüller reformuliert erstmals den Begriff der schöpferischen Zerstörung Schumpeters. Atzmüller zitiert einen diesbezüglichen Schlüsselsatz: "Gewöhnlich wird nur das Problem betrachtet, wie der Kapitalismus mit bestehenden Strukturen umgeht, während das relevante Problem darin besteht, wie er sie schafft und zerstört. (Schumpeter 1975; 139)" (53) Schumpeters Sichtweise ist der Auffassung Keynes, der stets von ökonomischen Gleichgewichtsbedingungen ausgeht und Maßnahmen vorschlägt, diese zu schaffen bzw. zu stabilisieren, diametral entgegengesetzt. Schumpeter hingegen favorisiert ein systematisches Eingreifen um adäquate kapitalistische Strukturen zu schaffen, hinderliche und nichtkapitalistische hingegen zu zerstören, wobei die Ausdrücke Schaffung und Zerstörung keineswegs bloß metaphorisch gemeint sind. Träger dieser schöpferischen Zerstörung ist nach Schumpeter der Unternehmer, der nicht unbedingt der Kapitaleigentümer sein muss. Sehr interessant sind die Bezüge zum "Dezisionismus eines Carl Schmitt" (57), die Atzmüller herstellt. Ebenso wie die Entscheidung bei Schmitt frei von moralischen oder gar demokratischen Legitimationen ist, sind es auch die Entscheidungen über die Schaffung und Zerstörung bei Schumpeter. "Das bedeutet, dass im schumpeterschen Ansatz der Unternehmer bzw. seine Aktivitäten jeglicher Kritik entzogen sind." (57) Während Schumpeter diese Fähigkeit zur Entscheidung "ontologisiert und zur besonderen individuellen Fähigkeit besonderer Menschen" (58) werden lässt, vollzieht sich in der Nachfolge eine bedeutsame Wendung. "Vielmehr wird" - in sich auf Schumpeter positiv beziehenden Theoriekontexten - "das Verständnis innovatorischer Aktivitäten ausgedehnt, sodass ein umfassender, sowohl die gesamte unternehmerische Organisation betreffender und fordernder als auch die gesellschaftliche Einbettung ökonomischer Entwicklung problematisierender praktischer Prozess" (62) angestrebt wird. Dass wir alle zu UnternehmerInnen werden sollen, das können wir in vielen Analysen lesen. Atzmüller gelingt es aber gestützt auf die Lektüre neo-schumpeterianischer TheoretikerInnen den eigentlichen Gehalt dieser Forderung aufzuzeigen, eben die Bereitschaft jenseits moralischer, ethischer oder sozial verantwortlicher Überlegungen das Werk der schöpferischen Zerstörung permanent am Laufen zu halten. In diesem Zusammenhang ist auch die Beobachtung des Autors relevant, dass "ein wesentlicher Teil des dominanten Regierungsdenken" (72) den Keynesianismus zugunsten der Kalküle Schumpeters aufgegeben hat. Der Neoliberalismus hat also nicht bloß die Theorie der Neoklassik auf seiner Seite, die jegliche Intervention in die Ökonomie verwirft, sondern die weitaus expansivere Theorie Schumpeters.

Im vierten Abschnitt greift Atzmüller erneut auf die Thesen von Harry Braverman zurück, der in seinem inzwischen klassischen Werk Die Arbeit im modernen Produktionsprozess (1974) eine systematische Dequalifizierung der Massenarbeit behauptete. Schon damals regte sich viel Kritik, noch weniger als damals können heute seine Ansichten als geltend behauptet werden. Atzmüller betont zurecht, dass "Selbstdarstellungsformen, Techniken der Gesprächsführung, Kleidung, Aussehen und Umgangformen, ein adäquates Beziehungsmanagement, ja Lebensstile insgesamt zentrale Elemente der Qualifikation der Arbeitskräfte im postfordistischen Kapitalismus" (97) geworden sind. Atzmüller erwähnt auch den Begriff des "wissensbasierten Kapitalismus" (93), leider fallen die diesbezüglichen Aussagen hinter bereits Erreichtes etwas zurück und münden in einem bloßen Arbeitsprogramm. "Für die grundlegende Kritik der Arbeits- und Produktionsprozesse im finanzgetriebenen Akkumulationsregime ist es aus meiner Sicht unerlässlich, eine kritische Theorie der qualifizierten Arbeit zu entwickeln." (100)

Der letzte Anschnitt stellt den Brückenschlag zum ersten her. Erneut wird der in Ablöse begriffene Welfare-Staat analysiert, diesmal auf die These von Karl Polanyi bezogen. Nach Polanyi wehrt sich die Gesellschaft und versucht Schranken gegen die destruktiven Wirkungen des Kapitalismus zu errichten. Atzmüller zitiert Claus Offe, der "in Anlehnung an Polanyi auf die Notwendigkeit der nicht-kapitalistischen Sicherung von Komplementärfunktionen zur Aufrechterhaltung der Gesellschaft des Kapitalismus" (113) spricht. Atzmüller zeigt im Anschluss, dass das Workfare-Konzept neue Anforderungen an die Arbeitskraft impliziert, die sich unter anderem folgendermaßen zusammen fassen lassen: "Im Zentrum der postfordistischen Regulationsweise steht ... die Anpassung der Gesellschaft bzw. der Individuen und ihrer Familien an die Erfordernisse der Verwertungsprozesse und ihrer Reproduktion durch Veränderung." (138) "Die Beschäftigten müssen demnach fähig und bereit sein, als Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft die Dynamik der Akkumulationsprozesse zu sichern. ... Das heißt, die Hegemonie des Kapitals über den Produktions- und Verwertungsprozess wird zu Medium und Inhalt der Lernfähigkeit der Ware Arbeitskraft." (168f)

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Martin Birkner

Warum ich als parteifreier Kommunist "Europa anders" unterstütze

Die österreichische Linke ist seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten in einem ziemlich traurigen Zustand. Dessen Ursache und Entwicklung darzulegen, fehlt hier der Platz. Ich möchte hier zunächst lediglich die für meinen Argumentationsgang wichtigsten Beteiligten in aller Kürze - und in abnehmender gesellschaftlicher Bedeutung - anreißen:

1. Die Sozialdemokratie und ihre Vorfeldorganisationen schaffen es nach wie vor, Linke in ihrem Einflussbereich, wenn nicht sogar in ihren Institutionen, zu halten. Dies funktioniert einerseits über den Verweis auf noch größere Übel (allen voran die FPÖ) und oder jenen auch mangelnde Alternativen - und ist seit Jahrzehnten ein Haupthindernis für die Herausbildung eines radikalen kapitalismuskritischen Projekts auf repräsentativ-demokratischer Ebene.

2. Die Grünen treten zwar in einigen Punkten als glaubwürdige Alternative zur sozialdemokratischen Politik auf, ihre Gier nach Regierungsverantwortung und die damit konstitutiv verbundene Absage an eine grundlegende Transformation der Gesellschaft lässt sie aber ebenso bestenfalls als kleineres Übel erscheinen; und dieser Schein trügt nicht. Allerspätestens mit der Zustimmung zum Europäischen Stabilitätsmechanismus sind die Grünen zum verlässlichen Partner des Kapitals geworden.

3. Weite Teile der (post)autonomen Linken sind ebenfalls kaum imstande, ihre gut passenden Scheuklappen abzuwerfen. Sie konzentrieren sich oft Single-Issue-Themen, in denen gute und wichtige politische Arbeit geleistet wird (Antifa, Antirassismus, Ernährungssouveränität, um nur einige zu nennen), verabsäumen aber, ihrer Aktivismus strategisch mit anderen Kämpfen und Subjekten in Beziehung zu setzen. Dies gilt zum Teil auch für unorganisierte AktivistInnen in sozialen Bewegungen, die naturgemäß den Zyklen dieser Bewegungen stärker unterworfen sind als organisierte Linke.

4. Zivilgesellschaftliche Gruppen und Netzwerke und linke NGOs teilen grotesker Weise mithin das Problem der (Post)Autonomen, lösen es jedoch einerseits durch kontinuierliche Kampagnenarbeit (die sich oft in Appellpolitik erschöpft - Petitionen, Petitionen, Petitionen ...), andererseits durch Bündnisarbeit mit anderen NGOs oder auch Gewerkschaften. Letzteres führt, beispielsweise bei Attac!, dazu, dass der Horizont der Sozialpartnerschaft nicht überschritten werden darf, da mensch sonst die BündnispartnerInnen aus dem ÖGB verlustig gehen. Mit der Konsenspolitik einher geht die tendenzielle Abwendung von sozialen Basisbewegungen und radikaleren Artikulationsformen des Protests.

5. Die Organisationen der radikalen Linken, in Österreich und vor allem in Wien meist mehr oder weniger trotzkistischer Prägung, schaffen es entweder nicht, sich aus dem Bannkreis der SPÖ (mal in der mehr gewerkschaftlichen, mal in der mehr parteiförmigen Ausprägung) zu lösen - oder aber, sie hängen einem Begriff ihres zentralen Kollektivsubjekts - der ArbeiterInnenklasse - an, die den gegenwärtigen Verhältnissen nicht (mehr) adäquat ist, und sind so zur Stagnation verdammt. Internationale Verflechtungen der Gruppen und persönliche Animositäten tun ein Übriges dazu, dass die Schrebergärten klar abgesteckt sind und dies auch so bleibt.

Europa anders! Ist ein Zusammenschluss von KPÖ, Wandel und der Piratenpartei. KritikerInnen von links werfen der Kommunistischen Partei ihre Orientierung ausschließlich "nach rechts" vor. Diese Kritik scheint zunächst berechtigt: Wem es an einer grundlegenden Überwindung kapitalistischer Verhältnisse gelegen ist, wendet sich wohl weder an den Wandel noch an die Piratenpartei. Erstere stehen ganz klar für eine Reaktualisierung reformistischer Umverteilungspolitik und zweitere stellen zwar wichtige Forderungen im Rahmen bürgerlicher Freiheitsrechte auf, aber der Überschreitung in Richtung Kommunismus stehen beide sicherlich skeptisch gegenüber. Warum aus radikal antikapitalistischer Perspektive "Europa Anders" dennoch unterstützenswert ist, möchte ich anhand zweier Aspekte darlegen:

Weil eine revolutionäre Partei im 21. Jahrhundert ein Ding der Unmöglichkeit ist und "Europa anders" einige Schrebergartenzäune der politischen Landschaft links der Mitte niederreißt.

In den letzten Jahren sahen wir vereinzelt soziale Bewegungen, die gar nicht so klein waren (Unibrennt, Refugee-Bewegung, Demonstration "Eure Krise zahlen wir nicht!"), aus denen jedoch weder eine Regruppierung der organisierten Linken hervorgegangen ist, noch eine Erhöhung ihrer nach wie vor marginalen gesellschaftlichen Bedeutung. Auch parteipolitisch sind mit Ausnahme der steirischen und insbesondere der Grazer KPÖ für die Linke kaum Erfolge zu verzeichnen, obwohl die gesellschaftlichen Voraussetzungen angesichts der Krise und der gegen die Mehrheit der Bevölkerung gerichteten Krisenpolitik eigentlich der Linken in die Karten spielt. In der organisierten radikalen Linken gab es einige Umgruppierungsprozesse, insbesondere in der in Wien dominanten trotzkistischen Szene drückt sich dies jedoch nicht in einer größeren politischen Stärke, sondern lediglich in der Erhöhung der Zahl der Kleingruppen bei insgesamt wohl gleichbleibenden Stand von AktivistInnen. Offensichtlich schaffen es diese Gruppierungen seit Jahren nicht, zu wachsen, obwohl sie gerade im Schulbereich sehr aktiv sind und dort auch Leute gewinnen. Es gelingt also nicht, AktivistInnen länger in den Organisationen zu halten, was auch aufgrund der starren und antiquierten leninistischen Ideologie nicht weiter verwundert.

Meine eigene politische Position ist, dass grundlegende soziale Veränderungen nur durch die Selbstorganisation im Rahmen von Massenbewegungen ins Werk zu setzen ist. Hierzu gibt es keine Blaupause, selbst den sympathischen Patentrezepten wie "Rätedemokratie" ist zu misstrauen. Es führt kein Weg dran vorbei, in den jeweils konkreten Situationen dementsprechende Formen der Organisation - und auch Institution - zu finden. Ein Überschreiten des kapitalistischen Horizonts ist dabei untrennbar mit dem der Staatsform verbunden. Sämtliche Varianten der Gesellschaftsveränderung via Machtübernahme im Staat sind historisch gescheitert und ad acta zu legen. Dies bedeutet jedoch nicht, in schlecht-anarchistischer Manier den Staat einfach rechts liegen zu lassen. Auf geraume Zeit hin wird er uns wohl oder Übel noch begleiten, sei es als repressiver Polizeiapparat (dem freilich keinerlei Sympathien entgegengebracht werden sollte), als die mannigfaltigen Institutionen des nationalen Sozialstaates (deren repressive Aspekte genauso zu bekämpfen sind wie ihre erhaltenswerten vor Privatisierungen zu verteidigen) oder die Formen europäischer Staatlichkeit. Radikale, ja revolutionäre Veränderungen anzustreben und auf die Artikulation einer repräsentativ-politischen Linken auf staatlichem Terrain glauben verzichten zu können, ist meines Erachtens naiver Idealismus. Wer nach wie vor auf das Projekt einer revolutionären Partei setzt, wird mit "Europa Anders!" nichts anfangen können.

Das Problem liegt jedoch, wie ich versucht habe zu beschreiben, nicht im zu wenig radikalen Auftreten der Wahlallianz, sondern in den Vorstellungen einer revolutionären (Avantgarde)Partei, die möglicherweise dem gesellschaftlichen Stand des frühen dem 20. Jahrhunderts angemessen war, heute aber keine Perspektive einer befreienden Umwälzung mehr weisen kann. Die Krise der repräsentativen Demokratie ist dergestalt, dass - so sie das je konnten - Parteien strukturell keine andere Möglichkeit haben, als a) Schlimmeres zu verhindern und b) ein produktives - das bedeutet nicht: konfliktfreies - Verhältnis mit sozialen Bewegungen und fortschrittlichen sozialen Experimenten zu pflegen. Dementsprechend ist eine Formierung einer neuen linken Kraft auf Wahlebene zu begrüßen, last not least weil sich hier Kräfte zusammengefunden haben, denen es sicherlich viel Kraft und Energie gekostet hat, ein solidarisches Miteinander zu erstreiten. Emanzipatorische gesellschaftliche Veränderung ist eben ein Prozess, bei dem sich die beteiligten (Kollektiv)subjekte auch selbst ändern, oder wie Rudi Dutschke einst richtig sagte: "Politik ohne innere Veränderung der an ihr Beteiligten ist Manipulation von Eliten."

Im Rahmen der globalen Protestbewegung der Nullerjahre und auch jener der Sozialforen bildete sich innerhalb der "gesellschaftlichen Linken" ein neuer Ton des Miteinander-Umgehens heraus. Nicht mehr das oberlehrerhafte Rechthaben und Überzeugen-Wollen stand im Zentrum der Diskussionen, sondern die Suche nach dem "größten gemeinsamen Vielfachen", also jenen Punkten, an denen gemeinsam agiert werden kann und die die Bewegung insgesamt voranbringen, ohne die Differenzen zwischen unterschiedlichen Ansätzen zu vereinheitlichen oder gar auszulöschen. Auch wenn der Zyklus der oben genannten Bewegungen inzwischen zu Ende ist, das offene Projekt "Europa anders" ist doch ein Echo dieser Zeit und ihrer positiven Veränderungen. Dass Organisationen mit völlig unterschiedlichen Traditionen und Demokratieverständnissen sich auf ein derartiges Experiment einlassen, spricht für ein Verlassen eingefahrener Pfade repräsentativ-politischen Handelns. Dieses Verlassen ist angesichts der völligen Blockade des Weiter-Wie-Bisher der etablierten Parteien ein notwendiger Schritt hin zur Öffnung neuer politischer Spielräume. Dass die einst so autoritäre KPÖ dabei so weit geht, ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, spricht für die Ernsthaftigkeit des Projekts. Die Zeit nach der Europawahl wird zeigen, ob sie reif ist für ein neues und dauerhaftes Projekt linker organisatorischer Neuzusammensetzung.

Weil "Europa anders" ein Ausdruck auf die Veränderung der Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse ist, der in die richtige Richtung geht

Ein konstitutives Merkmal linken Denkens und Handelns war und ist die zentrale Bedeutung von Arbeit - sowohl in der Gesellschaftsanalyse als auch in der Ausrichtung der praktischen Politik. Nicht zufällig was der Begriff "Linke" über weite Strecken des 20. Jahrhunderts in Europa synonym mit jenem der "Arbeiterbewegung". Nur war das "Revolutionäre Subjekt" ArbeiterInnenklasse in der Realität kaum jeweils so homogen wie in den Vorstellungen der ParteistrategInnen unterschiedlichster Couleurs. Da aber nicht sein darf, was nicht sein soll, wurde die vielzitierte "Klasseneinheit" eben von oben hergestellt, durch die Partei - oder eben durch die zum Staat gewordene Partei, unabhängig ob Sozialdemokratie oder KommunistInnen. Dennoch kannten zumindest bestimmte Perioden der sogenannten fordistischen, d.h. auf Großindustrie und Fliessbandproduktion beruhenden, Periode eine relative Vereinheitlichung der Lebens-, Arbeits- und auch Kampfverhältnisse der ArbeiterInnen. Dass zumindest von diesen Prozessen MigrantInnen (damals noch "GastarbeiterInnen"), der Großteil der Frauen, behinderte Menschen und viele andere mehr ausgeschlossen waren, kam in den sozialen Auseinandersetzungen um und nach 1968 ebenso ans Tageslicht, wie die Rolle der Ausbeutung der Natur im Kapitalismus.

Angestoßen durch die gesellschaftlichen Veränderungen von 1968 und danach können wir aber nicht nur eine Multiplizierung sozialer Bewegungen beobachten, sondern auch eine damit eng verbundene Transformation der Arbeitsverhältnisse selbst. Häretische Strömungen der ArbeiterInnenbewegung wie der italienische Operaismus oder die französische Gruppe "Socialisme ou Barbarie" erkannten bereits in den 1950er und 60er-Jahren die Bedeutung einer genauen Analyse dieser Transformationsprozesse. Entgegen den an Staat und Partei orientierten Mehrheitsströmungen setzten sie auf eine unmittelbar sich als politisch verstehende Untersuchung dieser Prozesse; und dies nicht aus wissenschaftlichem oder sozialtechnischem Interesse, sondern um unter Einbeziehung der ArbeiterInnen in die Untersuchungen das Verständnis der "Klassenzusammensetzung" selbst zu einer Waffe im politischen Kampf von unten zu machen.

Diese methodische Grundlage taugt auch heute noch, um die radikalen Veränderungen unserer Arbeitswelt zu verstehen: Flexibilisierung, Prekarisierung, Scheinselbständigkeit, die Rolle der (Autonomie der) Migration, die Veränderung der geschlechtlichen Arbeitsteilung und vieles mehr. Im Umfeld der euromayday-Paraden zum Beispiel, aber auch linker Forschungs- und Zeitschriftenprojekte gab es in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine Vielzahl derartiger Untersuchungen, die bei all ihrer Unterschiedlichkeit doch ein Ziel im Blick behielten: Forschung nicht als positivistische Akkumulation von Wissen zu verstehen, sondern als politisches Instrument zur besseren Ausstattung der Arbeitenden selbst in ihren Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Patentrezepte aus der Garküche des fordistischen Kapitalismus taugen aus dieser Perspektive nur wenig, um diese Veränderungen zu beschreiben und offensive Kämpfe auf der Höhe der Zeit zu führen.

Das bedeutet keinesfalls, die nach wie vor existierenden ArbeiterInnen in Industriebetrieben oder auf die Waffe des Streiks zu "vergessen", sehr wohl aber braucht es eine drastische Erweiterung des Arsenals an Methoden und Kampfformen in der Auseinandersetzung mit dem neoliberalen "Postfordismus". Dabei haben sich einige Themenfelder herauskristallisiert, die das Potenzial haben, unterschiedliche soziale Auseinandersetzungen mit einander produktiv zu verbinden:

- Der Kampf um die Commons, d.h. um die gemeinsame Nutzung und gegen die kapitalistische Aneingung von Gemeingütern, seien sie materieller oder immaterieller Natur

- Der Widerstand gegen die allgegenwärtige Überwachung und Bespitzelung, die im Rahmen der permanenten Enteignung, Überwachung und Privatisierung des öffentlichen Raumes stark in die Commons-Thematik hineinreicht

- Die Perspektive einer radikalen Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, der durch die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit ein Ausmaß erreicht hat, das selbst unter Abzug des riesigen "umweltvernichtenden Anteils" ein gutes Leben für alle bereits heute ermöglichen würde. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist hievon ein wichtiger Teil.

- Die radikale Umorientierung gesellschaftlicher Wertvorstellung weg von der aufs Engste mit dem kapitalistischen Wachstumsimperativ verbundenen "imperialen Lebensweise" hin zum bereits oben genannten "guten Leben für alle". Diese Auseinandersetzung ist nicht nur, aber auch eine um die Wiederaneignung der Zeit (und zwar nicht nur quantitativ)

- Die Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit für Menschen statt für das Kapital.

Nach dieser zugegeben etwas weitläufigen Abschweifung komme ich zurück zur selbst gestellten Eingangsfrage, nämlich warum ich "Europa Anders!" unterstütze: Weil ich in all den oben genannten Punkten Anknüpfungspunkte sehe, die eine gesellschaftliche Bewegung der Befreiung unterstützen können. Europa Anders! wird diese Errungenschaften für uns nicht erkämpfen, "das müssen wir schon selber tun!", aber wenn es auf der Wahlebene die bescheidene Möglichkeit gibt, Transformationsprozessen, die in die richtige Richtung gehen, einen Ausdruck zu geben, sollte die (radikale) Linke nicht Abseits stehen bleiben.

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IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 15. Mai 2014
Redaktionsschluss der Nr. 51: 18. August 2014

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Medieninhaberin: Verein für sozialwissenschaftliche Forschung, 1170 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Jannik Eder, Robert Foltin, Maria Gössler, Stefan Junker, Franz Naetar, Karl Reitter, Walter S.

Layout: Karl Reitter

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse"

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: grundrisse (Wien, Print)

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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 50, sommer 2014
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2014