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ICARUS/011: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 2/2009


ICARUS Heft 2/2009 - 15. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
­60 Jahre NATO - 120 Jahre Friedensbewegung

Fakten und Meinungen
European peace forum - epf
Gabriele Senft
Irene Eckert
Gregor Schirmer
Horst Schneider
Hans Fricke
Gisela Steineckert
Roger Reinsch
Werner Roß
N. Büchner
Nein zur NATO - Nein zum Krieg
Auf dem Weg nach Belgrad
Belgrader Frühling 2009
Nein zur Militarisierung der Europäischen Union
­4. November '89 auf dem Alex
Jubiläen mit Fallstricken
Wär das Wetter schlecht gewesen
Lied der Würde
Die Mär vom "Rechtsstaat in abstracto"
Liebt das Buch - die Quelle des Wissens

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Maria Michel
Hilmar Franz
Siegfried Wege
Zu unserem Titelbild
Den großen Zeitlügen den Mythos nehmen
Irritation und Fassung

Personalia
Rüdiger Bernhardt
Erhard Thomas
Der Dichter Volker Braun ist 70 und fährt "... fort mit der Übung"
Erinnerungen an Willi Stoph

Rezensionen
Manfred Wekwerth
Wolfgang Hütt
Peter Michel
Klaus Eichner
Maria Michel
Immer noch: Stichwort Fabel
Griechengötter in der Kunstgeschichte der DDR
Meisterstücke dialektischen Denkens
Roman und Wirklichkeit
Vertrauen haben?

Marginalien



Echo
Aphorismen
Unsere Friedenspreise

Raute

Kolumne

Wolfgang Richter

60 Jahre NATO - 120 Jahre Friedensbewegung

"Friedensbewegung" ist kein neues Wort. Die moderne Friedensbewegung als eine eigenständige gesellschaftliche Kraft entstand Ende des 19. Jahrhunderts, als zwischen den imperialistischen Mächten, (insbesondere) Deutschland, England, Frankreich, Russland, den USA, Japan und Italien der Streit um die Neuaufteilung der Welt entbrannte. Er wurde 1898 von den USA eröffnet, die im Kampf um Kuba, die Philippinen und Puerto Rico Spanien den Krieg erklärt hatten. Die so genannten Burenkriege Englands, die gemeinsame Intervention imperialistischer Staaten in China und - nur wenig später - der russisch-japanische Krieg waren zwar "weit weg", doch sie erschütterten Europa tief und bestärkten das allgemeine Gefühl eines drohenden Weltkrieges, "wie ihn die Weltgeschichte niemals gesehen". Vor ihm hatten Engels, Bebel und W. Liebknecht bereits zwanzig Jahre zuvor eindringlich gewarnt. Schon 1905 erschien ein "Handbuch der Friedensbewegung" in Leipzig und ihre Ideen galten als in der ganzen Welt verbreitet. Die Antikriegskräfte hatten sich nicht unabhängig von den mutigen Kämpfen und dem starken Impuls der Sozialdemokratie gegen den Krieg entwickelt.

Das Vorgehen der Herrschenden gegen die Friedensbewegung trug ähnliche Züge wie heute, wie wir auch bei den Aktionen der Friedensbewegung anlässlich der NATO-Ratstagung zum 60. Jahrestages der NATO-Gründung sahen. Zunächst versuchte man sie nicht zu beachten, totzuschweigen oder "mit einem spöttischen Achselzucken abzutun", als Hirngespinste. Doch bald wendeten sich um 1900 auch Völkerrechtler (Zorn, Niemeyer) und andere Wissenschaftler diesem unübersehbaren Phänomen zu, "das schon direkten Einfluss auf die praktische Politik gewonnen" hatte und das man nicht länger "als Utopie beiseite ... schieben" könne. 1903 setzte sich als einer ihrer aktiven Mitglieder der ungarische Politiker Graf Apponyi vor Vertretern fast aller europäischer Parlamente mit der These auseinander, "dass man die Kriege niemals abschaffen wird, solange man nicht die menschliche Natur zu ändern imstande sein wird". Und auch bürgerliche Vertreter kamen zu der Schlussfolgerung, dass es die Gesellschaft selbst ist, die man ändern muss. Es war die Kritik des Militarismus eines historisch konkret vorliegenden Imperialismus, die im Zentrum der Friedensbewegung stand.

Vor hundert Jahren hatte es noch keinen Ersten Weltkrieg gegeben, keine Massenvernichtungswaffen und Trägermittel bis zu allen Orten des Globus und die Kriegsmacht der Medien steckte eher noch in den Kinderschuhen. Doch die Kriegsfurcht war sehr präsent. Hat sie seither - unterbrochen von Kriegen - eher abgenommen? War das Ende des Sozialismus auch ein Ergebnis dessen, dass man seine Kraft als Friedensgesellschaft minder zu schätzen begann? Und warum? Das Überleben ist die Probe auf jedes soziale System, jeglichen Humanismus und jede Kultur - ein rigides Werturteil. Die Angst, die Hoffnung auf Überleben nicht mit den Zielen der Gesellschaft verbinden zu können, ist stets mit einer tiefen Krise des Menschen verbunden. "Die junge Generation lebt nicht mehr mit unserem Gefühl für Gefahren", sagte einer der bekanntesten sowjetischen Atomwissenschaftler von Arsamas 16, Wladimir Belugin, 1991. Das gilt heute eher noch mehr. Ich wundere mich immer wieder über die Mobilsierungskraft und die Klarheit der Forderungen der Friedensbewegung zum Zeitpunkt ihres Entstehens.

Die Friedensbewegung trat dafür ein, dass die großen Rüstungslasten vermindert werden, die man den "Fluch der Zivilisation" nannte, dass der "Übelstand des Wettrüstens" beseitigt, die großen politischen Streitfragen friedlich geregelt werden und das Recht an die Stelle der Macht tritt. Man wendete sich gegen die "Zügellosigkeit eines Teils der Presse", die die "hauptsächlichste, wenn nicht die einzige Gefahr Europas bildet" und nannte einen "Krieg zwischen europäischen Mächten den Allgemeinen Bankrott Europas". Man pries "den Geist, der es jeder europäischen Regierung zu Bewusstsein bringt, dass sie ein Verbrechen begeht, wenn sie die Nation in den Krieg treibt" (Balfour). Und man konnte in dem sechsbändigen und in viele Sprachen übersetzten Werk des russischen Staatsrats von Bloch "Krieg" lesen, dass dieser keine rein militärtechnische Angelegenheit sei, dass in ihm wirtschaftliche, soziale und völkerpsychologische Erscheinungen mitsprechen, dass aber heutzutage "ein Krieg zwischen den gleichgerüsteten modernen Großstaaten vom Standpunkte der Vernunft aus betrachtet ein Unding wäre, ja, dass er technisch unmöglich sei und dass er, wenn er doch aller Vernunft entgegen, geführt werden würde, den unweigerlichen Ruin der dabei Engagierten mit sich bringen müsse, so dass es keinen Sieger mehr, sondern nur noch Besiegte geben könne." Den Satz kennen wir noch sehr gut aus Kriegsfolgenabschätzungen im nuklearen Zeitalter.

Bündnisfragen standen schon damals im Zentrum der Entwicklung der Friedensbewegung und man beklagte: "Das ganze Unheil, das unsere Zeit bedrückt, liegt mit einem Wort in dem Mangel einer dem Bedürfnis dieser Zeit angepassten internationalen Organisation." (A. H. Fried)

Das klingt auch wie ein Stoßseufzer der Organisatoren des grenzüberschreitenden Anti-Nato-Protestes zum 60. Jahrestag ihrer Gründung im Raum Baden-Baden, Strasbourg und Kehl. Nach einem sehr großen Aufwand von Koordinierungstreffen und Konferenzen und über 600 beteiligten Organisationen waren letztlich zu geringe Teilnehmerzahlen erreicht worden und die Wirkung beeinträchtigende gewaltsame Begleitumstände, auf die man allerdings hätte wetten können, zu beklagen. Nun ist es vielleicht ohnehin kein glückliches Ansinnen, der NATO hinterher zu rennen, um gegen sie zu protestieren, statt die Regierungen der Mitgliedsländer in ihren Hauptstädten an den Pranger zu stellen, wo man allein schon mehr "Laufkundschaft" hätte als bei der Rheinschifffahrt und nicht wie in Rostock und in Strasbourg den Nahverkehr stilllegen kann, damit die Demonstranten ihre zentralen Veranstaltungsräume nicht erreichen können. So gesehen, könnte man sagen, sind 30.000 Demonstranten in Strasbourg nicht wenig. Aber man kann auch nicht übersehen, dass die Friedensbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg weit größere Veranstaltungen von Hunderttausenden Teilnehmern zu organisieren in der Lage war, im Kampf gegen den Atomtod, für Abrüstung und Entspannung. Ein Menetekel? Nehmen wir die oft als Wendepunkt in der deutschen Friedensbewegung bezeichnete Demonstration gegen die atomare Bedrohung, zu der sich am 10.10.1981, inmitten der Nachrüstungsdebatte 300.000 Menschen in Bonn versammelt hatten. Wie war das möglich? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Der "Terrible Simplificateur" der Frontstellungen im Ost-West-Konflikt ist verschwunden, doch die Gefahren atomarer Kriege sind dadurch noch gewachsen. Niemand kann aufatmen, dass die Kriegsgefahr gebannt sei. Auch in Heiligendamm waren nicht mehr Protestierende. Es liegt nicht an Bush jun. oder an der Befreiung von diesem präsidialen Albtraum.

Woher aber hatte die Friedensbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Motivation? Sie war sehr vielfältig und tief verankert in zahlreichen Strömungen. Auch Berta von Suttner oder Leo Tolstoi waren ihre Funktionäre. Die Friedensbewegung, vor allem in Europa und den USA verankert, veranstaltete etwa jährlich Weltfriedenskongresse - von Chicago bis Monaco und große Demonstrationen. Auch eine Sammlung von zwei Millionen Unterschriften war ihr möglich. Und bei jener legendären Großen Friedensversammlung vom 27. September 1906 in Strasbourg dürften nicht zu wenige Friedensaktivisten gewesen sein.

Damals gab es den Kampf um die Neuordnung der Welt, der nicht wenig gemeinsam hatte mit der heutigen Situation des Kampfes um eine neue Weltordnung, der sich der Stellvertreter des neuen USA-Präsidenten Biden wohl nicht nur bis vor kurzem verschrieben hat. Und auch Friedensdemagogie gab es damals zuhauf, so dass selbst Wilhelm II. die Friedensbewegung mit schönen Sprüchen zu irritieren vermochte, wenn er öffentlich von der Solidarität der Völker redete und intern mit aller Brutalität den Krieg nach innen und außen - auch in dieser Reihenfolge - vorbereitete. Es ging um das Jahr 1906, zu dem der deutsche Kaiser erklärte, das Jahr sei "zum Kriegführen äußerst ungünstig". Er begründete das vor allem damit, dass "wir wegen unserer Sozialisten keinen Mann aus dem Lande nehmen könnten, ohne äußerste Gefahr für Leben und Besitz der Bürger. Erst die Sozialisten abschießen. Köpfen und unschädlich machen, wenn nötig per Blutbad, und dann Krieg nach außen. Aber nicht vorher und nicht a tempo."

Strasbourg und Strasbourg liegen näher beieinander, als man annehmen möchte. Ein Vergleich zeigt auch, dass sich die Macht der Friedensbewegung nicht ohne die sozialistischen Zukunftsziele der Menschheit in notwendiger Stärke zur Geltung bringen lässt. Umgekehrt wird das Fortschrittspotential der sozialistischen und kommunistischen Parteien und Organisationen sich nicht entfalten, ohne sie zugleich als Friedensbewegung zu entwickeln. Schon Karl Marx hatte den Wert der Friedensbewegung für die Arbeiterbewegung erkannt, wenn sie auch nicht in ihr aufgehen konnte und wollte. Er war einer der Mitbegründer der internationalen Friedensbewegung und nahm 1867 in Genf als Einzelperson, doch nicht ohne Auftrag, an der Konstituierung der "Ligue de la Paix et Liberte" teil. Die Arbeiterinternationale wies aus diesem Anlass auf die Möglichkeiten hin, die in der Friedensarbeit liegen. "Die Friedensbestrebungen bieten der Arbeiterklasse und freisinnigen Bourgeoisie einen Sammelpunkt, da sich in dieser Angelegenheit die Interessen beider in Übereinstimmung finden". Das hat an Aktualität nicht verloren. Doch die imperialistische Ideologie und die Medienwelt haben mit ihrer Verteufelung des historischen Sozialismus und seiner Gleichsetzung mit Faschismus zugleich Bündnisbarrieren errichtet, die ihr gewollte und große Freiräume für Kriegspropaganda unter humanitärem Deckmantel und in gesinnungsethischer Verkleidung geben, sei es "humanitäre Intervention" oder "responsibility to protect", dass man vor Angst erschaudern möchte. Doch gerade auch angesichts der notwendigen vielfachen Stärke der Friedensbewegung heute, kann man der wertvollen Erfahrungen von damals - wie wenig sie das Jahrhundert auch zu prägen vermochten - noch um so weniger entbehren.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Harald Nestler und Calude Delevaque auf der Europäischen Friedenskonferenz im Mai 2009
- Zivadin Jovanovic, jetziger Präsident des Belgradforums

Raute

Fakten und Meinungen

European peace forum

Nein zur NATO - Nein zum Krieg

Unter dieser Losung fand am 14. und 15. März 2009 in Berlin eine vom Europäischen Friedensforum, dem Weltfriedensrat und der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V. einberufene Europäische Friedenskonferenz statt. Politisches Ziel der Konferenz war es, im Rahmen der Aktionen der europäischen Friedensbewegung gegen den NATO-Gipfel in Straßburg, Kehl und Baden-Baden von Berlin aus ein Zeichen gegen die aggressive Politik und Praxis der NATO sowie ihrer Führungsmacht USA zu setzen. Vertretern von Friedensgruppen, Parteien und anderen gesellschaftlichen Organisationen aus Ost- und mitteleuropäischen Ländern sollte die Möglichkeit gegeben werden, ihre Positionen in diese Bewegung einzubringen.

Mehr als 160 Vertreter von Friedensgruppen und gesellschaftlichen Organisationen aus 10 Ländern - Belarus, Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Polen, Russland, Serbien, Tschechien und der Ukraine - waren der Einladung gefolgt.

In den Referaten und Diskussionsbeiträgen wurde einhellig zum Ausdruck gebracht, dass mit dem Überfall der USA und der NATO auf Jugoslawien vor nunmehr 10 Jahren Frieden und Sicherheit in Europa und in der Welt mehr denn je bedroht sind. Die NATO ist mit ihrer Strategie der humanitären Interventionen in ein neues Stadium ihrer Aggressivität eingetreten. Mit der Osterweiterung, der Organisation sogenannter bunter Revolutionen, mit dem medialen Aufbau neuer Feindbilder haben die USA und die NATO die Situation weiter verschärft.

Die Regierenden in den europäischen Ländern wurden aufgefordert, einen wirksamen Beitrag zur Beilegung von Konflikten, namentlich im Nahen und Mittleren Osten und anderen Brennpunkten der Welt mit friedlichen und nicht mit militärischen Mitteln zu leisten. Sie sollten einen politischen Prozess fördern, der für die Schaffung einer stabilen Friedens- und Sicherheitsstruktur in Europa einen Helsinki-2-Prozess ermöglicht und die Rolle der UNO in der Welt stärkt. Die Kriege und Kriegseinsätze, die die NATO heute führt - wie die Intervention in Afghanistan - und noch plant, wurden scharf verurteilt und ein, von mehreren Rednern unterstützter Vorschlag eingebracht, neben der einhelligen Forderung zur Auflösung der NATO ein gesellschaftliches Tribunal zur Verurteilung ihrer Verbrechen zu organisieren.

Von den Teilnehmern aus dem In- und Ausland wird eingeschätzt, dass "ein Europa, von dem nur Frieden ausgeht", wie es schon 1990 in der Charta von Paris gefordert wurde, breite Aktionen der Friedens- und Sozialbewegung in West- und Osteuropa verlangt. Das Europäische Friedenforum könnte dabei eine geeignete Plattform für Zusammenarbeit, Informations- und Erfahrungsaustausch sein.


Im Ergebnis der Konferenz gaben die Präsidenten des Forums nachfolgende Erklärung ab:

Wir wollen ein Europa, von dem Frieden ausgeht!

"Wir wollen ein Europa, von dem Frieden ausgeht", erklärten im November 1990 mit dem Ende der Blockkonfrontation 34 KSZE-Staaten, einschließlich USA und Kanada, in der Charta von Paris. Sie verkündeten das Ende der Konfrontation der Nachkriegszeit und der Teilung Europas. Das war eine trügerische Verheißung. Nach der längsten Friedensperiode in seiner neueren Geschichte, die als Kalter Krieg zugleich die größte geopolitische Auseinandersetzung der Neuzeit war, gehen von Europa nicht nur wieder neue Kriege aus, sondern Europa ist selbst wieder Schauplatz blutiger Konflikte geworden.

Der Überfall der USA und der NATO auf Jugoslawien 1999, dessen Folgen mit der völkerrechtswidrigen Sezession des Kosovo noch weit in die Zukunft reichen werden, die blutigen Bürgerkriege im Kaukasus - zuletzt der Krieg Georgiens gegen Südossetien -, die gespaltene Haltung europäischer Staaten zu den Kriegen gegen Afghanistan und den Irak sowie die Zurückhaltung vieler europäischer Staaten, das brutale Besatzungsregime in Palästina und das Verbrechen gegen die Menschlichkeit an der Zivilbevölkerung in Gaza zu verurteilen, haben die Hoffnungen der weltweiten Friedenskräfte auf eine europäische Friedensordnung zutiefst erschüttert.

Mit dem Fortbestand der NATO trotz Auflösung des Warschauer Vertrages, mit ihrer wortbrüchigen Osterweiterung, mit der im Rahmen einer forcierten Einkreisungspolitik gegenüber Russland noch immer geplanten Stationierung amerikanischer Raketensysteme in Polen und Tschechien, mit den Bemühungen der Europäischen Union um eine eigenständige Militärmacht und dem Festhalten am autoritären Projekt des Lissabonner Reformvertrags, der den Mitgliedsstaaten die Pflicht zur Erhöhung ihrer Rüstungsausgaben und der globalen Teilnahme an Militäreinsätzen mit oder ohne NATO aufbürdet, sowie die zu erwartenden Bemühungen Russlands, die richtigen Antworten auf die neuerlichen Einkreisungsversuche zu finden, droht Europa wieder ins Zentrum eines neuen Ost-West-Konflikts zu rücken, mit allen erdenkbaren militärischen Folgen.

Für die Bewertung der Sicherheitslage Europas gilt, dass die NATO hauptsächlich ein strategisches Instrument der Vereinigten Staaten von Amerika ist, mit der sie versuchen, auf dem alten Kontinent maßgeblich die sicherheitspolitischen, ökonomischen und politischen Weichen zu ihren eigenen Gunsten zu stellen. Washington ist bestrebt die ehemaligen Sowjetrepubliken zu Vasallen zu machen und versucht die Europäischen Verbündeten als Hilfstruppen in seinen Kriegen zu benutzen. Aber nicht alle europäischen Verbündeten folgen weiterhin blind der amerikanischen Führung, weder in den US-Kriegen im Irak noch in Afghanistan. Zugleich wurden auf der Münchner Sicherheitskonferenz die großen Hoffnungen auf die neue Präsidentschaft Obama gebremst, als der neue Vizepräsident der USA Joseph Biden die Europäer zu erhöhter Kriegsbereitschaft aufforderte und erklärte: "Wir bitten unsere Verbündeten, ihre eigenen Ansätze zu überdenken - einschließlich ihrer Bereitschaft Gewalt anzuwenden, wenn alles andere fehlschlägt."

Die durch die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsideologie verursachte tiefe soziale Krise unseres Kontinents wird durch die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise zusätzlich verschärft. Das ideologische Fundament der herrschenden Eliten ist zutiefst erschüttert. Zugleich droht die Vision einer dauerhaften Friedensordnung, in der Europa die Rolle eines unersetzlichen Friedensfaktors spielt, in immer weitere Ferne zu rücken. Mit der Krise kann eine grundlegend neue geopolitische und geoökonomische Situation entstehen. Gewaltbereitschaft und Repression nach außen und innen, militanter Antisozialismus und Toleranz gegenüber Neofaschismus ist die Antwort nicht weniger Staaten. Das gilt auch für Osteuropa.

Die Privatisierung und teils gezielte Deindustrialisierung der osteuropäischen Wirtschaft hat zu einer neuen Spaltung Europas geführt, die den Spielraum für fortschrittliche Entwicklungen weiter einschränkt.

Zum zweiten Mal sind innerhalb von knapp zwei Jahrzehnten alle Länder Osteuropas von einem dramatischen Absturz ihres Bruttoinlandsprodukts betroffen mit der Konsequenz eines rapide sinkenden Lebensstandards. Das neoliberale Versprechen vom Wohlstand für alle hat sich als Fata Morgana erwiesen. Der bürgerliche Traum vom schnellen Reichtum und unendlichem Konsum ist zerplatzt. Dessen ungeachtet, verschwenden NATO und EU jedes Jahr Hunderte von Milliarden für Rüstung und Kriege in aller Welt, angeblich um dort die Menschenrechte zu verteidigen. Für das Recht auf Arbeit der eigenen Bevölkerung, für das Recht auf Bildung und Gesundheitsfürsorge, für das Recht auf ein Dach überm Kopf ist jedoch kein Geld da. Von den neoliberalen Eliten wurden die sozialen Menschenrechte weitgehend aus dem Bewusstsein der Gesellschaft verdrängt. Umso dringlicher muss jetzt wieder für diese Rechte gekämpft werden. Die globale Situation wird von wachsender Unübersichtlichkeit, Unberechenbarkeit, Dynamik und Instabilität geprägt. Zunehmende Polarisierung zwischen reichen und armen Staaten und Bevölkerungen, unterschiedlicher Zugang zu Ressourcen, Umweltzerstörungen, Erderwärmung, Bevölkerungsexplosion, Migration etc. vervielfachen die potentiellen militärischen Konflikte.

Den bilateralen Strukturen des Ost-Westkonflikts ist für absehbare Zeit der amerikanische Unilateralismus gefolgt. Heute entwickeln sich mit China, Indien, Westeuropa, Russland und Brasilien zunehmend multilaterale Machtzentren.

Angesichts der zunehmenden Gefahren für Frieden und soziale Sicherheit fordern wir alle Staaten und gesellschaftlichen Organisationen auf, mit einer abgestimmten Politik Sicherheitsstrukturen und -mechanismen mit absoluter Priorität für nichtmilitärische Mittel zu schaffen.

Deshalb stellen wir folgende grundlegende Forderungen:

Erstens - Stärkung und weitere Demokratisierung der UNO, insbesondere durch die Erweiterung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates durch Indien, Brasilien u. a.

Zweitens - Europa darf den USA nicht länger als strategisches Instrument und Aufmarschgebiet zur Befriedigung ihrer Ambitionen in den Tiefen Eurasiens dienen.

Drittens - die USA und die westeuropäischen Staaten haben besondere Leistungen zur Heilung des weiter schwelenden Balkankonflikts zu erbringen, anstatt den Konflikt mit ihren geostrategischen Absichten weiter aufzuladen (Camp Bondsteel im Kosovo).

Viertens - ein "Helsinki-2" ist dringend nötig, um neues Leben in die paneuropäische Sicherheitsstruktur zu bringen.

Fünftens - 20 Jahre nach dem Ende der Blockkonfrontation fordern wir mit aller Entschiedenheit die längst überfällige Auflösung der NATO oder alternativ den Austritt aus der NATO.

Sechstens - alle militärischen Arsenale müssen auf das Maß des für den Schutz und die Verteidigung Hinlänglichen reduziert werden.

Siebentens - die Abschaffung der Doktrin des Ersteinsatzes von Atomwaffen, die nun auch Russland von den USA und der NATO übernommen hat.

Achtens - die Atommächte müssen endlich ihren Verpflichtungen im Rahmen des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung nachkommen und ihre Nuklearwaffenarsenale reduzieren und gänzlich abschaffen, statt sie weiter für viel Geld zu modernisieren.

Europa ist auf dem Irrweg. Ohne Übergang von der Konfrontation zur Kooperation wird der Kontinent nicht gedeihen.


Die Präsidenten des Europäischen Friedensforums

Prof. Dr. W. Richter
Vorsitzender der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde
Berlin

B. I. Olejnik
Vorsitzender des Kulturfonds der Ukraine Akademiemitglied und Schriftsteller
Kiew

Prof. Dr. I.S. Yatzenko
Russischer Vorsitzender der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Berlin Sektion des Europäischen Friedensforums
Moskau

Raute

Fakten und Meinungen

Gabriele Senft

Auf dem Weg nach Belgrad

22. April 2009. Die Wolken reißen ab und zu auf und ich versuche, einen Blick auf die Donau und die darüber führenden neu erbauten Brücken zu erhaschen. Diese Strecke, die ich nun mit dem Flugzeug in knapp 2 Stunden absolviere, war damals eine mehrtägige, schwierige Reise voller Emotionen. Vor genau 10 Jahren am 22. April 1999 hatte ich mich einer Gruppe von über 100 Frauen und Männern angeschlossen, die von Dresden aus in Bussen eines Friedenskonvois der Initiative "Mütter gegen den Krieg" in den Krieg nach Belgrad reisten. Uns vereinte der gemeinsame Wille, ein sofortiges Beenden der Bombenangriffe zu fordern und den jugoslawischen Bürgern zu zeigen, dass es auch andere Deutsche gibt, die voller Entsetzen und Zorn darüber sind, dass wieder von deutschem Boden Krieg ausgeht, sich Deutschland aktiv an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg beteiligt.

Die Friedensdelegation traf in der Stadtmitte im Tasmeydanpark am 24. April 1999 auf trauernde Belgrader. Denn während unserer Anreise hatte die NATO ihren 50. Geburtstag mit einem Bombenangriff auf die überregionalen Radio- und Sendestation Jugoslawiens gefeiert und dabei 16 Mitarbeiter des RTS in den Tod gerissen. Als wir mit Friedenstauben auf unseren Transparenten und an unserer Kleidung aus den Bussen gestiegen waren, um auf dem Platz gegenüber vom zerbombten Areal zu verweilen, lagen sich dort bald serbische und deutsche Frauen in den Armen und weinten. Die Teilnehmer am Friedenkonvoi schworen, ihre Kräfte zu bündeln, um das Bomben zu stoppen, um Medienlügen zu entlarven, die diesen ungeheuerlichen, verbrecherischen Krieg rechtfertigten und NATO-Bombenopfer als versehentliche Kollateralschäden verhöhnten.

Diese Minuten haben sich allen Beteiligten unvergesslich eingeprägt und ich nehme nun in Gedanken viele der mutigen Frauen, mit denen ich seit 10 Jahren in Kontakt geblieben bin, mit auf diese jetzige Reise. Am Flugplatz in Belgrad erwarten mich Freunde der unabhängigen Gewerkschaftsorganisation von der Radio- und Fernsehstation Serbiens (RTS). Die Einladung für mich erfolgte vom Kasseler Friedensforum. Ich bin eingeladen zu erleben, wenn sich Angehörige der NATO-Kriegsopfer des RTS treffen, mit Deutschen treffen. Denn seit 2000 besteht ein Projekt der Solidarität mit dem Namen "Sieben Brücken". Die sieben Halbwaisen der damals umgekommenen RTS-Mitarbeiter werden seit 2000 mit einer monatlichen Spende von 60 bis zur Beendigung ihrer Ausbildung unterstützt. Wir werden einigen von ihnen in den nächsten Tagen begegnen.

23. April 2009 Belgrad, 2.00 Uhr morgens beim RTS-Sender.

Gedanken von Frank Skischus vom Kasseler Friedensforum zur nächtlichen Gedenkstunde am Mahnmal für die 16 NATO-Opfer:

"Es ist gegen 2.00 Uhr morgens, der historische Zeitpunkt des grausamen, des mörderischen NATO-Angriffs vor 10 Jahren auf den Fernsehsender RTS mitten in Belgrad. Wir kommen mit unserem Begleiter, dem Gewerkschaftssekretär Bora von der Unabhängigen Mediengewerkschaft Serbiens, vor dem Gebäude des Senders an. Vor uns die unverändert zerstörte Fassade des Gebäudes, ein zeitloses Mahnmal gegen den völkerrechtswidrigen NATO-Krieg, hinter uns die uralte kleine russisch-orthodoxe Kirche Belgrads, neben uns das damalige und heutige Kindertheater und auf der anderen Seite ein schlichter Naturstein, der die Namen der Getöteten trägt. Hierhin, mitten ins Herz Belgrads, wurden also die lebensvernichtenden Waffen gelenkt, auf ein Mediengebäude, das kriegsvölkerrechtlich geschützt sein sollte. Die Häuser ringsum sind in helles Scheinwerferlicht getaucht. Unser Blick wandert von der zerstörten Fassade, dieser offenen Wunde, zu den Menschen, die schweigend um uns stehen. Es wird 2.06, die Uhrzeit schlimmer Erinnerungen, ein Chor tritt vor und singt. Dann kommt ein alter Mann, er spricht zu allen, mit ruhiger fester Stimme. Er hat seinen Sohn hier verloren - in jener Nacht vor 10 Jahren. Schweigen ringsum, immer wieder andere Menschen am Stein mit den 16 Namen, bringen Kerzen und Blumen. Leise werden wir einigen Angehörigen der Opfer vorgestellt, ein Händedruck, eine Verneigung. Unsere Blumen mit den Friedenstauben liegen schon als Zeichen der Trauer, der Erinnerung und der Hoffnung."

Am 23. April 2009, wenige Stunden später folgen wir der Einladung des "Belgradforums für eine Welt der Gleichberechtigten". Nach dem politischen Machtwechsel hatten sich vor allem Linke zusammengetan, um sich für Menschenrechte und soziales Recht einzusetzen.

Ihr Vorsitzender Zivadin Jovanovic kann uns von der überwältigenden Resonanz einer großen Friedenskonferenz im März in Belgrad berichten, wo Teilnehmer aus 45 Ländern die Weltlage nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien berieten.

Und wir lernen beim Belgradforum Stan Gasparovski kennen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Solidarität für den seit über 8 Jahren inhaftierten Direktor des zentralen Senders RTS international zu stärken. Die NATO-Bombardierung des RTS war ein völkerrechtswidriges Verbrechen, das auch gegen Kriegsrechtsregeln verstieß. Doch die neuen Machthaber möchten die NATO moralisch entlasten, indem serbische Gerichte den verantwortlichen Fernsehdirektor für den Tod von 16 beim Sender tätigen Kollegen schuldig erklärten und bestraften. Wir versprechen, in Deutschland gegen dieses Unrecht zu mobilisieren, das Opfer zu Tätern erklärt.

Belgrad, den 24. April

Zusammentreffen mit den Angehörigen der NATO-Kriegsopfer des RTS Senders.

Noch immer werden 4 Kinder vom Projekt "Sieben Brücken" betreut. Das trifft zum Beispiel auf die Familie Joksimovic zu. Ehefrau Dragana und drei Töchter sind die Hinterbliebenen von Milan Joksimovic. Zwei von ihnen, die Studentin Bojana und die nun 15-jährige Schülerin Milica erhalten Unterstützung. Heute sind Marija und Milica mit ihrer Mutter gekommen. Marija konnte, auch mit der Solidarität aus Deutschland, ihr Studium beenden. Bojana studiert. Ihre Mutter erzählt uns von Bojanas bevorstehender Hochzeit und dass diese Tochter am schwersten darunter litt, dass man ihr den Vater genommen hat.

Die Ehefrau des getöteten Ivan Stukalo ist ohne ihr Töchterchen Marija erschienen, das während der Osterferien bei Verwandten weilt. Marija, nun in der 5. Klasse, war damals erst 20 Monate alt. Das Mädchen leidet vor allem darunter, dass es den Vater nur auf Bildern kennenlernen kann.

Die Frau des NATO-Opfers Branislav Jovanovic, deren Sohn nach vollendetem Studium als Tennistrainer arbeitet, bringt für alle anderen zum Ausdruck, was sie jetzt fühlen: "Alle, die damals in jener Nacht bei der Bombardierung des RTS einen Angehörigen verloren, sind jetzt meine Familie. Unsere Emotionen sind sehr stark und ich kann hier nicht ohne Tränen sprechen. Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung, aber vor allem für den moralischen Beistand von Deutschen, die seit 10 Jahren für die Wahrheit und für Gerechtigkeit kämpfen. Ich fühle, dass wir gleichgesinnt sind mit Ihnen und hoffen können, dass es Gerechtigkeit für unser Land geben wird." Frank Skischus verliest ein Grußwort vom Projekt "Sieben Brücken". Er sagt, dass dieses Projekt hilft, diesen Krieg, der aus der deutschen Öffentlichkeit verdrängt wird, nicht zu vergessen, dass es Grundlagen schafft, damit unsere Völker wieder selbstverständlichen, freundschaftlichen Kontakt miteinander haben können, um eine friedliche Welt zu erreichen.

Bevor wir am 26. April wieder in unsere Heimatstädte abreisen, nehmen wir noch viele unvergessliche Eindrücke aus der serbischen Hauptstadt in uns auf, sehen uns unter anderem den neu entstehenden, weithin sichtbaren Sendemast auf dem Berg Avala an und besuchen gemeinsam Weltkultur-Stätten.

Nach unserer Rückkehr kann ich in den Presseorganen "Junge Welt" und "Ossietzky" über den Prozess gegen den Fernsehdirektor Dragoljub Milanovic nachlesen und weiß, dass wir in unserem Bemühen, Solidarität zu üben und Gerechtigkeit für ihn einzufordern, nicht allein sein werden. Auf die Frauen, die ich seit der Reise in den Krieg im April 1999 kenne, kann ich in diesem Fall unbedingt zählen.

Raute

Fakten und Meinungen

Irene Eckert

Belgrader Frühling 2009

Eine Reportage

Nach 18-stündiger Fahrt mit dem Linienbus Berlin-Belgrad und mehreren unerfreulichen Grenzkontrollen passieren wir bei der Einfahrt in die Balkanmetropole die Krankenhausruine. Vor 10 Jahren war sie eines der zivilen Bombenziele der NATO-Aggression. Vermutlich hat sich kein privater Investor gefunden, der am Wiederaufbau interessiert war, so erklärt eine Teilnehmerin des "Belgrad Forums" das Weiterbestehen eines der wenigen offenkundigen "Kriegsdenkmäler". Ich verlasse den Fernbus und steige um in den Trolley, der mich zum Kalemegdan, der Burganlage, bringt. Ein freundlicher Frühaufsteher weist mir den Weg und kauft mir eine Busfahrkarte, da der Euro hier noch nicht als Zahlungsmittel gilt. So kann ich noch vor dem Erwachen der Stadt im Festungspark spazieren gehen. Der Ausblick von den Höhen der riesigen Burganlagen ist weit und von träumerischer Schönheit. Unterhalb des Festungswalles fließen Donau und Save ineinander und auf der gegenüberliegenden Seite erhebt sich die Silhouette moderner Hochhausketten. Es weht eine laue Brise, die ersten Liebespaare schlendern vorbei, Parkgärtner sorgen für Reinlichkeit. Der Tag bricht an. So still und freundlich muss es auch am 24. März 1999 zugegangen sein, bevor am Nachmittag die Bomben über der Perle des Balkan niedergingen. Dem unkundigen Fremden erschließt sich die serbische Tragödie nicht, die hier vor genau 10 Jahren einen ihrer ersten Höhepunkte fand. Das Elend lebt im Verborgenen.

Hier laden Parkrestaurants zum Verweilen ein. Der nahe Prachtboulevard bietet dem Einkaufslustigen viele günstige Gelegenheiten, an modischen Accessoires, Cafes und Szenekneipen fehlt es nicht. Für den aus dem Westen angereisten Touristen sind die Preise günstig.

Im Hotel Royal in der Kralja Petra nehme ich mein erstes Frühstück ein. Dort treffe ich die Mitglieder des internationalen Solidaritätskomitees für die Verteidigung Milosevics. Sie sind aus verschiedenen Winkeln der Erde angereist, um heute dem gedemütigten serbischen Volk zu bekunden, dass es nicht allein ist. Sie sind gekommen als Teilnehmer der zweitägigen internationalen Konferenz, die seit gestern im SAVA-Kongresszentrum abgehalten wird, einige werden als Redner auf der großen Kundgebung am Abend im Herzen der "Weißen Stadt" sprechen und an den unheilvollen Beginn der NATO-Aggression erinnern. Andere sind dabei als OrganisatorInnen oder Geldgeber für eine internationale Solidaritätsbewegung, die viele Zeitgenossen für eine verkehrte oder doch verlorene Sache halten. Keine der serbischen Parteien wagt sich mit einer Unterstützung hervor, kein Sponsor hält die Sache für imagetauglich und doch finden sich auch auf serbischer Seite mutige Unverzagte, die wider den Stachel löcken. Sie haben den Kongressablauf organisiert mit Hunderten von prominenten Gästen aus dem In- und Ausland, alle sind zum Mittagsmahl eingeladen. Für die Übersetzung ins Englische ist gesorgt und die große eindrucksvolle Abendkundgebung wird orchestriert als eine technologische und logistische Meisterleistung. Ein orthodoxer Pope spricht seinen Segen zum Auftakt,der prominente russische General Ivanov und der ebenfalls prominente Ex-US-Justizminister Ramsey Clark treten auf. Wie groß der Druck im Lande gegen ein organisiertes Erinnern an den zähen Widerstand des kleinen serbischen Volkes unter der Führung des Staatsmannes Milosevic und seiner Mitstreiter gewesen sein muss, wird offenkundig, als Professor Mihailo Markovic zu sprechen anfängt. Angetrunkene Jugendliche randalieren offensichtlich mit Auftrag gegen unerwünschte "Kommunisten", bengalisches Feuer wird entfacht, Stinkefinger werden erhoben. Diese Jugendliche, so erklärt mir später ein serbischer Aktivist, sind Opfer der gefährlichsten Droge, die derzeit im Lande grassiert, der Droge Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Diese entwurzelten jungen Menschen beherrschen aber nicht die Szene. Angezogen vom durchdringenden Sound der Sirenen, der weinenden Babys und der Rockmusik, angelockt von Computersimulationsspielen auf Großleinwand, die die Zielvorgaben der NATO-Bomber wiedergeben, strömen zeitweilig Tausende auf dem Nachhauseweg in den Feierabend auf den zentralen Platz. Aufmerksam lauschen sie trotz der inzwischen eingetretenen Kälte und trotz des Regens den Redebeiträgen aus Russland, den Vereinigten Staaten oder Deutschland, die sich auf ihre Seite stellen. Sie tun es trotz der offiziellen Ächtung ihres Engagements. Die Veranstaltung setzt ein Zeichen gegen Resignation und Verzweiflung, so hören wir es am nächsten Tag von Vladimir Krisljanin, einem der serbischen Organisatoren. Er verweist auf die in seinen Augen nötige nationale Breite des schwelenden Widerstandes gegen "die Besatzer und ihre Marionetten". Deswegen, so Krisljanin, seien auch die Tschetniks als Redner eingeladen gewesen.

Eine große Delegation mit zwei Reisebussen ist am 25. März nach Pozarevac gereist. Dort fand der einstige Staatspräsident, von den Aggressoren vor einem illegalen Gericht zum Mörder gestempelt, eine bescheidene Grabstätte auf dem kleinen Familiengrundstück, das von den Bürgerschaftsvertretern der Gemeinde gepflegt wird. Rote Rosen schmücken das Grab. Alle Angereisten erweisen dem mutigen Mann in aller Stille die Ehre, viel tragen sich in das Kondolenzbuch ein. Nur wenige Kilometer entfernt liegt das Gefängnis, in dem der ehemalige Direktor des serbischen Fernsehens RTS seit 7 Jahren einsitzt. Ihm wird zur Last gelegt, das Rundfunkgebäude nicht evakuiert zu haben vor dem Abwurf der Bombe, die 16 Menschenleben und viele Verletzte zur Folge hatte. Damit sei er für das Ableben dieser Menschen haftbar zu machen, obgleich der Rundfunk- und Fernsehchef Dragoljub Milanovic selbst zum fraglichen Zeitpunkt im Gebäude war und auf einen Interviewtermin mit Vertretern von CNN wartete. Die kanadische Anwaltsvertreterin Tiphaine Dickson konnte mit einer Abordnung, der auch Peter Handke angehörte, zum ersten Mal den inhaftierten Medienvertreter sprechen, dessen Mut ungebrochen ist. Der Angriff auf den Sender wurde von den Anwesenden als Kriegsverbrechen gewertet. Bull Clinton soll den Angriffsbefehl allerdings öffentlich damit gerechtfertigt haben, dass der Sender eine Schlüsselfunktion für die serbische Regierungsführung innegehabt habe und "Hass und Desinformation" verbreitet hätte. Damit gab der ehemalige US Präsident Clinton gegenüber CNN zu, dass der Angriff absichtsvoll und zielgerecht erfolgt sei.

Ob Klaus Hartmann vom deutschen Freidenkerverband, ob Heather Cottin vom Internationalen Aktionszentrum in New York, ob der britische Journalist Neill Clark aus Oxford oder die irische Aktivistin June Kelly, alle drängen darauf, den Fall als Angriff auf die Pressefreiheit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken. Parallelen zum in den USA einsitzenden schwarzen Journalisten Mumia Abu-Jamal werden gezogen.

Auch dieser Tag endet wie schon der vorhergehende mit orientalischer Gastfreundschaft. Die sozialistischen Bürgerschaftsvertreter der Kleinstadt, die den Mut aufbringen, Milosevic die Treue zu halten und die unseren Besuch als Ehre und Unterstützung empfinden, laden uns alle zu einem guten Abendessen mit Wein und Slivovic ein. Die Raumpflegerin aus Dresden, der Hartz-IV-Empfänger aus Leipzig, der Philosophieprofessor aus Belgrad und der Schriftsteller aus Wien, sowie der Hollywoodschauspieler und Theatermacher aus New York und Paris und die ehemalige Stewardess aus Schmitten, alle tafeln gemeinsam, verbunden als Kriegsgegner und Antifaschisten. Sie alle eint das Wissen, dass wir gegen den alles verschlingenden Imperialismus nur eine Chance haben durch Aufklärung und Gegeninformation. Die Gespräche darüber gehen weiter im Bus und zu Hause im Hotel bis tief in die Nacht.

Meine "Kutsche" verlässt Belgrad am Morgen des 26. März. Bei der Fahrt über die Donaubrücke sehe ich rechts und links des Ufers die Elendsquartiere, die an die Müllhalden in Manila erinnern. Hier hausen die Flüchtlinge, Sinti und Roma und andere, die der Krieg gegen das Land, das sich dem Diktat von IWF und Weltbank zu widersetzen suchte, erst geschaffen hat.

Die Zeit in Belgrad war viel zu kurz, aber ich fahre außerordentlich bereichert zurück.

Die schikanösen Kontrollen an der ungarischen Grenze, die das Tor zum Schengener EU-Raum "eröffnen", wollte ich auch nicht missen. Obwohl, vielleicht hätten wir auf den Busfahrer hören sollen und die geforderten 5,- Euro Schutzgebühr entrichten. Alles wäre wahrscheinlich reibungsloser verlaufen und vor allem, ich hätte meine Kamera noch.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Robert Schanzenbacher "... gemütlicher Nachmittag", Holzstich, 1985

Raute

Fakten und Meinungen

Gregor Schirmer

Nein zur Militarisierung der Europäischen Union

Nein zum Vertrag von Lissabon(1)

Wenn man gegen die NATO und für ein friedensorientiertes Europa kämpft, muss man auch über die Europäische Union reden. Die EU darf freilich nicht auf eine Militärunion reduziert werden. Sie ist weitaus mehr. Aber auf dem Gebiet der Hochrüstung, des Einsatzes von Militär und der Krieges als Mittel der Politik ist die EU die kleine Schwester der NATO. Es würde durchaus Sinn machen, die Losung unserer Konferenz und der europäischen Friedensbewegung "Nein zur NATO - Nein zum Krieg" zu ergänzen: "Nein zur Militarisierung der EU".

In den letzten 20 Jahren ist die EU zunehmend militarisiert worden. Der Höhepunkt soll der Vertrag von Lissabon werden, der den Völkern der EU den Inhalt des gescheiterten Verfassungsvertrags hinterrücks aufdrücken würde. Noch ist dessen Inkrafttreten nicht gesichert. Ob ihn die Wähler in Irland in der zweiten Volksabstimmung im Herbst schlucken, ist offen. Wenn die anderen Völker abstimmen könnten, wäre wohl das Schicksal des Vertrags besiegelt. Der Vertrag von Lissabon verdient allein deshalb Ablehnung, weil er die weitere Militarisierung der EU festschreibt. Dazu die folgenden vier Bemerkungen.

Erstens. Ich will nicht übersehen, dass der Lissabonner Vertrag friedensorientierte Bestimmungen enthält. So gehört nach Art. 3 des durch Lissabon geänderten EU-Vertrags (EUV) zu den Zielen der Union, "den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern". Wenn man aber genauer nachschaut, dann stellt man fest, dass dort, wo es ans Konkrete geht, die EU als Militärmacht konstituiert wird, die überall in der Welt auch ohne Auftrag des UNO-Sicherheitsrats unter Regie der NATO, oder auch ohne sie, mit Streitkräften eingreift und dazu die erforderlichen militärischen Fähigkeiten auf- und ausbaut. Das ist weiter hinten im EUV Art. 42 geregelt. Dort geht es nicht mehr um allgemeine Phrasen über Frieden und Sicherheit, sondern um die Sicherung einer "auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit", auf die "bei Missionen außerhalb der Union" zurückgegriffen werden kann. Eine geographische Eingrenzung der militärischen "Missionen" auf Verteidigung der EU-Staaten gegen Angriffe, ist ausdrücklich nicht vorgesehen. Das ist eine vertragliche, aber völkerrechtswidrige Auflassung zum Führen von weltweiten Militäreinsätzen und Kriegen um geopolitische und ökonomische Interessen.Wessen Interessen? Nicht der Völker und selbst nicht aller Mitgliedstaaten der EU, sondern der herrschenden Kräfte in den politisch und ökonomisch mächtigen EU-Mitgliedern, voran Deutschland.

Zweitens. Im Art. 43 EUV geht es an des Pudels Kern. Was sind denn EU-"Missionen", bei denen die EU "auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann"? Da muss man in der Aufzählung aller möglichen Aktionen genauer nach den militärischen Komponenten suchen. Nach zivil klingenden Missionen wie "humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze" folgt das Kriegerische, nämlich "Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten". Hier wird Ziviles und Militärisches, völkerrechtlich Zulässiges und Verbotenes, Friedliches und Kriegerisches absichtsvoll durcheinander gewürfelt. Alles ist erlaubt oder sogar geboten. Zulässigkeitskriterien für die eine oder andere Mission gibt es nicht. Beschlüsse des UNO-Sicherheitsrats zur Durchführung militärischer Sanktionsmaßnahmen werden nicht vorausgesetzt. Die EU soll auch ohne den Sicherheitsrat militärisch intervenieren können. Ein Angriff auf Mitglieder der Union, der das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung nach Art. 51 der Charta auslösen könnte, muss nicht vorliegen. Hinzu kommt, dass mit diesen "Missionen" "zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden" kann, "auch durch die Unterstützung von Drittländern ... in ihrem Hoheitsgebiet". Die Androhung und Anwendung militärischer Gewalt, die durch Art. 2 Ziffer 4 der UNO-Charta mit der Ausnahme des Kapitels VII ausdrücklich verboten ist, wird durch den Lissabonner Vertrag erlaubt. Völkerrechtswidrige Kriege unter Führung oder Beteiligung der EU werden ermöglicht.

Drittens. Art. 42 EUV enthält die Bestimmung, dass sich die Mitgliedstaaten der Union "verpflichten, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern". Eine solche Verpflichtung zur Aufrüstung im EU-Vertrag ist, gelinde gesagt, ungewöhnlich. Sie ist in keiner Verfassung der Mitgliedstaaten enthalten. Das Anliegen des Lissabonner Vertrags ist die verstärkte Aufrüstung der EU. Im Protokoll über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit ist aufgeschrieben, was die Rüstung für die Teilnehmer dieser Zusammenarbeit im einzelnen bedeutet, nämlich "die Verteidigungsfähigkeiten" durch Ausbau der nationalen Beiträge, Beteiligung an multilateralen Streitkräften und europäischen Ausrüstungsprogrammen "intensiver zu entwickeln", und "spätestens 2010 über die Fähigkeit zu verfügen, entweder als nationales Kontingent oder als Teil von multinationalen Truppenverbänden bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die in Aussicht genommenen Missionen ausgerichtet sind, taktisch als Gefechtsverband konzipiert sind, über Unterstützung unter anderem für Transport und Logistik verfügen und fähig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen nach Art. 43 des Vertrags über die Europäische Union aufzunehmen, um insbesondere Ersuchen der Organisation der Vereinten Nationen nachzukommen, und diese Missionen für eine Dauer von zunächst 30 Tagen, die bis auf 120 Tage ausgedehnt werden kann, aufrechtzuerhalten." Das lässt an Konkretheit nichts zu wünschen übrig. Das Protokoll verpflichtet zu konkreten Maßnahmen zur Stärkung der Verfügbarkeit, der Interoperabilität, der Flexibilität und der Verlegungsfähigkeit ihrer Truppen". Die gigantischen Kosten für eine solche Aufrüstung kann man sich ausmalen. Mit den Artikeln 42 Abs. 3 und 45 EUV erhält die bereits 2004 durch Ratsbeschluss geschaffene "Europäische Verteidigungsagentur" eine nachholende vertragsrechtliche Basis. An dieser Agentur nehmen alle EU-Mitglieder außer Dänemark teil. Es geht um die Ermittlung von Zielen für die Rüstung, um Beschaffungsverfahren, um multilaterale Projekte, um Rüstungsforschung und um die Stärkung der industriellen und technologischen Basis der Rüstung, also um Auf- und Umrüstung, um die High-Tech-Ausrüstung für Kampfeinsätze, um die Profite der Rüstungskonzerne.

Viertens. Wer entscheidet eigentlich in der EU über militärische "Missionen", also über nichts weniger als über Fragen von Krieg und Frieden? Die allein bestimmenden Organe der EU über alles Militärische sind der Europäische Rat, also der Club der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und der Rat in der Zusammensetzung der Außen- und Verteidigungsminister. Die Exekutiven entscheiden, nicht die Völker und nicht die Parlamente. Beschlüsse "mit militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen" im Europäischen Rat und im Rat der Minister müssen einstimmig gefasst werden. Aber es gibt ausreichend wirksame Instrumente, um die EU auch bei fehlender Einstimmigkeit auf dem militaristischen Kurs zu halten. Als das wirksamste wird sich wohl die sogenannte "Ständige Strukturierte Zusammenarbeit" erweisen. Art. 42 Abs. 6 lautet: "Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weitergehende Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union." Was heißt "Missionen mit höchsten Anforderungen"? Doch wohl Missionen unter Einsatz von massiver Waffengewalt, also Krieg. Die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit ist ein autonomes Militärbündnis im Rahmen der Union ohne parlamentarische Kontrolle. Das Europäische Parlament hat in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik nichts zu bestellen. Es wird "angehört", "unterrichtet" und "gebührend berücksichtigt". Es kann Anfragen stellen und Empfehlungen machen. Die Entscheidungen fallen ohne das Parlament.

Die EU ist mit der Militarisierung auf einem verhängnisvollen Weg. Sie muss vom Subunternehmer der NATO zu einem zivilen, dem Frieden, der Solidarität und der Demokratie verpflichteten Staatenverbund umgebaut werden.


Anmerkung:

(1) Alle Zitate stammen aus der durch den Vertrag geänderten Fassung des Vertrages über die EU. Diese konsolidierte Fassung ist enthalten bei Rolf Schwartmann (Hrsg.): Der Vertrag von Lissabon, Heidelberg 2008

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Prof. Dr. Gregor Schirmer

Raute

Fakten und Meinungen

Horst Schneider

4. November '89 auf dem Alex

"Friedliche Revolutionäre" forderten "grundlegende Reformen"

Die politische Klasse bereitet generalstabsmäßig die Erinnerung an den Herbst 1989 vor, als gelte es die Ereignisse von damals zu wiederholen. Heiden werden gebraucht, gesucht und gefeiert, nicht nur in Leipzig. Aber was soll gefeiert werden? Wo fand ein Sturm auf die Bastille der DDR statt oder auf einen Winterpalast in Berlin? Und was ist inzwischen für wen besser geworden? Ist das geeinte Deutschland friedlicher, sind die wiedervereinten Deutschen freundlicher geworden? Was ist zusammengewachsen? Werden die Menschenrechte - auf Frieden, Arbeit, auf Bildung, auf gesundheitliche Betreuung - heute besser verwirklicht als vor 1989 in der DDR? Um solche und ähnliche Fragen zu beantworten, ist es nötig, danach zu fragen, was die Sprecher der "friedlichen Revolution" im November 1989 wollten.

Die Chronik der deutschen Geschichte (Die DDR, St. Gallen 2008, S. 152) teilt unter dem 4. November 1989 mit: "Demonstration in Berlin mit annähernd einer Million Teilnehmern. 26 Redner fordern wirkliche Reformen in der DDR." Was waren, was sind wirkliche Reformen? Zunächst zur Vorgeschichte der Kundgebung. Gregor Gysi meldete sich am 12. Januar 2009 im "Neuen Deutschland" zu Wort und kam auf eben jene Kundgebung zu sprechen. Er war (vermutlich im Oktober 1989) von Johanna Schall in das Deutsche Theater eingeladen worden. Es wurde über die Leipziger Demonstrationen diskutiert, die formal rechtlich illegal waren. Dabei wurde die Idee geboren, in Berlin eine angemeldete und genehmigte Kundgebung durchzuführen. Gysi war also der Geburtshelfer: "So ist der 4. November entstanden, die Demonstration von einer Million Menschen auf dem Alexanderplatz, auf der grundlegende Reformen gefordert wurden", sagte Gysi dem "Neuen Deutschland". Wer waren die Reformer? Um welche Reformen ging es ihnen? Waren sie die Wegbereiter und Fürsprecher des Endes der DDR?

In diesem Beitrag, der sich auf den Mitschnitt der Reden stützt, wird aus Platzgründen nicht auf die weitere politische Entwicklung und heutige Haltung der 26 Redner auf dem Alexanderplatz eingegangen. Schorlemmer z. B. kam noch vor Gysi in einer Serie im Neuen Deutschland zu Wort.

Die Bedeutung der damaligen Kundgebung ergab sich u. a. daraus, dass sie die größte in der Geschichte der DDR war, dass sie von unten organisiert worden war und dass sie zum wichtigsten Schritt bei der Vorbereitung zum Mauerfall fünf Tage späte wurde.

Die Schauspielerin Marion van de Kamp begrüßte kurz die Teilnehmer an der sozialistischen Protestdemonstration. Ihre Arbeitskollegin Johanna Schall las einen Absatz aus dem Entwurf für die französische Verfassung von 1793 vor: "Jede Verfassung (muss) den Schutz der öffentlichen und individuellen Freiheit vor der Regierung selbst zum obersten Ziel haben". Ulrich Mühe forderte die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens und verlangte die Streichung solcher Artikel (§ 99, 106, 107, 217), die Landesverrat und staatsfeindliche Hetze unter Strafe gestellt hatten. Auch der fünfte Sprecher, Jan Josef Liefers, war Schauspieler. Er forderte die Zerstörung der zementierten Strukturen der DDR: "Neue Strukturen müssen wir entwickeln. Für einen demokratischen Sozialismus und das heißt für mich u. a. die Teilung der Macht zwischen der Mehrheit und den Minderheiten."

Gregor Gysi, der Liefers folgte, forderte "neue politische Strukturen, wirksame Parlamentsarbeit, neues ökonomisches Denken und vor allem Ausbau der Rechtsordnung". Er wandte sich gegen ein falsch verstandenes Sicherheitsbedürfnis und deklarierte: "Die Verfassung selbst ist gut, obwohl sie noch entwickelt werden kann. Vor allem aber gilt es, die Grundrechte der Bürger nach der Verfassung auszubauen und zu sichern. Kein Gemeinwesen kommt gegenwärtig ohne Staat aus. Auch wir brauchen den Staat und die Staatsautorität." Gysi lobte das Verhalten von Egon Krenz am 9. Oktober, wo er in Leipzig "einen Beitrag zur Rettung dieses Landes" hat. Gysi sprach sich offen dafür aus, die Partei zu erneuern. Er wünschte sich, "dass es gelingt, dass die Begriffe DDR, Sozialismus, Humanismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen".

Marianne Birthler protestierte zunächst gegen die Gewaltanwendung durch Berliner Polizisten am 7. Oktober 1989: "Das Unrecht ist auf Befehl geschehen, es ist geplant, vorbereitet und befohlen worden". Marianne Birthler schlug vor, "über die Frage der Macht nachzudenken und darüber, wie Macht kontrolliert werden kann ... Abrüstungsprogramme für Wasserwerfer und ähnliche Geräte müssen entwickelt und durchgesetzt werden." Nachdem Kurt Demmler ein Lied gesungen hatte, ergriff Markus Wolf das Wort. Er bekannte sich zum Kurs Michail Gorbatschows, verwies auf sein Buch und wandte sich dagegen, dass viele Mitarbeiter des MfS "zu Prügelknaben der Nation gemacht werden sollen". Markus Wolf verwandte die Begriffe Wende und neues Denken und warnte vor Gewalt: "Immer, wenn es in den sozialistischen Ländern in der Vergangenheit nach dem Kriege einen Kurs- und Führungswechsel gegeben hat und die Menschen emotionsgeladen mit ihren Forderungen auf die Straßen und Plätze gegangen sind, gab es eine Eskalation, ist Blut geflossen, gab es Tote und oft viele Tote." (Gysi verwies im genannten ND-Beitrag auf diese Gefahr, die auch durch das Wirken der SED/PDS abgewendet worden sei.)

Jens Reich trug Forderungen des Neuen Forums vor. Er verlangte Zugang zu den Zeitungen und elektronischen Medien: "Das Neue Forum brennt darauf, das gähnende Loch auszufüllen, das der Schwarze Kanal hinterlassen hat." Reich zitierte das Wort Rosa Luxemburgs von der Freiheit der Andersdenkenden, um zu fragen: "Seit wann darf man politische Konflikte mit dem Knüppel lösen?" Reich hoffte, bei der nächsten Veranstaltung Erich Loest und Wolf Biermann dabei zu haben.

Manfred Gerlach behauptete, die LDPD habe die Tür zur Erneuerungspolitik aufgestoßen. Wunder könne die Wende nicht vollbringen: "Wir müssen jetzt in unserem Lande verwirklichen, was seit zweihundert Jahren auf der Tagesordnung der Menschheit steht: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit."

Ekkehard Schalls kurze Erklärung gipfelte in der Erkenntnis: "Es gibt keine Einheit mehr, international nicht und national nicht ... Streichen wir das Wort Einheit aus unserem Vokabular."

Günter Schabowski, 1989 Mitglied des Politbüros, verkündete, dass sich die SED zur Umgestaltung bekenne. Er sagte: "hier offen. Ich mag auch nicht die schnellen Scheiterhaufen, (für das), was an unbestreitbaren Leistungen vom Volk erbracht wurde." Schabowski empfahl: "Regen wir heute die Hände für unsere Land, für einen Sozialismus, der stark macht, weil die Menschen ihn wollen."

Es war der Schriftsteller Stephan Heym, der den Slogan "Wir sind das Volk" und wir seien dabei, "den aufrechten Gang" zu lernen, populär machte. Er forderte: "Der Sozialismus, nicht der stalinsche, der richtige, den wir endlich erbauen wollen und zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort heißt Herrschaft des Volkes. Freunde Mitbürger: Üben wir sie aus, diese Herrschaft."

Der Theologe Friedrich Schorlemmer postulierte u. a.:

"... Im Herbst 1989 sind wir auferstanden aus Ruinen und der Zukunft neu zugewandt.

Unser Land ist kaputt, ziemlich kaputt ... Wir brauchen eine Koalition der Vernunft ... Der Dialog muss zum Normalfall des Umgangs zwischen Volk und Regierung werden ... Wir brauchen nun eine Struktur der Demokratie von unten nach oben Setzen wir an die Stelle der alten Intoleranz nicht neue Intoleranz ... Wir können das Land jetzt nicht ohne die SED aufbauen ... (und das Lutherzitat) Lasset die Geister aufeinanderprallen, nicht die Fäuste."

Außer Stephan Heym vertrat Christa Wolf die Zunft der Schriftsteller. Sie bekannte, dass sie Schwierigkeiten mit dem Begriff Wende habe. Ein Kapitän ruft "Klar zur Wende", wenn der Wind sich dreht und ihm ins Gesicht bläst. Sie schlug vor, von "revolutionärer Erneuerung" zu sprechen. Sie verwies auf die Wendehälse, die der Glaubwürdigkeit der neuen Politik den größten Schaden zufügten. Sie träumte mit hellwacher Vernunft: "Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!"

Thomas Langhoff forderte die Einsetzung einer unabhängigen Historikerkommission, um die "Wiedergutmachung an den Opfern des Stalinismus, an den Opfern politischer Prozesse und anderer ungerechtfertigter Zwangsmaßnahmen" vorzubereiten.

Nach einem Lied, das Annekathrin Bürger sang, schilderte der Dokumetarfilmer Joachim Tschirner Eindrücke aus einem Aufnahmelager für Flüchtlinge in Bayern. Er wolle SED-Mitglied (seit 22 Jahren) bleiben, forderte aber die Ablösung der Journalisten aus den Chefetagen.

Heiner Müller rechnete mit dem FDGB ab: "Wie kann der FDGB als unser angeblicher Interessenvertreter zulassen, dass wir im Durchschnitt 10 Tage weniger Urlaub haben als unsere Kollegen im Westen? ... Haben wir schon einmal erlebt, dass die Gewerkschaft überhaupt etwas gegen den Staat und die Partei für uns durchsetzt?" Müller forderte die Gründung unabhängiger Gewerkschaften.

Lothar Bisky gab bekannt, dass er am 9. Oktober die Vertrauensfrage vor den Studenten gestellt habe. Er sprach über Probleme der Studenten der Filmhochschule: "Wer nicht auf die Stimme der jungen hört, hat die Zukunft des Sozialismus schon aufgegeben."

Der Student Ronald Freytag gab bekannt, dass in der nächsten Woche an der Humboldt-Universität eine Urabstimmung über die Studentenvertretung stattfinden würde.

Der Schriftsteller Christoph Hein setzte sich für die Veränderung der Strukturen der DDR-Gesellschaft ein, "wenn sie demokratisch und sozialistisch werden soll Und dazu gibt es keine Alternative." Er beschrieb die unter Honecker entstandene Gesellschaft, "die wenig mit Sozialismus zu tun hatte, von Bürokratie, Demagogie, Bespitzelung, Machtmissbrauch, Entmündigung und auch durch Verbrechen" gezeichnet war. Er schlug vor, Leipzig zur Heldenstadt zu erklären.

Der ungarische Student Robert Juharos rief dazu auf, "an der Gründung eines internationalen Forums der Opposition mitzuwirken."

Der Dozent Konrad Elmer, der sich als Sozialdemokrat bezeichnete, forderte ein Schuldbekenntnis bisher Regierender. An Markus Wolf gerichtet erklärte er: "Und sie waren es doch, diese Herren, die uns viele Jahre, um mit Biermann zu reden, wie Vieh regiert haben." Elmer schlug vor, die Transparente der Kundgebung zu sammeln. Den Abschluss der Kundgebung bestritt die Schauspielerin Steffi Spira: "1933 ging ich allein in ein fremdes Land. Ich nahm nichts mit, aber im Kopf hatte ich einige Zeilen eines Gedichts, von Bertolt Brechts Lob der Dialektik. Ich wünschte für meine Urenkel, dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde, und dass keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen. Ich habe noch einen Vorschlag: aus Wandlitz machen wir ein Altersheim. Die über 60- und 65-Jährigen können jetzt schon dort wohnen bleiben, wenn sie tun, was ich jetzt tue: abtreten." Das war zweifellos ein effektvoller Abschluss mit selten beispielloser politischer Wirkung.

Was lässt sich aus den Reden vom 4. November 1989 verallgemeinern?

Schauspieler und Schriftsteller stellten mit wenigen Ausnahmen die Rednerliste. Das wird verständlich, wenn wir den Ausgangspunkt der Idee der Kundgebung kennen.
Arbeiter, Techniker, prominente Wissenschaftler fehlen unter den Rednern. War das typisch für die Bewegung der Reformer?
Niemand forderte die Beseitigung der DDR, wohl aber Reformen. Ein Vergleich mit den Reden Helmut Kohls im November 1989 wäre lehrreich.
Kein einziger Redner äußerte sich zur Wiedervereinigung oder zur Mauer.
Die teilweise heftigen und berechtigten Kritiken an Details der DDR-Politik würden sofort relativiert, wenn sie mit der Lage in der damaligen BRD verglichen worden wären oder am Maßstab der heutigen Situation gemessen würden.
Reizvoll wäre es, die weitere politische Entwicklung friedlicher Revolutionäre zu verfolgen und ihre heutige Haltung an den damaligen Forderungen zu messen.

Falls die Redner vom 4. November 1989 die Stimmung des Volkes zum Ausdruck brachten, darf und muss gefolgert werden, dass eine Wiedervereinigung auf imperialistischer Klassengrundlage, ein Anschluss der DDR an die BRD von niemanden gefordert wurde. Das Staatsvolk der DDR hat die Politik Kohls nie legitimiert, erst recht nicht durch eine neue Verfassung, die nach Artikel 146 des GG das provisorische Grundgesetz ablösen sollte. Dass der Geschichtsverlauf sich nicht nach dem Wollen einzelner richtet, sondern die Resultate des Wollens und Handelns vieler ist, wurde bestätigt. Entscheidend für den Ausgang des Ringens zwischen "Rechtsstaat" BRD und "Unrechtsstaat" DDR waren nicht Moral und Recht, sondern das reale, sich zu Ungunsten des Sozialismus entwickelnde Kräfteverhältnis im Weltmaßstab. Die Folgen sehen viele, auch der Erzbischof von München! Freising in Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen: "Der Kapitalismus ohne Menschlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeit hat keine Zukunft."

Raute

Fakten und Meinungen

Hans Fricke

Jubiläen mit Fallstricken

Je mehr wir uns dem 20. Jahrestag der Einverleibung der DDR durch die BRD, als "Tag der deutschen Einheit" ausgegeben, nähern, umso zahlreicher werden Konferenzen, Symposien, Wanderausstellungen, Fernsehproduktionen, Festakte und dergleichen, die die Bevölkerung davon überzeugen sollen, dass dem 3. Oktober 1990 eine Revolution vorausgegangen sei, auch wenn der soziale Inhalt des Geschehens die Anwendung dieses Begriffes ausschließt. Denn eine Revolution hat stets gesellschaftlichen Fortschritt im Interesse des Volkes zur Voraussetzung und nicht Rückkehr zu einer historisch überlebten, auf gnadenlose Ausbeutung der Mehrheit des Volkes durch eine parasitäre Minderheit beruhenden Gesellschaftsordnung, der nachweislich Kriege und Krisen wesenseigen sind. Die stabsmäßig geplante umfassende Vorbereitung der Jubiläen in diesem und im nächsten Jahr lassen keinen Zweifel daran, dass man weder Kosten noch Mühen scheuen wird, um eine perfekte Gehirnwäsche zu erreichen. Deshalb sollte jeder für sich prüfen, ob die Jubiläen, die von den hierzulande Herrschenden gefeiert werden, auch seine Jubiläen sind. Denn nur das Bewahrenswerte sollten wir in unsere Gefühlswelt eindringen lassen. Und dass es für viele Millionen einfache Bundesbürger (Arbeitslose, durch die Krise von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit Bedrohte und Betroffene, Kranke und sozial Schwache, Obdachlose, Kunden von Suppenküchen und andere Almosenempfänger, kurz: alle Opfer der jahrzehntelangen neoliberalen Regierungspolitik) wenig Bewahrenswertes gibt, beweisen Rückblicke auf die Anlässe der anstehenden Jubiläen und die seitdem vergangene Zeit.

So gehört zur Gehirnwäsche unter anderem auch das Märchen, diese Revolution sei eine der friedlichsten der Geschichte gewesen. Eine Behauptung, die ebenso unglaubwürdig ist wie die These, die bundesdeutschen Politiker und Ökonomen seien gänzlich unvorbereitet in die Einheit des Landes gegangen.

Wie wenig friedlich sich die gesellschaftlichen Umwälzungen nach 1989 vollzogen und wie brutal die Menschen in Ostdeutschland kolonialisiert wurden, sollen als Beispiel nachstehende Sachverhalte zeigen:

Nach der Währungsunion und Einführung der DM im Sommer 1990 sowie als Folge des brachialen Wirkens der "Treuhand"-Anstalt ging die ostdeutsche Industrieproduktion innerhalb eines Jahres um 67 Prozent zurück. Im Maschinenbau betrug der Rückgang 70, in der Elektrotechnik 75 und in der Feinmechanik 86 Prozent. Nicht wesentlich anders sah es auf dem Gebiet der Arbeitslosigkeit aus. Obwohl der damalige Treuhandchef Detlef Carsten Rohwedder in den vielen Gesprächen, die der Vizepräsident der Staatsbank der DDR Dr. Edgar Most mit ihm führte, davon ausging, dass 70 bis 80 Prozent der DDR-Betriebe gerettet werden können, und nur einige Betriebe dabei durch den Rost fallen würden, beschloss nach Rohwedders Ermordung am 1. April 1990 die Treuhand unter Birgit Breuel, die DDR-Wirtschaft in nur drei Jahren abzuwickeln, was zur Liquidierung von 3244 DDR-Betrieben in weniger als drei Jahren führte. Allein dadurch flogen Hunderttausende von Arbeitern und Angestellten auf die Straße. Durch weitere "treuhänderische" Maßnahmen und die stabsmäßig organisierte Plünderung des ostdeutschen Volksvermögens in Höhe von 1,4 Billionen (!) DM unter der Kontrolle von Kohls Finanzstaatsekretär und heutigen Bundespräsidenten Horst Köhler verloren in diesem Zeitraum insgesamt 2,6 Millionen Ostdeutsche ihre Arbeit.

Auch auf die Ersparnisse der früheren DDR-Bürger hatten es die Herrschenden der Alt-BRD abgesehen. Obwohl in einem Grundsatzpapier des Bundesfinanzministeriums festgestellt worden war, dass die Verbraucher-Kaufkraft von 1 Mark der DDR 1,07 DM der BRD entsprach, wurde mit der Währungsreform für einen großen Teil der Sparkonten ein Kurs von 2 Mark der DDR gleich 1 DM festgesetzt. So wurden viele Ersparnisse halbiert.

Zwar sahen der Vertrag über die Währungsunion und der Einigungsvertrag "Möglichkeiten" vor, "dass den Sparern zu einem späteren Zeitpunkt für den bei der Umstellung 2 : 1 reduzierten Betrag ein verbrieftes Anrecht am Volkseigentum eingeräumt werden kann", aber das war eben eine Kann-Bestimmung, und die wurde beiseite gewischt, obwohl das riesige volkseigene Vermögen der DDR-Bürger bei weitem nicht nur die 600 Milliarden DM ausmachte, die die Treuhand in einen Schuldenberg von 256 Milliarden verwandelte. Wohin das Volksvermögen unter "treuhänderischer" Aufsicht verschwand, zeigte als Beispiel der ehemalige CDU-Ministerpräsident von Niedersachsen, Hans Albrecht. Als einer der unzähligen westdeutschen Investoren zahlte er für den Kauf des Stahl- und Walzwerkes Thale der Treuhand gern den Preis von 1 (in Worten: einer) DM. Im Kaufpreis inbegriffen waren eine Reihe von Immobilien und Werkswohnungen, ein großes Betriebsferienheim, ein Kinderferienlager mit dazugehörigen Länderein und Wald. Als das Land Sachsen-Anhalt das Ferienlager kommunalisieren wollte, war er großzügigerweise bereit, es für 5 Millionen DM zu verkaufen. Skandalöse Raubzüge en masse im Ergebnis einer "friedlichen" Revolution zum Nachteil einer inzwischen gegenüber Breuel, Köhler, Albrecht & Co. total wehrlosen DDR-Bevölkerung, die durch bundesdeutsche Gesetzlichkeit ermöglicht wurden und den Schutz der dem Osten überkommenen Staatsorgane genossen.

In seinen "Hinweisen für Volksaufklärer - Was bei der Lobpreisung glorreicher Jubiläen zu beachten ist" gibt Dr. Peter Fisch den Ausdeutern der "friedlichen Revolution" zu bedenken:

"Wenn etwa vier Fünftel des Aktenmaterials der Treuhänder unter rigorosem Verschluss liegen, bleiben immer noch 20 % übrig, die ausreichen, um die Treuhandgesellschaft als kriminelle Vereinigung im durchaus strafrechtlichem Sinne zu betrachten. Ihr Wüten schließt das Attribut friedlich bei der Charakterisierung der Großen Deutschen Freiheitlichen und Friedlichen Revolution (GDFFR) grundsätzlich aus. Das Gegenteil wird sichtbar: Die Treuhand war das Hauptinstrument dieser so genannten Revolution. In kurzer Zeit stahlen Aufbauhelfer-Ost, Saniere, Enteigner und andere Wirtschaftskriminelle das Kollektiveigentum von 16 Millionen DDR-Bürgern durch Privatisierung. In der Frist eines Steinwurfs der Geschichte wurde ein vormals moderner Industriestaat seiner ökonomischen Basis beraubt. Die Wiederherstellung früherer Gesellschaftsverhältnisse ist im Sinne der Marxistischen Klassiker aber eine Konterrevolution."

Rolf Hochhuth hat in seinem Stück "Wessis in Weimar" das Geschehen als Variante des Kolonialismus bezeichnet, "wie er nirgendwo gegen Menschen des eignen Kontinents, geschweige denn des eignen Volkes praktiziert wurde".

Das und vieles andere den Schreibern, Redenverfassern und Talkshow-Dresseuren ins Stammbuch geschrieben, die den wenig beneidenswerten Auftrag haben, die anstehenden Jubiläen hochzujubeln und das Wahlvolk dazu zu bringen, den Parteien, die für diese Art von "Wiedervereinigung" und ihre Folgen die politische Verantwortung tragen, ein weiteres Mal zu wählen. Sie sollten auch auf eine Wiederholung der unglaubwürdigen These, die bundesdeutschen Politiker und Ökonomen seien gänzlich unvorbereitet in die Einheit des Landes gegangen, besser verzichten, denn bei nicht wenigen älteren früheren DDR-Bürgern ist das Wirken des berüchtigten "Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung" noch in böser Erinnerung. Dieser bereits 1952 von der Adenauer-Regierung gegründete Forschungsbeirat unter der bewährten Leitung von Dr. Friedrich Ernst, Hitlers Reichskommissar für die Verwaltung des feindlichen Vermögens, sprich: Koordinator für die Ausplünderung der überfallenen Länder, erarbeitete eine Vielzahl von Detailplänen zur Liquidierung der DDR, in deren Mittelpunkt die Rückverwandlung der Eigentumsverhältnisse an den wichtigsten Produktionsmitteln in Stadt und Land sowie die Wiedereinführung der kapitalistischem Gesellschaftsordnung standen. Sogar die "Einsetzung von Treuhändern" bis hin zu ihren Befugnissen spielten eine Rolle. Bereits 1964 war die Umwandlung der LPGs in "Übergangsgenossenschaften" und deren anschließende Auflösung beschlossene Sache. Auch eine "Währungsumstellung" wurde damals schon ins Auge gefasst. Sie betraf Löhne, Gehälter und Renten. Das heißt, die Macht- und Eigentumsstrukturen der DDR standen für die Kolonisatoren in spe restlos zur Disposition.

Das Resultat der Regierungspolitik nach dem Anschluss der DDR an die BRD ist nach den Worten des Vizepräsidenten der DDR-Staatsbank Dr. Edgar Most, "dass die politische Vereinigung zwar gelungen ist, die wirtschaftliche aber in einer Katastrophe endete. Die DDR-Bevölkerung ist nach allen Regeln der Kunst verschaukelt worden. Vor dem Mauerbau sind drei Millionen Menschen abgehauen und nach dem Mauerfall noch einmal drei Millionen. Der Osten verarmt, vergreist und verdummt." Und auch dieser kompetente Bankfachmann scheut sich nicht, diese Politik Kolonialisierung zu nennen. "Früher dachte ich noch", ergänzt er seine Einschätzung im Junge-Welt-Interview vom 2./3. Mai 2009, "das sei alles aus Dummheit geschehen - heute bin ich davon überzeugt, dass es genau so gewollt war. Ich habe in meiner Bankpraxis viele Beispiele erlebt, die das bestätigen."

Parallel dazu liefen eine Vielzahl staatlicher Maßnahmen wie die Tätigkeit der Bundestags-Enquetekommission "Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", die dazu beitrugen, in der Öffentlichkeit Hass auf ehemalige Verantwortungsträger der DDR zu erzeugen und zu schüren. Wenn der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Berndt Seite (CDU), 1993 öffentlich drohen konnte, ohne dass ihn Bundeskanzler Helmut Kohl auf den Boden eines zivilisierten Umgangs mit seinen Mitmenschen zurückholte, er werde "mit dem Flammenwerfer" das Land nach "roten Socken durchkämmen, jeden Winkel ausräuchern", sein Wirtschaftsminister gleichzeitig beklagte, dass "die Revolution in der DDR nur so verdammt friedlich verlaufen ist" und ein Teilnehmer einer Diskussionsveranstaltung über die Strafprozesse gegen ehemalige Angehörige der Grenztruppen der DDR in Anwesenheit des damaligen Generalstaatsanwalts Schaefgen einem Funktionär der PDS zurufen konnte, Leute wie er verdienen aufgehängt zu werden, worauf ein Anwesender, dessen Angehörige im KZ ermordet wurden, einen tödlichen Herzinfarkt erlitt, dann muss die Frage gestattet sein, in wessen Auftrag und mit welchem Ziel eine so feindliche und aggressive, fast an Pogromstimmung erinnernde Atmosphäre (im Rahmen besagter friedlichen Revolution) geschaffen wurde. In diesem Zusammenhang erscheint es auch als sehr nützlich, die 1990 von einem CDU-Politiker abgegebene Erklärung über den Umgang mit ostdeutschen Intellektuellen zu zitieren: "Wir werden sie nicht in Lager sperren, das haben wir nicht nötig. Wir werden sie an den sozialen Rand drängen."

Zu den Opfern dieser staatlich initiierten und gelenkten Jagd auf ehemalige DDR-Bürger zählen auch diejenigen, über die Pfarrer Dr. Dieter Frielinghaus im Doppelheft 3+4/2006 der Zeitschrift ICARUS schrieb: "Zu den vielen in unserem Land seit dem Herbst 1989 von eigener Hand vollzogenen Toden möchte man aus Ehrfurcht nicht Selbstmord sagen. Doch ein Freitod war es auch nicht; diese Menschen waren entehrt, gejagd, gequält, in die Aussichtslosigkeit getrieben." ICARUS-Chefredakteur Dr. Peter Michel berichtete damals, eine Anfrage bei der Gauck/Birthler-Behörde nach der Zahl der so ums Leben Gekommnen sei mit der Antwort beschieden worden: "Darüber führen wir keine Statistik."

Höhepunkt der Jubiläen durfte der 9. November werden,wenn die Sieger auf Zeit in Erinnerungen an den "Mauerfall" schwelgen. Die Preisgabe der DDR-Staatsgrenze bildete den Auftakt zur konterrevolutionären Liquidierung der DDR. Die Behandlung der DDR-Grenze durch Politiker und Medien der Alt-BRD widerspiegelt deren Bemühen, Geschichte vom Ende her erklären zu wollen. Diese Art des Umgangs mit deutsch-deutscher Vergangenheit verleiht vielen Menschen ein wenig von dem Gefühl der Gewissheit, alles erklären zu können, ein Gefühl, das derzeit so selten zu haben ist. Nur wer bereit ist, anzuerkennen, dass die Geschichte der DDR von Regierungen und namhaften Politikern in Ost und West mitgeschrieben worden ist, kann die vier Jahrzehnte deutsch-deutscher Vergangenheit und die Kompliziertheit der Verhältnisse in dieser bewegten und sehr gefährlichen Zeit begreifen. Wer den Bau der Berliner Mauer allein der DDR-Führung anlastet, handelt entweder aus Unkenntnis, scheinheilig oder bösartig. Er weiß nicht oder will nicht zugeben, dass die drei Westmächte die Geschehnisse am 13. August 1961 mit einem "Seufzer der Erleichterung" (Sebastian Haffner) zur Kenntnis nahmen, die Entscheidung des Warschauer Paktes und die sich daraus ergebende Aktion der DDR als eine Entspannungsmaßnahme im Ost-West-Verhältnis und als einen Schritt zur Stabilisierung des europäischen Status quo werteten, weil sie die der immer brisanter werdende Berlinkrise innewohnende Kriegsgefahr bannten. Der will auch nicht eingestehen, dass die der "roll Back"-Doktrin verpflichtete Deutschlandpolitik er NATO damit eine empfindliche Niederlage erlitt und "an diesem Tage die alte Adenauersche Wiedervereinigungspolitik monumental scheiterte", wie Walter Stützle 1973 in seiner Fallstudie "Kennedy und Adenauer in der Berlinkrise 1961-1962" schrieb.

Der lange Zeit auch in der BRD hoch geschätzte Schriftsteller Stefan Heym erklärte drei Jahre vor dem "Mauerfall": "Ohne Hitler kein Krieg und ohne Krieg kein Vorrücken der Sowjetunion bis in die Mitte von Deutschland; ohne Hitler also keine Teilung Deutschlands in ein östliches und westliches Besatzungsgebiet. Die Anfänge der Mauer liegen demnach in jener Nacht im Januar 1933, als auf der Wilhelmstraße in Berlin SA und SS fackeltragend an ihrem Führer vorbeimarschierten ...". Auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker wies 1983 in einer Rede im Berliner Reichstagsgebäude ausdrücklich und unmissverständlich auf diese historischen Zusammenhänge hin, als er erklärte: "Am 30. Januar 1933 brach die Weimarer Republik zusammen. In allernächster Nähe von diesem Platz, an dem wir versammelt sind, leuchtete am Abend des 30. Januar ein Fackelzug den Beginn der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft ein ...

Sie hat unsägliches Leid über viele Millionen unschuldiger Menschen mit sich geführt ... Sie hat den Gang der Geschichte grundlegend verändert ... Wie ein mahnendes Monument steht dieser Reichstag an der Mauer, die bis auf den heutigen Tag Berlin, Deutschland und Europa teilt. Aber es gäbe diese Mauer nicht ohne den 30. Januar 1933!"

Von diesen Erklärungen honoriger Zeitzeugen wird man in den Festreden zum 9. November kein Wort hören, so wie man auch in der Bücherflut aus Anlass dieses Tages davon kaum ein Wort lesen wird. Die Anerkennung dieser Zusammenhänge wäre nämlich gleichbedeutend mit einem Bankrott der jahrzehntelangen Bemühungen der Geschichtsrevisionisten zur Delegitimierung der DDR als "Unrechtsstaat".

Goethe meinte, es gebe Bücher, durch welche man alles erfährt und doch von der Sache nichts begreift. Es ist zu befürchten, dass es sich bei den meisten angekündigten Mauerbüchern um solche handelt, durch welche man allerhand, nur das Wichtigste nicht erfährt: nämlich die historischen Zusammenhänge, in denen die Mauer zu betrachten ist.

Auch die Märzwahlen 1990, die seitdem als demokratisch und frei gefeiert werden, bergen in sich Unwägbarkeiten und Fallstricke, vor denen sich die Redenverfasser und Talkshow-Dresseure hüten sollten, denn Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Staates und Verletzung des Völkerrechts lassen sich auch mit noch so lauten Jubelgesängen nicht aus der Welt schaffen.

Dr. Peter Fisch erinnert daran, dass die Modrow-Regierung gemeinsam mit dem "Runden Tisch" unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht jedes Volkes gefordert hatte, das kein BRD-Politiker am Wahlkampf in der DDR teilnehmen darf.

Die Unionsparteien, SPD und FDP schlugen dieses selbstverständliche Gebot jeder demokratischen Wahl jedoch in den Wind, was einer Brüskierung der damals noch souveränen DDR gleich kam. Was Kohl großspurig für "freie Wahl" ausgab und der sächsische Staatsminister Geißler gar den "Tag der Freiheit" nannte, bezeichnete der SPD-Spitzenpolitiker Egon Bahr als die "schmutzigsten Wahlen, die (er) je in seinem Leben beobachtet" habe.

Eine nicht mehr zu überblickende Schar, besser Horde von Wahlkämpfern aus der BRD fiel in die DDR ein und wurde von solchen dubiosen Gestalten wie Schnur, Ebeling, Krause und de Maiziere wohlwollend begrüßt. Mit den Rednern der Westparteien, die den DDR-Bürgern ebenso wie Kohl das Blaue vom Himmel herunter versprachen, kamen Wahlkampfmittel in Millionenhöhe. Hunderttausende Winkelemente, Fahnen und Fähnchen der BRD überschwemmten die DDR. Kugelschreiber und anderes Dekor gab es ebenso wie kostenlose Ausfahrten mit Pferdekutschen oder stramme Reden von "Freiheit statt Sozialismus" nebst Kaffee und Kuchen. "Allein der Henkel-Konzern", weiß Dr. Peter Fisch zu berichten," schickte 2,5 Tonnen 1a-Leim, damit die Wahlplakate der Schwarzen auch hafteten. Damit wurden indes vor allem die DDR-Bürger geleimt."

Auch das Zustandekommen des "Einigungs"-Vertrages verdient am Vorabend des zweijährigen Jubiläum-Marathons kritische Erwähnung. Sehr viele Ostdeutsche wären sicher schockiert gewesen, wenn sie damals gewusst hätten, wie viel politisches Ränkespiel es hinter den Kulissen um diesen von ihren Verfassern so gepriesenen Vertrag gegeben hat und wie in Wahrheit die parlamentarische Mehrheit zustande kam, die ihn im Namen des Volkes der DDR billigte.

Die vollmundige Erklärung der Ex-Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl aus Anlass des 3. Oktober 1990, dem "Tag der Einheit": "Wir haben unseren Auftrag erfüllt." kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese ehemalige und letzte Volkskammer mehr mit sich und Parteiengezänk beschäftigt war, und sich dabei immer weiter von den Problemen der Menschen entfernte.

Wahltaktische Plänkeleien, undurchsichtige Geheimniskrämerei, Neid um Posten und Diäten, Überbetonung von Parteiinteressen bei Ignoranz von Sachkompetenz hatten offenbar bei vielen Abgeordneten eine größere Rolle gespielt als die Vertretung der Interessen ihrer Wähler.

Der frühere CDU-Fraktionsvorsitzende im Brandenburger Landtag, ehemalige stellvertretende Ministerpräsident und Minister des Innern der DDR-Regierung im Kabinett von de Maiziere, Dr. Peter-Michael Diestel, erklärte damals, es gebe in der CDU zu viele mit Nadelstreifen und zu wenig volksnahe Politiker, und unter den Wessis sehe er, "Entschuldigung, sehr viele Klugscheißer".

Mir wurde im September 1990 durch einen SPD-Volkskammerabgeordneten zuverlässig bekannt, dass die CDU-Fraktion der Volkskammer die Zustimmung der SPD zum Einigungsvertrag dadurch erpresste, dass sie damit drohte, bei Nichtbestätigung des Einigungsvertrages die Festschreibung der Bodenreform in dem zu beschließenden Überleitungsgesetz zu streichen (siehe auch: Lausitzer Rundschau vom 25. Oktober 1990). Im Klartext hieß das: Wenn die zirka 30 SPD-Abgeordneten, die bis unmittelbar vor der entscheidenden Schlussabstimmung entschlossen waren, dem Einigungsvertrag in der vorliegenden Fassung ihre Zustimmung zu verweigern, bei ihrer ablehnenden Haltung bleiben, dann zieht die CDU ihr Einverständnis zur Festschreibung der Bodenreform zurück!

Damit wurde das Bodenreformland Hunderttausender ehemaliger LPG-Bauern von der CDU hinter den Kulissen zum Gegenstand eines parlamentarischen Pokerspiels gemacht, nur um die notwendigen Stimmen für einen von Bonn diktierten Einigungsvertrag zusammenzubekommen, der zwar den Vorstellungen der Bundesregierung und der hinter ihr stehenden Banken und Konzerne entsprach, im Interesse der DDR-Bevölkerung jedoch dringend hätte nachgebessert werden müssen.

Für mich persönlich war dieser parteipolitische Schacher um das Eigentum und die Zukunft der Mehrheit der Landbevölkerung der DDR so ungeheuerlich, dass ich noch am späten Abend des 25. September 1990 den amtierenden Präsidenten der Volkkammer, Dr. Ullman (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen), in der Volkskammer anrief, und ihn fragte, ob er in seiner Eigenschaft als Vizepräsident der Volkskammer von diesem unwürdigen Treiben der CDU Kenntnis habe. Dr. Ullmann verneinte das, versicherte mir aber gleichzeitig, dass er meiner Information "unbesehen glaube", was wohl kaum eines Kommentars bedarf.

Was hätte wohl die Landbevölkerung der DDR zu diesem unwürdigen Kuhhandel gesagt, wäre er ihr bekannt geworden, vor allem diejenigen, die bei der Wahl am 18. März 1990 ihre Stimme voller Vertrauen und Hoffnung der von der westdeutschen CDU gesteuerten "Allianz für Deutschland" gaben? Und was ebenso schlimm war: Die SPD ließ sich von der CDU erpressen. Damit wählte die SPD - übrigens nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte - das "kleinere Übel", anstatt die Tribüne der Volkskammer, die Medien und alle anderen Möglichkeiten zu nutzen, um noch vor der entscheidenden Schlussabstimmung den Menschen in der DDR die volle Wahrheit über dieses Ränkespiel zu sagen und sie zum Widerstand zu mobilisieren. Die von 14 SPD-Abgeordneten nach ihrer widerwilligen Zustimmung abgegebenen Erklärung über ihr Abstimmungsverhalten ändert nichts daran, dass die Bürger Ostdeutschlands mit einem so formulierten und in dieser Art zustande gekommenen "Einigungs"-Vertrag und seinen Folgen leben müssen.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Bevölkerung der DDR von den Eliten der Alt-BRD mit aktiver Unterstützung bzw. Billigung ostdeutscher CDU- und SPD-Politiker über den Tisch gezogen, getäuscht und kolonialisiert worden ist.

Der ehemalige Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Pastor Albertz, bekannt als allseits geachtete Persönlichkeit, sprach bereits im Zusammenhang mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 von einer brutalen Invasion der Westdeutschen: "Manchmal denke ich, ein Einmarsch von Truppen ist ehrlicher als das, was jetzt geschieht."

Da jede Erinnerungs- und Gedenkkultur, auch die der Bundesrepublik, sich jenseits von Oberflächlichkeit bewegen und jedes Gedenken in erster Linie zum Nachdenken anregen sollte, verdient es auch die Entstehungsgeschichte des den Ostdeutschen bar jeder politischen Vernunft vor fast zwei Jahrzehnten einfach überstülpten Grundgesetzes nachzudenken, dass man sich ihr im Jubiläumsjahr besonders widmet.

Die hierzulande Herrschenden haben auf 60 Jahre Grundgesetz angestoßen, das nicht einmal eine Verfassung ist - und schon gar keine vom Volk legitimierte. Sie erhoben ihre Gläser auf den 60. Jahrestag der BRD, des Separatstaates der deutschen Monopole, in den die ehemaligen DDR-Bürger mit dem Anschluss geraten sind. Eine Republik, über deren genaues Geburtsdatum gerätselt wird.

Blicken wir also zurück auf den 23. Mai 1949, den Tag, als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet wurde, und registrieren, dass die Gründung der BRD auf der Basis eines Befehls der westlichen Militärgouverneure erfolgte und man deshalb auch nicht auf ihre Geburtsstunde verweisen kann. Sie erfolgte im Schlafzimmer (!) König Ludwigs von Bayern im Schloss Herrenchiemsee, wo sich die Ministerpräsidenten der drei westlichen Zonen auf Besatzungsbefehl versammelt hatten, um die Order zur Vorbereitung eines Grundgesetzes ("Basic Law"), keineswegs aber einer Verfassung, entgegenzunehmen. Denn eine vollständige Verfassung konnte es wegen des separaten Hintergrundes ja nicht geben. Der Geltungsbereich betraf nur einen Teil Gesamtdeutschlands. Doch selbst diese einschränkende Version einer Nicht-Verfassung stieß bei den Ministerpräsidenten auf keine sofortige Zustimmung. Die Renitenz dagegen war nicht gering. Und das Ganze nannte man dann "Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland"

Anfang der 50er Jahre resümierte der KPD-Bundestagsabgeordnete Heinz Renner im Parlament die Entstehungsgeschichte des westdeutschen Separatstaates. Als er auf die Versammlung der Ministerpräsidenten in Ludwigs Schlafzimmer zu sprechen kam, brach ein CDU-Parlamentarier in den verwunderten Zwischenruf aus: "Schlafzimmer?" Das Protokoll vermerkte ihn ausdrücklich.

Die Masse der Abgeordneten kannte schon zwei Jahre nach der Staatsgründung keine Details dieses Vorgangs mehr oder hatte nie Kenntnis davon erlangt. So eine Staatsgründung ohne offiziellen Gründungstag ist natürlich nicht vorzeigbar und erhärtet die Meinung, wonach Westdeutschland staatsrechtlich wieder auf den Status in der Zeit vor dem Sieg des Arminius über die Römer zurückgefallen war.

Der bekannte Publizist Erich Kuby erinnerte in seinem Buch "Mein ärgerliches Vaterland" im Jahr des Anschlusses der DDR an die BRD an nachstehende vorausschauende Worte des damals führenden SPD-Politikers Carlo Schmidt: "Wir sind bei der Errichtung dieses Notbaues", gemeint war die Schaffung eines Weststaates, "nur zum Teil Herren unserer Entschlüsse gewesen. Die Besatzungsmächte haben uns Auflagen erteilt. Das ist nicht gut gewesen (...) Will man einen Staat, so ergeben sich zwei Möglichkeiten. Die eine ist ein Weststaat, also ein echter Staat. Die andere Möglichkeit: kein Weststaat, sondern ein Rumpfdeutschland, das den Anspruch erhebt, Gesamtdeutschland zu repräsentieren, und dessen oberste Organe sich für befugt halten, zum mindesten eine legale Autorität auf dem gesamtdeutschen Staatsgebiet zu besitzen. (...) Eine Folge wäre, dass man die Bevölkerung Mittel- und Ostdeutschlands alle Irredenta (= politische Bewegung, die den Anschluss abgetrennter Gebiete an das Mutterland anstrebt) anzusehen hätte, deren Heimholung mit allen Mitteln zu betreiben wäre. Demgemäß wären jene, die der gesamtdeutschen Regierung im Westen das Recht zur Vertretung aller Gebiete bestreiten, (...) als Hochverräter zu behandeln."

Damit wurden schon 1948 die Grundlagen für die folgenden innerdeutschen Auseinandersetzungen und für die exemplarische Bestrafung aller derjenigen nach dem Anschluss der DDR an die BRD geschaffen, die sich diesem anmaßenden Anspruch des kapitalistischen Provisoriums Bundesrepublik widersetzten. Bereits vor vier Jahrzehnten war die Behandlung der "staatsnahen" DDR-Bürger für den Fall vorprogrammiert, dass die DDR eines Tages zu existieren aufhört. Alle anderen nach 1990 erfundenen Begründungen für gegenüber ehemaligen DDR-Bürgern geübte Rache und Vergeltung durch die bundesdeutsche politische Strafjustiz sind mit dem Ziel nachgeschoben worden, vom historischen Ursprung des Problems und damit von Kern der Sache abzulenken.

Carlo Schmidt erklärte weiter: "Wahrscheinlich wäre, dass wenigstens zwei der westlichen Besatzungsmächte sich für diese zweite Lösung entscheiden würden. Diese Entscheidung müsste zu einer wesentlichen Verschärfung ihrer Beziehungen zur östlichen Macht führen. Man kann das für notwendig, man kann das für richtige Politik halten. Nur muss man sich darüber im klaren sein, dass man damit endgültig darauf verzichtet, die Einheit Deutschlands auf dem Wege einer Einigung der vier Besatzungsmächte herbeizuführen. Damit hätte man sich auch dafür entschieden, die Verwirklichung der Einheit Deutschlands auf dem Wege der Katastrophe anzustreben."

Sehr deutliche und deshalb unmissverständliche Worte!

Und dennoch entschloss sich der Parlamentarische Rat, diesen für unser Volk so folgenschweren Weg mitzugehen. Er beschloss das von den Westmächten geforderte Grundgesetz im Namen "des deutschen Volkes", das ebenso wie nach 1990 bei der Entscheidung über eine "vom deutschen Volk in freier Entscheidung zu beschließende Verfassung" niemand befragte. Auch ein Name für den Separatstaat wurde gefunden, in dem zum Ausdruck kam, dass das Reich 1945 nicht untergegangen ist: Bundesrepublik Deutschland.

Zu einer ehrlichen Erinnerungs- und Gedenkkultur würde es auch gehören, nachstehende berühmt gewordenen Worte des damaligen Vorsitzenden der KPD, Max Reimann, nicht verschämt unter den Teppich der Geschichte der Bundesrepublik kehren. zu wollen: "Wir unterschreiben nicht! Es wird jedoch der Tag kommen, wo die Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben."

Und heute sind die Menschen in West und Ost Zeugen, wie sich seine ahnungsvolle Vorausschau eindrucksvoll bestätigt. Während die CDU, allen voran der von Amts wegen für die Respektierung und Einhaltung des Grundgesetzes in erster Linie verantwortliche Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), eine Grundgesetzänderung nach er anderen fordert und Verstöße gegen substanzielle Artikel mit der Bundestagsmehrheit der großen Koalition durchsetzt, ist es die Partei Die Linke, die das Grundgesetz gegen die verteidigt, die es zum Steinbruch ihrer aktuellen partei- und machtpolitischen Interessen machen wollen. Mittlerweile ist ein Zustand erreicht, wo es in Deutschland nicht mehr opportun ist, sich auf das Grundgesetz zu berufen und wo diejenigen, die es dennoch tun, als unbequeme Nörgler gelten, die unfähig oder nicht willens sind, den "gegenwärtigen politischen, sicherheits- und militärpolitischen Erfordernissen", das heißt im Klartext: den Erfordernissen eines Überwachungsstaates, einer Notstandsgesetzgebung, eines weltweiten Einsatzes der Bundeswehr und der Führung bzw. Unterstützung völkerrechtswidriger Kriege zu entsprechen.

Mit der Verkündung des Grundgesetzes und der Wahl zum ersten Deutschen Bundestag war - und das gehört unbedingt zur Erinnerungs- und Gedenkkultur unseres Volkes - auf Betreiben der Westmächte und mit aktiver Schützenhilfe westdeutscher Parteien die Spaltung Deutschlands vollzogen. Dass Adenauer, der schon in jungen Jahren ein überzeugter Separatist war und später die West-Einbindung der BRD vorantrieb, zu Recht als Spalter Deutschlands bezeichnet wird, bestreiten nicht einmal mehr ernst zu nehmende konservative Historiker. Also hat man diese Tatsache, wie überhaupt die gesamte imperialistische Restauration und die Frühgeschichte der Westzonen und der BRD ersatzlos gestrichen. Man weiß, warum: Zuviel Peinliches käme ans licht. Neben der Mitverantwortung der CDU und SPD für die Teilung Deutschlands und ihre Folgen auch die braunen Wurzeln namhafter Politiker, Ideologen, Militärs, Geheimdienstexperten, Polizeioberer, Richter, Staatsanwälte sowie die schon frühzeitige Rückkehr verurteilter Kriegsverbrecher und imperialistischer Nutznießer der mörderischen Sklavenarbeit in den KZs in ihre alten Machtpositionen. Dieter Hildebrandt wusste schon, wovon er sprach, als er sagte:

"Deutsche Richter entstehen nicht aus normaler Fortpflanzung - nein, sie werden aus Ersatzteillagern der Jahre 33-45 zusammengeschraubt." Und das galt, wie wir wissen, nicht nur für (west)deutsche Richter.

Es ist nicht anzunehmen, dass die CDU diese für sie unangenehmen historischen Sachverhalte meint, wenn sie in ihrem Stuttgarter Strategiebeschluss für das Superwahl- und Supergedenkjahr fordert, die Geschichte der deutschen Teilung zum zentralen Inhalt des Schulunterrichts in ganz Deutschland zu machen, als verbindliche Inhalte des Unterrichts in die Rahmenpläne des Fachs Geschichte der Sekundarstufen I und II aufzunehmen und Schülern Gelegenheit zu geben, sich an die jüngere deutsche Geschichte zu erinnern.

Vielmehr kann aufgrund des bekannten Geschichtsbildes der Union eher davon ausgegangen werden, dass der Inhalt des von ihr geforderten Unterrichtes und der verordneten Erinnerung eine mehr als nur stark vereinfachte Interpretation wirklichen Geschehens mit dem Ziel sein soll, die Rolle der eigenen Partei und des restaurierten deutschen Imperialismus und Militarismus in der Nachkriegsgeschichte zu vernebeln und die DDR mit Unterstützung der Konzernmedien als den Staat hinzustellen, der mit seiner Staatsgrenze Deutschland geteilt hat. Historische Zusammenhänge, wie sie Stefan Heym und Richard von Weizsäcker unabhängig voneinander deutlich gemacht haben, stören da nur.

Wenn der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer in seinem Interview mit der Ostsee-Zeitung Rostock am 13. Mai 2009 feststellte dass "der Kampf um die Deutungshoheit über die DDR längst in vollem Gange" sei, was "leider zu einer Verschleierungs- und Verschiebungsdebatte" führt, "die im großen Jubiläumsjahr noch einmal verschärft und vereinseitigt wird", dann ist ihm darin ebenso zuzustimmen wie bei seiner ausdrücklichen Unterstützung der Forderung des aus Nordrhein-Westfalen stammenden Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering (SPD), nach einem sachlichen und differenzierten Umgang mit der DDR.

Recht hat er auch, wenn er der Bundeskanzlerin vorwirft, mit ihrem Beharren auf dem Begriff "Unrechtsstaat" die DDR in die Nähe des Nazi-Systems zu rücken und erklärt: "Das ist verlogen und hat offenbar mehr mit dem Wahlkampf gegen die Linke zu tun, als mit wirklichem Erleben."

Ich bin sicher, dass der Pfarrer und frühere DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer mit seinem Urteil der Volksseele weit mehr entspricht als die dem Stimmenfang und der eigenen Machterhaltung dienenden unsachlichen DDR-feindlichen Ausfälle der Pfarrerstochter aus Templin und einstigen FDJ-Aktivistin für Agitation und Propaganda, Angela Merkel, und ihrer Parteifreunde.

Raute

Fakten und Meinungen

Gisela Steineckert

Wär das Wetter schlecht gewesen

Wär das Wetter schlecht gewesen, wär ich nicht zum Rendezvous gegangen, als ich siebzehn war und mehr Angst vor versauter Frisur hatte, als vor vertaner Zeit.

Wenn keine Aufregung herausschaute, wäre ich nicht erschienen, mit Dreißig, als mir ein ruhiger Tag wie eine vergeudete Chance vorkam, denn etwas hatte doch zu passieren, was niemand, vor allem ich nicht, je gedacht hätte.

Manchmal wurde gar nicht ich gebraucht, sondern nur jemand, jemand ganz anderes, aber der hatte Wichtigeres vor und also kam man auf mich zurück, von der bekannt war, sie könne so schlecht nein sagen. Ich bin pünktlich eingetroffen, immer, aber die andern kamen erwartungsvoll wie aus der Arche zum letzten bei der Abfahrt vergessenen Vogel, aber da war dann nur ich und von solchen hatten sie schon an Bord.

So waren wir einander enttäuschend und hielten uns gegenseitig auf, Wichtigeres zu erleben. Zu sagen: da komm ich nicht, brauchte einen Mut, der erst wachsen musste.

Wär ich nicht schon fünfzig gewesen, hätte ich mir mit einem Krimi einen schönen Tag gemacht und mich samstags am Vormittag nicht unbedingt zu den sanften Belagerern gegen den Abriss des Palastes der Republik gestellt, auch bei schlechtem Wetter, auch stellvertretend für Alphapersonen, die sich dort nicht sehen ließen, weil sie schon wussten, der Palast hatte abgerissen zu werden, weil das vielleicht helfen würde, gegen unsere Erinnerungen, die verdammten und die allmählich auszublenden: Die Erinnerungen an aufregende Darbietungen, geschwungenes Tanzbein, Buchbasare, Weihnachtsfeste für Kinder, ja, manchmal auch einen eher langweiligen Empfang, aber da konnte man sich kurz sehen lassen und wieder verschwinden.

Ich wusste, dass manche Vorübergehende am Palast mit ihren großen neuen bunten Tüten vom Einkauf uns lächerlich finden, und blieb trotzdem stehen, verteilte Zettel und holte Unterschriften ein. Denn ich war nun über fünfzig und wusste, dass alles Unterlassene Wurzeln in die Erde senkt, und wer abreißen lässt, soll sich eine Erinnerung aufladen lassen, mit der er vielleicht nicht gut zurechtkommt. Sie werden sich dauernd erklären müssen, dachte ich und es ist doch gut, dass es einen Verein gibt, der sich keinen kriegerischen Namen gegeben hat, sie nennen sich nur Freunde jenes Hauses, das ein Sozialdemokrat für seine Augen unzumutbar nannte. Nun muss er die entstandene hässliche Ruine nicht mehr sehen, er kann sich schöne Pipelines bei den Nachbarn anschauen.

Wär ich nicht fünfzig geworden, hätte ich mich mehr gewundert über meinen seltsamen Geburtstag 1981, an dem so viele mein Freund sein wollten, wie es nur einem Gerücht von Macht zu danken sein konnte, die ich nicht hatte. Ich hatte Einfluss durch die erworbene Gewohnheit, mich einzumischen, und wenn ich Ungerechtigkeit sah, bimmelte ich auch die ganz große Glocke.

Der Verursacher meines Eingreifens hätte nur einmal sagen müssen: Und was geht dich das an? Dann hätte ich dumm dagestanden. Aber solche Frage ist mir nie gestellt worden. Da ich es bei großem Ärger von oben meist mit Männern zu tun hatte, kamen die bei meiner frechen Nachfrage sofort auf die Idee, hinter mir stünden noch mächtigere Männer oder sogar die Rote Armee.

Die Geschichten solcher Gradebiegungen im Leben von Menschen, denen ich allein schlecht helfen konnte, sind Anekdoten geworden.

Manche wird mir heute, wo ich kaum noch helfen kann, belustigt und dankbar erzählt. Es lebt sich aber nicht sehr gut damit, denn die Erinnerung ruft die alten Gefühle der Empörung wach, und neue gesellen sich dazu und bleiben unerledigt.

Wäre ich nicht gerade sechzig Jahre alt gewesen und eben ohne große Begeisterung in die vierte Gesellschaftsordnung meines Lebens eingeordnet worden, hätte ich nicht gewusst oder gefürchtet, was mit den Frauen in diesem Land passieren würde, das nun nie eines gewesen sein sollte, sondern eher eine zugige Bahnhofshalle mit unappetitlichem Imbissstand, ohne Zeitungsverkauf, statt dessen lauten Ausrufern und strengem Dienstpersonal, das kein Gesicht verzog bei den lauten Ansagen von zu Erwartendem, das immer halb so schlimm oder halb so schön eintrat.

Hätte ich nicht wieder erkannt, was nun hübsch geschmückt und überladen und mit vielen Türen nach überall an dessen Stelle trat, hätte mich nichts bewegen können, mich als Vorsitzende des einzigen Frauenverbandes des eben gewesenen Landes wählen zu lassen, dessen Mitglied ich vorher nie war. Die Frauen, verleumdet ohne Grund, weil sie nur in ihren Wohngebieten ihre Gruppen zu gegenseitiger Hilfe bilden konnten, waren eben dabei, sich davon zu machen. Sie hatten nichts Böses getan, aber ihr Vorstand, wie der ganze Staat, war von Männern geleitet und ausgehalten worden, also gehörten sie als Bündnis abgeschafft.

Es ging aber um mehr als um Vereinsmeierei. Es ging um gegenseitige Hilfe, und vor allem um die Erfahrung, zu helfen. Ich wusste, um die Stelle als Galionsfigur würde sich niemand reißen, von dort aus war der Name Betonkopf üble Nachrede, viel Verweis und Verriss Unzulänglicher zu erwarten, aber einmal verpasst, wäre die Chance nicht wiederholbar gewesen. Schön, dass andere ihre eigene Weiberwirtschaft einrichteten, und vielleicht auch meine Erfahrung in Anspruch nahmen.

Wäre ich nicht schon siebzig, wüsste ich aus allem Getanen und Unterlassenen nicht die Summe zu machen, die mir manches verbietet und einiges erst jetzt erlaubt. Andere wissen das früher, andere treten mit Bildung ins erwachsene Leben ein, andere werden als Kind geliebt und also ermutigt, andere nehmen sich gleich den richtigen Mann und können es dabei belassen - aber andere haben vielleicht auch nicht diesen lebenslänglichen Hunger, aus soviel miesem Anfang, soviel Nachkrieg, Fehlleitung, Unterdrückung und Irrtum des Herzens etwas zu machen, mit dem es sich leben lässt. In der Hoffnung, es lässt sich mit mir leben. Diese Frage zu stellen, werde ich mich mit achtzig Jahren trauen. Falls. Frühestens. Oder auch nicht.

Raute

Fakten und Meinungen

Roger Reinsch

Lied der Würde an die Menschen der Erde

Aus tausend Visionen erkoren -
in eurem Werden gezeugt -
mit eurem Erwachen geboren -
ein Aderngeflecht kühner Gedanken,
das die Hülle des Erdballs schmückt
Ich - EURE WÜRDE

Ich
bin so wahr wie vorhanden,
bin im Hauch des Planeten verzweigt -
so Idee aus den Köpfen steigt,
weil ihr Sein für die Zukunft vonnöten!
Damit diesem Lebensplaneten
endlich die Menschlichkeit glückt!

Ich,
gepresst aus den Schlachten
- seit Spartakus aufstand und fiel.
Den Kämpfen der Vielen
lautlos entstiegen
als aller Aufstände Ziel!
Euch in die Hände, die Herzen, die Hirne
verinnerlicht
wie die Bioströme
in ihren Bahnen liegen.

Ich,
Hintergrund - eurer Gedanken Sinn -
in allen Sprachen besungen -
ein gemeinsames Singen bin!

Ich,
so erfüllungstrunken,
in euer Leben zu treten,
euch zu befreien vom Vorzeitenrest.

Ich
will euch als Schmuck des Planeten!

Ich
dränge euch an die größte Hürde
rufe, flüstere, schreie euch zu:
Reift und begreift,
vereint euch und singt,
dass endgültig euer Sprung nun gelingt
in das eigens so mühsam,
so schmerzlich reifende
Leben mit mir:
Das Leben in Würde!
Bin gegenwärtig -
Kraftquell der Revolution,
der großen,
der Erdball umfassenden großen,
die aus Tausenden Köpfen und Schößen,
mit kurzen und blutigen Wehen,
bei Großvaters Großvater schon
- als empörend erlebtes Geschehen -
vernarbt zur Geschichte gerann.

Lebe weiter in hellen Gesängen
mit dem siegesgewissen Ton
der Internationale,
deren einender Ruf um die Erde
so französisch - französisch - französisch
begann.
Fing an, verebbte, kam wieder.
Bricht Verzweiflung euch auf,
schlagt sie nieder.

Denn ich,
ihr fordernder Geist,
Idee im Die-Erde-Umwehen
einst von märchenhafter Gestalt,
ich kann es verstehen:
Nochmals in Werken und Köpfen -
am Klassengedankengerangel,
am Volksdemokratenmangel,
am Jahrtausende alten Glaubensgerümpel -
sind die Schienen des Wissens geborsten,
ist die Lok des vereinten Wollens entgleist.

Und so treibe und quäle und winde ich,
lasse Lustwurzeln wehen in meinem Flug,
dass ihr im Rollen des Erdballs mich fühlt.

Ihr müsst,
bei stetem Geschichtedurchwühlen
nach dem Sinn,
dass euch solche Visionen erblühen,
mich als euer Eigen verstehen.

Ich bin euer Jungbrunnen,
ihr meine Quelle,
finde Stärkung in euren Herzen und Hirnen
und trage der Zukunft Helle.

Ich atme belebend den Schweißhauch der Arbeit,
finde Kraft in den Kräuterdüften,
die der Köchinnenkunst entströmen.

Es zürnt meine Wut,
hab ich Träume zu lesen,
in denen geschändete Kinder zittern.
Mein Traum gebiert Blut,
färbt die Freudentränen
jener Frauen und Mädchen
die Glück verheißende Banknoten küssen,
für die sie die Schönheiten ihrer Gestalt
und die Zärtlichkeit ihres Wesens
und die freudig lodernde Lust
abtöten lassen und verkaufen müssen.

Ich fauche mein Fordern nach eurer Tat:

Ihr müsst dieser gottlosen Welt,
dieser Geistlosigkeit im Geschehen,
den blauen Planeten des Menschen-Erlebens,
als GLOBUS HUMANITUS
mit Wissen und Können und Wollen
in das Materie wirbelnde Allgeschehen,
ins Multiversum geladene Dasein rollen!

Für sich
hat der Planet euch werden lassen.
Und er stöhnt und bricht auf
und er atmet schwer
unter Blutkrusten eurer Schlachten.
Ihr braucht jene Freude und den Witz und den Mut,
mit dem Saporosher Kosaken lachten.
Macht euren Schwur auf das Leben der Erde,
dass von Machtgier es nicht oder Götterglauben
oder Goldgier mit ätzendem, hasskrankem Blut
zerfressen werde.

Wer sollte noch sein außer euch?
Der den Menschen nach seinem Bilde schuf,
war der MENSCH!

Aus dem Reichtum der Erde habt ihr
euch geschaffen!
Mit immer wachsender Kraft.
Der Planet war geworden
Und -
er hat euch erhofft!

Für mich
habt ihr Hörigkeit und Sklaverei,
leidend durchlebt.
Seid bei Kriegsfanatismus und Weltmachtstreben
noch immer nicht von der Ausbeutung frei.
Ja, wirklich macht mich
- EURE WÜRDE -
euer Schöpferisch - Schaffen
ohne jegliche Ausbeuterei

Durchström ich euch, werden die Köpfe frei
von Geistern und Nebelgestalten,
von Traumbildern göttlicher Wesen.
Ihr habt stets alte Gedanken gelesen,
welke Gedanken,
jahrhundertealt
in vergilbten, schwarzhülligen Wälzern,
zu lange gelesen -
sind wertlos geworden.

Das Einfachste:
Ihr habt es nicht wahrgenommen,
der zu schaffen, zu schöpfen,
zu scheitern vermag,
ist immer der Mensch.

Ihr hattet ein schwaches Bild von euch,
kanntet nicht Weg und nicht Ziel eures Seins,
Vollkommenheit nicht,
projiziertet euch nicht in die Welt hinein,
getrautet euch nicht,
Bewohner des quirligen Alls zu sein.

Macht Schluss mit der Mutlosigkeit.
Nun seid ihr so weit.
Es ist Zeit!
Es ist dringende, drängende, reife Zeit!

Eure blaue Perle im All
wird durch euch über meinen Kuss
als Ziel des historischen Wachsens
Erde der Menschen -
Globus Humanitus!

Raute

Fakten und Meinungen

Werner Roß

Die Mär vom "Rechtsstaat in abstracto"

Hermann Klenner weist daraufhin, dass der Rechtsstaat zugleich ein Machtstaat sei. Eine Gegenüberstellung von Machtstaat und Rechtsstaat sei strikt abzulehnen.(1) Dieser Auffassung ist vorbehaltlos zuzustimmen.

Mit der These vom "Rechtsstaat an sich" wird von den bürgerlichen Ideologen der Versuch unternommen, den Klassencharakter begrifflich zu verdunkeln, ihn zu mystifizieren. Es soll der Eindruck vermittelt werden, dass Staat und Recht nicht in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln.(2) Somit wird eine Entäußerung zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und dem bürgerlichen Staat vorgenommen. Die Doktrin vom Rechtsstaat in seiner abstrakten Ausformung ist ein Kampfbegriff in der politischen Klassenauseinandersetzung zur Verklärung und Idealisierung des bürgerlichen Staates. Hier lässt sich auch die Glorifizierung der BRD als "Rechtsstaat" und die Schmuddelthese von der DDR als "Unrechtsstaat" einordnen.

Auch Linke werden durch die Gegenüberstellung von Rechtsstaat und Machtstaat politisch infiziert. So wird die Frage aufgeworfen, ob der Rechtsstaat nicht über den Machtbegriff hinausgehe und er das Maß der Politik darstelle. Deshalb sei es notwendig, einen Kriterienkatalog für den Rechtsstaat aufzustellen und die Staaten bezüglich ihres juristischen Reifegrades zu messen.

Zunächst gilt es darauf aufmerksam zu machen, dass der Rechtsstaat immer in einem gesellschaftlichen Bezugssystem handelt.(3) Als bürgerlicher Staat ist er integraler Bestandteil des politischen Systems und an die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln gebunden. Er bewegt sich als Akteur innerhalb des objektiven Widerspruchgeflechts der kapitalistischen Produktionsweise, die aus der privaten Eigentumsform an den Produktionsmitteln die Klassenspaltung und den Klassenkampf erzeugt. In seiner Schrift "Das Elend der Philosophie" schrieb Marx, dass Staatspolitik, die "politische und bürgerliche Gesetzgebung nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse proklamiert und protokolliert".(4)

An anderer Stelle führt er aus: der bürgerliche Staat ist "die Herrschaft des Kapitals, die Sklaverei der Arbeit zu verewigen."(5)

Bei der Wertung des Rechtsstaates wird nicht übersehen, dass dieser als zivilisatorische Errungenschaft zumeist zielgerichtet unter bürgerlichen Gesichtspunkten betrachtet wird. Deshalb ist er auch eine Kreation des liberalen Bürgertums in Auseinandersetzung mit feudalistischen Dogmen. Er hat somit seine progressive historische Berechtigung. In seiner kapitalistischen Gebundenheit unter Gesichtspunkten des Reichtums - Armuts - Antagonismus kann er natürlich kein Gerechtigkeitsstaat sein. So gesehen, muss einer unkritischen Verwendung des Rechtsstaatsbegriffs polemisch begegnet werden.

Auch wenn man die Auffassung verficht, dass die Rechtsstaatlichkeit ein Faktor des gesellschaftlichen Fortschritts ist, so darf jedoch nicht übersehen werden, dass "sie ihn nicht garantiert."(6) Das wird eindrucksvoll durch die Geschichte der Alt-Bundesrepublik bewiesen. Hier erfolgt kein konsequenter Bruch mit dem Faschismus, so dass problemlos die Nazi-Aktivisten in den Machtapparat - ob Regierung, Verwaltung, Justiz, Militär, Hochschulwesen oder Wirtschaft - einbezogen werden konnten. Andererseits wurden die Grundrechte gebeugt - so die Unverletzlichkeitsrechte durch die Notstandsgesetzgebung und den legalisierten Kampf gegen den Terror - Berufsverbote gegenüber Mitgliedern der KPD und anderen Linken ausgesprochen, aber Toleranz gegenüber Neofaschisten durch halbherzige Restriktionen geübt. Diese Verbiegung des Fortschrittsgedankens wurde mit dem Anschluss der DDR durch die BRD fortgesetzt. So diente der Rechtsstaat als juristische Argumentation und feingeschliffenes Instrument zur Abwicklung der DDR, besonders des Volkseigentums, sowie zur Strafverfolgung von Hoheitsträgern der DDR.

Das Vereinigungsunrecht und das kodifizierte Sonderrecht für "Ostdeutschland" sind ein weiterer Beweis für die Deformation des bürgerlichen Rechtsstaates, dessen Begriffsbildung und quasi grundgesetzliche Verankerung (Art. 20 Grundgesetz) immer mehr erodiert. Es nimmt deshalb nicht wunder, dass der Begriff des Rechtsstaates vage und mehrdeutig ist und sich mit ihm verschiedene Vorstellungen verbinden.(7)

In diesem Zusammenhang gilt es festzustellen, dass es an einer wissenschaftlichen Bestimmung des Rechtsstaates mangelt. Der Grund hierfür liegt eben in dem Unvermögen, diesen auf einen reinen juristischen kategorialen Apparat zurückzuführen. Wie wir gesehen haben, ist die Problematik des Rechtsstaates abgeleitet von der Macht- und der Klassenfrage sowie den Eigentumsverhältnissen an den Produktionsmitteln. Damit ist die Rechtsstaatlichkeit eine juristische Äußerungsform der Art und Weise der Machtausübung eines Staates, basierend auf den materiellen Lebensverhältnissen. Der Rechtsstaat kann progressiv genutzt werden, aber auch als juristische Kunstfigur unter die Räder geraten.

Wenn H. Klenner die Auffassung vertritt, dass "kein Fortschritts- und kein Freiheitsweg am Kerngedanken des Rechtsstaates vorbeiführt", weil "nämlich die Legislative an die Staatsverfassung, die Administrative wie die Judikative an die Gesetze gebunden sein sollen"(8), so wird hier an das progressive Erbe der Rechtsstaatsidee im Kampf für den gesellschaftlichen Fortschritt angeknüpft. I. Wagner erweitert die inhaltliche Komponente um die Volkssouveränität, die Demokratie, die Gewaltenteilung, die Menschenrechte und verweist hier allerdings auf die vorgenommene Abstraktion.(9) Für W. Abendroth ist ein demokratischer Rechtsstaat nur dann demokratisch, wenn er auch ein sozialer Rechtsstaat ist. Das betont auch E. Sarcevic, wenn er hervorhebt, dass ... "der soziale Rechtsstaat ein System der sozialen Demokratie (voraussetzt)".(10)

Bereits dieses positiv zu bewertende Meinungsspektrum lässt erkennen, dass der Rechtsstaat immer in seiner historisch-konkreten Existenzform gewertet werden muss.(11) Um es auf den Punkt zu bringen: der Rechtsstaat existiert nicht als abstractum, er ist immer gekoppelt an die jeweilige ökonomische Gesellschaftsformation und an den sie bestimmenden Staatstyp. Deshalb ist es nur folgerichtig zwischen dem Rechtsstaat im Kapitalismus und dem mit sozialistischer Prägung zu differenzieren.

Es ergibt sich nun die Frage, warum müssen wir die Idee des Rechtsstaates produktiv nutzen? Ursächlich hierfür dürften vor allem zwei Gesichtspunkte sein.

Erstens ist es notwendig, den Rechtsstaat für die Durchsetzung von radikal-demokratischen Reformen (Übergangsforderungen)(12) im Kapitalismus - so in der Bundesrepublik - zu verteidigen und im Interesse der weiteren Demokratisierung der Gesellschaft weiterzuentwickeln. Damit wird eine bestimmte Sprengkraft zur Überwindung des Systems erzielt. Die Stufen- und Zwischenlösungen geschehen aber nicht im Selbstlauf, sondern nur im Ergebnis harter Klassenauseinandersetzungen. Hier ist zunächst das Grundgesetz zu nutzen, um der Bundesrepublik ein wahrhaft demokratisches Antlitz zu verleihen und fortschrittsfördernd den antikapitalistischen Weg zu ebnen. Dabei ist eine qualitativ neue Demokratie zu erkämpfen, die insbesondere auf die plebiszitären Elemente und auf die Demokratisierung der Wirtschaft(13) ausgerichtet werden muss. H. Klenner ist zuzustimmen, wenn er ausführt, dass "das Rechtsstaatsprinzip dem Demokratieprinzip subordiniert ist."(14) In einem engen Zusammenhang damit steht die Eigentumsfrage an den Produktionsmitteln zur Reproduktion volkssouveräner Machtausübung. Auch in diesem Punkt ist an das Grundgesetz anzuknüpfen. Zwar wird das Eigentum durch Artikel 14 gewährleistet. Trotz des betonten absoluten Rechts des Eigentumsinhabers (vgl. auch § 903 BGB) wird der Inhalt des Eigentumsrechts sowohl durch das Grundgesetz als auch durch das BGB dadurch relativiert, dass

a) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen (Art. 14, Abs.2, GG). Dieser Rechtsgrundsatz dürfte angesichts der kapitalistischen Sachzwänge und dem damit verbundenen Streben nach Profit ein Widerspruch in sich selbst sein;

b) der Eigentümer nur dann mit der Sache nach Belieben verfahren kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen (§ 903 BGB);

c) eine Enteignung möglich sei, allerdings unter den einschränkenden Bedingungen, wenn sie dem Wohle der Allgemeinheit diene, diese auf der Grundlage eines Gesetzes erfolge, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt (Art. 14, Abs. 1 und Abs. 2, GG).

Nach dem Artikel 15 GG ist die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und anderen Produktionsmitteln unter der Voraussetzung einer Gesetzesgrundlage mit einer Entschädigungsreglung möglich. Resümierend kann also festgestellt werden, dass es weder grundgesetzliche noch privatrechtliche Schranken für die Aufhebung kapitalistischen Eigentums gibt. Damit ist der Kapitalismus nach Artikel 15 des Grundgesetzes nicht unantastbar. Im Gegenteil, das GG eröffnet die Möglichkeit einer "echten gesellschaftspolitischen Alternative gegenüber der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft", wie Axel Azzola zutreffend kommentiert.(15)

Durch die Finanzkrise, die eine Strukturkrise ist und als Systemkrise die Antagonismen des Kapitalismus offenbart, sind die Menschen sensibler, ja misstrauisch gegenüber dem Kapitalismus, der bürgerlichen Regierungsgewalt und der konservativen Meinungshoheit geworden. Das bedeutet aber noch nicht, dass sie sich vom kapitalistischen Denksystem befreit hätten. Schlussfolgernd kann gesagt werden, dass es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Krisen des Kapitalismus und dem Krisenbewusstsein der Volksmassen gibt. Ventilauslösend könnten höchstens spontane Willensäußerungen und Aktionen sein, die aber die Axt nicht an die Wurzel legen. Diese Tatsache dürfte an sich allgemeinkundig und elementar sein, wird aber hinsichtlich der auszubildenden Reife des subjektiven Faktors für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen immer noch unterschätzt. Deshalb sind tragfähige Alternativen und überzeugende Argumente gefordert, um den Menschen Haltepunkte und Richtung zu geben.

Die Rechtsstaatlichkeit darf jedoch nicht allein aus ihrer Deformierung und der fehlenden politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Garantien zur Umsetzung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Kapitalismus Anlass zu ihrer Erörterung sein. Wichtig ist auch, alternative gesellschaftliche Konzepte vorzustellen. Deshalb tangiert die produktive Nutzung der Rechtsstaatsidee zweitens das zu entwerfende Sozialismusbild. Im künftigen Sozialismus sind zweifelsohne andere rechtsstaatliche Standards gefragt als in der kapitalistischen Gesellschaft. Hilfreich für dieses Vorhaben ist eine kritische Analyse des bisherigen Sozialismus - ausgehend von unserer Verantwortung - der DDR. Die vorzunehmende rechtsstaatliche Bestandsaufnahme steht in einem engen Zusammenhang mit solchen Fundamentalfragen wie der Macht- und der Eigentumsproblematik, der sozialistischen Demokratie, dem demokratischen Zentralismus, dem Grundrechtskatalog, dem Verhältnis von Partei und Staat, der Strukturierung des Staates unter Beachtung der Verantwortungsbereiche der Legislative, der Exekutive und der Justiz sowie ihrer Arbeitsteilung, Kompetenzabgrenzung und Gegenkontrolle. Diese Materien müssen ihre Widerspiegelung in der Verfassungsfrage, in einer dem Sozialismus gemäßen Kodifizierung und realen Umsetzung verfassungsrechtlicher Grundsätze finden. Inwieweit das gelungen ist, soll beispielhaft anhand eines Soll-Ist-Vergleichs einiger Kernfragen aufgezeigt werden.

Was die DDR angeht, so wurde die politische Macht und die des Eigentums in der Verfassung von 1968 (novelliert im Jahre 1974) normativ festgeschrieben. Wesentlich dabei sind - im Vergleich zum Grundgesetz - die Garantien zur Umsetzung verfassungsrechtlicher Grundsätze. Das ist insbesondere für die Persönlichkeitsrechte von belang. So wurde im Artikel 86 geregelt: "Die sozialistische Gesellschaft, die politische Macht des werktätigen Volkes, ihre Staats- und Rechtsordnung sind die grundlegende Garantie für die Einhaltung und Verwirklichung der Verfassung im Geiste der Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschlichkeit." Ein Grundprinzip, das bereits politisches Credo der französischen Revolution von 1789 war, nur dass es hier noch an der sozialökonomischen Basis mangelte, um diese humanistischen Zielstellungen verwirklichen zu können.

Von überragender Bedeutung für die Überwindung des Dualismus zwischen dem Menschen als Staatsbürger und Privatmensch, des Gegensatzes zwischen politischer Freiheit einerseits und ökonomischer Ungleichheit und Unfreiheit andererseits, ist das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln. Dieser Leitsatz wird auch in der verfassungsrechtlichen Regelung der DDR reflektiert. So wurde im Artikel 9.1 normiert, dass "die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmittel (beruht)". Artikel 10.1 definierte das sozialistische Eigentum als gesamtgesellschaftliches Volkseigentum, als genossenschaftliches Gemeineigentum gesellschaftlicher Organisationen der Bürger. Die Dominanz des Volkseigentums wurde durch das Ausschlussprinzip unterstrichen, in dem "die Bodenschätze, die Bergwerke, Kraftwerke, Talsperren und großen Gewässer, die Naturreichtümer des Festlandssockels, Industriebetriebe, Banken und Versicherungseinrichtungen, die volkseigenen Güter, die Verkehrswege, die Transportmittel der Eisenbahn, der Seeschifffahrt sowie der Luftfahrt, die Post- und Fernmeldeanlagen Volkseigentum (sind). Privateigentum daran ist unzulässig." (Art. 12.1)

Die außerordentliche Stellung des sozialistischen Staates für die Gestaltung des Volkseigentums wurde im Artikel 12.2 der Verfassung festgeschrieben. Der Staat als Eigentümer bediente sich vor allem der Planwirtschaft und des Wirtschaftsrechts.

Im Interesse eines optimalen Ergebnisses für die Gesellschaft wurde im Artikel 9.3 die Einheit von zentraler staatlicher Leitung und Planung in Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung mit der Eigenverantwortung der örtlichen Staatsorgane und der Wirtschaftseinheiten festgeschrieben. Dem Grunde nach handelte es sich um den demokratischen Zentralismus bei der Wirtschaftsleitung. Wie die sozialistische Gesellschaft nicht frei von subjektiven Widersprüchen ist, so gilt dies auch für die Umsetzung der verfassungsrechtlichen Regelung. Bei den aufgetretenen Problemen im Rahmen der Verfassungswirklichkeit ist zwischen solchen Widersprüchen zu differenzieren, deren Ursachen im subjektiven Bereich, in Mängeln der Leitungstätigkeit bestanden, sowie den Diskrepanzen, die sich aus den äußeren Bedingungen ergaben. Bei letzteren darf nicht übersehen werden, dass die DDR und die anderen sozialistischen Staaten den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus unter den Bedingungen scharfer Klassenauseinandersetzungen im kalten Krieg mit den imperialistischen Staaten vollziehen mussten. Das hatte zweifellos Auswirkungen auf die innerstaatliche Ebene. Zu den äußeren Faktoren gehören aber auch Fehlentwicklungen, die in der mangelhaften Koordinierungstätigkeit der sozialistischen Staatengemeinschaft zu suchen waren. So fehlte die notwendige Synchronisierung der Leitungs- und Planungssysteme der sozialistischen Länder, die Auswirkungen auf die Effektivität der Arbeit des "Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe" hatten. Hinzu kam die Dominanz der Sowjetunion, ihre noch an einer stalinschen Sichtweise und an Dogmen ausgerichtete Ideologie, die Konsequenzen für das Leitungssystem zeitigte. Nicht unerheblich waren die von den Interessen der Gesamtheit abgekoppelten Zielvorstellungen der einzelnen sozialistischen Staaten. Deshalb ist eine ausgewogene Sichtweise der äußeren Bedingungen geboten. Diese dürfen nicht als genereller Exkulpationsgrund für falsche politische Denkansätze und Strategiebildungen herhalten.

Eine innerstaatliche Widerspruchslage war die fehlende Durchsetzung des verfassungsrechtlichen Fundamentalsatzes (Art. 9.3) der DDR, wonach die Einheit von zentraler staatlicher Leitung und Planung in Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung mit der Eigenverantwortung der örtlichen Staatsorgane und der Betriebe zu den Grundfesten der Wirtschaftsleitung gehören sollte. Im Prinzip handelt es sich, wie bereits betont,um den demokratischen Zentralismus als Leitungsmethode zur Optimierung gesellschaftlicher Prozesse. Hier gab es Bruchstellen bezüglich der sozialistischen Demokratie.(16) So wurde der Eigenverantwortung der Betriebe durch die Partei und die zentralen staatlichen Organe Fesseln angelegt, indem in unzulässiger Weise administrativ in ihre wirtschaftliche Tätigkeit eingegriffen wurde. Das war meistens nicht einem außerordentlichen Umstand geschuldet. Ursächlich hierfür war in erster Linie das nicht überwundene stalinsche Leitungsmodell, das Auswirkungen auf die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Partei und Staat, zentraler Leitung und eigenverantwortlichem Handeln der Wirtschaftseinheiten, administrativer und ökonomischer Leitungsmethoden und somit auf die sozialistische Demokratie hatte. Letztere wurde als Vollzug zentraler staatlicher Aufgaben und nicht als Entscheidungsdemokratie (Heuer, Klenner) verstanden, die die Einbeziehung der Betriebe und ihrer Kollektive in die zentrale Entscheidungsfindung gebietet. Besonders kam dies bei dem politisch verordneten Abbruch des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) zum Ausdruck, das im April/Mai 1963 zu Hoffnungen für eine anzustrebende wirtschaftliche Effizienz berechtigte. Neben einer größeren Eigenverantwortung der Betriebe - bei Wahrung der Einheit von Plan und Markt - sollten besonders die ökonomischen Hebel (Preis, Umsatz, Kredit, Zins, Gewinn) zur Vervollkommnung der wirtschaftlichen Rechnungsführung zur Anwendung gelangen. Da jedoch die ökonomische Leitung mit der der anderen sozialistischen Länder, vornehmlich der der Sowjetunion nicht kompatibel war, musste das NÖS scheitern, ehe signifikante Ergebnisse zu verzeichnen waren. Das zeitigte, wie schon vermerkt, natürlich Konsequenzen für die Arbeit des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Der bürokratische Zentralismus wurde zementiert und der stalinsche Leitungsstil als politische Denkschablone nicht überwunden. Nun ergibt sich das Kardinalproblem: Wodurch sollte die sozialistische Rechtsstaatlichkeit gekennzeichnet werden?

Drängen sich da spezifische Kriterien auf oder ist ideengeschichtlich Progressives zu übernehmen? Aus dem Kontext des bisher Dargelegten dürfte Letzteres zwingend sei. Demnach ist m. E. der Maßstab für die sozialistische Rechtsstaatlichkeit wie folgt anzulegen:(17)

- die verfassungsrechtliche Bindung aller Staatsorgane. Im Klartext: Die Staatsgewalt ist dem Recht unterworfen;
- eine auf den sozialistischen Staat zugeschnittene Gewaltenteilung;
- die Ausprägung sozialistischer Persönlichkeitsrechte auf der Grundlage und in Präzisierung allgemein anerkannter Menschenrechte;
- die verfassungskonforme Gesetzgebung;
- das Primat des Rechts für die Verwaltungstätigkeit;
- die Gewährleistung des Rechtsschutzes durch die Judikative;
- die Unantastbarkeit der dem Sozialismus wesenseigenen Grundlagen Macht- und Eigentumsfrage.

War nun die DDR beim Anlegen derartiger Kriterien bereits ein sozialistischer Rechtsstaat? Diese Frage lässt sich nur von dem erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsstand bei der Gestaltung des Sozialismus beantworten. Fazit ist, dass die DDR aus objektiven und subjektiven Ursachen noch kein voll ausgeprägter sozialistischer Rechtsstaat war. Sicher spielt auch der historische Zeitraum für die Formierung der sozialistischen Gesellschaft eine wichtige Rolle.

Ausgehend von der Widerspruchssituation bei der Durchsetzung verfassungsrechtlicher Maximen, bedarf es weiterer Ausführungen, die zweifelsfrei für das künftige Sozialismusbild nicht auszusparen sind. Diese beziehen sich auf nachstehende diskussionswürdige Problemkreise:


1. Gewaltenteilung im sozialistischen Staatsgefüge

Bekanntlich ist die Dreigewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Judikative) im bürgerlichen Staat nichts anderes als die arbeitsteilige Verwirklichung der Machtverhältnisse der Bourgeoisie, um das Gesamtinteresse des Kapitals zu wahren. Darauf machten bereits Marx und Engels aufmerksam.(18) Die gleiche Auffassung vertrat Lenin, der die Dreigewaltententeilung als Methode des Kapitals ansah, um den Klassencharakter und die Diktatur des kapitalistischen Staates zu verschleiern. Von Interesse für die Bewertung dieser Frage ist, dass die Jacobiner in ihrer Verfassung von 1793 mit der Dreigewaltenteilung brachen, indem sie im Artikel 25 festlegten: "Die Souveränität steht dem Volke zu. Sie ist einheitlich und unteilbar, unverjährbar und unveräußerlich." Den gleichen Standpunkt vertrat die Pariser Commune 1871, die für eine uneingeschränkte und unteilbare Macht des Proletariats eintrat. In Übereinstimmung mit dieser Grundannahme befanden sich die Bolschewiki in Russland, deren Forderung zur Durchsetzung der Volkssouveränität war: "Alle macht den Sowjets!" Fest steht, dass auch im Sozialismus die Macht nicht geteilt werden kann. Hier gibt es keine Dispositionsfreiheit, um die sozialistischen Machtverhältnisse aufzuweichen. Nun wissen wir, dass die sozialistische Demokratie und die Optimierung gesellschaftlicher Verhältnisse einen arbeitsteiligen Prozess bei der vorzunehmenden Strukturierung eines sozialistischen Staates verlangt, der

- die Abgrenzung der Verantwortungsbereiche der Struktureinheiten in sich einschließt;
- Kompetenzbegrenzung, Gegenkontrolle und Korrekturmechanismus umfasst;
- Die Eigeninitiative der Rechtssubjekte (Bürger und Kollektive) fördern muss.


2. Garantie des Rechtsschutzes - Aufgabe des sozialistischen Rechtsstaates

Die Sicherung der subjektiven Rechte der Individuen und ihrer Kollektive (bezogen auch auf die Betriebe als Wirtschaftsrechtssubjekte) ist in einem engen Zusammenhang mit der Oberhoheit des Gesetzes, der Wahrnehmung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereiche der Legislative, Exekutive und der Justiz zu sehen. Der sozialistische Rechtsstaat muss Maß für die Politik aller Organe der Gesellschaft sein und willkürliche Ermessensentscheidungen ausschließen. Das macht einen adäquaten juristischen Funktionsmechanismus unabdingbar, so unter Einschluss einer Verwaltungs- und Wirtschaftsgerichtsbarkeit, gegebenenfalls eines Verfassungsgerichts. Wir benötigen im Vergleich zum vergangenen Sozialismus eine qualitativ neue Sichtweise bei der Beachtung subjektiver Rechte im Konfliktfall, so zwischen Bürger und den Verwaltungsorganen, den Wirtschaftseinheiten und der Zentrale in ihrem hierarchischen Aufbau. Derartige Widersprüche können nicht nur außerhalb der Gerichtsbarkeit gelöst werden. Wir müssen uns der Tatsache eingedenk sein, dass ohne subjektive Rechte und Pflichten es kein sozialistisches Recht und keinen sozialistischen Rechtsstaat geben kann.

In Verbindung mit der sozialistischen Rechtsstaatlichkeit bietet sich die Frage an, ob die hier angeführten Grundsätze als unabänderliche Doktrin zu qualifizieren seien. Dieses Problem ist sicher ein von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Aufbaus des Sozialismus und den nationalen Besonderheiten abhängiger Punkt. Jedes Land wird die Wegsuche einer ausbeutungsfreien, humanistischen Gesellschaft selbst vornehmen und die beste Lösung bestimmen. Sicher wird man an bestimmten Festpunkten nicht vorbeigehen können, da sonst die Gefahr der Selbstzerstörung des revolutionären Prozesses bzw. des Sieges der Konterrevolution bestünde.


Anmerkungen:

(1) Hermann Klenner: Rechtsstaat versus Machtstaat, aufklärungshistorisch betrachtet, Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 29. März 1997, S. 38

(2) Vgl. K. Marx/F. Engels: Die heilige Familie, MEW Bd. 2, S. 128; K. Marx / F. Engels: Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 62; K. Marx: Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 13, S. 8

(3) Ingo Wagner hat im Heft 19 Marxistisches Forum, Berlin, Oktober 1998, eine informative Arbeit zum "Rechtsstaat - Legende - Wirklichkeit" in einer historisch-dialektischen Betrachtungsweise vorgelegt. In ihr wird ein Überblick über die bis zu diesem Zeitpunkt vorliegende Literatur geboten.

(4) K. Marx: Das Elend der Philosophie, MEW Bd. 4

(5) K. Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW Bd. 7, S. 33

(6) U.-J. Heuer: Vortrag bei der Leibnitz-Sozietät in Berlin, 9.10.2008

(7) Vgl. Ingo Wagner: a.a.O., S. 9,11

(8) H. Klenner: Zur Gerechtigkeit des Rechtsstaates, in Berliner Debatte, INITIAL 4/1996, S. 8

(9) I. Wagner: a.a.O., S. 10

(10) E. Sarcevic: Der Rechtsstaat, Leipziger Juristische Studien, Bd.1, Leipzig 1996, S. 320

(11) Vgl. I. Wagner: a.a.O., S. 10

(12) Vgl. I. Wagner: Das Übergangsprogramm heute, Marxistisches Forum, Heft 53, Berlin 2007

(13) Näheres: W. Roß: Die Demokratisierung der Wirtschaft, eine Fundamentalfrage radikal-demokratischer Reformen zur Schaffung von Gegenmacht, TOPOS, Heft 26, S. 85 f.

(14) H. Klenner: Zur Gerechtigkeit des Rechtsstaates ..., a.a.O., S. 8

(15) Urteil: KPD-Verbot aufheben, Köln o.J., S. 63,61

(16) Umfassender in: Werner Roß, Sozialistische Demokratie und linker Dogmatismus, Marxistisches Forum, Leipzig 2008, Heft 56, S. 36 f.

(17) Vgl. Ingo Wagner: Der Rechtsstaat - Legende - Wirklichkeit ..., a.a.O., S. 5

(18) Marx/Engels, MEW Band 5, S. 194


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Honore Daumier, Wie man auf neue Art in der Luft schwebt, 1867. Lithografie

Raute

Fakten und Meinungen

N. Büchner

Liebt das Buch - die Quelle des Wissens

Über die Jugendbibliotbek Gera e.V.

Die linke, sozialistische, kommunistische, Arbeiter- oder antiimperialistische Bewegung war einst erheblich weiterentwickelt, als sie es heute ist. Davon zeugen noch die zahlreichen Spuren in der Kunst, in der aufklärerischen Literatur von den Staaten, die sich an die gewaltige Aufgabe der Schaffung einer menschlichen Gesellschaft bisher heranwagten.

Sind diese Zeugnisse einer früher bedeutenden Bewegung im Gedächtnis der älteren Generation noch präsent, so gelingt es den Nachrückenden immer weniger zu verstehen, worin die Dynamik dieser Epoche bestand, weshalb so viele Menschen sich aufmachten, einem Weg zu folgen, von dem die Jugendlichen kaum mehr als die letzten Reste des Verfalls bekannt sein mögen, die von den Herrschenden immer wieder als Beweis des Scheiterns herangezogen werden.

Die Jugendbibliothek ist ein gemeinnütziger Verein der Jugendclub und Bibliothek vereint. Die Idee ist es, unpolitische Menschen, in erster Linie Jugendliche, zusammen zubringen und Ihnen die Möglichkeit der Aufklärung über unsere Gesellschaft zu geben sowie ein dialektisches Verständnis über den Aufbau und die Ursachen des Niedergangs zu vermitteln.

Ein weiterer Grund ist, eine Sammelstelle für die vielen Bücher zu schaffen, die heutzutage in keiner "herkömmlichen" Bibliothek mehr zu finden sind. Und letztendlich ist die Jugendbibliothek auch Plattform für die Zusammenkunft der vielen linken Parteien und Organisationen um dadurch auch die Bedingungen einer Aktionseinheit zu verbessern.

Als Arbeit der Jugendbibliothek kann man in erster Linie den "Kampf um die Köpfe" nennen. Wir sind auf vielen linken Veranstaltungen vertreten, entweder mit einem Stand oder durch Anwesenheit von Repräsentanten unseres Vereins. Im Großen und Ganzen besteht unsere Aufgabe darin, Überzeugungsarbeit zu leisten. Dazu gehört Geduld und auch die ein oder andere "unpolitische" Freizeitbeschäftigung um vor allem Neuinteressierte nicht gleich politisch zu überfordern. Natürlich haben wir aber auch politische Veranstaltungen im Programm. Im Februar 2009 wurde zum Beispiel ein DDR-Seminar anlässlich des zwanzigsten Jahrestages der so genannten "Wende" durchgeführt. Inhaltliche Schwerpunkte waren Vorträge von der Teilung Deutschlands bis zur Konterrevolution.

Weil solche Jahresdaten von der Bourgeoisie gerne genutzt werden um fleißig Hetz- und Propagandaarbeit zu betreiben, hatte sich die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) entschlossen in der Jugendbibliothek Gera ein DDR-Seminar durchzuführen. Ziel war es, durch Vorträge über die DDR-Geschichte, die Jugendlichen mit Argumenten auszurüsten, damit sie für die zu erwartende diesjährige Propagandaschlacht gut vorbereitet sind.

Nach Einschätzung der Anwesenden war eine erfreulicherweise über dem Durchschnitt liegende Anzahl von Teilnehmenden zu verzeichnen. Die Vorträge wurden von den Jugendlichen selbst ausgearbeitet. Anschließend wurden die Vorträge durch einen Gastexperten bereichernd ergänzt. Auch in Zukunft wird es wieder ähnliche Veranstaltungen in der Jugendbibliothek Gera geben.

Jeden dritten Samstag im Monat sind Vorträge zu verschiedenen Themen organisiert. Über zahlreichen Besuch zu den Vorträgen bzw. zu den Öffnungszeiten (wöchentlich mittwochs von 16-20 Uhr und samstags 14-18 Uhr) freut sich die Jugendbibliothek sehr!


"... den Stolz und den Ruhm einer öffentlichen Bibliothek nicht darin zu sehen, wie viel Seltenheit, wie viel Ausgaben des 16. Jahrhunderts oder Handschriften des 10. Jahrhunderts sie in ihrem Besitz hat, sondern darin, wie weit die Bücher ins Volk dringen, wie viel neue Leser herangezogen werden, wie schnell eine beliebige Forderung nach einem Buch befriedigt wird, wie viel Bücher nach Hause ausgeliehen, wie viele Kinder für das Lesen und die Benutzung der Bibliothek interessiert werden ..."

Wladimir Iljitsch Lenin


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Werner-Petzold-Straße 17
07549 Gera
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Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Maria Michel

Über den Missbrauch der Menschenrechte

Zu unserem Titelbild

Vor mehr als dreißig Jahren entstand das mehrteilige Gemälde "Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Freiheit". Es lässt uns nicht los. Sind diese Menschenrechte jetzt umfassende Realität? Oder werden sie nach wie vor als Trojanisches Pferd missbraucht? Willi Sitte schuf dieses Triptychon nach dem Ende des Vietnamkrieges und nach dem blutigen Putsch Pinochets in Chile. Doch seine Botschaft ist aktuell.

Anregungen für die sakrale Pathosform fand der Künstler in Grünewalds Isenheimer Altar. Dabei veränderte er die klassischen Maße des Triptychons; die Seitentafeln und die Predella haben die gleiche Größe; die Breite der Predella übersteigt im Interesse der intensiven Aussage das übliche Maß. Der Blick wird zuerst auf die Mitteltafel gelenkt. Ein Vietnamese, mit verbundenen Augen an ein Kreuz gebunden wie an einen Pfahl, wird zum Gleichnis eines geschundenen Volkes; er hängt weit nach vorn, einem Menschen gleich, der mit dem Tod ringt. Doch eine innere Spannung macht ihn - wie Cremers Christus, der sich vom Kreuz reißt - zum Symbol kraftvollen Widerstands. Vor ihm kniet, klein, abwehrend, mit gekreuzten Händen die Augen verschließend vor seinem Verbrechen, vor seiner Schuld, ein abgeschossener US-amerikanischer Pilot; links sein zerstörtes Mordwerkzeug. Eine Figur beugt sich schützend über bedrohte, leidende Menschen. Die Tafel "brennt" in den Farben des Infernos; sie wirken in die anderen Bildteile hinein; einen "Höllensturz in Vietnam" hatte Willi Sitte zuvor gemalt.

Die linke Seitentafel wendet sich Menschenrechtsverletzungen gestern und heute zu. Hinweise auf die Anklagebank der Nürnberger Prozesse provozieren Fragen nach der Unverzichtbarkeit von Kriegsverbrechertribunalen in den Siebzigerjahren, nach dem NATO-Überfall auf Jugoslawien und gegenwärtig. Folter, Mord und Kulturzerstörung werden bildhaft gemacht. Die Gitarre des mutigen Sängers Victor Jara liegt zerschlagen am Boden. Kämpferische Gegenwehr und Solidarität sind im oberen Teil der rechten Tafel dargestellt. Darunter quillt aus dem Leib des gestürzten Trojanischen Pferdes sein todbringender Inhalt. "Friedensmission" nannte sich der Mord an friedlichen Menschen bei der Bombardierung der Brücke von Varvarin; Kollateralschäden waren eingeplant.

Jedes Detail des virtuos und kraftvoll gemalten Werkes stärkt die Aussage. Aktualität und Gegenwartsbezogenheit werden auch in Bildteilen erlebbar, die sich auf damals in den Medien veröffentlichte erschütternde Pressefotos beziehen. Das Simultanbild zeigt Ereignisse, die zeitlich und räumlich nicht zusammen gehören. So wird der inhaltlichen und bildnerischen Absicht größere Tragweite verliehen. Dieses Triptychon will ergreifen. Es gehörte zu den wichtigsten Werken der Ausstellung "Dreißig siegreiche Jahre", die 1975/76 in Moskau, Berlin, Prag, Budapest, Sofia, Plovdiv, Bukarest, Warschau und Havanna gezeigt wurde. Und es erhielt den Kunstpreis des FDGB.

Willi Sitte schrieb in seinen Lebenserinnerungen: "Als der Krieg in Vietnam zu Ende ging, gab es Illusionen, der Imperialismus habe sein Wesen verändert, sei menschlicher geworden. Es stimmte nicht, bald kam es zu neuen Aggressionen. ... Das Gerede von Freiheit und Menschlichkeit wollte ich als Heuchelei entlarven.(1)" Das ist ihm überzeugend gelungen. Uns mahnt das Bild an unsere Pflichten.


Anmerkung:

(1) Gisela Schirmer: Willi Sitte. Farben und Folgen. Eine Autobiographie, Faber & Faber Leipzig 2003, S. 180

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Hilmar Franz

Den großen Zeitlügen den Mythos nehmen

Josep-Renau-Wanderausstellung startete in Berlin-Hellersdorf

Als Kämpfer, dessen vielfältige künstlerische Handschrift "lebenslang im Dienst der Straße" stand, wird der Maler Josep Renau (17.5.1907 Valencia - 11.10.1982 Berlin) von seinem katalanischen Landsmann, dem Schriftsteller Joan Fuster charakterisiert. Eine erste biografische Bestandsaufnahme im Ausstellungszentrum "Pyramide" von Berlin-Hellersdorf (9.2. bis 28.5.2009) dokumentierte Renaus Arbeit im Dienst der revolutionären Sache: Plakate, Poster, Fotomontagen, Wandmalerei.

Beispielhaft auch der persönliche kulturpolitische Einsatz zur Verteidigung Volksspaniens gegen die Faschisten. Unter anderem geht Picassos "Guernica" für die Pariser Weltausstellung auf den staatlichen Auftraggeber Renau zurück.

Francos 1939 gefälltes Todesurteil treibt den flüchtigen 32-jährigen Kommunisten für immer ins Exil. Zuerst für fast zwei Jahrzehnte nach Mexiko. Renau kennt David Alfaro Siqueiros als Interbrigadisten und Kommunisten und kann mit seiner Frau Manuela Ballester am Wandbild "Das Antlitz der Bourgoisie" mitwirken. Anstelle des verhafteten Ehepaars Siqueiros muss es dieser jüngere Teil des Künstlerkollektivs alleinverantwortlich vollenden. Von da ab eignet sich Renau in eigenen Wandbildern nicht nur den Geist einer Bewegung militanter Kunst an, sondern begibt sich als erster auch auf neue Wege, um die künstlerisch gestalteten Außenwände in räumlicher Tiefe und bewegungsabhängig wirken zu lassen: Siqueiros kann es dem Freund 30 Jahre später in Berlin bescheinigen.

Für seine in Spanien aufgelegten politischen Grafikserien gegen Kirche, Kapital und faschistischen Krieg hat Renau die von John Heartfield inspirierte Technik der Fotomontage um Raumwirkungen mittels Farbe weiterentwickelt. In Mexiko City stellt er damit den von den USA herüberschwappenden "American Way of Life" nicht nur bloß, sondern verleiht den Blättern eine mobilisierende Kraft (Siqueiros). FBI und - in Renaus Annahme - CIA verfolgen das argwöhnisch, so dass sich der Künstler 1958 entschließt, in die DDR, die Heimat seiner zeitweiligen Gefährten im Exil, Anna Seghers, Ludwig Renn und Bodo Uhse überzusiedeln. Gelegentlich politischer Aktivitäten in Moskau veranlasst der später bekanntere Dokumentarist Walter Heynowski die Formalitäten. Im "Eulenspiegel", der von ihm geleiteten Satirezeitschrift, hatte er den Weg dazu schon jahrelang geebnet: Renaus kritisch gewonnenes und collagiertes Werbebildmaterial aus Life, New York Times und Fortune bekam und behält darin in loser Folge seinen Platz.

Als Kämpfer gegen den Faschismus wird Renau materiell besonders unterstützt. Die siebenköpfige Familie findet zuerst in der Ostberliner Innenstadt ein großzügiges Quartier, später einige im Mahlsdorfer Einfamilienhaus am Stadtrand. Bis zu seinem Tod 1982 wird Renau dort einem erwachsenen Schülerkreis kostenlosen Privatunterricht geben: Die DDR bleibt sein "Vaterland", wie er sich ausdrückt, wenn er auf den 1972 verliehenen Vaterländischen Verdienstorden der DDR anspielt. Bis 1961/62 arbeitet Renau zunächst bei Heynowski im zeitgeschichtlichen Fernsehstudio, wo er die neuen technischen Möglichkeiten mit fünf Experimentalfilmen, darunter ein Lenin-Poem, für eine künstlerisch-agitatorische Aussage erprobt. Außerdem entstehen Druckvorlagen für westwärts motivierte Fotomontage-Serien "Über Deutschland", "Denken polizeilich verboten" und weitere Blätter zum immer umfassenderen Arbeitstitel "American Way of Life".

Im Berliner Verband Bildender Künstler erhält er gesellschaftliche Aufträge, darunter auch baugebundene für Halle/Neustadt und Erfurt, wofür zeit- und versuchsweise auch Künstlerkollektive zu formen sind. Er erweist sich als künstlerisch streitbarer Anreger, kann aber nicht alles durchsetzen. Langjährig redigiert er die spanische Exilzeitschrift "Unsere Zeit" und unterhält dauerhaft Kontakte zur illegalen Partido Comunista de Espana. Als sie nach Francos Tod legalisiert wird, avanciert er 1976 sogar ins ZK. Bei seinen ersten Besuchen im wieder republikanisch verfassten Spanien erlebt Renau soviel Euphorie, dass er sein gesamtes Werk der valencianischen Heimat schenkt und die Gründung einer Stiftung auf seinen Namen veranlasst. Sie bewahrt das Werk des vor mehr als 100 Jahren geborenen Künstlers mit Ausstellungen und umfangreichen Publikationen vor dem Vergessen. Darin ordnet sich die Hellersdorfer Wanderausstellung ebenso ein wie gelegentliche Blumengrüße von Linken am Grab in der Gedenkstätte der Sozialisten Berlin-Friedrichsfelde.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

"Fata Morgana USA" titelte 1967 der 40 Fotomontagen umfassende Auswahlband zu Renaus Reflexion des "American Way of Life". Sein darin enthaltenes Solidaritätsplakat "Hands of Cuba" bleibt aktuell wie John Heartfields Fotomontagen. Da auch die neue Obama-Administration am nunmehr 47 Jahre bestehenden Handelsembargo festhält und Kuba auf die Liste der Terrorunterstützer setzte, hat es bis heute nichts von seinem revolutionären Gebrauchswert eingebüßt.

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Siegfried Wege

Irritation und Fassung

Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Denkmalerei, Assemblagen und Collagen von Klaus Georg Przyklenk" am 9. April 2009 in der GBM-Galerie in Berlin

Im ausgedruckten Blatt seiner Vita ist der Vornamen optisch hervorgehoben, so dass ich Klaus Georg als Künstlernamen legitimiert verwenden kann.

Klaus Georg, 1939 in Dessau geboren, nach seiner Facharbeiterausbildung als Gebrauchswerber studierte von 1959 bis 1963 am Institut für Kunsterziehung an der Humboldt Universität Berlin. 1976 er wurde Mitglied des VBK - DDR, er promovierte an der Humboldt-Universität zum Thema Gestaltungskonzepte von Fotomontagen und Collagen. Die DDR-Zeitschrift KUNSTERZIEHUNG erhielt mit ihm 1988 einen profilierten Chefredakteur, der als Pädagoge, Kunstwissenschaftler und besonders auch als Künstler Kompetenz hatte, die sich auch weiterhin in dieser Ausstellung in neueren Werken zeigt.

Bis 2002 arbeitete er am Berliner Dathe-Gymnasium als Kunstlehrer. Seit Beginn dieses Jahres 2009 hat er aus den Händen von Peter Michel die Verantwortung der GBM-Zeitschrift ICARUS übernommen und auch in diesem Zusammenhang ist es erfreulich, dass sich die Ausstellungsbesucher mit dem künstlerischen Werk von Klaus Georg Przyklenk vertraut machen können. Wir möchten Klaus Georg für diese interessante und anregende Ausstellung danken. Mit dem Laudatio-Titel "Irritation und Fassung" möchte ich besonders auch auf die große Vielfalt der künstlerischen Techniken von der Zeichnung und Druckgrafik bis zur Collage, von der traditionellen Malerei bis zur Assemblage und Objektkunst verweisen.

Die Auswahl war nicht leicht, aber sie wurde dankenswerterweise vom Kurator Ernst Jager und von Frau Anny Przyklenk auf den Galerieraum orientiert zusammengestellt, wobei der Titel "Denkmalerei" vom Künstler als eine Herausforderung an uns formuliert wurde.

"Denkmalerei", ein Begriff, der irritiert, weil er in sich Rationalität und Emotionalität verbindet. Die Abstraktion des Wortes, dass gemeinhin das Element des Denkens ist, und die Sinnlichkeit von Farbe und Form werden begrifflich verknüpft, wobei Denkmalerei selbst ein Wort ist.

Die Wechselwirkung von Verstand und Gefühl ist eine alltägliche Tatsache und doch provoziert die Denkmalerei mehr. In sich tragt sie die Fragestellung nach der Besonderheit, der Notwendigkeit, der Funktion von Kunst.

Im ICARUS 1/2009 widmet sich Heidrun Hegewald auf sehr anregende Weise der Sprache. Sie formuliert u. a. "Sprache - als Gleichnis aufgehoben in der Sinnlichkeit der Künste".

Fordern doch Begriffe wie Bildsprache, Formsprache, Bildbotschaft, Bildaussage oder die Frage der Betrachter an ein Bild "Was will uns der Künstler damit sagen?" zum bildhaften Vergleich auch über Sprache zum Erkennen des Gleichnisses heraus. Die von Künstlern für die Titel ihrer Werke gewählten Wortformulierungen bis zu ganzen Aussagesätzen beweisen, dass in der bildenden Kunst das Wort als Denksubstanz integriert ist.

"Denken ist das Schweben einer Ahnung, die Halt auf Wörtern sucht", schreibt Heidrun Hegewald.

Auch in der bildenden Kunst wird dieser Halt gesucht. Klaus Georg entscheidet sich für die bewusste Verwendung von Wörtern als Bilddetail, als bildkünstlerisches Gestaltungselement innerhalb der Bildfläche. In den drei großformatigen Werken: "Mehrere Menschen und ein Friedensnobelpreisträger", Öl/Assemblage, 2003;

"Panorama mit zwei Welten", Öl/Assemblage, 1986; "Orbis pictus", Öl/Assemblage, 2005/2006 sind Namen von Menschen aufgeschrieben, die sowohl den historisch gebildeten Betrachter voraussetzen aber auch das Interesse bei noch Unkundigen wecken wollen, ihre Kenntnisse zu erweitern. In dem Werk mit dem beschreibenden Titel "Mehrere Menschen und ein Friedensnobelpreisträger" von 2003 bietet der Künstler dem Betrachter dreizehn Bildnisse an. Bei den historisch authentischen Personen mit eingeschriebenen konkreten Namen haben die Wörter eine Erkennungsfunktion und bieten Halt für das Hineindenken in das Bild. Die Namen selbst sind oft klangvoll, auch im literarischen Sinne, jedoch die Erschließung des Inhalts ihrer tragischen Poesie ermöglicht sich erst durch den konkreten Bezug zu den jeweiligen revolutionären Ereignissen: so zur Empörung des Malers Jörg Ratgebs gegen mittelalterliches Leibeigentum, zur Gründung der KPD mit Rosa Luxemburg, zum spanische Bürgerkrieg mit Frederico Borrell, zum Kampf der Dolores Ibarruri, der Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Spaniens in dieser Zeit, zu revolutionären Aktionen in Tschechien, Portugal, Äthiopien und Indonesien bis zur weltpolitischen Wirkung v on Michael Gorbatschow.

Warum wird der sowjetische Politiker als einziger Friedensnobelpreisträger innerhalb dieser besonderen personellen Konstellation vorgestellt? Sein Porträt in dieser Denkmalerei regt zur weiteren polemischen Diskussion um die Einschätzung seiner politischen Position an.

In einer Rede auf der "Europäischen Friedenskonferenz", die am 14./15.3.09 in Berlin von der GBM organisiert wurde, charakterisiert Hans Modrow die friedensgefährdende Rolle der NATO und äußerte sich auch zur weltpolitischen Wirkung der Persönlichkeit Michael Gorbatschows.

Zum Erkennen dieses, durch den Künstler angestrebten politischen Problemfeldes ist der denkorientierte Bildtitel für den Betrachter unverzichtbar. Er bietet gewissermaßen eine Brücke zum Einstieg in die Gedankenwelt des Werkes. Ohne ihn wäre das Anliegen des Künstlers kaum aufzuspüren. Hier seien die Bedenken erlaubt, dass der genannte Bildtitel zur Vermittlung des Anliegens im Interesse einer verständlichen Rezeption bei diesem Bildkunstwerkes doch überstrapaziert wird.

Die produktive Irritation, die durch die Aneinanderreihung der Bilder unterschiedlicher Revolutionäre aus verschiedenen Zeiten beim ersten Blick aufkommt, soll durch das Gorbatschow-Porträt in eine Fassung gebracht werden. Und diese Fassung ist einmal technisch der assemblageartige große Bildrahmen, in dem die 13 Einzelbilder eingefasst sind.

Die geistige Fassung oder inhaltliche problematische Zusammenfassung des Werkes erfolgt über das Porträt Gorbatschows, als hier dargestellte einzige Person, die von der bürgerlichen Gesellschaft als Friedensnobelpreisträger erwählt wurde. Das Werk provoziert damit die Frage: Warum wurden die anderen nicht geehrt?

Bei aller Bildkritik, diese Verrätselung in Bildern und die Herausforderung an das Denken des Betrachters ist eine diskussionswerte Form der Denkmalerei.

Von der Irritation zur Fassung, das ist für die politisch engagierte Kunst unter anderem eine Methode künstlerischer Arbeit, die den Betrachter gefühlsdynamisch und denkaktiv einbezieht.

Die Malerei/Assemblage "Orbis pictus" von 2005/2006, also ein relativ neueres Bild als das vorher genannte von 2003, ist weniger rätselhaft und kopflastig. Es ist sinnlich vielschichtiger. Das einzige mit Namen beschriftete Porträt des deutschen Kommunisten und sowjetischen Kundschafters Richard Sorge schwingt in offener Bilddynamik.

Die Reichhaltigkeit der Wirklichkeit und das Vergnügen an geistigen Dimensionen, die Klaus Georg hier einbringt, berühren und ermuntern den Betrachter, sich auf einen sinnlichen und geistigen Austausch mit dem Bild einzulassen.

Die expressive und surreale Malerei/Assemblage des "Panorama mit zwei Welten", die mit ihrem bildkünstlerischen Grundklang von emotionaler Anspannung und sinnlicher Suche nach Harmonie den Betrachter überfällt und ihn irritiert, bietet auch hier als Deutungshilfe die eingeschriebenen Namen von Romeo und Julia, dem klassische Liebespaar und ihre Tragödie, und Jo Hill. Die Figur des Rotarmisten der Sowjetarmee Jegorow, im Stil der Fotocollage gemalt, ist ein realistischer Deutungshinweis auf sozialistische Geschichte, die 1986, im Jahr der Entstehung des Werkes, noch einen Teil der Welt erfolgreich prägte. Die damalige Teilung der Welt wird in dem Werk sehr markant und kontrastvoll bildhaft. In der - nennen wir es westliche Hemisphäre - symbolisiert z. B. das Objekt einer Drogenspritze auf schwarzem Grund, als Detail der Assemblage,den Zerfall des Humanismus und die Flucht der Menschen in den Rausch. Das Objekt medizinische Spritze, die eigentlich der Gesundheit dienen sollte, hat in ihrer klaren Gegenständlichkeit als Original eine gruselige und erschütternde Wirkung im Kontrast zu den malerischen Abbildungen und konventionellen Gestaltungsformen. Damit ist es angebracht auf die die Wechselwirkung von Tafelmalerei und Assemblage im künstlerischen Schaffen von Klaus Georg hinzuweisen.

Die Collage - französisch: coller = kleben - ist allgemein bekannt und wird von vielen als Gestaltung, besonders der politischen Grafik, akzeptiert. In dieser Ausstellung ist sie auch vertreten, z. B. die Arbeiten von Klaus Georg für die Zeitschrift EULENSPIEGEL.

Die Assemblage nutzt nicht nur abstrahierend die ästhetische Wirkung von Material, Form und Farbe der ausgewählten Gegenstände - sie funktioniert den Zweck der Objekte um.

Der alltägliche Gebrauchswert wird vom Betrachter wieder erkannt, aber er wird zugleich irritiert, weil der Künstler dem Gegenstand eine andere Bedeutung als Ausdruckswert im Bild auferlegt.

Die Plastikverkleidung eines Elektrosteckers wird auf dem witzigen Schiff der "MS Ringelnatz" zum Deckaufbau des Steuerhauses. Beim "Elbebild" von 1982 verschließt ein weißer Schraubdeckel keine Tube sondern das Bullauge eines Elbkahnes. Verbrauchte technische Geräteteile bringen ihre Morbidität in eine trostlose Landschaft "Gemeinwesen" von 1993. Die Detailobjekte in den Gemälden von Klaus Georg sind einerseits verhalten in die Malerei eingesetzt und ergänzen den flach dominierenden Malgrund durch ihre funktionelle Form und Farbe und durch ihre Materialästhetik.

Andererseits springen die Objekte z. B. im Werk "Die Stadt wächst von der Erde los" (1978) und "77" (1993) stark plastisch wie ein Relief aus der Fläche oder werden zum eigenständigen Materialobjekt.

Ausgewählte Werke mit der Technik der Assemblage, die von 1971 bis in die jüngste Zeit vom Künstler mit unterschiedlicher Betonung dieser Gestaltungsspanne geschaffen wurden, sind für vergleichende Betrachtungen als ein Komplex in der Ausstellung zu sehen. Besonders wirkungsvoll ist diese besondere Bild- und Formästhetik in mehreren Werken zu erleben, die eine traditionelle Raumkomposition offenbaren, in der sich ein weltall-weiter Himmel über den Bogen der Erdrundung öffnet und die Erde als Kugel ahnen lässt. Die Sinnlichkeit bei der Umsetzung der künstlerischen Entdeckungen des Konstruktivismus und Surrealismus ist bei Klaus Georg vorrangig politisch thematisch und somit denkorientiert bestimmt. Denn immer wieder bedarf die anfängliche Irritation beim Betrachter mit der gestalterischen auch eine geistige Fassung.

Eine wesentliche Komponente findet sich in den ausgestellten Werken im bildhaften Sinngehalt des Humanismus der Antike. Das in Stein gehauene Porträt des Alkyoneus ein Titan aus der griechischen Mythologie und der Lieblingssohn der Erdgöttin Gaia, der zu den Empörern gehört, die gegen die von Zeus geführten Götterschar aufbegehren - wird in drei Bildern zitiert. Im Fries des Pergamonaltares ist die gigantische Kampfszene gestaltet.

Klaus Georg zitiert und integriert diesen Empörer gegen die allmächtigen Götter nicht als Bildsymbol mit Denkimpuls allein, sondern er ist bestrebt, den Geist des kämpferischen Humanismus ins Werk zu assimilieren und gegen kleinbürgerliche humanistische Sentimentalitäten anzutreten.

In dem "Panorama mit zwei Welten", 1986, ist das Alkyoneus-Porträt eine Mahnung zur aktiven Bewahrung der Humanität. Im Bild "Kleine abendländische Barrikade nach Feierabend", 1993-2003, mit der Darstellung des legendären Che wird das Symbol der Humanität von zerbrochenem Treibholz bedrohlich überdeckt. In "Lithosphäre" von 1991 ist das Alkyoneus-Porträt der Kopf eines Monolithen mit Einschusslöchern von Kugeln, im Hintergrund Pyramiden in Ägypten.

Es ist nicht vermessen, sondern im Sinne des Autoren Peter Weiss, wenn hier auf seinen Roman "Ästhetik des Widerstandes" verwiesen wird, der als ein antifaschistisches Denkmal in Literaturform seine Beständigkeit beweist. Einmal wegen der Weltanschauung des Romanciers, Dramatikers und auch des bildenden Künstlers. Sie beinhaltet, dass sich Kunst und die Beschäftigung mit ihr nicht im Ästhetizismus selbst befriedigen sollten. Sondern durch sie können Menschen eine Verständigungsbedeutung für soziale Lebensvollzüge und politische Aktionen gewinnen, wie es z. B. bei den Antifaschisten der im Roman dargestellten Widerstandsgruppe von Peter Weiss beschrieben wird.

Peter Weiss beschreibt den widerständigenden Titanen im steinernen Altar:

"Alkyoneus, ihr Lieblingssohn (der Erdgöttin Gaia - S. W), dreht sich, ins Knie sinkend, schräg von ihr weg. Der Stumpf seiner linken Hand tastet nach ihr. Sein linker Fuß, am gedehnten zersplitterten Bein hängend, rührte sie noch an. Schenkel, Unterleib, Bauch und Brust spannen sich in Konvulsion. Von der kleinen Wunde, die ihm das giftige Reptil zwischen die Rippen geschlagen hatte, strahlte der Todesschmerz aus."

Kultur und Zeitgeist spiegeln sich in dieser Ausstellung wieder.

Die Menschen brauchen realisierbare Visionen für gesellschaftlich aktives Handeln. Kunst ist nicht Wissenschaft, die logisch objektiviert, sie ist subjektiv.

Die Kunst kann mit ihrer Spezifik dazu beitragen, auch mit Denkmalerei und dem gemäßen Dialog ein geistig politisches Klima zu schaffen. Das ist auch das Anliegen dieser Ausstellung.

Der globale Kapitalismus ist das gegenwärtige Grundübel der Menschheit.

"Der Kapitalismus will von jetzt an die ganze Kultur sein. Damit setzt er sich selbst als den unüberschreitbaren Horizont der Gegenwart.Was auf ihn folgt, kann seinem Selbstverständnis nach immer wieder nur er selber in seinen rastlosen Metamorphosen und euphorischen Steigerungen sein.", schrieb der Philosoph Peter Sloterdijk 2006 in "Zorn und Zeit", ohne eine Alternative finden zu können.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Mehrere Menschen und ein Friedensnobelpreisträger, 2003. Öl/Assemblage auf Sperrholz, 47 x 88 cm
- Panorama mit zwei Welten, 1986. Öl/Assemblage auf Hartfaser, 60 x 140 cm

Raute

Personalia

Rüdiger Bernhardt

Der Dichter Volker Braun ist 70 und fährt "... fort mit der Übung"

Die Übungen, die Volker Braun seinen Lesern seit fünfzig Jahren empfiehlt, sind Denkübungen: "Springen müsst ihr, mit Witz, die Dialektik am Hals." Der schöne Vers klingt bedrohlich. Verse wie dieser finden sich laufend in dem alle Gattungen umfassenden Werk eines Poeten, der 1967 in einem Gedicht "Bleibendes" sagte "Nichts bleibt". - Lessing erklärt er zu einem seiner Ahnherrn, ein Aufklärer will er sein. Ein denkender Dichterphilosoph ist er geworden. Immer mischte sich seine Dichtung ein und ließ sich ihre utopischen Entwürfe durch nichts und niemanden zerstören.

Als er in seiner Studentenzeit für jugendliches Aufbegehren und scharfe Unduldsamkeit stand, setzte er dem "So bleibe es" sein "Nichts bleibt" entgegen. Im Herbst 1962 trafen sich einige Studenten in einem nicht sehr freundlichen Aufenthaltsraum der Karl-Marx-Universität in der Ritterstraße zu Leipzig. Jeder war sich seiner Begabung bewusst und jeder sah im anderen das Publikum für die eigene Unsterblichkeit. Unter diesen Studenten saßen Bernd Jentzsch, Bernd Schirmer, beide wurden bekannte Schriftsteller, und - Volker Braun. Nichts Geringeres als Prometheus war damals schon sein Thema, es hat ihn nie verlassen. Das war der Anfang.

Als administrative Hürden den Fortschritt hemmten, schaltete er in dem Gedicht "Landwüst" (1974), benannt nach einem kleinen Ort im Vogtland, Signale auf grün; als in den achtziger Jahren vieles erstarrte, aber vom Sieg gesprochen wurde, machte er aus den grünen "gelbe" Signale, in einer neuen Fassung des gleichen Gedichts. Braun liebt seine Herkunft von vogtländischen Bauern, denen er literarische Denkmale setzte. Vom Wirtsberg bei Landwüst sah er den "vollen Winkel der Zukunft: gefüllt schon / Ein Streif." In der Dichtung ist dieser Streif geblieben und erhält die Hoffnung. Umwertungen gab es auch bei Figuren. Aus dem "Hans Faust" (1968) wurden Hinze und Kunze, ein faustisches Paar, das im satirischen "Hinze-Kunze-Roman" (1985) auf den Hund kam und eine literarische Krise in der DDR auslöste. 1982 hatte er die DDR in "Die Übergangsgesellschaft", Tschechow benutzend, in ihren Grenzen gesehen, weil sie ihren eigenen Entwürfen nicht mehr traute.

Seine Gestalten wollten wie er den historischen Fortschritt, der dort am deutlichsten wurde, wo man die Gestalten schon kannte: Sein "Prometheus" war kein Titan wie der Goethes, sondern eine Gemeinschaft. Prometheus holte sein Feuer vom Himmel; der Tag, "der widerstrahlt", sieht auf Braun und die Seinen, "wenn wir unser Feuer tragen / In den Himmel". Wer genau liest, findet Wortreste des einstigen Aufbruchs in der Erzählung "Die vier Werkzeugmacher" (1996).

Das "Wir" war und ist bei ihm immer vorhanden; es schließt Mitdenkende und Widersprechende, Gestaltende und Niederreißende ebenso ein wie Literatur und Kunst. Das alles ist ihm ein Strom durch die Zeit und über Grenzen, immer in Bewegung. Aus Hölderlins, einem der neben Lessing, Goethe und Brecht bevorzugten Säulenheiligen Brauns, "Was bleibet aber, stiften die Dichter" wird bei Braun "Was bleibet, aber die Dichter gehen stiften." Das ist eine der schlimmstmöglichen Wendungen, die in dem Band "Tumulus" beschrieben werden.

Lessing-Preis, Nationalpreis der DDR, Schiller-Gedächtnispreis, Büchner-Preis - es sind einige der Auszeichnungen, die Volker Braun erhalten hat. Die Reihe ist seiner und er ihrer würdig. Neben Heiner Müller, den er verehrte, ist mir kein deutscher Schriftsteller bekannt, der mit der Konsequenz Volker Brauns Literatur als Möglichkeit der utopischen Entwürfe erkannte, produzierte und nutzte. Jeder Text gilt im Augenblick und ändert sich in der zeitlichen Bewegung, die Bewegung und die Veränderung sind das Gültige, nicht Dauerhaftes. Wäre Brauns Denken, Dichten und Fordern in diesem Landes angekommen und zum Inhalt demokratischen Lebens geworden, hätte sein 70. Geburtstag die Chance geboten, mit dem Deutschen Nationalpreis die Reihe seiner Auszeichnungen fortzusetzen; Christa Wolf, die kürzlich ihren 80. Geburtstag beging, wäre dazu ein passender zweiter Name gewesen. Dem ist nicht so; verliehen wird dieser Preis 2009 an andere, deren Namen nicht in diesen Glückwunsch für Volker Braun, einen großen Dichter und Denker, gehören. Volker Braun wurde am 7. Mai 2009 siebzig Jahre.

Raute

Personalia

Erhard Thomas

Erinnerungen an Willi Stoph,
den dienstältesten Politiker in Europa

Am 13. April 2009 jährte sich zum zehnten Male der Tag, an dem Willi Stoph, der dienstälteste Politiker und Ministerpräsident Europas, in Berlin starb und wie es sein Wunsch war, an der Seite seiner Mutter auf einem Friedhof außerhalb Berlins seine letzte Ruhe fand.

Gerade im Hinblick auf die Propagandaplatitüden von 1989/90 und die spektakulären Lockrufe des Bundeskanzlers Helmut Kohl und seines ostdeutschen Zöglings Lothar de Maizière "es werde allen besser und keinem schlechter gehen", ist es nun an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Zehn Jahre nach dem Tode Willi Stophs, zwanzig Jahre nach der Auflösung der DDR und der Eingliederung ihrer Bürger samt ihres Staatsterritoriums in die BRD ist die Frage, welche der damaligen Versprechungen zum Wohl oder zum Nachteil der Menschen in Ost und West erfüllt beziehungsweise ausgeblieben sind. Worte sind Schall und Rauch. Politiker, die sie verbreiten, sind stets subjektiv. Nur die Historie ist objektiv, unbestechlich und eine untrügliche Macht in jeder Gesellschaft. Auch für mich und für viele ehemalige DDR-Bürger ist dieser Tag ein Anlass, des langjährigen Vorsitzenden des Ministerrates der DDR zu gedenken.

Getreu meines hippokratischen Eides, den ich während meiner Immatrikulation 1957 im Beisein des Dekans Prof. Dr. med. habil. Helmut Kraatz an der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin abgelegt habe, habe ich meinen Patienten, väterlichen Freund und politischen Ziehvater von 1978 bis 1989 als Leibarzt und von 1989 an als sogenannter Volksarzt medizinisch betreut und begleitet.

Mit dem Namen Willi Stoph sind der Aufbau der DDR, die Herstellung gleichberechtigter, internationaler Beziehungen zu über 130 anderen Staaten und internationalen Gesellschaften, die Aufnahme der DDR in die UNO und ihre Organisationen eng verbunden. Auch die Unterstützung der DDR im Auftrag der UNO zur Katastrophenhilfe und zur Friedenssicherung in Namibia soll nicht unerwähnt bleiben sowie die Aufnahme der DDR in den RGW und in den Verteidigungspakt des Warschauer Vertrages. Als Minister für Nationale Verteidigung war Stoph auch einer der Stellvertreter des Oberkommandierenden der Vereinigten Streitkräfte des Warschauer Paktes. Treue Verbindungen pflegte er zur Sowjetunion, in Sonderheit zu seinem Amtskollegen Kossygin. Hierbei spielte keine Rolle, ob er offiziell zum Staatsbesuch in der Sowjetunion weilte oder nur auf der Durchreise zum Urlaubsort Novy Afon unterwegs war. Ein kurzer Höflichkeitsbesuch bei seinem sowjetischen Amtskollegen war zu allen Zeiten eine Selbstverständlichkeit.

Seit 1945 war Willi Stoph im politischen Dienst. Zunächst begann er als Leiter der Abteilung Baustoffindustrie, später wurde er Leiter der Abteilung für Wirtschaftsfragen im ZK der SED, in der Volkskammer und im Ministerrat. Es folgten die Berufungen zum Innenminister, später avancierte er zum Verteidigungsminister, 1962 zum 1. Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates und 1964, nach dem Tode Otto Grotewohls, zum Vorsitzenden des Ministerrates der DDR. Damit war er oberster Dienstherr der Exekutive der DDR und somit für den Aufbau der Wirtschaft, der Kultur, der Bildung, der Wissenschaft und für die Verteidigung hoheitlich zuständig. Kein Bürger der DDR musste von Hartz IV oder von Sozialhilfe leben. Es gab keinen Krankenkassendschungel mit undurchsichtigen individuellen Gesundheitsleistungen, dafür kostenlose Gesundheitsversorgung, ein beispielgebendes Betriebsgesundheitswesen, erschwingliche Verkehrstarife, jederzeit bezahlbare Mieten und gesicherte Arbeitsplätze. In Stophs langjähriger Arbeitsperiode fanden auch maßgeblich der Aufbau und die Umgestaltung der Wirtschaft in der DDR statt, leider auch Stagnation, Fehlschläge und Planungswirrnisse. Doch ist das nicht für die DDR-Wirtschaft und ihre sozialistische Staatsordnung allein typisch. Solche zyklischen Entwicklungen wiederholen sich in allen gesellschaftlichen Strukturen rund um den Globus.

Von seiner Persönlichkeitsstruktur her war Willi Stoph kein ausgebuffter Taktiker, wohl aber ein mit Ecken und Kanten ausgestatteter Stratege, manchmal für Gesprächspartner ein unbequemer Zweifler. Er verfügte über eine verblüffende Weitsicht. Sein persönlicher Freundeskreis im Staats- und Parteiapparat war klein. Wenn sich heute einige neunmalkluge Politiker aus diesen Gremien aus ihrer früheren Mitverantwortung herauszumogeln versuchen, denen sei stante pede die Frage gestellt: Haben sie noch nie von der Maxime der kollektiven Pflicht zur Beratung in der Planwirtschaft gehört, die lautet kollektive Beratung und Einzelentscheidung? Und wie haben sie diese Pflicht wahrgenommen?

Erinnert sei auch daran, unter welch schwierigen Bedingungen der Aufbau der DDR begonnen werden musste und unter welchen komplizierten Umständen die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik im RGW durchzusetzen war. Haben denn die heutigen Besserwisser aus Parteien, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur den Text der DDR-Nationalhymne nicht wahrgenommen. Dort heißt es klar und deutlich: "Auferstanden aus Ruinen ..." Erinnert sei an unsere Reparationszahlungen an die Sowjetunion, die Demontage von Gleisanlagen, den Abbau von Fabriken, die Lieferung von Getreide und Nahrungsmitteln an die UdSSR zu Lasten der DDR-Bevölkerung. Erinnert sei auch an die Lebensmittel- und Kleiderkarten, an die Kontingentierung von Baustoffen und Privatfahrzeugen. Auch die Wohnungsfrage war erst gegen 1960 leidlich gelöst. Internationale Kredite vom IWF und der Weltbank waren ausschließlich kapitalistischen Staaten zum Aufbau ihrer Wirtschaft vorbehalten. Schließlich wurde die Hallsteindoktrin am 23. September 1955 einstimmig vom Deutschen Bundestag gebilligt, beschlossen und verkündet, wonach alle Staaten, die mit der DDR diplomatische und Handelsbeziehungen anstrebten, drastische Sanktionen und wirtschaftliche Restriktionen auferlegt wurden. Von der BRD wurde unter Konrad Adenauer das Angebot einer deutsch-deutschen Konföderation, wie sie von allen Blockparteien in der DDR einhellig gebilligt wurde, strikt abgelehnt. Stattdessen unterzeichnete der BRD-Außenminister Heinrich von Brentano mit den Botschaftern der USA, Großbritanniens und Frankreichs in Gegenwart von Vertretern weiterer NATO-Staaten am 29. Juli 1957 "Grundsätze einer gemeinsamen Politik zur Wiedervereinigung Deutschlands". Darin wurde die Alleinvertretungsdoktrin der BRD bekräftigt, die Souveränität der DDR ignoriert und der Anspruch der NATO auf ein wiedervereinigtes Deutschland geltend gemacht. Seit dem Sommer 1958 verknüpfte die DDR den Konföderationsvorschlag mit der Forderung nach einem Friedensvertrag. Ohne Erfolg bemühte sich die Regierung der DDR um einen modus vivendi mit der BRD, den Otto Grotewohl im November 1961 in einem Brief an Konrad Adenauer anregte. Als gangbarer Weg zur Normalisierung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD erwies sich in den folgenden Jahren der Grundlagenvertrag, der am 21. Dezember 1972 unterzeichnet wurde und der allen Belastungen standhielt. In diesem Vertrag waren sich die BRD und die DDR einig, dass sich die Hoheitsgewalt jedes der beiden deutschen Staaten auf sein Staatsgebiet beschränkt. Mit diesem Grundlagenvertrag wurde die DDR als unabhängiger und selbstständiger Staat akzeptiert. Damals hatte die BRD auf ihren Alleinvertretungsanspruch verzichtet.

Das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen meinem Patienten und mir war stets von hoher gegenseitiger Achtung und Würde geprägt, einige unserer Gemeinsamkeiten, das bemerkte auch seine Ehefrau Alice, waren Akkuratesse, Gradlinigkeit und Verschwiegenheit. Die wöchentlichen Hausbesuche fanden jeweils am Mittwoch um 8 Uhr statt. Das medizinische Programm war rasch abgearbeitet, denn der Patient war gut eingestellt und in der Einhaltung der Verordnungen sehr diszipliniert. Der Hausbesuch begann mit einer kurzen medizinischen Besprechung, gefolgt von der allgemeinen klinischen Untersuchung. Den Abschluss bildeten die Blutdruckmessung und die Auswertung der Befunde. Häufig schlossen sich gesellschaftspolitische Randgespräche an, die von unterschiedlicher Dauer waren und von der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage bestimmt waren. Hin und wieder kam es auch vor, dass Ehefrau Alice uns ermahnte, die Gespräche zu beenden, denn das Begleitkommando würde zur Abfahrt vor der Tür bereit stehen.

Anders verliefen die Hausbesuche während seines Urlaubs auf seinem Anwesen in Birkenheide an der Müritz oder in Novy Afon am Schwarzen Meer. In manchen Medien war zu lesen, man hätte im Dezember 1989 ein komfortables Forsthaus Stophs im Naturschutzgebiet östlich der Müritz entdeckt. Ich kenne kein derartiges Luxusobjekt. Doch die scheinbare Enthüllung klang erst mal sehr spektakulär und war absichtlich irreführend. Die Datsche bestand aus zwei kleineren Häusern und einem Gewächshaus. Das Anwesen war wohl eher mit dem Haus einer Putzfrau eines westlichen Staatsoberhauptes oder dem eines Butlers vergleichbar. Im Baustil ähnelten beide Unterkünfte verkleinerten Formen der Häuser in Wandlitz.

Im Urlaub wurde ich zum medizinischen Empfang zwischen 10.30 und 11 Uhr gerufen. Dieser dauerte zwischen einer und eineinhalb Stunden. Stoph war in der Urlaubszeit ein Spätaufsteher, dennoch hatte er in der Zeit schon einige Ministervorlagen durchgearbeitet, wie an seinen Randbemerkungen zu erkennen war. Während des Urlaubs war er aufgeschlossen und unterhaltsam - ein ganz anderer Mensch. Hier erlebte ich ihn in der Rolle eines politischen Ziehvaters. Dreiviertel der Zeit war ich Zuhörer, den übrigen Teil Gesprächspartner. Für mich eine völlig normale Gesprächsführung, denn in diesem Augenblick hatte mir das Schicksal die Rolle des Zuhörers und des Blitzableiters auferlegt. Ich betone, und das nicht ohne Stolz, alle Gespräche, die wir geführt haben, waren von absoluter Diskretion und Vertraulichkeit geprägt. Dies galt sowohl in der Zeit, als Genosse Stoph Vorsitzender des Ministerrate der DDR war, als auch als Pensionär nach der Eingliederung der DDR in die BRD. Sobald sich die Lautstärke bei leidenschaftlichen Diskussionen manchmal erhöht hatte, ermahnte uns seine Frau Alice: "Müsst ihr denn so laut sein?"

Unschöne, und für die zivilisierte Bundesrepublik geradezu blamable Szenen erlebte ich einige Male in seiner Wohnung in der Spandauer Straße, wo sich Grölkommandos auf dem Hof, rückseitig von der Rathausstraße in Berlin-Mitte mit folgenden Worten artikuliert hatten: "Willi, Willi, komm heraus. Wir kratzen dir die Augen aus". Dies Johlen hat ihn sehr verängstigt, was dazu führte, dass er nur selten auf den Balkon getreten ist und nur im äußersten Falle die Wohnung verlassen hat, um seine dringende Behördenpost zu erledigen. Selbst meine Einladung zu einem Besuch auf meinem Grundstück, auf dem ich ihm drei Kulturheidelbeersträucher zeigen wollte, die ich vor 25 Jahren von ihm geschenkt bekommen hatte, hat er aus Angst ausgeschlagen, obwohl er schon zu DDR-Zeiten den Wunsch von sich aus geäußert hatte. Diesmal war es wohl die pure Angst, in der Öffentlichkeit angepöbelt zu werden.

Stets hatte ich den Eindruck, dass der politische Ziehvater Willi Stoph und sein politischer Ziehsohn Erhard Thomas einig waren. Unterschiede gab es nur in der Bewertung ihrer Nuancen. Das charakterisiert gerade das Verhältnis zwischen uns beiden. Die alles umspannende Frage für die Leser dürfte wohl lauten: "Warum funktionierte das persönliche Verhältnis über so viele Jahre bis zu seinem Tode am 13. April 1999?" Weil wir so unterschiedliche Charaktere waren? Oder weil wir so viele Gemeinsamkeiten hatten? Ein altes Sprichwort besagt, keine Regel ohne Ausnahme. Diese bestand in einem Grundsatz: Willi Stoph war ein exzessiver Zigarettenraucher und ich bin ein kategorischer Nichtraucher.

Ich habe viele Biografien von Staatslenkern und ihren Ärzten gelesen. Eine solch würdevolle und korrekte Beziehung konnte ich bisher in der "Geschichte der Mächtigen und ihrer heimlichen Herrscher in Weiß" nicht erkennen. Unser gegenseitiges Verhältnis zwischen Arzt und Patient und auch das menschliche Miteinander waren stets ausgewogen und von gegenseitiger Achtung geprägt. Willi Stoph soll, so versicherte mir Alice Stoph nach seinem Tode, auf mich stolz gewesen sein. Auch ich bewunderte ihn, war stolz auf seine Leistungen in den 40 Jahren der Existenz der DDR und ganz besonders auf 40 Jahre Friedenspolitik auf deutschem Boden. Unter der Regentschaft Gorbatschows in der UdSSR spitzte sich allerdings auch die politische Lage in der DDR ab Mitte 1986 deutlich zu und unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem war starken Belastungen unterworfen.

Zu meinem Erstaunen musste ich aus übereinstimmenden Medienberichten entnehmen, dass Stoph unter Mitwisserschaft von Erich Mielke und auch von Werner Krolikowski eine erstaunliche Analyse über den Zustand der DDR schon 1986 an Michail Gorbatschow übermittelt haben soll. Darin soll auch die Ablösung Honeckers vorgeschlagen worden sein. Eine Antwort von Gorbatschow soll es nicht gegeben haben, sodass die Echtheit dieser Mitteilung zu bezweifeln wäre. Nicht zu bezweifeln sind die Reden Willi Stophs auf einer Politbürositzung Mitte Oktober 1989 und am 18. Oktober 1989 vor der Volkskammer mit der Forderung, Erich Honecker mit sofortiger Wirkung vom Posten des Generalsekretärs und Staatsratsvorsitzenden abzulösen. Am 7. November trat Stoph gemeinsam mit seiner Regierung zurück. Am 8. November trat das Politbüro geschlossen zurück. Am 17. November wurde Stoph als Mitglied des Staatsrates abberufen und schied aus der Volkskammer aus. Am 3. Dezember 1989 wurde Stoph auf Beschluss des ZK aus der SED ausgeschlossen. Am 8. Dezember erfolgte die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch den Generalstaatsanwalt der DDR mit nachfolgender Inhaftierung. Im Februar 1990 erfolgte die Haftentlassung aus gesundheitlichen Gründen, im Mai 1991 dann die erneute Verhaftung wegen der Schüsse an der innerdeutschen Grenze. Es folgte im August 1992 zunächst Haftverschonung und im Juli 1993 die endgültige Einstellung des Verfahrens wegen Verhandlungsunfähigkeit. Es bleibt festzuhalten, der langjährige Ministerratsvorsitzende der DDR ist nicht rechtskräftig verurteilt worden.

Dennoch sei mir eine persönliche kritische Nachbemerkung zu einigen Merkwürdigkeiten erlaubt. Von einem Brief an Gorbatschow, den er 1986 geschrieben haben soll und von den beiden Reden Stophs zur Ablösung Honeckers hatte ich nicht die geringste Vorahnung. Diese Aktionen haben ihm in der Bevölkerung nichts genutzt, sondern geschadet. Es ist sehr bedauerlich, dass dadurch seine außerordentlich verdienstvollen Leistungen, die er in den verschiedenen Funktionen für die DDR und auch für das Wohl ihrer Bürger erbracht hat, nun mehr oder weniger in den Hintergrund treten. Ich gestehe offen, wäre mir die Absicht vorher zur Kenntnis gebracht worden, ich hätte ihm dringend abgeraten.

Für die Leser bleibt nun die offene Frage, warum habe ich mich nach diesen Geschehnissen und nach der Eingliederung der DDR in die BRD nicht von meinem politischen Ziehvater abgewendet? Für mich gelten im zivilen wie im beruflichen leben die gleichen Regeln der Fairness wie im Boxsport. Ich sah, wie durch die zügellose Brachialgewalt des Kapitals und seiner Helfershelfer aus der ehemaligen DDR mein Patient k.o. geschlagen am Boden lag. Hier war meine Treue und meine ärztliche Hilfe dringend erforderlich, andernfalls hätte ich zurecht meine moralische und ärztliche Disqualifizierung auf Lebenszeit verdient.

Dr. med. sc. Erhard Thomas


Ich behaupte, dass ein Mensch, der keinerlei Beziehung zur Literatur hat, einem Dichter ähnlich wird, sobald er ein Telegramm aufgibt: nur in diesem Fall empfindet, misst und wägt er die Wörter ernsthaft und tief.
Ilja Ehrenburg

Nach dem letzten Schrei der Literatur erwarte ich gewöhnlich ihren letzten Atemzug.
Stanislaw Jerzy Lec

Raute

Rezensionen

Manfred Wekwerth

Immer noch: Stichwort Fabel

Auszüge
Aus: "Mut zum Genuss - Ein Brechtbandbuch für Spieler, Zuschauer, Mitstreiter und Streiter", Kai Homilius Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-89706-656-4, 14,80 €

Heute herrscht wieder großer Zweifel, ob Theater überhaupt noch von Nutzen ist oder nicht nur komfortabler Selbstzweck. Die Zweifel kommen allerdings weniger von zu hohen Erwartungen, wie man sie zum Beispiel in den 68er Jahren an das Theater stellte, als von der Tatsache, dass man heute eigentlich nichts mehr erwartet, schon gar nicht vom Theater. Jedenfalls nichts, was die Gesellschaft betrifft. Da man offiziell das Ende der Geschichte erklärt hat und mit dem "Neoliberalismus" den Abschluss der menschlichen Entwicklung erreicht haben will, gilt es, diesen Zustand - preisend oder maulend - zu verewigen und mit den Betroffenen einen - wie es Noam Chomsky nennt - "Konsens ohne Einsicht" herzustellen. Die neue Religion, verkündet von Katheder, Kanzel und Bildschirm, heißt "Alternativlosigkeit". Was früher "Schicksal" war, ist heute "Sachzwang"; der "Kategorische Imperativ" heißt nun Steigerung der Quote und das "sittliche Gesetz in mir" regelt die Niederringung der Konkurrenz. Vom Theater erwartet man, wenn man überhaupt noch was erwartet, dasselbe wie vom Fernsehen: Events wie "Wetten, dass", "Millionenspiel", "Deutschland sucht den Superstar" usw. Events sind Ereignisse, die das "Was" hinter dem "Wie" verschwinden lassen. Wo Künstlichkeit die Menschen überzeugt, braucht es keine Kunst mehr. Kultur bringt mehr ein, wenn sie zum Kult wird. Bei diesen aufwendigen Unternehmungen reicht natürlich die Beschränktheit des Theaters nicht aus, es wird immer mehr durch die "unbegrenzten Möglichkeiten" des Medien-Kults ersetzt oder es wird selbst zum Kult.

Die Zeit der großen Mystifikationen oder, wie es manche nennen, die Zeit des "konstitutionellen Irrationalismus" ist angebrochen. Und zwar in einem bisher nie gekannten Ausmaß. Gnadenlose Kriege um Öl und Gas, Märkte und Handelszonen, Umsatz und Absatz, Gewinne und Surplusgewinne, um Renditen und Ressourcen sind wieder an der Tagesordnung. Doch diese Kriege werden, "imbedded" in Mystizismus und Irrationalismus, von einem ganz anderen Krieg begleitet: dem Krieg gegen die Wahrheit. Unaufhörliches Verbreiten von Unwahrheiten soll die Menschen dazu bringen, das Unfassliche als das Normale hinzunehmen. Kriege seien wie Naturereignisse, sie kommen und gehen wie der Wechsel des Wetters oder der Jahreszeiten. Man kann das bedauern, aber man kann es nicht ändern. Darum heißen Kriege heute auch nicht mehr Kriege, sondern Sanktionen zur Friedensgewinnung" oder "Präventivschläge zur Bewahrung westlicher Werte" oder einfach "Kampf gegen Terrorismus". Überfälle auf andere Länder, einst Angriffskriege genannt, heißen, da Angriffskriege von der UN-Charta und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verboten sind, nun "punktuelle Militäreinsätze gegen Verletzung der Menschenrechte". Besatzungsregime, die man errichtet, sind lediglich Hilfeleistungen bei der "Einführung von Demokratie" oder beim Brunnenbau.

Und immer geht es um Freiheit, um jene "enduring freedom", was man wohl am besten mit "Freiheit zum Dauerschlag" übersetzt. Denn Terrorismus droht immer und überall. Da man die Terroristen im Einzelnen aber nicht kennt und nicht weiß, wo sie sich aufhalten, muss man sie überall suchen. Zum Beispiel in Afghanistan, wohin der Deutsche Bundestag gegen den Willen von 77 Prozent der Deutschen deutsche Kampfflugzeuge schickte, aber nur um den umkämpften Süden des Landes "landschaftlich aufzuklären". Fallen dann anschließend US-Bomben auf die aufgeklärte Landschaft, sind unsere Flieger längst wohlbehalten wieder in ihrer Luftwaffenbasis im "ruhigeren" Norden und haben mit den "Kollateralschäden" nichts zu tun. Es sind ja nur Aufbauhelfer. Sicher, es sterben dabei auch Zivilisten (im Irak inzwischen über eine Million), doch das ist unvermeidlich, wie eben beim Hobeln Späne fallen. Woher sollen die Bomberpiloten wissen, ob sich unter den Zivilisten nicht auch Terroristen aufhalten? Auch das Mittelalter ist zurückgekehrt. Aber was damals Folter hieß, mit der man Geständnisse erpresste, heißt heute im Dienstreglement "Manipulation des Befragungsumfeldes", darunter das "Scheinersäufen", das, an eine Wellnessbehandlung erinnernd, "Waterboarding" heißt. Und es waren "Sachzwänge", die deutsche Unternehmer veranlassten, einem Despoten mit Namen Saddam Hussein, den sie heute natürlich verteufeln, mit Giftgas auszustatten, da im globalen Wettbewerb sonst die Konkurrenz das Gas geliefert hätte. Wenn heute deutsche Konzerne Weltmeister im Export von Waffen in Kriegsgebiete sind, so nur um in Deutschland "Arbeitsplätze zu sichern" und sei es um Billiglohn. Denn allen geht es nur um den "Standort Deutschland", was nur ein anderer Ausdruck für "deutsche Heimat" sei. Sang man einst zu Kaisers Zeiten von der "Wacht am Rhein", die fest und treu steht, damit das deutsche Vaterland ruhig schlafen kann, sind es heute "unsere Jungs", die Deutschland am Hindukusch verteidigen, damit es weiter schlafen kann.

Dieser, wie Ernst Bloch sagt, reale Nebel, der sich da tagein, tagaus als konstitutioneller Irrationalismus über die Gehirne der Menschen legt, hat einen ganz rationalen Zweck: er soll die Menschen an Barbarei gewöhnen. Sie können sie bedauern, sie können dagegen protestieren, ja, sie mögen dagegen demonstrieren, verändern könne man es nicht. Versuche man es trotzdem, hieße das "Systemveränderung" und die führe, wie die Vergangenheit beweise, nur zur Verschlechterung. Denn selbst die fehlende Arbeitslosigkeit in dem untergegangenen Staat DDR war - wie in einer renommierten Wirtschaftszeitschrift zu lesen ist - nichts als Ausdruck verordneter Unfreiheit, da die Stasi Entlassungen rücksichtslos verhinderte und Vollbeschäftigung erzwang. Darum Hände weg und immer bedenken: Ob man es gut findet oder nicht - THERE IS NO ALTERNATIVE!

­...
Eigentlich ist das für das Theater eine einzigartige Chance. Wie kein anders Instrument ist Theater geeignet, den realen Nebel zu zerreißen. Es vermag Mystifiziertes, und zwar zum Vergnügen des Publikums, als das zu entmystifizieren, was es ist. Nichts als die ihre Zwecke verfolgenden Menschen. Jene schicksalhaften "Sachzwänge" als das Geschick von Leuten, sich "Sachen" zu erzwingen (Rendite, Immobilien, Hegde Fonds usw.) Und der unergründliche Irrationalismus enthüllt schnell seine rationalen Gründe: Er ist erfolgreiche Tätigkeit von Beraterfirmen wie McKinsey, die jederzeit in der Lage sind, Massenentlassungen in "menschenfreundliche Daseinsvorsorge" zu verwandeln, da Menschen vom "drückenden Zwang der Arbeitsgesellschaft befreit werden, um selbstbestimmt handeln zu können" usw.


Die Ausbeutung der Armen kann nicht dadurch beseitigt werden, dass man einige Millionäre zugrunde richtet, sondern indem man den wirtschaftlich Schwachen Wissen bringt und sie lehrt, mit den Ausbeutern nicht mehr zusammenzuarbeiten.

Mahatma Gandhi

Raute

Rezensionen

Wolfgang Hütt

Griechengötter in der Kunstgeschichte der DDR

Peter Arlt: "Die Flucht des Sisyphos. Griechischer Mythos und Kunst. Eine europäische Bildtradition, ihre Aktualität in der DDR und heute", Kunstverlag Gotha 2008, 213 Seiten mit 114 meist farbigen Abb., brosch. Mit Umschlagklappe, ISBN 978-931182-31-7, 33,00 €

Wolfgang Mattheuer, ein Maler, der wusste, dass allein politische Dogmen für sich das Eindeutige behaupten, etwas, das es im alltäglichen Leben kaum gibt, auch nicht in der Kunst, war in der DDR 1965 mit seinem Gemälde "Kain" einer der ersten, die in Gemälde und Grafiken mythische Stoffe der Bibel einbrachten, ein Anwendungsgebiet der Ikonografie, das für die bildende Kunst der DDR noch der Darstellung bedarf. Das Aufsehen, das seine Gemälde und Grafiken zu diesem Thema damals erregten, ließ insgesamt gegenüber der Mythenübernahme in der Kunst der DDR aufmerken. Der Erfurter Kunsthistoriker Peter Arlt habilitierte zu diesem Thema und legte seine aufschlussreiche Untersuchung mit einer vorzüglich bebilderten Publikation im Kunstverlag Gotha vor. Man mag mit ihm über die von Jan Bialostocki angeregte Periodisierung der Kunst in der DDR nach thematischen Verschiebungen streiten. Wahr ist, dass die griechischen Mythen "als europäische Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten (...) bedeutsame Elemente der künstlerischen Struktur sind und im Wandel der Zeit zu wegweisenden Zeichensituationen" führten, weshalb die Mythosrezeption sehr wohl als "Kriterium für geschichtliche Zäsuren geltend gemacht werden kann". Das freilich bedarf bei aller geschichtlichen Bedeutsamkeit doch der Einschränkung, dass es ein Kriterium neben anderen sein kann und wohl auch ist.

Arlt begründet einleitend die belebende Aktualität der Mythen, begründet deren bleibende Bedeutung damit, dass sie "Typen menschlicher Grundbefindlichkeiten" sowie "Muster von Verhaltensweisen anschaulich verdichten". Nachdem Arlt das künstlerische Weiterleben der griechischen Mythologie bis hin zur klassischen Moderne verfolgt und mit charakteristischen Bildbeispielen belegt, wendet er sich der Aktualität der Mythen in der Kunst der DDR zu, erhellt zuvor deren bislang wenig beachtete Bedeutung für künstlerische Aussagen in Gemälden und Grafiken während des ersten Nachkriegsjahrzehnts in allen Besatzungszonen Deutschlands, getragen von einer Generation, die noch über ein klassisches Bildungsgut verfügte. Ein besonderes Zentrum mythosbezogener Kunst war während jener Zeit Halle (Saale), das von dem Dresdener Kunsthistoriker Fritz Löffler als das vitalste in der ostzonalen Malerei angesehen wurde. Hingegen bemängelte die SED-gelenkte Kultur- und Kunstkritik an der Antikenrezeption bildender Künstler eine Flucht aus der gesellschaftlichen Realität. Indessen zeigte sich jedoch mehr und mehr, dass die Mythen zu Trägern bildkünstlerischer Ideen wurden, die, wie es Wolfgang Mattheuer formulierte, "nichts Vergangenes darstellen sollen, sondern sich mit uns und unserem Leben beschäftigen". Eben das war es, was den mythologischen Darstellungen in den Werken von Malern, Grafikern und Plastikern in der DDR die Aufmerksamkeit des Publikums zuführte, was Denkanstöße zum Aufdecken zeitcharakteristischer Umstände erzeugte. Fast gleichzeitig war in der bildenden Kunst, worauf Arlt sehr berechtigt hinweist, auch international ein Anwachsen der Mythosrezeption zu beobachten, wozu in ihrer globalen Auswirkung stetig erkennbarer werdende Umweltprobleme beitrugen, in nicht geringem Maße die durch eine Hochrüstungspolitik der sich bis 1990 feindlich gegenüberstehenden Machtblöcke zugespitzte Kriegsgefahr.

Beachtlich ist die von Arlt vorgelegte Publikation nicht allein durch den Umfang der mit vorzüglich gedruckten Abbildungen belegten Beispiele, mehr noch durch das tiefe Ausloten der sich mit dem mythischen Themen verbindenden, vom Zeiterleben geprägten Inhalten. Dieses Buch trägt vorbildlich dazu bei, der oberflächlich und oftmals allein mediengerechten Betrachtungsweise entgegen zu arbeiten, die die Kunst der DDR weitgehend auf Ideologisierung und Staatskonformität zurückführen möchte.

Raute

Rezensionen

Peter Michel

Meisterstücke dialektischen Denkens

Heike Friauf (Hg.): "Eros und Politik. Wider die Entfremdung des Menschen", Pahl-Rugenstein Nf. GmbH, Bonn 2008, mit Texten von Heike Friauf Peter Hacks, Leo Kofler und Werner Seppmann, 168 S. mit 32 Bildern und Graphiken von Thomas J. Richter, davon 4farbig auf dem Umschlag, brosch. mit Umschlagklappen, ISBN 078-3-89144-40&5, 16,90 €

Im "Philosophischen Wörterbuch" (Bibliographisches Institut Leipzig 1969), im "Kulturpolitischen Wörterbuch" (Dietz Verlag Berlin 1970) und in anderen einschlägigen Lexika dieser Jahre kommen die Stichworte "Eros" und "Erotik" nicht vor. Im "Großen Fremdwörterbuch" (Bibliographisches Institut Leipzig 1979) sieht es schon besser aus. Dort werden die beiden Begriffe nicht mehr auf das Sexuelle beschränkt, sondern es ist auch vom "philosophischen Eros" die Rede, einem Trieb nach philosophischer Erkenntnis und schöpferischer geistiger Tätigkeit. Je weiter man sucht, um so farbiger wird es: Erotik als den geistig-seelischen Bereich einbeziehende Liebe; Eros nicht nur als Personifikation der Liebe in der griechischen Mythologie, sondern auch als schöpferischer Trieb in der Natur, als das verbindende und ordnende Prinzip in alten Weltentstehungsmythen, als mächtigster der Götter, als Schöpfer alles Erschaffenen. Erotik als Lebensinstinkt, als Selbsterhaltungstrieb im Gegensatz zum Zerstörungs- und Todestrieb (bei Freud). Herman Nohl prägte unter Berufung auf Platon den Begriff des "pädagogischen Eros" und verstand darunter eine zwischenmenschliche Beziehung, in der eine selbstlose, auf die Selbstwerdung des Heranwachsenden gerichtete pädagogische Haltung zum Ausdruck kommt.

"Erotik" ist ein semantisch vieldeutiger Begriff, meist Synonym für Sexualität, im weitesten Sinne eine Bezeichnung für spielerische, metaphorische oder symbolische Umsetzung von Sexualität in Sitten, Mode, Werbung, Kunst und Literatur. Sie ist eine Ausdrucksform zwischenmenschlicher Kommunikation und immer auch von Sozialverhalten, das von kulturellen, dem historischen Wandel unterworfenen Normen geprägt ist. Oft opponiert sie gegen die bürgerliche Sexualordnung. Heike Friauf unternimmt mit ihrem Buch sowohl mit eigenen Texten als auch mit Beiträgen von vier Männern den sehr gelungenen Versuch, Eros und Erotik aus der Sicht von Marxisten zu analysieren. Sie, Peter Hacks, Leo Kofler, Werner Seppmann und Thomas J. Richter eint die Überzeugung, dass Revolution und freie Entfaltung von Liebe, Eros und Erotik zusammengehören. Das Anliegen ihres "politischen Lese-Bilder-Buches" sieht die Herausgeberin in politischer Aufklärung und Selbsterkenntnis innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse, die es zu verändern gilt (S. 159). In ihrer Einführung "Versuch der Aufklärung. Oder: Von der Freiheit, ein erotisches Leben zu führen" schreibt sie: "Dass zwei Liebende zusammenkommen und es schaffen, zusammenzubleiben, ist ein Wunder geworden in einer scheinbar libertären, tatsächlich von Marktgesetzen beherrschten Gesellschaft" (S. 7). Sie beschreibt die Erscheinungsformen emotionaler, seelischer und gesellschaftlicher Verelendung der Individuen (S. 12) nach der angeblichen "sexuellen Revolution" von 1968, die gegenwärtige Verstärkung des Rollenverhaltens von Männern und Frauen, das - trotz allgegenwärtiger Sexdarstellungen - immer geringer werdende Wissen Jugendlicher über Sex und das wahllose Praktizieren von Sex durch sozial benachteiligte Jugendliche. "Wir sind", schlussfolgert sie, "bei gleichzeitig boomendem Sex-Markt, längst auf dem Weg in eine neue Prüderie" (S. 14). Der untrennbare Zusammenhang von Entfremdung und kapitalistischer Gesellschaft zieht sich als ein Kontinuum durch das gesamte Buch. Heike Friauf schlägt in ihrem Vorwort diesen Akkord an und macht darauf aufmerksam, dass es vor allem Künstlerinnen und Künstler, Schriftsteller, Maler, Komponisten sind, "die die Menschen mit Widerstandskraft gegen ihre tägliche Entwürdigung versorgen können. Sofern sie nicht selbst längst den kapitalistischen Marktgesetzen erlegen sind" (S. 16). Die Bilder Thomas J. Richters, die das Buch illustrieren, stehen dafür.

Die beiden Essays Leo Koflers (1907-1995), die durch Vermittlung seiner Witwe in dieses Buch aufgenommen wurden, prägen die Qualität der Publikation wesentlich. In seinem Text "Eros, Ästhetik, Politik - Thesen zum Menschenbild bei Marx" von 1985 macht er u. a. darauf auf merksam, dass Mensch, Tätigkeit und Libido (Erotik) für Marx völlig identische Begriffe waren (S. 22) und dass für den extrem entfremdeten Menschen an die Stelle von Philosophie und Kunst die Religion und der schöne Schein treten (S. 26). Kofler zeigt - mit Marx -, wie in der klassengesellschaftlichen Geschichte die Herrschenden dem Menschen das Erotische, die "Sinnlichkeit" raubten, weil an die Stelle der natürlichen Sinne der Sinn des Habens - und damit die "Entfremdung der Sinne" - trat, wie sich ein Bedeutungswandel solcher Begriffe wie Moral, Pflicht, Ordnung, Gehorsam, Freiheit, Wahrheit usw. vollzog und wie der kleine (arme) und große (reiche) Spießer zu dominierenden Figuren des gesellschaftlichen Lebens wurden (S. 33). Wichtig ist auch der Gedanke Koflers, dass ein Wesenszug der "demokratischen" Scheinfreiheit (die auch sexuelle Freiheit verspricht und formell gewährt) darin besteht, über die psychischen Prozesse der Verinnerlichung und der Identifikation um so stärker an die repressive Ordnung zu fesseln und damit der bestehenden Unterdrückung Dauer zu verleihen (S. 34). In der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie, betont Kofler, wird Erotik zum bloß Sexuellen, zum Lasziven und Antigeistigen. "Damit aufs engste verknüpft ist der sozial-ethische Verfall, der Abstieg ins Süchtig-Demoralisierte" (S. 47). Verschleiert werde die Tatsache des geistigen und seelischen Elends, das von Marx mit "Pauperismus" (Verarmseligung) bezeichnet wurde. In einem zweiten Text "Der Alltag zwischen Eros und Entfremdung" baut Kofler diesen Gedanken weiter aus und schreibt: "Wo die erotischen Bedürfnisse derart verzerrt werden, dass Kitsch anstelle von Kunst, Porno anstelle von Liebe, Gewäsch anstelle des Gesprächs tritt, da entsteht eine Bedürfniswelt, der keine Vermittlung zur erotischen Lebenswelt gelingt und daher die Alltagswelt in die Fänge der Leere und Langeweile, der Entemotionalisierung und Depression treibt" (S. 120). Marx habe an zwei Stellen im "Kapital" den Widerspruch zwischen Erotik und Entfremdung sehr genau durchschaut, wobei er die Erotik dem Begriff des Spiels subsumiert (S. 149). Kofler kommt zu dem Schluss, dass die Beendigung des Dramas, das der Alltag darstellt, einer realutopischen Zukunft vorbehalten sei (S. 156). Hatten wir davon im Osten Deutschlands nicht doch schon einen Zipfel in der Hand?

Werner Seppmann greift in seinem Aufsatz "Befreiter Eros? ..." nach einem historischen Exkurs über das Verhältnis von Sexualität und Gesellschaft diesen Gedanken auf: Zu einer Zeit, "als eine 'kulturlinke' Intelligenz in der BRD noch in ihrem 'Wissen' über eine lustfeindliche und prüde DDR schwelgte, wurden in Ostdeutschland progressive Fakten geschaffen, etwa das Abtreibungsrecht gesetzlich verankert" (S. 92). Auch Seppmann hält mit grundsätzlicher Kritik nicht zurück: "Zwar war in der bürgerlichen Gesellschaft immer alles käuflich, ..., jedoch wurde das sexuelle Handelsgut selten mit solcher Selbstverständlichkeit feilgeboten, wie es heute geschieht" (S. 96). (Gerade lese ich in der "Berliner Woche" vom 11. März 2009 unter der Rubrik "Stellenmarkt" eine Annonce: "Liebe kennt keine Finanzkrise! Unternehmerisches Denken gefragt. Info: Peter Treichel ...", P.M.) "Es ist nur zu offensichtlich, dass die bürgerlichen Gesellschaften das Versprechen einer 'sexuellen Revolution' nicht eingelöst haben. Aus hedonistischen Visionen sind Wüsten der Lustlosigkeit geworden" (S. 98). In zwölf Abschnitten liefert W. Seppmann das Musterbeispiel einer marxistischen Analyse über Kapitalismus und Sexualität.

Von der sozialistischen Gesellschaft, die sich in der DDR zu entwickeln begann, in der der Kampf gegen die Entfremdung schon im Gange war, spricht Peter Hacks in seinem Essay "Linke Arbeiter" über Pornographie, Kunst und Erotik. Er wählte dafür die literarische Form des Gesprächs zwischen zwei fiktiven Figuren: Viktor und Adelbert - und liefert, auch in seinen Gedichten, Meisterstücke dialektischen Denkens. Pornographie sei unentbehrlich und unerträglich zugleich; sie abstrahiere den Beischlaf ins Triviale zurück und stelle die europäischen Betten zurück ins Affenhaus. Doch müsse die "Anfertigung des Menschen" in der Kunst den gleichen Platz beanspruchen dürfen wie sein Tod (S. 59). Bald kommt der Einwand, zitiert nach Goethes "Wanderjahren": "Gewissen Geheimnissen, und wenn sie offenbar wären, muss man durch Verhüllen und Schweigen Achtung erweisen" (S. 86). Und schließlich die ostentative Forderung: "Die Wörter Kommunismus und Verzicht dürfen nicht in einen Satz" (S. 75).

Das ist ein zentraler Gedanke, der die Komposition des Buches bestimmt und durch die eigenwilligen, poesie- und kraftvollen Bilder Thomas J. Richters entscheidend mitgetragen wird. Die Gemälde und Graphiken sind keine bloße Beigabe. Sie setzen eine Jahrhunderte lange Tradition fort. Anliegen und Inhalt der Texte werden auch durch sie zum intellektuellen Genuss. Kofler formulierte: "Sagt Marx, 'dass die Welt längst den Traum von der Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen', so ist es vor allem der Alltag, in dem dieser Traum geträumt wird. Die Kunst ist die wichtigste Säule dieses Traumes" (S. 138). Richters Bilder träumen mit; sie sind schön; pornographisch sind sie nur dem, dessen Phantasien eingeengt sind. Und sie helfen mit ihrer lustvollen Freude dem Leser über einzelne, wenige schwerblütig zu lesende Textpassagen hinweg. Schade nur dass im Inneren des Buches keine Farbdrucke möglich waren.

Im Nachwort gönnt sich Heike Friauf den Spaß, im Brecht-Zitat vom kleinen Kreis der Kenner, der zu einem großen werden muss, den Begriff "Kunst" durch "Erotik" zu ersetzen. Es ist verblüffend: Auch so stimmt es auf überzeugende Weise.


Der Tod - das weiß man genau - nützt sich durch die Wiederholung ebenso wenig ab wie das Leben und die liebe auch nicht.
Hermann Kant in "Die Aula"

Die Menschen verlangen nicht nach Unsterblichkeit. Sie wollen nur einfach nicht sterben.
Stanislaw Lem

Raute

Rezensionen

Klaus Eichner

Roman und Wirklichkeit

Jochen Päßler: Vor seinem Tode ... und danach - Ein anderer Spionageroman, Verlag Wiljo Heinen, 2009; ISBN 978-3-939828-34-1; Preis: 14,- Euro

Wenn ein Insider aus dem Geheimdienstmilieu einen Spionageroman liest, dann wird er immer zu unterscheiden suchen, welche Handlungsabläufe den Realitäten entsprechen könnten und welche rein fiktiver Natur sind. Wenn dann ein Autor vom Fach auch noch einen "anderen Spionageroman" anbietet, dann wird die Erwartungshaltung noch viel intensiver sein.

Der "andere Spionageroman" von Jochen Päßler, selbst 20 Jahre Mitarbeiter der Aufklärung der DDR, orientiert sich an einer frei erfundenen aber an realen Vorgängen angelehnten Handlung. Ein gesellschaftlich aktiver Student in der DDR wird von der Aufklärung der DDR kontaktiert, geworben und für einen Einsatz im Operationsgebiet BRD vorbereitet. Ziel des Einsatzes ist ein Kontakt mit einer Sekretärin in Bonn. Aus dem Kontakt wird eine Liebesbeziehung, mehr noch, eine Ehe unter dem operativen Pseudonym des Einsatzkaders. Aber seine Ehefrau würde niemals bereit sein, als Quelle des MfS tätig zu werden. Eine umfassende Rasterfahndung der westdeutschen Abwehr zur Identifizierung von unter bestimmten Bedingungen übersiedelten Kundschaftern der DDR - diese Aktion unter der Deckbezeichnung "Anmeldung" gab es in der Realität - zwang auch in diesem Fall zu einer Entscheidung. Die Person mit den fiktiven Personalien musste einen tödlichen Unfall erleiden, seine reale Ehefrau wurde zur "Witwe".

Am Ende wird sie, die niemals Interna ihrer Arbeitsstelle in Bonn preisgegeben hat, auf der Basis der sogenannten "Rosenholz"-Karteien als Quelle der Aufklärung der DDR angeklagt. Die Ankläger haben keine Akten und erhalten von ihr keinerlei Aussagen - also muss das Verfahren eingestellt werden.

Jochen Päßler leitet seinen "anderen Spionageroman" mit einer sehr skurrilen Handlung ein. Der Protagonist des Romans beendet seinen "operativen Lebenslauf" mit einem spektakulären Autounfall in den Anden, um über diesen Umweg aus dem Gesichtskreis seiner Frau zu verschwinden.

Der nächste Handlungsstrang, die Rückblende zum Anfang der Romangeschichte, dürfte in dieser oder jener Form in den 40 Jahren der DDR-Geschichte tausendfach geschehen sein. Ein Mann mit einem "Klappausweis" kommt zu ungelegener Zeit zu einem gesellschaftlich aktiven Studenten, stört ihn aber in diesem Moment bei einem geplanten Schäferstündchen, was seine Schäferin mit wahllos verstreuten Kondomen quittiert. Aber der Talentesucher der Aufklärung bleibt beharrlich, und es entwickelt sich eine spannungsgeladene freundschaftliche Beziehung zwischen einem Kader, der für einen Einsatz im sogenannten "Operationsgebiet" vorbereitet wird, und seinem Führungsoffizier.

Dieser Einsatz war bald für den Romanhelden festgelegt: Übersiedlung in die BRD zum Zweck der Kontaktaufnahme mit einer Sekretärin, evtl. ihrer späteren Werbung als Quelle. Die Umstände der Kontaktaufnahme mit seiner Zielperson sind für den Kundschafter verwirrend und konfliktreich. Wie so oft im Leben verläuft alles anders als in der operativen Planung vorgesehen. Er trifft die für ihn "Auserwählte" durch Zufall in einem Park. Einer der Vorgesetzten philosophiert im Roman, nicht ganz im Sinne der marxistischen Dialektik, über das Verhältnis von Zufall und Operationsplan: "Zufall ... ist eine gefährliche philosophische Kategorie, der Feind einer guten Planung, aber der Freund des schlechten Plans. Zufälle sind auszuschließen."

Diese Konflikte spitzen sich noch einmal zu, nachdem er mit seiner "Zielperson" intim geworden war. Das war ungeplant und löste Alarm in der Zentrale aus. Die direkten Vorgesetzten gerieten in Panik, der große Chef jedoch setzte Vertrauen gegen Vertrauen und bezog den Kundschafter in die Entscheidungsfindung über die Weiterführung des Kontaktes voll verantwortlich mit ein. Aber seine Partnerin war von ihrer Persönlichkeit her nicht geeignet, ihm die erhofften Informationen aus einem bundesdeutschen Ministerium zu beschaffen. Jede Ansprache in dieser Richtung hätte die Liebe zwischen beiden sofort zerstört. Ein Konflikt zwischen Gefühlen und Auftrag - wie sollte er ihn lösen? Die Mahnung des Führungsoffiziers spukte in seinem Kopf: "Wir haben dich nicht mit hohem Aufwand losgeschickt, damit du eine Geliebte findest!" In dieser Zwangslage beginnt der Kundschafter zu manipulieren. Er erfindet Informationen, die er durch Studium von Medien und wissenschaftlicher Literatur begründet darlegen kann, als Berichte aus Gesprächen mit seiner "Zielperson". In der Zentrale wird die Kontaktperson aktenmäßig als Quelle registriert. Auch dieser Umstand wäre bei der Bewertung der Rolle von MfS-Akten in anderen Zusammenhängen von Interesse.

Aber der Romanheld liebt diese Frau und denkt auch nach dem Ende des MfS immer noch und immer wieder an sie. Über erfundene Absender kontaktiert er seine frühere Ehefrau und lässt ihr letzten Endes eine umfassende schriftliche Lebensbeichte zukommen, die seine wahre Identität und die Umstände der Entwicklung ihrer Beziehungen im Detail enthüllt.

Jochen Päßler lässt das Ende der Geschichte offen. Sie sucht den persönlichen Kontakt, kann aber ihren Partner nicht treffen, da er nach Aussagen seiner Nachbarn "abgeholt" worden war.

Der Autor macht es dem Leser nicht einfach, diesen Handlungsablauf über mehrere Zeitebenen zu verfolgen. Aber die inneren Konflikte des Kundschafters und seine spannungsgeladenen Beziehungen zum Führungsoffizier und dessen Vorgesetzten sind lesenswert und kommen realen Abläufen in diesem Metier wohl sehr nahe.

Es zeugt von den Intentionen des Autors, wenn er auf dem Buchrücken Markus Wolf zitiert:

"Derzeitige radikale Abwertungen des sozialistischen Versuchs sind nicht ein Reflex aus der Zeit nach den Kämpfen, diese Aburteilungen sind Teil der Kämpfe, die noch lange nicht zu Ende sind."

Raute

Rezensionen

Maria Michel

Vertrauen haben?

Wiljo Heinen: "Geld - Markt -Illusion. Betrachtungen zur Marktwirtschaft und ihrer Finanzkrise", Reihe "rote taschenbücher", Band 5, Verlag Wiljo Heinen Berlin 2008, 170 Seiten, brosch., ISBN 978-939828-28-0, 5,- €

Das Bändchen von Wiljo Heinen sticht ins Auge mit seinem knallroten Umschlag. Clown Popow, mit glänzendem Umhang und Hut bekleidet, zaubert ein Kaninchen hervor. Und dazu der passende Titel "Geld, Markt, Illusion". Diese Begriffe finden sich auch im Inhaltsverzeichnis wieder.

Archie, ein wissbegieriger Rentner und langjähriger Freund des Autors, führt mit ihm ein Telefongespräch. Hoffentlich hat er eine Flatrate, sonst wird die Sache teuer. In knappen, verständlichen Worten und mit plausiblen Vergleichen, z. B. dem vom großen Kuchen, schafft der Autor Klarheit über Geld und Markt; übrig bleiben Illusionen, ein Schaukeln von Krise zu Krise. "Der weltweite ökonomische Abschwung wird nicht zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen, vielmehr besteht die Gefahr, dass er gestärkt aus ihm hervorgeht."(1) Und unsere allwissende Kanzlerin, die fleißig Rettungspakete - jetzt Konjunkturpakete - schnürt, bekräftigt das und fordert Vertrauen. Was wir plötzlich für Geld haben im Wahljahr, virtuelles Geld. Der Autor erkennt: "Mit dem Geld fangen die Illusionen an." (S. 8) Darüber ist im Buch zu lesen. Eigentlich ein Déjà-vu-Effekt, denn irgendwann wusste man das alles schon, hatte es nur nicht gleich verfügbar.

Wiljo Heinen gelingt es, das schwierige Sujet und die verwirrenden Tatsachen durch logische Zusammenhänge zu erklären, er lässt damit Archie und den Leser zur Einsicht kommen. Es zählen in jedem Fall das Geld, der Profit, nicht die Bedürfnisse, sondern die Zahlungsbereitschaft. Märkte sind undemokratisch. Archie bringt das Beispiel mit der Milch und ihm geht ein Licht auf. Sehr passend zitiert der Autor die Bibel: "Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben, wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat." (Die Bibel, Matth. 25,29). (S. 69) Ein kluges und weitsichtiges Buch, die Bibel, und immer aktuell. Bringen sie ihr Wissen über Sparer, Anleger, Kreditnehmer, Aktien und Banken auf den neuesten Stand und sie werden staunen. Und wieder wird die Bibel treffend um Aufklärung bemüht: "... ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe." (Matth. 25, 26). (S. 81) Archie, die von Manfred Hocke geliehene Figur, erkennt die Plattheiten der Talk-Shows zum Thema der Finanzkrise. Am Ende des Gesprächs stellt er die Frage: "Und was können wir jetzt tun?" Die Antwort: "Solange sich die kleinen Leute nicht zusammentun, solange fürchte ich, bleibt uns nur: zu stöhnen, zu ächzen und abzuwarten, ob sie diesmal noch mit zwei blauen Augen davon kommen." (S. 153)

Wiljo Heinen, der u. a. auch Volkswirtschaft studiert hat, beweist sein umfassendes Wissen, das er durch ein gründliches Quellenstudium (bei ihm Anmerkungen genannt) belegt. Mit Vergnügen liest man Kurt Tucholskys "Kurzer Abriss der Nationalökonomie". Da lässt er uns wissen: "Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andere werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog. 'Stützungsaktion', bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, dass die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie ja dann auch meist nichts mehr." (S. 158) So schafft es der Autor, das eigentlich trockene Thema interessant zu gestalten. Ein wichtiges Bändchen, gerade jetzt zur rechten Zeit, das man aufmerksam und in Ruhe unbedingt lesen sollte.


Anmerkung:

(1) junge Welt vom 29.4.09, S. 10, über Jutta Ditfurths Buch "Zeit des Zorns"

Raute

Marginalien

Echo

Ein illustrierter Brief

Mein Bild Palastabriss

Im zwanzigsten Jahr der Wiedervereinigung sind nun auch alle Spuren des Palastes der Republik, eines Palastes des Volkes der DDR, beseitigt. Nichts soll an die sozialen Errungenschaften des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden erinnern. Mich, der ich im Gründungsjahr der DDR eine Maurerlehre begann und danach als Bauingenieur im Bauwesen der Republik tätig war, trifft dies ins Herz. Als Bauwerk voller Geschichte, als zentrales Zeitdokument vom Leben und Wirken der Menschen in der DDR hatte es allemal seine Berechtigung. Der Abriss passt aber zur forcierten Kampagne, die von neokonservativen Kreisen zur so genannten Aufarbeitung eines Unrechtsstaates mit der Arroganz der Klassenjustiz betrieben wird. Die gläsernen Blume im Palastfoyer erinnerte mich an die Zerbrechlichkeit und Kostbarkeit jedweden Lebens. Wie viel nötiger wäre diese Mahnung heute, da das Kapital regiert, Kriege geführt werden und ein Menschenleben wenig zählt.

Ernst Jager
16341 Panketal


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Zum Text von Klaus Eichner in Heft 1/2009

Ermittlungsmethoden und geheimdienstliche Mittel sind überall gleich um die herrschende Ordnung aufrecht zu erhalten. Das gilt auch für eine sozialistische Gesellschaftsordnung. Beschämend finde ich es, wenn die Sicherheitsorgane den gleichen Fehler machen wie die Geheimdienste und Polizeien kapitalistischer Länder. Dass es vom Ansehen einer Person abhängt, ob Ermittlungen fair geführt werden, ist für Sicherheitsorgane sozialistischer Staaten beschämend. Dass dieser Zustand in kapitalistischen Ländern gang und gäbe ist, macht das Ganze um so schlimmer. Hätten da die Sicherheitsorgane sozialistischer Staaten nicht positiv hervorstechen müssen?

Dass das MfS vorbeugende Maßnahmen ergriff um z. B. Terrorakte zu verhindern, war richtig.

Mit den Mitläufern (z.B. Schwerter zu Pflugscharen, Bürgerrechtsbewegung) hatte diskutiert werden müssen, anstatt sie zu bestrafen.

Gründe zur Unzufriedenheit der Bevölkerung gab es zuhauf. Die Politik hat versagt, da sie diese Zustände nicht verbessert, ja sogar zuließ, dass sich diese verschlimmerten. Wir wissen heute (...), wer die Bürgerrechtler waren und wo sie heute sind. Die Verfolgung und Bestrafung (...) war berechtigt. Sie haben es tatsächlich geschafft ihren wichtigen Beitrag dazu zu leisten, die DDR auszulöschen.

Petra Reichel
55543 Bad Kreuznach


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Nachdenken vor der Wahl

Was nun, wenn die Wahl unser Gewissen prüft? Den Verleumdern des Sozialismus, der Befreiungsbewegungen, den Verleumdern der DDR, des antifaschistischen Widerstandskampfes und der Kämpfer der kubanischen Revolution sowie den Befürwortern von Aggressionskriegen gehört nicht unsere Zustimmung.

Gutmenschen? Das waren auch Gorbatschow, Tschewardnadse und die neureichen ehemaligen Komsomolsekretäre in Russland. Da sei z. B. an Gorbatschow erinnert, der am 18.1.1989 in Moskau eine Abordnung der US-Hochfinanz (u. a. Rockefeller und Kissinger) empfing. Im Gefolge befanden sich Angehörige der Trilateralen Kommission sowie der FED (Federal Reserve - Bank der USA). Sie überredeten ihn zur Freigabe der Preise, der Löhne, zur Privatisierung der Staatsbetriebe und zu weiteren Maßnahmen der Zerstörung der sowjetische Wirtschaft. Die Folge war der Zusammenbruch des Sozialismus. Wer in dieser Weise handelt, ist nicht unser Kandidat. Die alte Weisheit hat noch ihre Bedeutung, die besagt: Wenn ein Linker in Deutschland groß wird, kann man sicher sein, entweder ist er nicht besonders links oder ein Verräter.

Den Deserteuren zum Kapital rufe ich die Worte Schopenhauers ins Gedächtnis: "Sehe ich eine Heerde Gänse oder Schöpsen, wie immer Jedes seinem Vordermann nachgeht, unbekümmert wohin, so glaube ich auch immer durch ihr Kreischen und Blöcken hindurch die mit Emphase gesprochenen Worte zu vernehmen: Ausschließen werde ich mich nicht."

Adolf-Eduard Krista, Worbis


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Aus dem Gästebuch der Willi-Sitte-Ausstellung

Diese Ausstellung von Willi Sitte ist sehr gut zusammengestellt. Vor allem auch, dass man seine ausgezeichneten Zinkografien - technisch vollendet - und im neueren Bereich philosophische Gedanken sieht. Ich hätte gern einen Katalog. Vermisse ich.

Gesundheitlich alles Gute in sicherer Umgebung. Du hast es verdient. (...)

Deine Ölbilder gegen den Krieg sind echt überzeugend. Gesundheit und ein hohes Alter wünsche ich Dir.
02.02.2009 Erika Lahmann


Lieber Willi Sitte,
Ihre Ausstellung Bilder gegen den Krieg hat mich sehr beeindruckt. Ich danke Ihnen insbesondere auch dafür, dass Sie nach 1989 Ihre Gestaltungskraft in zeitbezogene Arbeiten investiert haben, die allen Gleichgesinnten aus dem Herzen sprechen (z. B. Selbstbefragung) und zum Nachdenken anregen.
Name unleserlich


Die Ausstellung habe ich mit großem Interesse gesehen. Willi Sittes Bilder sind mir seit vielen Jahren vertraut, auch als politisches Kampfmittel.
M. Rizy (Wien)

Raute

Marginalien

Aphorismen

Republik - Staatsform, die all denen gleiche Rechte zuteil werden lässt, die dafür zahlen können.

Abstimmung - einfaches Verfahren, mit dem die Mehrheit der Minderheit beweist, wie töricht Widerstand ist.
Ambrose Bierce


Ich rebelliere nicht im Namen der Freiheit, sondern gegen die Freiheit, für Organisation, Vernunft, Gerechtigkeit und Klarheit.
Ilja Ehrenburg


Die Fähigkeit des Lebens, den Fortschritt fortzusetzen, den es langsam, aber stetig, während mehr als tausend Millionen Jahren erzielt hat, hängt vielleicht von der Abschaffung des Krieges ab.
Julian Huxley


Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegen-Satz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.
Kurt Tucholsky


Optimismus - die Lehrmeinung oder der Glaube, wonach alles schön ist (das Hässliche eingeschlossen), alles gut (vor allem das Schlechte) und alles richtig (insbesondere das Falsche).
Ambrose Bierce


Das Ziel sieht, wenn es erreicht ist, merklich anders aus, als wenn man nur davon träumt.
Ruth Werner


Blinder Glaube hat einen bösen Blick.
Stanislaw Jerzy Lec


Schließlich weiß man nie genau, was die Wahrheit ist und wenn es einem einer verrät, weiß man nicht genau, ob er es weiß.
Joseph Conrad


Die Weisheit eines Menschen misst man nicht an seiner Erfahrung, sondern an seiner Fähigkeit, Erfahrungen zu machen.
George Bernhard Shaw


Mein Pazifismus ist ein instinktives Gefühl, das mich beherrscht, das nichts zu tun hat mit irgendeiner Theorie, sondern mit meinem festen Widerwillen gegen jede Art von Grausamkeit und Hass.
Albert Einstein



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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Sinnvolle Verwendung der staatlichen Finanzhilfe ....
Ralf-Alex Fichtner, 2009. Lavierte Finelinerzeichnung, 14,8 x 21 cm

Raute

Unsere Friedenspreise

Georgi Buiko, Vorsitzender des Antifaschistischen Bundes der Ukraine, nahm am 15. März 2009 in Berlin für den selbstlosen und bedeutsamen Einsatz der von ihm vertretenen Friedensinitiativen Gerhard Rommels Bronze "Mutter und Kind" als Friedenspreis entgegen. Ein weiterer Preis, Ulli Wittich-Großkurth Keramikrelief "Ikarus und Dädalus", wurde an dem Tag, an dem sich zum zehnten Male der Angriff der NATO auf Jugoslawien jährte, dem ehemaligen Außenminister des untergegangenen Landes und heutigen Präsidenten des Belgradforums Zivadin Jovanovic von Prof. Wolfgang Richter und dem Flottenadmiral a.D. Elmar Schmähling in Belgrad überreicht.

Die Preise sind großzügige Schenkungen beider Künstler, die damit ihre solidarische Verbundenheit mit den Zielen unserer Gesellschaft, für eine Welt ohne Kriege zu wirken, bekunden.

Die Vorstellung der Plastiken und ihrer Schöpfer auf dieser Seite ist nicht nur Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber ihrer Haltung, sondern auch Ausdruck unseres Respekts vor ihrem künstlerischen Vermögen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Gerhard Rommel
- Gerhard Rommel: Mutter und Kind, Bronze
- Ulli Wittich-Großkurth
- Ulli Wittich-Großkurth: Ikarus und Dädalus, Keramik

Raute

Rückseite:

Fängt ein Gedanke an sich zu erheben
zur Utopie ins ungeahnte Blaue,
schon neidet einer ihm das junge Leben.
Der ist Pragmatiker, der wirklich Schlaue.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Klaus Georg. Collage aus der Folge "Gemütliches Inferno", 27,5 cm x 19,6 cm

Raute

In eigener Sache

ICARUS - das ist die kollektive Klugheit vieler Mitglieder und Freunde unserer Gesellschaft. Sie sammelt sich auf dem Computer an, verändert ein wenig die Gestalt, wird in die endgültige Form gebracht und erscheint. Die Hauptarbeit leisten die Autoren. Danke und die Bitte an alle, die auch künftig im ICARUS zu Wort kommen wollen: Nutzt den PC und die angegebene E-Mail-Adresse, nicht weil es modern ist, sondern weil alle anderen Übermittlungsformen die Redaktionsarbeit sehr, sehr erschweren.

Die Redaktion


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Unsere Autoren:

Rüdiger Bernhard, Prof. Dr. - Literaturwissenschaftler, Bergen i.V.
N. Büchner, Jugendbibliothek Gera
Irene Eckert, Studienrätin, Berlin
Klaus Eichner, Diplomjurist, Lentzke
Hilmar Franz, Journalist, Berlin
Hans Fricke, Dipl.-Militärwissenschaftler, Rostock
Wolfgang Hütt, Dr. - Kunsthistoriker, Halle/S.
Maria Michel, Kunsterzieherin, Berlin
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Roger Reinsch, Diplomphilosoph
Wolfgang Richter, Prof. Dr. - Philosoph und Friedensforscher, Wandlitz
Werner Roß, Prof. Dr. - Jurist, Zwickau
Gregor Schirmer, Prof. Dr. - Völkerrechtler, Woltersdorf
Horst Schneider, Prof. Dr. - Historiker, Dresden
Gabriele Senft, Fotografin, Berlin
Gisela Steineckert, Autorin, Berlin
Manfred Wekwerth, Prof. Dr. - Regisseur, Berlin
Erhard Thomas, Dr. sc. - Mediziner, Berlin
Siegfried Wege, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin


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Titelbild:
Willi Sitte, Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Freiheit, 1973/74, Triptychon mit Predella, Mischtechnik auf Hartfaserplatten, Mitteltafel: 275 x 170 cm, Seitentafeln: 275 x 125 cm, Predella: 125 x 275 cm

2. Umschlagseite:
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung

Rückseite des Umschlages:
Klaus Georg Przyklenk, Collage und Text aus der Folge: Gemütliches Inferno, 27,5 x 19,6 cm

Abbildungsnachweis:
Archiv Przyklenk S. 27, 34, 36, 37 und 4. US
Archiv Wittich-Großkurth 3. US
Ralf Alex Fichtner S. 52
Gera, Jugendbibliothek e.V. S. 32
Ernst Jager S. 50
Kunstverlag Gotha S. 45
Pahl-Rugenstein S. 46
Robert Schanzenbacher S. 10
Gabriele Senft S. 2, 3, 7, 8, 12
Willi Sitte Titelbild
Bernhard Thomas S. 40

Raute

Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
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Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
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Satz: Waltraud Willms
Redaktionsschluss: 30.5.2009

Verlag:
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Schkeuditz
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Danke
Es ist an der Zeit, uns erneut bei allen Abonnenten und Freunden des ICARUS zu bedanken, die unsere Arbeit mit Spenden unterstützen, auch wenn sie noch so klein sind.


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Quelle:
ICARUS Nr. 2/2009, 15. Jahrgang
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2009