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ICARUS/019: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 2/2011


ICARUS Heft 2/2011 - 17. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
Erklärung zur Gründung der GBM

Fakten und Meinungen
Wolfgang Konschel
Vorstand der GBM
Klaus Georg Przyklenk
Lorenz Knorr
Ulrich Schneider
Velko Valkanov
Klaus Speter
Klaus Eichner
Hector Corche Morales
Ist die Bundesrepublik ein Rechtsstaat?
Rentenangleichung ist überfällig
Klassenbild mit Dame
"Vertriebene" Frau Steinbach
Geschichtspolitik in internationaler Dimension
Ein untauglicher Versuch, die Geschichte zu revidieren
"Sonderbeziehungen" der BRD zu Libyen
Mordmaschine CIA & Co.
Eine Heldensage

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Peter H. Feist
Hans Vent - Kopf-Bildnisse und anderes

Personalia
Peter Michel
Abbildung
Glaubenswechsler
Herostraten - zwei Namen

Rezensionen
Werner Krecek
Klaus Georg Przyklenk
Dieter Rostowski
Jens Schulze
Klaus Georg
Ahasverus
Bernd Gutte
Ich wollte spielen und Punkt
Kunst der Besiegten
Friedenssicherung war ihr Ziel
Konterspionage
So viel Leben
Durch Nacht zum Licht
Chronik und Lehrbuch einer Revolution

Marginalien



Ralf-Alex Fichtner

Echo
Kleine Wahrheiten
Aphorismen
Karikatur
Freiheit, ganz wörtlich gemeint

Raute

Kolumne

Wolfgang Richter

Erklärung

- vor 20 Jahren auf der Pressekonferenz am 4.6.1991 - anlässlich der Gründung der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde

Die Gesellschaft wurde am 31.5.1991 gegründet. Sie betrachtet sich vornehmlich als einen Verband, der die Interessen von Millionen sozial und politisch Betroffener des überhasteten und ohne Rücksicht auf die Menschen betriebenen Beitritts der DDR zur BRD und dessen Folgen vertritt. Die GBM vereint Menschen, die sich entschlossen haben, in ihrer Betroffenheit nicht zu resignieren, sondern sich gegen die Verletzung ihrer Menschen- und Bürgerrechte sowie ihrer Menschenwürde zu wehren und sich ihre Selbstachtung nicht rauben zu lassen. Sie wehrt sich gegen den abwiegelnden Zynismus kolonisierender Politiker, dass das einzige, wozu der bevorstehende Rechtsstaat nicht geeignet sei, "nur" seine Einführung sei. Sie wehrt sich dagegen, dass die Würde der "Ossis" - wie sie ihnen im Warteschleifenurteil des Bundesverfassungsgerichtes zugemessen wurde - sich darauf beschränken soll, dass ihr "Existenzminimum" nicht bedroht werde, da sie ja "zunächst Arbeitslosengeld, später notfalls Arbeitslosen- oder Sozialhilfe" (VI) erhielten. Sie wehrt sich dagegen, dass die in den bevorzugten Forschungsgegenständen westdeutscher Sozialwissenschaftler schon festgeschriebenen Prognosen für die Ostgebiete wahr werden, z. B. dass die West-Ost-Wanderung in den neuen Bundesländern zur "Überschichtung und partiell aufoktroyierten Herrschaftsstruktur führt, dass "massenhafte Prozesse von Qualifikationsentwertungen", "gravierende Statusverluste" und "berufliche Abstiegsprozesse" ablaufen, der Wunsch insbesondere nach "Frauenerwerbstätigkeit" und "Erwerbsmöglichkeit und Erwerbsmotive weit auseinander klaffen" werden. Einen besonders herausgehobenen Forschungsplatz sollen Massenarmutsprozesse einnehmen; einer "repräsentativen Armutsforschung" solle ein "besonderes Gewicht zugemessen werden". Ausdrücklich widersprechen die Wissenschaftler, dass das nur ein Horrorgemälde sein könne und es in Wirklichkeit, wie ja der Kanzler versprach, keinem schlechter gehen werde. "Im Gegensatz zu Auffassungen der Gerontopsychologie (und der westdeutschen Rentenversicherer) werden in der DDR massenweise Menschen in den Vorruhestand geschickt werden. Dies wird häufig mit einem niedrigen Rentenniveau verbunden sein ... und in vielen Fällen mit gravierenden Statusverlusten... Körperliche und soziale Prozesse des Alterns werden dadurch vermutlich negativ betroffen sein." (Aus einem Schwerpunktprogramm von 28 führenden Sozialwissenschaftlern zum sozialen und politischen Wandel im Zuge der Integration der DDR-Gesellschaft)

Die Gründung der GBM ist angesichts solcher Prognosen und vor allem sich schon abzeichnender Entwicklungen, die hier noch keineswegs vollständig erfasst sind, eine unmittelbare Reaktion auf die zunehmenden Verletzungen individueller und sozialer Menschenrechte im Prozess der Einvernahme der DDR durch die BRD. Ihr Anliegen bedarf gerade wegen des rigiden machtpolitischen Szenariums im Beitrittsgebiet nationaler und internationaler Sympathie, Solidarität und Förderung, wie sich schon in der Zusammensetzung des Kuratoriums oder der Erstunterzeichner unseres Aufrufs für Recht und Würde ausdrückt.

Die Gründungsmitglieder wurden in ihrem Anliegen von vielen Seiten bestärkt. Gilbert Badia, ein. Prof. der Germanistik, Paris, schrieb uns z. B. am 14.4.1991: "In Sachen Kuratorium zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und zum Schutz der Menschenrechte ... danke ich ... für den Aufruf. Ich freue mich, dass die Betroffenen bereit sind, sich gemeinsam zu wehren, anstatt nach individuellen und meist faulen Rettungsbooten zu suchen."

Die Gründungsmitglieder der GBM gehen davon aus, dass die kolonisatorische Art und Weise des Umgangs der Regierenden und der Wirtschaft und Banken, insbesondere auch der so genannten Treuhand, mit der Bevölkerung und ihrem materiellen und kulturellen Eigentum soziale und politische Spannungen förderte und fördert und der politischen Kultur nicht nur des Einigungsprozesses, sondern Deutschlands schon nachhaltigen Schaden zugefügt hat. Das droht auch zu einer Gefahr für die Kultur des gesamten europäischen Einigungsprozesses zu werden und wird von großen Teilen der Bevölkerung in immer mehr osteuropäischen Staaten als Paradigma eines "Möchtegern-Umgangs" der BRD mit ihnen selbst betrachtet.

Die GBM versteht sich hingegen als einen Beitrag zur politischen Kultur des Landes und des gesamten europäischen Einigungsprozesses. Sie bringt die Interessen breiter Schichten der Bevölkerung der ostdeutschen Bundesländer zum Ausdruck. Sie ringt um humanistisch motivierte und politikfähige Alternativen und initiiert und sucht effektive Auswege. Sie Will damit auch einen Beitrag leisten, um die Regierbarkeit der neuen Bundesländer zu erhalten, die sie perspektivisch als aufs höchste bedroht sieht, wenn der Prozess des Regierens der Ostdeutschen nicht mit einem Prozess der Verständigung mit ihnen einhergeht.

Die GBM fordert daher nicht nur einen achtungsvollen Umgang mit Andersdenkenden, sondern praktiziert ihn auch, denn er ist für den inneren Frieden des Landes unerlässlich und drängt auf Behutsamkeit im Umgang der Menschen miteinander.

Die GBM will die Menschen in ihren Sorgen und Alltagsnöten ernst nehmen, ebenso wie in ihrer Suche nach Sinn, ihrer geistigen und kulturellen Identität, ihrer Selbstachtung und in ihrem Widerstand gegen den Verlust ihrer Würde. Sie bietet eine Gemeinschaft des Dialogs, der sich an den Werten des Lebens und der Kultur orientiert und Hoffnung setzt gegen um sich greifende Resignation.

Die GBM versteht sich als parteiunabhängig und parteiübergreifend. Sie geht davon aus, dass es viele Motive zu humanem Umgang der Menschen gibt, seien sie von christlicher Sozialethik oder sozialdemokratischen Grundwerten getragen, seien sie marxistischer, liberaler oder altruistischer Provenienz. Die Nähe von Parteien oder Bewegungen zu unserer Gesellschaft ergibt sich daraus, ob und wie sie sich der drängenden Probleme der Menschen annehmen.

Die GBM sieht ein wichtiges Anliegen darin, die Geschichte der gegenwärtigen Entwicklungen aus der Sicht der Betroffenen zu dokumentieren. Das ist eine Geschichte, die in ihren zahllosen Einzelschicksalen sonst ungeschrieben bliebe. Diese Idee stand am Anfang unseres Entstehens, als wir in einem Flugblatt, das inzwischen in wohl einer Million Exemplaren in den neuen Bundesländern verbreitet ist, zur Mitarbeit an einem WEISSBUCH aufriefen und über 1000 Briefe erhielten.Weitere Weißbücher zu spezielleren Themen werden folgen. Desweiteren gibt die Gesellschaft Rundbriefe und andere Veröffentlichungen heraus. Sie veranstaltet Konferenzen, wie das 1. Europäische Seminar: "Europa und der Unfrieden in Deutschland" im Juni 1991.

Besonderes Augenmerk legt die Gesellschaft, der viele Wissenschaftler angehören, auf die Erforschung sozialhistorischer und praktischer Alternativen zu den Verlaufsformen der gegenwärtigen innerdeutschen Transformationsprozesse. Das ist eng verbunden mit dem Engagement, diese Prozesse aktiv zu beeinflussen. So hat sich die GBM engagiert gegen "Abwicklung" und "Warteschleife", gegen Rentnerabstrafung und Medienkahlschlag zu Wort gemeldet, wie auch für die Rechte verunglimpfter Ärzte und wessen auch immer, gegen die Auslöschung antifaschistischer Traditionen sowie gegen die Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien in jeder Form. Sie hat bei ihrer Interessenvertretung immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass Betroffenheit nicht nur und nicht einmal in erster Linie ein ungewolltes und sozusagen zufälliges Produkt übereilter und rigider Strukturanpassungspolitik ist, die uns alle zwingt, ihre sozialen Folgen zeitweilig zumindest billigend in Kauf zu nehmen, sondern vor allem auch immanentes und beabsichtigtes Ziel von der Regierung verantworteter Hektik gesellschaftlicher Umbruchprozesse, in denen die Betroffenen in aller Regel auch die Gemeinten sind, die gezielt an den sozialen Rand der Gesellschaft gedrängt werden und denen gegenüber Eingliederungspolitik die Form politischer Abstrafung annimmt.

Die GBM will deshalb ausdrücklich auch denjenigen eine Stätte der Begegnung, des Disputs und der Interessenvertretung sein, die durch pauschalisierende und weitgehend unberechtigte Verurteilungen ihrer Biographie und ihres Handelns besonderen sozialpsychologischen Belastungen, oft einem Klima von Hexenjagden ausgesetzt sind und die sich in ihren Ausgrenzungen bis zu Berufsverboten - wie uns ein Betroffener schrieb - "wie Kriegsgefangene der Regierung Kohl vorkommen". Aus den Briefen, die wir bekommen wird deutlich, dass Betroffene Ungerechtigkeiten in der Beurteilung ihrer Lebensläufe - und die beginnen mit willkürlichen und rechtswidrigen Fragebogenaktionen - nicht weniger schmerzlich empfinden als soziale Notlagen.

Was unser Verhältnis zu unserer Vergangenheit betrifft, so sind wir für sozialhistorische Analyse und nicht für sozialhysterische Anklagen. Wir haben in der Gründungsphase unserer Gesellschaft auch darüber gesprochen, welchen Platz die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit, derer es sowohl in Deutschland als auch durch Deutsche sowie in aller Welt allein in diesem Jahrhundert mehr gibt, als man zählen könnte, in der Programmatik der GBM haben sollten. Wir sind der Meinung, dass es viele Organisationen gibt, die sich dieser Aufgabe annehmen und mit denen wir gern zusammenarbeiten. Wir glauben jedoch, dass die Singularität der Prozesse heute und die Masse der Betroffenen in den neuen Bundesländern eine eigene Gesellschaft dieser Art verdienen, da viele Menschen in dieser Zeit sonst ohne Sprecher blieben, die sich durch die Situation nicht ermuntert fühlen, selbst ihre Stimme zu erheben. Wir glauben uns zu dieser Entscheidung auch moralisch berechtigt, da es unter den Mitgliedern der Gesellschaft, des Kuratoriums, des Vorstands und der Erstunterzeichner nicht wenige Betroffene von den Menschenrechtsverletzungen des Faschismus, des Stalinismus und des Kalten Krieges gibt.

Raute

Fakten und Meinungen

Vorstand der GBM

Rentenangleichung ist überfällig

Der Vorstand der GBM beschloss am 29. März 2011 folgende Erklärung:

Kürzlich kündigte das Ministerium für Arbeit und Soziales eine Rentenerhöhung um 0,99 Prozent ab Juli an. Diese Mitteilung besagt nichts über eine höhere Anpassung für das Rentengebiet Ost. Offensichtlich ist die Anpassung für Ost und West erneut in gleicher Höhe vorgesehen.

Wir fordern die Bundesregierung auf, die ungleiche Behandlung der Ostrentner endgültig aufzugeben und den Ostwert höher anzupassen. Wenn jetzt den Kriegsopfern in Ost und West ihre Renten in gleicher Höhe gewährt werden, muss das auch allen anderen Rentnern zugestanden werden.

Ein solcher Schritt zu gleichen Lebensverhältnissen würde auch die Leistungen unserer Jugendlichen berücksichtigen, die in die alten Bundesländer abwandern mussten, da sie im Osten keine Arbeit fanden. Gerechtfertigt wäre er auch im Blick auf die Gewinne der Unternehmen, die ihren Hauptsitz im Westen haben, aber im Osten kräftig verdienen.

Natürlich bleibt unser Ziel die vollständige Angleichung, ein gleicher Rentenwert für die ganze Bundesrepublik. Konkrete Stufenprogramme dazu haben die LINKEN im Bundestag und die Gewerkschaft ver.di - unterstützt von anderen Gewerkschaften und großen Sozialverbänden - schon vor Jahren vorgelegt. Wäre man ihnen gefolgt, gäbe es heute keinen Unterschied von noch immer 11,3 Prozent zu dem Rentenwert in den alten Bundesländern.

Wir haben nicht vergessen, dass die Bundeskanzlerin versprochen hatte, dieses Problem in der ersten Hälfte der Legislaturperiode zu regeln. Auch die anderen noch offenen Fragen bei der Überführung von Rentenansprüchen sollten in Angriff genommen werden. Nichts ist bisher geschehen, im Gegenteil: Entsprechende Anträge der LINKEN im Bundestag wurden am 24. Februar wiederum abgelehnt.

Bei dieser Gelegenheit haben Vertreter der Regierungskoalition mit Verdrehungen und beleidigenden Behauptungen ein falsches Bild produziert. Die Bürger im Osten werden behandelt, als hätten sie geringere Rechte - und das 21 Jahre nach dem Anschluss, den diese Abgeordneten als "Wiedervereinigung" bezeichnen! Gerade die Verwirklichung jener Forderungen wäre ein echter Schritt zur Einheit.

Uns soll eingeredet werden, die Ursache für die fehlende Rentenangleichung liege darin, dass in einigen östlichen Bundesländern das Bruttosozialprodukt noch geringer sei als im Westen. Doch Fähigkeit und Fleiß der Menschen im Osten sind nicht geringer. Auch gibt es zwischen den alten Bundesländern große Unterschiede; aber niemand käme auf den Gedanken, deshalb Versicherten etwa in Bayern und in Schleswig-Holstein unterschiedliche Renten zu zahlen.

Wer die Einheit wirklich will, muss für die Abschaffung des Sonder-Rentenrechts Ost sein!

Raute

Fakten und Meinungen

Wolfgang Konschel

Ist die Bundesrepublik ein Rechtsstaat?

Zum Begriff "Rechtsstaat" bestehen unter Wissenschaftlern sehr unterschiedliche Auffassungen, hauptsächlich wird unterschieden, ob mit "Recht die Gesetze" oder "die Macht des Staates" gemeint sind. Nach Wikipedia hat der Rechtsstaat "die Bürger vor Willkür zu schützen" und "ein Rechtsstaat moderner Prägung ist darüber hinaus auf die Herstellung und Erhaltung eines materiell gerechten Zustandes gerichtet". Ebenso ist es beim Begriff des "Unrechtsstaates". Auch hierzu gibt es bei Wikipedia ein breites Spektrum von Meinungen. Nach Ansicht des Staatsrechtswissenschaftlers Horst Sendler(1) "strebt er die Verwirklichung des Rechts an und im Großen und Ganzen erreicht er es auch". Nach seiner Meinung sollte man "einen Staat nicht als Unrechtsstaat kennzeichnen, der einzelne Rechte nach dem Modell der klassischen bürgerlichen Rechtslehre nicht verwirklicht". Anders bei den Politikern der Bundesrepublik. Nach deren Meinung war die DDR ein Unrechtsstaat, Basta! Deshalb brauche man dies nicht extra begründen. Bereits 1963 verwandte Bundespräsident Heinrich Lübke diesen Begriff als politische Kampfparole gegen die DDR. Heute gehört er zur Staatsdoktrin in der Bundesrepublik, ebenso wie die "zwei Diktaturen in Deutschland" (Gemeint sind das faschistische Deutschland und die DDR - ein völlig absurder Vergleich.).

Meiner Meinung nach ist die Bundesrepublik ein Unrechtsstaat. Diese Einschätzung begründe ich mit vielen Tatsachen und persönlichen Erfahrungen. Sie ist nicht einfach die Umkehrung der Staatsdoktrin der Bundesrepublik, nach der die Deutsche Demokratische Republik grundsätzlich als Unrechtsstaat zu bezeichnen ist. So einfach ist es nicht. Als ein Beispiel für meine Haltung, nenne ich die undifferenzierte Behandlung der von Hartz IV Betroffenen. Ich empfinde es als Unrecht und Verletzung der Menschenrechte, wenn ihnen keine Arbeit angeboten wird und sie trotzdem als Schmarotzer des Sozialstaates bezeichnet werden. Auch wenn man wochenlang über eine Erhöhung um minimale 5 Euro verhandelt. Oder wenn trotz voller Erwerbstätigkeit, zusätzliche soziale Unterstützungen nach Hartz IV zur Aufrechterhaltung eines minimalen Lebensstandards gewährt werden müssen, ist das nicht nur eine Förderung des Niedriglohnsektors, sondern auch eine Verletzung der Menschenrechte. Meiner Meinung nach sind auch die sich wiederholenden Behauptungen über die Verletzung der Demokratie, der Freiheits-und Menschenrechte in anderen Staates, oft sogar von der Bundeskanzlerin persönlich, meist einseitig und oberflächlich, also ebenfalls Unrecht. Die Verletzungen der Bürger- und Menschenrechte im eigenen Land werden dagegen vertuscht und schön geredet. In den Berichten der Regierung werden nur positive Seiten herausgestellt, das Negative wird verschwiegen. Zur zunehmenden Armut großer Bevölkerungsschichten in der Bundesrepublik gibt es wohl Faktenmeldungen, auf die wirklichen Ursachen wird nicht eingegangen. Als Verletzung der Bürger- und Menschenrechte in der Bundesrepublik werden sie keinesfalls betrachtet. Angeblich gibt es zum zunehmenden Sozialabbau keine Alternative. Die Schere zwischen superreich und arm geht immer weiter auseinander. Das sind für mich tägliche, nicht nur schlimme Ärgernisse, die ich in den öffentlichen Nachrichten lese und höre, sondern grobe Verletzungen von Menschenrechten, solchen, die auch in Verträgen, die von der Bundesrepublik unterschrieben und vom Bundestag ratifiziert wurden, enthalten sind. Es fehlt der Platz, um hier solche und andere Verletzung der Menschenrechte in der Bundesrepublik in dafür notwendiger Ausführlichkeit darzulegen.

Ich möchte meine Behauptung vom Unrechtsstaat Bundesrepublik an nur einem Beispiel behandeln. Es ist meiner Meinung nach bezeichnend und beweiskräftig genug. Gemeint ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli des vergangenen Jahres (Akz.: 1 BVL 9/06 und 1 BVL 2/08) in der das Gesetz über die Aufrechterhaltung der Begrenzung des berücksichtungsfähigen Arbeitseinkommens, wie es bürokratendeutsch bezeichnet wird, im Gesetz vom 21.6.2005 (BGbl. I Nr. 35) formuliert, als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt wird. Direkt wird damit die weitere Anwendung des Rentenstrafrechts für zwei hohe Staatsfunktionäre der DDR nach § 6 Absatz 2 AAÜG bestätigt. Es handelt sich dabei um den langjährigen Minister für Landwirtschaft und später für Umweltschutz der DDR Dr. Hans Reichelt (Mitglied und stellv. Vorsitzender der Bauernpartei) und den Stellvertretenden Minister im Ministerium für Leichtindustrie, zuständig für die polygraphische Industrie, Dr. Hans Lessing. Mit dieser Entscheidung des höchsten Gerichts der Bundesrepublik wird der fast 20-jährige Rechtsstreit innerstaatlich endgültig zum Nachteil der Beschwerdeführer beendet.

Diese Entscheidung muss als Grundsatzentscheidung betrachtet werden und erstreckt sich somit zugleich auf etwa 1200 Renten von hohen Staats- und Parteifunktionären, die Teilnehmer an der Zusatzversorgung für Mitarbeiter des Staats- oder der Parteiapparate waren. Ebenfall betroffen sind etwa 300 Witwenrenten von Ehefrauen dieser Funktionäre. Letztere hatten oft die eigene Berufstätigkeit zu Gunsten der Männer verringert und müssen nunmehr lebenslang mit sehr niedrigen Renten auskommen. Es ist zu befürchten, dass diese Entscheidung des Verfassungsgerichts auch eine Vorentscheidung zu dem, meiner Meinung nach noch offenen Rechtsstreit, für die mit dem Gesetz vom Juni 2005 erstmalig in die Rentenkürzung aufgenommenen Personenkreis, ist (1. und 2. Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen der SED, Mitglieder der so genannten Einsatzleitungen, Richter und Staatsanwälte der 1A Senate).

Die überwiegende Zahl der Betroffenen, befindet sich bereits im hohen Alter, ist gebrechlich und krank. Sie sind nicht mehr in der Lage ihre Lebensverhältnisse selbst langfristig zu verändern. Von einem zumeist hohem Arbeitseinkommen (es entsprach jedoch bei weitem nicht dem Einkommen oder der Pension vergleichbarer Bundesbürger) wurden ihnen, durch die Kürzungen mit dem AAÜG, nur ein Alterseinkommen, das etwa dem eines Rentners mit relativ geringen eigenen Ansprüchen aus dem Arbeitsleben entspricht, belassen. Mittelbar steht die Entscheidung auch im Zusammenhang mit der rechtlich ebenfalls noch offenen Entscheidung zu § 7 AAÜG (Sonderversorgungssystem für Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR). Es ist zu befürchten, dass auch dazu eine, nach über 20 Jahren anhaltendem Rechtsstreit, negative Entscheidung getroffen wird. Das würde bedeuten, dass die Krankenschwester in der Betriebspoliklinik oder die Kindergärtnerin in einem Betriebskindergarten einer Einrichtung der Staatssicherheit, ebenso lebenslang eine willkürlich gekürzte Rente erhalten würde, wie ein General oder hoher Offizier in diesem Ministerium. Auch die Witwe des ehemaligen Ministers, die wohl für ihren Einsatz im Kampf gegen den deutschen Faschismus geehrt wurde, aber jetzt - ohne Nachweis irgendeines persönlichen Vergehens - unter Rentenstrafrecht steht, so wie andere Witwen dieses Personenkreises. In dieser Kategorie sind insgesamt, fast 100.000 Personen erfasst. Sie haben nicht anderes getan, als zuverlässig, mit hohem persönlichen Einsatz die Rechtsordnung ihres Staates zu schützen, eine Tätigkeit wie sie in jedem anderen Staat, einschließlich der Bundesrepublik, ebenfalls erwartet ist. Gegen sie laufen keine ordentlichen Strafverfahren und deshalb ist es Unrecht, sie bis zum Lebensende mit einer willkürlich gekürzten niedrigen Rente zu bestrafen. Als Begründung dienen reine politisch-ideologische Floskeln, die mit der Wertneutralität der gesetzlichen Rentenversicherung nicht das Geringste zu tun haben.

Das Bundesverfassungsgericht betrachtet als Ziel seiner Entscheidung, "die rentenrechtliche Fortwirkung eines Systems der Selbstprivilegierung zu verhindern." Eine rechtsstaatliche Begründung dafür oder eine Darstellung des konkreten Inhalts und der Grenzen dieser angeblichen Selbstprivilegierung unterblieb. Lediglich wird angeführt, dass "die eingenommene Funktion ... entscheidend durch Parteilichkeit und Systemtreue" erlangt worden sei. Die Beschwerdeführer seien Förderer des Systems gewesen, und in Bezug auf den jetzt erfassten Personenkreis sei der Schluss des Gesetzgebers gerechtfertigt, dass "diese Personengruppe bei generalisierender Betrachtungsweise leistungsfremde, politisch begründete und damit überhöhte Arbeitsverdienste bezogen" habe. Der bundesdeutsche Gesetzgeber sei "befugt, gegenüber einer spezifisch eingegrenzten Gruppe, mit Blick auf deren allgemein privilegierte Sonderstellung in der DDR, ohne langwierige Ermittlungen zur Einkommens-, Qualifikations- und Beschäftigungsstruktur, Rentenkürzungen vorzunehmen".

Als ideologischer Kampfbegriff mag die "Selbstprivilegierung" noch gelten, als Norm, in einem Rechtsstaat, der sich den Grundsätzen des traditionellen bürgerlichen Rechts verbunden fühlt, ist er untauglich, mit Bürger- und Menschenrechtsgrundsätzen ist er nicht zu vereinbaren. Als juristisches Kriterium ist er schwammig definiert. Insofern wird er willkürlich benutzt. Für den Begriff "Selbstprivilegierung", konnte ich im BGB, dem SGB VI oder sonstigen Quellen des bürgerlichen Rechts keinerlei Ansatzpunkte finden. Auch für die Verhängung strafrechtsähnlicher Eigentumskürzungen durch eine solche Tätigkeit, findet sich weder im BGB noch in dem seit 1956 bestehenden Gesetz zur gesetzlichen Rentenversicherung irgendeinen Ansatzpunkt. Im Gegenteil, die Gewährung uneingeschränkter Rentenansprüche wurde den hohen Funktionären der Nazipartei und den faschistischen Amtsträgern Deutschlands nach 1945, gerade mit der Begründung der Wertneutralität des Rentenrechts zugebilligt. Das Kriterium "Treue zum System" oder die "Nomenklatur" für die Übernahme von staatlichen Positionen sind selbstverständliche Voraussetzung für Regierungsfunktionen in jedem Staat, auch in der Bundesrepublik. Ist es vorstellbar, dass man hohe staatliche Funktionen bekleiden kann, ohne Treue zu seinem Staat? Warum sollte es in der DDR anders gewesen sein? Auch in der Bundesrepublik werden die Personalentscheidungen über Minister und andere hohe Funktionen vorher in den entsprechenden Parteigremien beraten und dann erst erfolgt die Nominierung. Das ist im Rechtsstaat BRD normal, warum dann bei der DDR zu beanstanden? Es könnte zusätzlich darauf verwiesen werden, dass bis 1989 viele, der jetzt unter Rentenstrafrecht stehenden Staatsfunktionäre der DDR, in der BRD akzeptierte und hochwillkommene Verhandlungspartner waren.

Zur Problematik der "Begrenzung wegen Systemnähe" hatte das Bundesverfassungsgericht 1999 und 2004 bereits Entscheidungen getroffen. Mit ihnen wurden die vom § 6,2 und 6,3 AAÜG (Anspruchs- und Anwartschafts-Überführungsgesetz vom 25.7.1991) betroffenen Staats-, Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre jeweils gruppenweise von der weiteren Begrenzung befreit. Logisch und rechtsstaatlich begründet sprach 2005 alles dafür die restlichen Teilnehmer an den zwei Zusatzversorgungen (Staats- und Parteiapparat) vom Rentenstrafrecht freizusprechen. Nach der Kürzung des berücksichtigten Arbeitseinkommens auf die Beitragsbemessungsgrenze durch die so genannte Systementscheidung urteilte das BVerfG 1999, dass sich "aus der Berufstätigkeit allein keine Überhöhungstatbestände ergeben". Dazu müssten "Kriterien zugrunde gelegt werden, die in den tatsächlichen Verhältnissen eine Entsprechung finden Allein aus der Staats- und Systemnähe ergebe sich nicht, dass fallbeilartige Kürzungen" beibehalten werden können. So also die Meinung des Gerichts 1999 zur "Staatsnähe", die bis dahin ein Grund für Rentenkürzungen war.

2004 hatte sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit den Rentenkürzungen nach § 6 Absatz 2 und 3 AAÜG zu beschäftigen. Auch hier waren Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse von Sozialgerichten Grundlage für eine neue Entscheidung. Die Bundesregierung hatte im Zweiten Gesetz zur Änderung und Ergänzung des AAÜG vom 27.7.2001 (BGbl. I Nr. 40) festgelegt, dass nunmehr die Höhe des Arbeitsentgelts Grundlage der weiteren Begrenzung der Rente sei. Dazu diente eine Tabelle. In der praktischen Anwendung bedeutete es, dass ein Einkommen nach der Gehaltsgruppe E 3 (Hauptabteilungsleiter im Staatsapparat) oder höher, weiter unter Rentenstrafrecht stand. Das Verfassungsgericht urteilte am 23. Juni 2004 (Akz.: 1 BvL 3/98, 1 BvL 9/02 und 1 BvL 2/03), dass die Festlegungen im Gesetz vom 27.6.2001 "mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Der Gesetzgeber ist verpflichtet bis zum 30. Juli 2005 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen". Nachdem 1999 die ausgeübte Funktion als Grundlage der Kürzung verworfen wurde, erklärte nunmehr das Verfassungsgericht die Begrenzung nach einer formalen Gehaltsgruppe für verfassungswidrig. Der Unmut der Richter, sich erneut mit diesen Rentenkürzungen beschäftigen zu müssen, drückte sich auch in der Art und Weise der Verpflichtung aus, bis (spätestens) Ende Juni 2005 ein neues Gesetz zu erlassen. Die Regierung musste dem nachkommen, sonst wäre der gesamte Kürzungsmechanismus ab 1. Juli 2005 automatisch weggefallen. Wirklich in letzter Minute wurde dann das so genannte "Erste Gesetz zur Ergänzung und Veränderung des AAÜG" verabschiedet. Warum es als "Erstes" bezeichnet wurde, wenn es doch in Wirklichkeit das dritte war, bleibt unerklärt. Das Gesetz vom 21. Juni 2005 legte nunmehr die Rentenkürzung wieder nach der Funktion fest und zugleich wurde der betroffene Personenkreis beträchtlich ausgeweitet. Das Gesetz begründete die Kürzung vor allem mit dem angeblichen Weisungsrecht gegenüber Bediensteten der Staatssicherheit und dem juristisch fragwürdigen Begriff der "Selbstprivilegierung".

Die 35. Kammer des Sozialgerichts Berlin und das Landessozialgericht Thüringen, von denen nunmehr die Aussetzung der Verfahren und die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht beschlossen wurden, hatten die im Gesetz vom 21.6.2005 für die weitere Aufrechterhaltung der Begrenzungsregeln genannten Gründe, besonders gründlich und sachbezogen untersucht. Durch die Vernehmung von Zeugen aus den zuständigen Ministerien und staatlichen Ämtern wurde die Behauptung über das "Weisungsrechts" gegenüber Bediensteten der Staatssicherheit als auch die "Selbstprivilegierung" konkret und detailliert untersucht und als nicht zutreffend zurückgewiesen. Die entsprechenden Protokolle lagen dem Verfassungsgericht vor. Was das angebliche Weisungsrecht gegenüber Mitarbeitern der Staatssicherheit betrifft, so gab das Verfassungsgericht mit der Entscheidung vom 6. Juli 2010 nunmehr zu, dies sei ein "ungeeignetes Kriterium" für die Rentenkürzung. Man hätte erwarten können, dass die Verfassungsrichter ein solches Kriterium grundsätzlicher behandeln würden. Denn, selbst wenn es bestanden hätte, wäre es rentenrechtlich nicht relevant, da es der Wertneutralität des Sozialrechts widerspricht. Eine solche klare Aussage fehlt. Dafür findet man an anderer Stelle des Urteils - aber in diesem Zusammenhang - die Feststellung, dass "die Minister der DDR wegen ihrer Systemtreue und politischen Zuverlässigkeit fest in das System der Überwachung und Informationsbeschaffung des MfS eingebunden waren". Das "gelte auch für den Kläger, der zwar gegenüber dem MfS nicht weisungsbefugt war, aber als Minister eng mit diesem zusammen gearbeitet habe". So wird durch die Hintertür die Stasi-Behauptung wieder eingeführt.

Jetzt soll der verschwommene Begriff der "Selbstprivilegierung" die frühere Begründung "überhöhte Gehälter" ersetzen. Die Verfassungsrichter erklären 2010 eine "Erhebung über die Gehaltsstruktur als nicht notwendig". Die im Auftrag des Verfassungsgerichts 1998 von Prof. Kaufmann und Dr. Napierkowski erstellten Gutachten, die bei der Anhörung von den Verfassungsrichtern ausdrücklich gelobt wurden und in denen feststellt wurde, "dass im Staatsapparat der DDR keine überdurchschnittlich hohen Gehälter gezahlt wurden", spielen jetzt keine Rolle mehr. Die Kürzung einer, an die Ausübung der Funktion als Minister oder Stellvertreter des Ministers anknüpfende Entgeltbegrenzung sei geeignet einem "Gemeinwohlzweck" zu dienen, so die Richter 2010. Der bundesdeutsche "Gesetzgeber sei befugt, gegenüber einer spezifisch eingegrenzten Gruppe, mit Blick auf deren allgemein privilegierte Sonderstellung in der DDR, ohne langwierige Ermittlungen zur Einkommens-, Qualifikations- und Beschäftigungsstruktur, Rentenkürzungen vorzunehmen". Je weniger echte Kriterien angeführt werden können, umso mehr sollen jetzt allgemeine Floskeln ausreichen um den politischen Zweck zu erfüllen. Nachvollziehbare Kriterien und echte Begründungen werden als nicht nötig betrachtet. Mir ist kein Beispiel bekannt, dass Ähnliches bei anderen rechtlichen Problemfällen möglich ist. Erinnern wir uns: Die angebliche Selbstprivilegierung wurde von der 35. Kammer des Sozialgerichts Berlin intensiv geprüft. Bei der Zeugenvernehmung erklärte der Vertreter des Arbeitsministeriums, dass ihm keine "Norm des Systems der Selbstprivilegierung" bekannt sei. Er konnte auch keine Beispiele dafür hinsichtlich des Klägers vorbringen. Sowohl das Einkommen, als auch die Möglichkeit in den Gästehäusern des Ministerrats, als seiner zuständigen Arbeitsstelle, den Urlaub zu verbringen, im Regierungskrankenhaus behandelt zu werden und den Dienstleistungsbetrieb des Ministerrats für eine Wohnungsrenovierung in seiner Plattenbauwohnung, natürlich gegen Bezahlung, in Anspruch zu nehmen, ergaben nach Feststellung der Richter keine einer Privilegierung entsprechenden Vergünstigung. Sie seien "keine Selbstprivilegierung im strafrechtlichen Sinn". Im Vorlagebeschluss des Sozialgerichts in Berlin wird die Altersrente von Dr. Reichelt im Jahre 2002, nach 40 Jahre Tätigkeit im Staatsapparat, davon 20 Jahre als Minister, mit 1.128 EURO angegeben.(2) Ich habe dem Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung 2009 entnommen, dass die Durchschnittsaltersrente im Jahr 2002, dem Jahr des letzten Rentenbescheids für den Beschwerdeführer, für Westdeutschland 1.114,44 EURO und für die NBL 1.025,21 EURO betrug. Damit sollen 103 EURO plus zum Durchschnitt Ost, bei "generalisierender Betrachtungsweise" die "Selbstprivilegierung" und der "überhöhter Arbeitsverdienst", sich in seiner sowieso gekürzten Rente niederschlagen? Welch eine Frechheit, Verhöhnung und ein Tatsachenmissbrauch! Und dann noch als eine der Begründungen für die Kürzung, dass sei ja nicht so schlimm, denn es verstoße ja gegen das "Gleichheitsgebot des Grundgesetzes ... nicht intensiv"!

Die von den Richtern im Entscheid vom 6.7.2010 enthaltenen Formulierungen drücken m. E. aus, dass sie - wie die so genannte Systementscheidung von 1999, mit der die Enteignung der Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorgungen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze endgültig festgelegt wurden -, als Grundsatzentscheidung für alle noch bestehenden Rentenkürzungen nach dem AAÜG (also Rentenstrafrecht) ausgedehnt bleiben sollen. Es sei keine Bestrafung, wenn Minister und ihre Stellvertreter bis zum Lebensende (und bei der Hinterbliebenenrente darüber hinaus) auf ein Alterseinkommen wie das eines lebenslang unqualifizierten Arbeiters oder eines Erwerbstätigen mit geringen eigenen Leistungen bis zur Rente, heruntergesetzt werden. Das sei notwendig, damit "ihre Privilegien nicht fortgesetzt" werden. Bei solchen Behauptungen und Begründungen bleibt einem fast die Sprache weg.

Mit dieser Entscheidung, wurden im Vergleich zu den Entscheidungen von 1999 und 2004, neue Grundsätze als rechtskräftig festgeschrieben:

Das "System der Selbstprivilegierung" wurde als neuer Rechtsbegriff vom höchsten Gericht der Bundesrepublik verbindlich festgelegt, ohne eine rechtstaatliche Begründung dafür und zu dessen Inhalt und Grenzen zu geben. Dieser Begriff ist ideologischen und rein politischen Charakters, als Rechtsnorm, in einem Rechtsstaat, der sich den Grundsätzen des traditionellen bürgerlichen Rechts verbunden fühlt, müsste er untauglich sein, mit Bürger- und Menschenrechtsgrundsätzen ist er nicht zu vereinbaren;

Das BVerfG hebt hervor, dass die eingenommene Funktion "entscheidend durch Parteilichkeit und Systemtreue" erlangt wurde. Werden z. B. in der Bundesrepublik Minister, Richter usw. nicht nach Treue zum Staat und ohne Nominierung durch ihre Partei ausgewählt?

Die Feststellungen und Begründungen der Entscheidungen des Verfassungsgerichts von 1999 und 2004 wurden mit dem neuen Urteil in hohem Maße so verändert, dass sie dem Gesetz von 2005 entsprechen. Dies ist ein sehr seltener Fall der Veränderung der eigenen Rechtssprechung des Verfassungsgerichts;

Nach der Kürzung des berücksichtigten Arbeitseinkommens auf die Beitragsbemessungsgrenze werden zusätzliche Begrenzungen vorgenommen. 1999 urteilte das BVerfG, dass sich "aus der Berufstätigkeit allein keine Überhöhungstatbestände ergeben". Aber gerade dies behaupten nun die Richter mit der Begründung der "Selbstprivilegierung". Dieser schwammige Begriff geht weit über eine tatsächliche Privilegierung hinaus, die eine Normüberschreitung berichtigen würde. Insofern greift dieser Begriff in die Substanz des Rechts unverhältnismäßig und in nicht zu akzeptierender Weise ein;

Hinsichtlich seiner rechtlichen Auswirkung ist die Entscheidung von weitreichender Bedeutung. Der Begriff der "Selbstprivilegierung" wird rechtsverbindlich als Kriterium für Rentenkürzungen eingeführt. Dies dürfte auch für die angestrebten neuen Entscheidungen zu den neu in die Kürzungsliste aufgenommenen Personen und die nach §7 AAÜG (Mitarbeiter des MfS/AfNS) gekürzten Renten von Bedeutung sein;

Eine "Erhebung über die Gehaltsstruktur wird nicht als notwendig betrachtet", wohl weil sie keinen solchen Begriff und kein solches Urteil stützen könnte. Die von Prof Kaufmann und Dr. Napierkowski erstellten Gutachten, die 1998 von den Verfassungsrichtern ausdrücklich gelobt wurden und in denen feststellt wurde "dass im Staatsapparat der DDR keine überdurchschnittlich hohen Gehälter gezahlt wurden", spielen keine Rolle mehr;

Für den Begriff "Selbstprivilegierung", gibt es im bürgerlichen Recht keinerlei Maßstäbe und Kriterien. Dieses Kriterium ist politischen und nicht rechtlichen Charakters, es ist inhaltlich nicht definiert, es kann grenzenlos ausgeweitet werden und ist deshalb Willkür und rechtlich unbrauchbar;

Die Kürzung einer an die Ausübung der Funktion als Minister oder Stellvertreter des Ministers anknüpfende Entgeltbegrenzung sei angeblich geeignet, einem "Gemeinwohlzweck" zu dienen. Die Beschwerdeführer seien "Förderer des Systems" gewesen, und in Bezug auf den jetzt erfassten Personenkreis sei der Schluss des Gesetzgebers gerechtfertigt, dass "diese Personengruppe bei generalisierender Betrachtungsweise leistungsfremde, politisch begründete und damit überhöhte Arbeitsverdienste bezogen habe". Der bundesdeutsche "Gesetzgeber sei befugt, gegenüber einer spezifisch eingegrenzten Gruppe, mit Blick auf deren allgemein privilegierte Sonderstellung in der DDR, ohne langwierige Ermittlungen zur Einkommens-, Qualifikations- und Beschäftigungsstruktur, Rentenkürzungen vorzunehmen". Hier wird es überdeutlich, der politische Zweck wird über das Recht erhoben!

Das Bundesverfassungsgericht hat die Aufgabe zu überprüfen, ob Gesetze mit dem Grundgesetz in Übereinstimmung stehen. Das beinhaltet m. E. aber nicht, verfassungsähnliche Grundsätze selbst zu schaffen oder abzusegnen. Das, was jetzt als allgemeingültige Rechtsnorm mit dem Begriff der "Selbstprivilegierung" kodifiziert wurde, steht nicht im Einklang mit den im BGB enthaltenen Rechtsgrundsätzen und verletzt die von der Bundesrepublik durch Unterzeichnung und Ratifizierung auch in der BRD gültigen internationalen Menschenrechtskonventionen und - Verträge;

20 Jahre nach dem Anschluss an die Bundesrepublik werden einer Personengruppe noch immer ihre durch Arbeitsleistung und Beiträge erworbenen Ansprüche auf Altersrente willkürlich aberkannt und auch ihrer Rechte auf aktive Mitwirkung im Staat und Gesellschaft beraubt. Das sind außerordentlich weitgehende Außerkraftsetzungen von Freiheits- und Demokratierechten und eine grobe Verletzung der Menschenrechte in der Bundesrepublik.

Die Stasi-Unterlagen-Behörde und Herr Knabe, der Oberpropagandist der MfS-Haftausstellung in Berlin-Lichtenberg, erhalten weiterhin die Möglichkeit zu empfehlen - fast zu entscheiden -, wer das passive Wahlrecht ausüben und damit in den gewählten Organen bis hinunter zum Stadtbezirke tätig sein darf. Ein Berliner Beispiel aus der letzten Zeit zeigt, dass allein eine Verpflichtungserklärung als zeitweiliger Angehöriger des Wachregiments ausreichte, obwohl nichts im Stasi-Archiv über ihn gefunden wurde, ihn als Abgeordneter aus der Stadtbezirksvertretung zu vertreiben. Im Vergleich dazu: Wer sich schwerer Körperverletzung mit Todesfolge schuldig gemacht hat, dem stehen nach Verbüßung seiner Strafe auch alle bürgerlichen Rechte wieder uneingeschränkt zu. Keiner würde auf den Gedanken kommen, ihm deshalb die Rente zu kürzen. Regierungsmitglieder der DDR und Angehörige des MfS, bis hinunter zur Betriebskindergärtnerin und Krankenschwester im Ministerium für Staatssicherheit, sollen lebenslang durch das Rentenstrafrecht Rentenkürzungen erdulden und als politisch Aussätzige behandelt werden können.

Die sichtbaren Widersprüche zu den Urteilen des Verfassungsgerichts von 1999 und 2004 im Vergleich zur jetzigen, viel negativeren Entscheidung, sehe ich nicht in erster Linie in der neuen Zusammensetzung des 1. Senats. Keiner der Richter aus der Entscheidung von 1999 und nur ein Richter aus dem Urteil von 2004 gehören jetzt noch dem Ersten Senat an. Im Gegensatz zu früher wird auch nicht mehr mitgeteilt mit wie viel Stimmen die Entscheidung angenommen wurde. Da auch beim Bundessozialgericht neuerdings negativere Entscheidungen vermehrt festzustellen sind, schätze ich dies als ein weiteres Beispiel der stärkeren rechts-konservativen Ausrichtung der Bundesrepublik insgesamt ein. Als außerordentlich bedenklich betrachte ich es, wenn ideologische Kampfbegriffe zum Gegenstand des Rechts gemacht werden, Ähnlich begann auch die Entwicklung vor dem Dritten Reich.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2010 betrachte ich als mit den Artikeln 1,3,4 und 14 des Grundgesetzes unvereinbar. Artikel 1, Absatz 1 sichert die Würde als unverletzliches Recht des Menschen zu. Kann es eine gröbere Herabsetzung für die Betroffenen des Gerichtsverfahrens geben, als diesen unverantwortlichen Versuch, ihnen die Ehre, trotz eindeutiger, von niemand bezweifelter Unschuld vor dem Gesetz, zu entziehen. Die Bedeutung eines solchen Vorhabens wird im 2. Absatz des Grundgesetzes richtig wiedergegeben, indem das Bekenntnis dazu als unverletzliches und unveräußerliches Menschenrecht und "als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" erklärt. Bürger, die ihr gesamtes Leben vorbildlich, mit all ihrer Kraft und Erfahrung für das Wohl der Menschen, für Frieden, Fortschritt und Gerechtigkeit eingesetzt haben, einem solchen Ehrverlust aussetzen zu wollen, das ist eine nicht akzeptable Ungerechtigkeit. Artikel 3 sichert die Gleichheit vor dem Gesetz zu. Darunter versteht das Grundgesetz auch das Verbot, wegen politischer Anschauungen benachteiligt zu werden. Ist nicht gerade die politische Haltung wichtigster Grund für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?

Nach Artikel 14 wird die Unverletzlichkeit des Eigentums zugesichert. 1999 hat das Bundesverfassungsgericht erneut Rentenansprüche als Eigentumsrecht bekräftigt. Nunmehr sollen den betroffenen Bürgern lebenslang ihre durch Arbeit, Leistung und Beiträge rechtmäßig erworbenen Ansprüche auf Alterversorgung entzogen werden. Das Gesetz vom 21.6.2005 und die Entscheidung des Verfassungsgerichts von 6. Juli 2010 stellen einen willkürlichen Eingriff in das Eigentumsrecht dar, betrachten politische Überzeugungen als Straftat und verschieben das Gleichgewicht zwischen angewandten Mittel und verfolgten Zweck. Diese Diskriminierung darf keinen Bestand haben! Selbst im Strafrecht gibt es feste Grenzen für das Strafmaß. Das was den Betroffenen entzogen wird, geht weit über die Normen des Strafgesetzbuches hinaus. Mit dem AAÜG und dem Urteil des Verfassungsgerichts werden weit über jedes andere Gesetz hinaus, persönliche Eigentumsenteignungen vorgenommen. Darf in der Bundesrepublik eine solche Menschenrechtsverletzung Bestand haben?

Auch in den von der Bundesrepublik unterzeichneten Menschenrechts-Konventionen und -Verträgen gibt es Ansatzpunkte, mit denen das Unrecht dieser Entscheidung nachgewiesen werden kann. Dazu mache ich in einem Artikel in der nächsten Ausgabe des ICARUS weitere Ausführungen.


Anmerkungen;

1) Prof. Dr. Horst Sendler (1925-2006), Freie Universität Berlin, von 1980-1991 Präsident des Bundesverwaltungsgerichts

2) Die Angaben wurden den öffentlich zugänglichen Prozessakten entnommen, stellen deshalb keine Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Dr. Reichelt dar.

Raute

Fakten und Meinungen

Klaus Georg Przyklenk

Klassenbild mit Dame

- eine Bildbetrachtung (*)

Ja, wo denn? Wo sind denn Dame und Klasse? Verständliche Fragen, aber wie Sie vielleicht selbst schon ahnen, es sind falsche Fragen, die einem abstrakten Bild so nicht gestellt werden können und sollen. Einfacher ist es da schon, zu erörtern, warum in unserer Zeit der Künstler seinen Namen nicht preis gibt. Ein Anonymus ist ein Anachronismus. Von Andy Warhol ist überliefert, dass er jedem Individuum eine Berühmtheitsspanne von mindestens 15 Minuten einräumte. Da berührt es eigentümlich, dass dieses Bild uns nur als Werkstattarbeit aus dem Atelier Ursula von der Leyens vor die Augen kommt. Hier verzichtet einer auf den ihm zustehenden Anteil an öffentlicher Wertschätzung, auf Marktwert schlechthin, der doch den Künstler der Neuzeit als Genie überhaupt erst definiert.

Diese Frage ist der Schlüssel zum Werk. Keinesfalls kann ein naiver Schöpfer des Bildes die Antwort sein, einer, der um den Kunstwert seiner Arbeit gar nicht weiß. Geradezu erdrückend beweisen einzelne Gestaltungsbesonderheiten den Profi. Die gerundeten, amöbenartigen Flecke - rhythmisch um ein wohlstrukturiertes Zentrum kreisend verbergen ja gar nicht, dass es nur der große Hans Arp sein kann, in dessen Tradition sich unser Anonymus versteht. Die Welt ist ihm ein Kosmos. In seinem Bild fasst er die Menschheit. Menschengruppen erfahren wir als Einzellerformen, die sich zum Kugelzellhaufen finden. Das digitale Gestaltungsverfahren erlaubt ihm, präzise verbale Aussagen, und so wissen wir, dass es sich bei jedem Fleck um ein Milieu handelt. Für einen Künstler ungewöhnlich, aber gerade deswegen von überzeugender Innovationskraft, sind die Bezüge zur Sprache der Wissenschaft, wie sie in der Bezeichnung "Sinus B3" oder in den Prozentzahlen in einzelnen Fließformen aufscheinen.Wie in einigen alten Heiligenbildern, besonders aber in der byzantinischen oder in der orthodoxen Ikonenmalerei, sind die Felder, und zwar ausnahmslos alle, mit Akribie beschriftet. Diese Namen erfunden zu haben, macht die unverwechselbare Originalität des Künstlers aus. Hier erreicht er die Qualität eines Paul Klee, der eine Figur mal "Senecio - das Greislein" nannte. Erfindungen, wie "Konsummaterialisten", "Traditionsverwurzelte", "Moderne Performer" oder "Bürgerliche Mitte" stellen sich selbstbewusst in die Reihe surrealistischer Bilderfindungen wie z.B. "Die Sphinxe von Bikini", wie Salvador Dali die Wasserstoffbombenexplosionen in der Südsee genannt hatte.

Wie denn auch jede große Kunst politisches Denken immer bis ins Meditieren auszuweiten vermag, ist auch "Klassenbild mit Dame" nicht plattes Abbild einer irgendwie gearteten Klassengesellschaft. Es lässt uns tiefer schauen, lässt uns darüber nachsinnen, ob wir uns selbst unter "Sinus B12-Postmaterielle" wiederentdecken, oder gar unter "5% Sinus AB2 DDR-Nostalgalgische"?

Es ist gewiss erlaubtes Assoziieren, unter den "5% Sinus AB2" die Dame erkennen zu wollen, auf die der Titel so bedeutungsvoll Bezug nimmt. Aber ob damit wirklich eine Pfarrerstochter gemeint ist, oder doch nur eine Katechetin? Schließlich könnte auch eine Polnisch-Dolmetscherin aus Halle Namensgeberin des Bildes gewesen sein? So ist große Kunst eben, unergründlich wie das Lächeln der "Mona Lisa".

Und Klassenbild? Da müssen wir dem Künstler einfach folgen. Mit einem Augenzwinkern hat er das Wort gebraucht und hat uns dann zu Mitwissern seiner Wahrheit gemacht, dass es natürlich gar keine Klassen gibt. Aber es gibt Milieus und Sinus A12 und in den begleitenden Kommentaren spricht er auch von drei Schichten: von der unteren Mittelschicht, der mittleren Mittelschicht und von der oberen Mittelschicht, die er durch die beiden weißen Waagerechten im Bild schon ein wenig angedeutet hat.

Bleibt immer noch die Frage, warum der Meister uns seinen Namen nicht nennt. Er bleibt ein unbekannter Schöpfer aus dem Bundesfamilienministerium. Nachdem sich aber sein Werk uns in schönster Weise offenbart hat, ist es vielleicht ein Zeichen unserer Selbstbescheidung ihm auch ohne diese Antwort Dank zu sagen für Anregung und Kunsterlebnis der tieferen Art.

Er hätte uns ja auch das fotografierte Abbild eines Stücks Pücklertorte vorführen können mit ihrer primitiven Anordnung und Schichtung vom Tortenboden bis zur Cremeschicht und hätte uns weismachen können, das wäre ein Klassenbild. Er dagegen verstand es, das ruhig kreisend belebte Bild eines harmonischen Kosmos' auf die Fläche zu bannen. Eine harmonische Weltordnung, in der für uns alle Platz ist, sogar für Etablierte und für spaßorientierte Hedonisten. Für die einen weiter in der Mitte, für die anderen mehr in Randnähe.


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Bildunterschriften der nicht in den Schattenblick übernommenen Abbildungen:

- Klassenbild mit Dame, 2007 digitales Bild, Papierausdruck, Werkstattarbeit aus dem Atelier Ursula von der Leyen

Die Abbildung ist im Internet zu finden unter:
http://www.sinus-institut.de/uploads/tx_mpdownloadcenter/Milieulandschaft_2007.pdf

- Hans Arp, Relief 1932

Raute

Fakten und Meinungen

Lorenz Knorr

"Vertriebene" Frau Steinbach

Fortsetzung des Beitrags "Vertriebene" Umsiedler

Ein spezielles Objekt des Bundes der Vertriebenen und ein besonderes Anliegen von Frau Steinbach ist das geplante "Zentrum gegen Vertreibungen". Zunächst im Singular vorbereitet, sollte es den Zeitgenossen drastisch vor Augen führen, was die Aus- und Umsiedlungen, in ihrer Sprache "Vertreibungen", an Leid mit sich brachten. Nach ersten Einwänden ging man zum Plural über und versuchte, andere Umsiedlungen in Europa in eine Reihe zu stellen mit denen der Deutschen nach 1945, ohne die jeweiligen grundverschiedenen Ursachen solcher Aktionen zu thematisieren. Es wurde und wird z. B. verdunkelt, dass die deutschen Hitleranhänger in der einstigen CSR höchst aggressiv gegen tschechische und deutsche Antifaschisten vorgingen und dass sie für die kriegsvorbereitende Amputation der CSR 1938 in hohem Maße mitverantwortlich waren: ihre vorgegebenen und eingelernten Parolen "Wir wollen heim ins Reich!", "Führer mach uns frei von der Tschechoslowakei" und "Mit den Tschechen können wir nicht mehr leben" lieferten Hitler die Begründungen gegenüber den Westmächten, das so genannte "Sudetenland" zu befreien.

"Die panische Angst vor der vorrückenden Roten Armee" sowie die oft tragischen Schicksale von Umsiedlern und Flüchtlingen wolle man mit dieser Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit präsentieren.

Ein Test für das geplante Zentrum war eine vorgezogene Ausstellung des BdV "Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des XX. Jahrhunderts". Zunächst konfrontierte man den Besucher mit anderen Umsiedlungen, deren Opfer allerdings nicht - wie z. B. bei den deutschen Hitleranhängern in der CSR - erhebliche Schuld auf sich geladen hatten bzw. an Verbrechen mitbeteiligt waren.

Die "Vertreibung der Deutschen" beginnt damit, dass "die Rote Armee ­... 1944 panischen Schrecken verbreitete". Verschwiegen wird, dass vorher ein barbarischer Vernichtungskrieg gegen die Völker der UdSSR stattfand. Ausgeklammert sind z. B. die Befehle der Marschälle Manstein und Reichenau, wonach "das jüdisch-bolschewistische System ein für alle mal ausgerottet" werden muss. Es handelte sich ja um "minderwertige Rassen". 30 Millionen Menschen wollte man im Sinne von Hitlers "Technik der Entvölkerung" ausrotten, was beim IMT 1945/46 in Nürnberg mehrfach belegt wurde.Angeblich, so der Text in der Ausstellung des BdV, hätten mit Kriegsbeginn die Planungen für Umsiedlungen begonnen. Dabei bleibt ausgeklammert, dass es ohne die faschistischen Raub- und Vernichtungskriege und die singularen Gewaltverbrechen keine Aussiedlungen gegeben hätte. In der Ausstellung heißt es dagegen: "Die Umsetzung der Idee eines ethnisch homogenen Nationalstaates ist die Ursache der Vertreibung." Weil es angeblich überall Nationalismus gab, bleibt der deutsche Nationalismus eingebettet in allgemeinen Nationalismus, also keine Besonderheit. Auch in diesem Falle wird verschwiegen, dass es im deutschen Fall nicht nur Nationalismus, sondern zugleich Rassismus und ein Höchstmaß an Intoleranz und Massenmord an Juden und Antifaschisten gab.

Für die "Westverschiebung Polens bis an die Oder-Neiße-Grenze" sowie für alle Umsiedlungen seien Stalin und die UdSSR verantwortlich. Kein Wort davon, dass dies die Beschlüsse der Anti-Hitler-Koalition waren. Es fehlt auch der wesentliche Hinweis, dass die "Curzon-Linie", also die Fixierung jener Grenze zwischen Polen und der UdSSR durch eine internationale Kommission 1923 nach 1945 die vertraglich vereinbarte Grenze wurde und blieb. Der Ausgleich für Polen war und ist die Oder-Neiße-Grenze.

Soweit es die CSR betrifft, machte man in ihr angeblich die Deutschen "kollektiv" für die Verbrechen Hitler-Deutschlands verantwortlich. Wieder falsch. Ca. 20 Prozent der Deutschen in der CSR, die Antifaschisten, erhielten 1945 die Staatsbürgerschaft mit allen Rechten und Pflichten. Die Instrumentalisierung der "Sudetendeutschen" im "Plan Grün" des deutschen Generalstabs, des Plans zum Überfall auf die CSR, blieb verschwiegen. Auch die Verbrechen der "Sudetendeutschen Freikorps", die von deutschem Boden aus Antifaschisten im Grenzgebiet überfielen und ermordeten, sind in der Ausstellung eine Leerstelle. Kein Hinweis darauf, dass sich deutsche Hitleranhänger in der CSR als "Herrenmenschen" verstanden, die von einem angeblich "minderwertigen Volk" nicht regiert werden wollten.

Die Benes'-Dekrete hätten die "Entrechtung und Enteignung der Deutschen" bewirkt. Ausgeklammert bleibt in diesem Zusammenhang, dass etwa 80 Prozent der Deutschen "heim ins Reich" wollten und verkündet hatten "mit den Tschechen können wir nicht mehr zusammen leben". Die Konsequenz 1945: 80 Prozent der Deutschen in der neuen CSR erhielten die Staatsbürgerschaft nicht mehr. Nach dem Münchener Abkommen jubelten sie bekanntlich, weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten.

Die Enteignung deutschen Besitzes in der neuen CSR betraf vorwiegend Fabriken und Villen! Gewiss, der eine oder andere besaß ein kleines Häuschen. Damit aber war der Schaden, den die Tschechen nach 1938 erlitten, keineswegs ausgeglichen. Der Terminus "Aussiedlung" oder "Vertreibung" ist in keinem Dekret von Benes' zu finden. Man erklärt Benes' verantwortlich für das, was die Potsdamer Mächte verantworten. Man greift aber nicht die Anti-Hitler-Koalition an, sondern konzentriert alle politische Attacken auf Benes'.

Vieles, was in der Ausstellung dargestellt ist, wurde von Lemberg, einem Nationalismusforscher, der in Hitlerdeutschland eine beachtliche Karriere absolvierte, verfasst. Es ist psychologischer Krieg, was diese Ausstellung präsentiert. Die Schüler ihres Meisters Goebbels werden sich freuen.

Weil diese Ausstellung den Test für das geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" darstellt, weiß man in etwa, was von diesem Zentrum zu erwarten ist - wenn die Gegenkräfte nicht wirksam werden und diesen Akt der Geschichtsfälschung verhindern.

Eine rot-grüne Bundesregierung zog zwar die Kompetenz für dieses geplante Zentrum an sich, nahm es also aus der Verantwortung des BdV und der Frau Steinbach, weil es aber fast dieselben Gestalter des geplanten Zentrums blieben, die auch das staatlich verantwortete ausgestalten sollen, wird man keine tiefgreifenden Richtigstellungen erwarten dürfen. Noch ist offen, wie sich die Merkel-Regierung zum Inhalt der geplanten Dauerausstellung verhalten wird.


Frau Steinbach - nur eine Personalie?

Vor kurzem erschien das Buch von Frau Steinbach "Die Macht der Erinnerung". Nach gründlicher Lektüre neige ich dazu das Werk "Die Folgen ständiger Selbsttäuschung" zu betiteln. Charakterisiert wird es durch vielfaches Verwechseln von Ursache und Wirkung. Wenn sie z. B. die "Reaktionen" der deutschen Wehrmacht auf "die grausame Gewalt von Titos Partisanen" als zu schwach beschreibt, klammert sie aus, dass vorher ein deutschfaschistischer "Vernichtungskrieg" gegen Jugoslawien stattfand. Dieser Vielvölkerstaat verzeichnete als Folge von Krieg und Okkupation prozentual die höchste Quote an massakrierten Menschen, gemessen an der Bevölkerungszahl. Nicht erwähnenswert für die Autorin! Sie beklagt 15 Millionen "Vertreibungsopfer". Diese Zahl ist nicht bestätigt, sondern über den Daumen gepeilt. Dabei verschweigt sie, dass belegt 15 Millionen Russen vertrieben wurden, wozu noch einige Millionen vertriebener Polen zu bedenken sind.

Immer wieder taucht der Begriff "Vertreibungsverbrechen" auf. Damit klassifiziert sie die Unterzeichner des Potsdamer Abkommens indirekt als "Verbrecher". Das von den deutschen Faschisten in Polen angerichtete "Schlachthaus", so Frau Steinbach, setzt sie gleich mit der Politik Benes' nach 1945. Ist dieser Frau bewusst, welche Vergleiche sie anstellt? Vertreibungen seien ein vor dem Krieg geplantes "Großverbrechen", schreibt sie. Unerwähnt lässt sie, dass erst die Singularität der NS-Verbrechen und die Teilnahme vieler Ausgesiedelter an ihnen zu diesem Transfer führte. Frau Steinbachs Absage an jede Schlussstrichpolitik bedeutet expressis verbis das Wachhalten der Erinnerung an die "Vertreibungsverbrechen". Den "Tag der Befreiung" am 8. Mai 1945 relativiert sie in mehrfacher Hinsicht. Wiederholt betont sie "das Recht auf Heimat" und "das Rückkehrrecht". Den Terminus "Revanchismus" betrachtet sie als "kommunistische Desinformation". In einem abgedruckten Brief beschreibt sie die Wehrmachtsausstellung als "klassische Verhetzung". Die Aussiedlung sei Teil der "deutschen Identität", also ein Problem aller Deutschen. Es sei Sache der europäischen Völker, dass das "Recht auf Heimat" für alle Umgesiedelten realisiert werde. Sie beklagt, dass die "Propaganda der DDR" den BdV als "Sammelbecken für Revanchisten und Nationalsozialisten" kritisierte und verschweigt, dass hohe NS-Funktionäre zu den Gründungsvätern des BdV gehörten, dass viele NS-Amtswalter im BdV tätig waren und auf das Bewusstsein - nicht nur der BdV-Mitglieder Einfluss erreichten.

Frau Steinbach nutzte schon öfter die Gelegenheit, ihre Geschichtskenntnisse zu beweisen. So z. B., als sie die Umsiedlungen gleichsetzte mit den Vernichtungslagern Auschwitz, Treblinka, Maidanek und Sobibor! Den geplanten und realisierten Massenmord der Hitler-Anhänger stellt sie auf dieselbe Stufe wie die aus Gründen des Weltfriedens erfolgte Zusammenfassung der Deutschen in einem Staat. Frau Steinbach erklärte: "Im Grunde genommen ergänzen sich die Themen Juden um Vertriebene ... dieser entmenschte Rassenwahn hier wie dort." Sie stellte damit die Unterzeichner des Potsdamer Abkommens wegen des Artikels XIII auf dieselbe Stufe wie Hitler. Ist das die Qualifikation für die Präsidentschaft im BdV?

Von Frau Steinbach wird nicht thematisiert, dass die von ihr in Schutz genommenen deutschen Hitler- und Henleinanhänger in der CSR vom Sommer 1938 bis zum Münchener Abkommen am 29.9. des gleichen Jahres 108 deutsche und tschechische Antifaschisten erschossen und mehr als 2000 über die Grenze verschleppten,von denen sich nur etwa die Hälfte 1945 zurück meldeten. Etwa 1000 kamen ums Leben. Kein Verbrechen? Nicht erwähnenswert?

Hier soll keine Aufrechnung erfolgen. Die von Frau Steinbach verschwiegenen Fakten bedürfen der Benennung. Frau Steinbach klammert aus, dass Hitler-Deutschland die einst deutsch besiedelten Gebiete der CSR nicht ohne aktive Mithilfe der Henlein-Partei bzw. deren Mitglieder hätte okkupieren können. Die faschistischen Deutschen in der CSR halfen tatkräftig mit, eine funktionierende bürgerlich-parlamentarische Demokratie zu Gunsten des faschistischen Deutschen Reiches zu zerschlagen.

Viele antikommunistische Passagen charakterisieren das Buch von Frau Steinbach.

Die Ostpolitik von Bundeskanzler Brandt brachte entschiedene Gegnerschaft des BdV, so auch die der Frau Steinbach. Sie löste "Turbulenzen" aus, die sich verschärften mit Brandts Reise nach Warschau und der Unterzeichnung der Ostverträge. Sätze wie "Brandt an die Wand!" oder "Verzichtpolitiker" seien zu hören gewesen. "Verrat" war dies damals, weil man gesicherte Ansprüche aufgab ohne Gegenleistung. "Emotionen auf beiden Seiten überlagerten die Ratio", so Frau Steinbach. Begeisterung bei den einen, weil die Atomkriegsgefahr reduziert wurde (in der DDR sprach man allerdings von "Konterrevolution auf Filzlatschen"), Bestürzung und Hass beim BdV und anderen, weil indirekt bestehende Grenzen anerkannt wurden als Voraussetzung für entspannte Beziehungen von Staaten.

Frau Steinbach erwähnt häufig den BdV, nicht aber seine beiden Gründungsväter. Der eine war L. Kather, dessen NS-Karriere bereits erwähnt wurde (ICARUS 1/2011), der andere war General Graf Manteuffel-Szöge, der am 24.3.1968 während der Debatte über die atomare Aufrüstung der BRD von "Ausrotten" sprach. Auf eine Rückfrage eines MdB, ob er von "Ausrotten" sprach, bekräftigte er, dass "das Böse ausgerottet" werden muss. Gemeint war die damalige UdSSR. Ob Frau Steinbach von diesen Vertretern des BdV nicht wissen will oder ob sie sie nicht erwähnenswert findet?

Es ist aufschlussreich, dass Frau Steinbach lobend zur "Charta der Vertriebenen" vom 5.8.1950 erklärt: "Hätten sich die Heimatvertriebenen an diesem Tag für einen anderen Weg entschieden, für einen Weg der Gewalt, so sähe Deutschland heute anders aus!" Da fragt man, welcher Art die Gewalt gewesen sein könnte, von der Frau Steinbach spricht. Über Panzer verfügte der BdV nicht. Genug Einfluss auf die Politik, die Gewalt, also Krieg, anwendet, hatte der BdV nicht, selbst wenn er oft als pressure group wirkte. Welche Vorstellungen vom Zusammenleben der Menschen und Völker im Atomzeitalter mag Frau Steinbach hegen?

Die skandalöse Hetze des Herrn Sarrazin gegen alles, was nicht "deutsch" ist, lässt sich zwar inhaltlich nicht mit Frau Steinbach Tiraden gegen Umsiedlungen Deutscher nach 1945, von der Präsidentin des BdV immer mit "Vertreibungen" umschrieben, vergleichen. Aber beide, Frau Steinbach ebenso wie Herr Sarazin, fördern Hass und politischen Irrationalismus. Gegen beide ist das Licht der Aufklärung höchst hilfreich.

Das Problem Steinbach ist nicht nur ein politisches und rationales, es ist zugleich ein psychologisches. Wo Frustration überkompensiert wird, kann Geltungssucht und Aggressivität die Folge sein. Manches am Verhalten von Frau Steinbach ist rational nicht zu verstehen. Man sehe mir diesen Ausflug in die Psychologie nach.


Der BdV als Instrument imperialistischer Politik

Abschließend bleibt zu klären, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sich Landsmannschaften und BdV zu entwickeln vermochten.

In einem Staat, der von Anfang an Anspruch erhob auf Territorien weit über sein eigenes Gebiet hinaus, wirkten revanchistische Verbände nicht als Fremdkörper. Sie waren und blieben Teil jener gesellschaftlichen Basis, die dem Expansionsplaner Adenauer und den mit ihm liierten Wirtschaftskräften folgte. Wenn Bundeskanzler Adenauer wiederholt östliche Ländereien, die einst zu Deutschland gehörten, einforderte, so stimmten die Landsmannschaften und der BdV mit ihm völlig überein. Jedoch beschimpfte die Sudetendeutsche Landsmannschaft Bundeskanzler Erhardt als Verräter, als er die Grenzen von 1937 forderte und die einst deutsch besiedelten Gebiete der CSR unerwähnt ließ.

Mehrfach hatte Adenauer die "Befreiung" der Deutschen in der DDR gefordert und sich geweigert, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Dies war ganz im Sinne des BdV. Der spätere Bundespräsident G. Heinemann warf am 19.11.1953 Adenauer vor, "die machtmäßige Überwindung des Bolschewismus mit Kanonen und Bomben als christlichen Auftrag einzukleiden." Ähnlich wie Adenauer forderte das auch im Bundestag während der Debatte über die atomare Ausrüstung der BRD General Graf Manteuffel-Szöge.

Erneut war es G. Heinemann, der am 5.9.1965 Adenauer vorwarf, er wolle die BRD als "westliche Speerspitze" gegen die Ostblockstaaten aufrüsten. Diese höchst riskante Politik der CDU-geführten Bundesregierungen deckte sich mit der der USA-Führung. Ex-USA-Außenminister J.F. Dulles schrieb 1950 in seinem Buch "Krieg oder Frieden": "Ein wiederbelebtes Deutschland kann ein großer Trumpf in den Händen des Westens sein. Indem es Ost-Deutschland in den Machtbereich des Westens zieht, kann es eine vorgeschobene Position in Mitteleuropa gewinnen, welche die sowjetischen militärischen und politischen Positionen in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn und in anderen angrenzenden Ländern unterminiert."

Die Landsmannschaften und der BdV wirkten also auch als Instrument des US- und des deutschen Imperialismus, wenn sie mit ihrem "Recht auf Heimat" ehemals deutsche Gebiete zurückforderten. Landsmannschaften und BdV dienen dem Imperialismus als Basisakteure, um zusätzliche Absatzgebiete, Rohstoffe und Kapitalanlagemöglichkeiten zu erhalten. Damit dürfte die Frage nach ihrer Funktion beantwortet sein.

Zu ergänzen ist, dass Repräsentanten des BdV und der SL mit großen Geldscheinen in den einst deutschen Gebieten der CSR - und nicht nur dort nach Personen suchen, die als Tschechen BdV-Parolen nachplappern. Man greift also nicht mehr primär politisch an, sondern versucht mit Geld aus den Kassen der BRD die expansiven Ziele zu erreichen.

Insofern fördert man den BdV und die Landsmannschaften mit Kapital fürs Kapital.

Gründer und Führungspersonal des BdV gehören nicht zu den politischen Erben der europäischen Aufklärung. Sie waren und sind ihre Gegner.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Erika Steinbach - als Kind "vertrieben" aus einer Heimat, die ihr Vater gerade erst okkupiert hatte
- Umsiedler. In der sowjetischen Besatzungszone gehörten sie 1946 zu denen, die "Junkerland in Bauernhand" erhielten. Rudolf Nehmer "Beim Pflügen" (aus dem Zyklus: Bauern), 1946. Holzschnitt

Raute

Fakten und Meinungen

Ulrich Schneider

Geschichtspolitik in internationaler Dimension

eine Herausforderung auch für die Friedensbewegung

Der Text wurde als Vortrag für den 16. Kasseler Friedensratschlag im Dezember 2009 konzipiert und nach der Diskussion im Forum um einige Passagen ergänzt. Zur Veröffentlichung im ICARUS sind einige neuere Entwicklungen hinzugefügt worden.


1. Geschichtsrevision heute

Ein zentrales Feld der ideologischen Auseinandersetzung auch in der Friedensfrage ist die Geschichtspolitik. Diese Aussage ist sofort nachzuvollziehen, wenn man daran denkt, dass die propagandistische Legitimation von Kriegszielen oftmals mit Verweis auf historische Rechte oder "angestammte Siedlungsgebiete" verbunden ist. Geschichtliche Veränderungen werden in diesem Rahmen in der Regel nicht als Fakten zur Kenntnis genommen, vielmehr werden daraus Ansprüche auf Revision abgeleitet.

Eine zweite Dimension der Geschichtspolitik in friedenspolitischer Hinsicht ist die Umwertung bzw. Neubewertung jener historischer Ereignisse und Erfahrungen, die Formen aggressiver Kriegspolitik entgegenstehen könnten. In diesem Zusammenhang sei nur an die perfide "Auschwitz-Lüge" des damaligen grünen Außenministers Fischer erinnert, der von der Verhinderung eines neuen Auschwitz und von Konzentrationslagern im Kosovo gesprochen hat, als er den ersten Angriffskrieg der Bundeswehr seit ihrer Gründung gegen das damalige Jugoslawien legitimieren wollte.

An diesem Beispiel wird bereits sichtbar, dass die Instrumentalisierung von Geschichte nicht allein mit Geschichtsrevisionismus neofaschistischer Spielart zu tun hat, sondern durchaus Bestandteil des etablierten Geschichtsdiskurses sein kann. Und mit diesem soll sich der nachfolgende Beitrag genauer auseinandersetzen.

Natürlich soll nicht vergessen werden, dass offene Auschwitzleugnung bis heute in den neofaschistischen Strukturen anzutreffen ist. Zwar gibt es mittlerweile in zahlreichen Ländern Europas Gesetze, die Auschwitz-Leugnung als Straftatbestand behandeln und Organisationen, Personen und Ideologiezirkel, die solche Thesen vertreten, der Strafverfolgung unterwerfen. Dennoch finden solche Thesen über internationale elektronische Medien und durch extrem rechte Netzwerke weiterhin Verbreitung. Aus der etablierten deutschen Wissenschaft hat sich jedoch nur Prof. Ernst Nolte offen auf die Seite von Geschichtsrevisionisten gestellt, als er deren "Zweifel" an Auschwitz und den Opferzahlen als wissenschaftlich legitim anerkannt hatte.

Rechtskonservative Kreise in Deutschland gehen geschichtspolitisch einen anderen Weg, wobei sie durchaus ideologische Schnittmengen mit neofaschistischer Geschichtsrevision aufweisen. Augenfällig ist die Übereinstimmung im Zusammenhang mit dem "deutschen Opfermythos", der bezogen auf die Ergebnisse des Luftkriegs im Zweiten Weltkrieg konstruiert wurde. Vorreiter dieser Thesen im etablierten Spektrum war Jörg Friedrich mit dem Buch "Der Brand", in welchem in apologetischer Weise die Voraussetzungen der Bombardierungen deutscher Städte im Zuge des Krieges behandelt wurden, um anschließend das maßlose Leid der Bevölkerung und die Zerstörungen der deutschen Städte in den Mittelpunkt der Darstellung rücken zu können. Ohne das Leid der Bombenopfer und ihrer Angehörigen relativieren zu wollen, so kann und darf nicht übersehen werden, dass die faschistische Kriegspolitik, die von der deutschen Bevölkerung bis zum letzten Tag unterstützt, zumindest jedoch widerspruchslos hingenommen wurde, die Voraussetzung für diese Bombardierungen war. Neofaschistische Gruppen knüpfen seit einigen Jahren an dieses ideologische Konstrukt an und organisieren "Trauermärsche". Der bekannteste davon ist der internationale Naziaufmarsch zum 13. Februar in Dresden, bei dem in den vergangenen Jahren mehrere Tausend Nazis unterschiedlicher Organisationen sich unter dieser geschichtsverfälschenden Losung vereinigten. Die erfolgreiche antifaschistische Verhinderung dieses Aufmarsches im Jahr 2010 war zwar ein wichtiges Zeichen gegen neofaschistische Aktivitäten, ändert jedoch nichts an der ideologischen Wirksamkeit solcher geschichtspolitischen Konstrukte.

Eine andere Form der "Entsorgung von Geschichte" findet sich im politischen Konzept der "Versöhnung über den Gräbern", das auch von der gegenwärtigen Bundesregierung praktiziert wird. Hatte die Peinlichkeit des Händedrucks von Ronald Reagan und Helmuth Kohl über den Gräbern der 55 in Bitburg noch heftige Proteste ausgelöst, so können insbesondere die Präsenz der Bundeswehr anlässlich der Feierlichkeiten zum D-Day am 6. Juni in Frankreich oder die Teilnahme der Bundeskanzlerin Merkel am diesjährigen 11. November Gedenken in Frankreich (Sieg über Deutschland im Ersten Weltkrieg) als Zeichen der erfolgreichen Durchsetzung dieses geschichtspolitischen Kurs gewertet werden, der unter dem Schlagwort der "Versöhnung" die Ursachen von Kriegen, deren Opfer und deren Profiteure aus dem Blick nimmt.

Auch wenn es mit ähnlichen Wörtern agiert, so hat doch das "Versöhnungs"-Konzept des geplanten Zentrums gegen Vertreibung in Berlin eine ganz andere Konnotation. Hier geht es nicht um gleichberechtigtes Verdrängen von Kriegserfahrungen, sondern um die ideologische Rehabilitierung der faschistischen Expansionspolitik und die Aufrechterhaltung der territorialen und politischen Ansprüche der "Vertriebenenverbände". Selbst Konflikt um die Personalie Erika Steinbach hat dabei wenig mit der Person der CDU-Bundestagsabgeordneten zu tun, es ist vielmehr ein Ringen des Bundes der Vertriebenen um ihren Anspruch auf die Geschichtspolitik der Bundesregierung.

Die auffälligste Veränderung findet man in der Reaktivierung der Ideologie des Kalten Krieges, der Totalitarismus-Doktrin für geschichtspolitische Zwecke. In einer neudeutschen Formulierung könnte man auch davon sprechen "Antikommunismus reloaded", ist doch das Konzept der Gleichsetzung von faschistischer Herrschaft und sozialistischen Versuchen insbesondere in den Ländern Osteuropas in seiner Konsequenz nichts anderes als eine Verharmlosung der faschistischen Verbrechen und ein Verfälschung der geschichtlichen Perspektive auf die Rahmenbedingungen derjenigen Staaten, die einen sozialistischen Entwicklungsweg gegangen sind.


2. Die Veränderung der Geschichtsperspektive

Diese neue Geschichtssicht entwickelte sich im Gefolge des Zusammenbruchs der sozialistischen Staaten und - in Deutschland - mit dem Anschluss der DDR an die BRD.

Die zentrale geschichtspolitische Vorgabe dieses Prozesses aus bundesdeutscher Perspektive war die Abwicklung des DDR-Antifaschismus und aller damit verbundenen Aspekte des gesellschaftlichen Geschichtsbildes mit dem Ziel der ideologischen Delegitimierung der DDR.

Es ist hier weder Platz noch Notwendigkeit, diesen geschichtspolitischen Kahlschlag detailliert nachzuzeichnen. Zu nennen wären die Entfernung von Erinnerungsorten aus dem öffentlichen Raum, die Eliminierung von Namen antifaschistischer Widerstandskämpfer von Straßenschildern und öffentlichen Gebäuden sowie die Umstrukturierung von musealen Einrichtungen. Besonders deutlich wurde diese Veränderung des Geschichtsbildes im Umgang mit den Gedenkorten an faschistische Verbrechen, insbesondere den KZ Gedenkstätten.

Es reichte den politisch Herrschenden nicht, dass die DDR-Sicht aus den Darstellungen verbannt wurde, vielmehr sollte an "Orten mit doppelter Vergangenheit", also Einrichtungen, in denen sowjetische Internierungslager bestanden, der Opfer des Faschismus gemeinsam mit den "Stalinismus-Opfern" gedacht werden. In Buchenwald und Sachsenhausen wurden dafür sogar eigene Museen eingerichtet. Dass diese "doppelte Vergangenheit" nicht für Dachau und Esterwegen oder andere Einrichtungen in der alten BRD gilt, in denen ebenfalls alliierte Internierungslager betrieben wurden, kann nur denjenigen überraschen, der tatsächlich meint, bei dem Konstrukt einer "doppelten Vergangenheit" handele es sich um ein geschichtswissenschaftliches Konzept. Am Beispiel den "Roten Ochsen" in Halle oder des "Gelben Elends" in Bautzen wird deutlich erkennbar, dass mit Hinweis auf die fortgesetzte Nutzung dieser Haftstätten zu DDR-Zeiten die Erinnerung an die NS-Opfer - die in großer Zahl politische Widerstandskämpfer waren - und die Verbrechen des deutschen Faschismus überlagert wird.

Als Anfang der 90er Jahre die ersten Versuche in dieser Hinsicht stattfanden, hatte sich das Europäische Parlament noch deutlich antifaschistisch positioniert, so beim Beschluss, den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die sowjetische Armee, zu einem europäischen Gedenktag für alle Opfer faschistischer Verfolgung zu machen oder bei der einstimmig verabschiedeten Entschließung von 1993 über die Bewahrung der historischen Orte der faschistischen Verfolgung und Vernichtungspolitik. In diesem Dokument wurde ausdrücklich die "Amalgamisierung", die Verbindung des Gedenkens an faschistische Verbrechen mit der Erinnerung an andere Formen politischen Unrechts abgelehnt.


3. Geschichtspolitik in Europa

Doch diese klare Position wurde seit Mitte der 90er Jahre politisch in Frage gestellt. Schritt für Schritt zerstörten rechtskonservative Kräfte in Europa diesen antifaschistischen Konsens. Treibende Kraft dieser Offensive waren und sind die Europäische Volkspartei (EVP) und deren deutsche Ableger CDU/CSU. Schon auf dem 16. Kongress der EVP im Februar 2004 wurde unter der Überschrift "Verurteilung des totalitären Kommunismus" eine Resolution verabschiedet, die die Durchsetzung der Totalitarismus-Doktrin als strategisches Ziel bis 2009 forderte. In geschichtsrevisionistischer Form wurde hierin über Faschismus und kommunistische Herrschaft als "zwei gleich inhumane totalitäre Regime" gesprochen. In der Beschreibung werden Konzentrationslager und rassistischer Völkermord als typische Merkmale kommunistischer Herrschaft genannt. Als Gegenpol zum 27. Januar wird ein "europäischer Gedenktag für die Opfer des Kommunismus" gefordert. Während einerseits die finanziellen Mittel für den Erhalt der KZ-Gedenkstätten begrenzt wurden, forderte die EVP die Errichtung eines europäischen Forschungs- und Dokumentationszentrums sowie ein zentrales Mahnmal für die "Opfer des Kommunismus", finanziert durch die EU. Und gemäß dieser Vorgabe organisierten die Vertreter der EVP in allen europäischen parlamentarischen Strukturen Beschlussfassungen, in denen sie diese politische Option "mit Leben füllten".

Es begann 2005 mit den Gedenkfeiern zum "60. Jahrestag des Kriegsendes" im Europäischen Parlament. Ohne öffentlichen Widerspruch erklärte der Parlamentspräsident Josep Borrell am 9. Mai, vielen habe der 8. Mai 45 noch keinen Frieden gebracht, nun sei er froh, auch Staaten in der EU zu haben, die einst "Geiseln von Jalta" gewesen seien.

16 EU-Abgeordneten der Linken protestierten gegen diese Sicht auf die Befreiung vom Faschismus, die auch in einer Resolution des Auswärtigen Ausschusses zum Ausdruck kam: "Die Erklärung bezeichnet die Befreiung der osteuropäischen Länder als Besatzung. Damit leistet sie der Wiederbelebung von Symbolen des Hitler-Faschismus in den Ländern Ost- und Mitteleuropas Vorschub, stimmt der Politik der baltischen Regierungen zu, die Antifaschisten verfolgen und Kollaborateure der SS hochleben lassen, spendet einer Politik Beifall, der zufolge in Deutschland und Österreich die Deserteure der deutschen Armee als nationale Schande betrachtet werden, während Faschisten als Nationalhelden materiell und moralisch rehabilitiert werden."

Keinerlei Zurückhaltung legten sich die rechts-konservativen und reaktionären Vertreter in der parlamentarischen Versammlung des Europarates im Januar 2006 auf, als sie mehrheitlich eine Resolution unter dem Titel "Über die Notwendigkeit der internationalen Verurteilung der Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime" durchsetzten. Vorgeschlagen wurden dabei "nationale Komitees" zur Durchführung antikommunistischer "Aufklärungskampagnen". Außerdem sollten "Kommissionen zur Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus" in allen europäischen Ländern eingerichtet werden, deren einziges Ziel die Delegitimierung sozialistischer Ideen und Orientierungen sein konnte. Zwar erhielt dieser Text aus formalen Gründen keine rechtliche Bindung, aber die Repressalien (bis hin zur Illegalisierung) gegen kommunistische Organisationen in Tschechien und Ungarn in den folgenden Monaten zeigten, dass diese Angriffe nicht allein auf ideologischer Ebene erfolgen. Dass in dieser Zeit auch faschistische Organisationen bzw. deren Auftritte in den beiden Ländern verboten wurden, galt als Beleg, dass man sich doch gegen "Totalitäre von links und rechts wehre".

Einen weiteren ideologischen Vorstoß lancierten diese Kräfte im Sommer 2008 mit einem Antrag im Europäischen Parlament, den 23. August zum "Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime" zu erklären. Im April 2009 wurde darüber abgestimmt und mit 553 gegen 44 Stimmen bei 33 Enthaltungen beschlossen.

Im gleichen Atemzug winkte das Europäische Parlament auch noch das letzte Projekt der EVP von 2004 durch, nämlich die Schaffung einer "Gesamteuropäischen Gedenkstätte für die Opfer aller totalitären Regime" und die Errichtung einer "Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas" und eines gesamteuropäischen Dokumentationszentrums, was bedeutet, dass diesen Projekten zukünftig erhebliche finanzielle Mittel der EU zufließen sollen.

Diese Resolution ist ein ideologischer Generalangriff auf das historische Fundament der europäischen Nachkriegsentwicklung. In der Resolution heißt es wörtlich: "Europa benötigt eine gemeinsame Sicht seiner Geschichte und muss Kommunismus, Nazismus und Faschismus als gemeinsames Vermächtnis anerkennen." Faktisch geht es jedoch nicht um ein "gemeinsames Vermächtnis", sondern um die Ideologie des "Kalten Krieges", die Totalitarismusthese. In der Konsequenz bedeutet dies nicht nur eine historisch falsche Gleichsetzung zwischen faschistischer Herrschaft und verschiedenen sozialistischen Herrschaftsformen, sondern eine Umkehrung der politischen Gewichtungen und damit eine Verharmlosung und Relativierung der faschistischen Vernichtungspolitik. Ausgehend von diesem Beschluss brachten Litauen und Slowenien in die Parlamentarische Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zum 3. Juli 2009 eine Resolution über "die Wiedervereinigung des geteilten Europas" ein. Dort heißt es, Europa habe im 20. Jahrhundert "zwei große totalitäre Regime, das nationalsozialistische und das stalinistische, erlebt, die Völkermord, Verletzungen der Menschenrechte und Freiheiten, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit brachten". Damit werden der faschistische Massengenozid und die zweifellos als Verbrechen zu charakterisierenden Ungesetzlichkeiten in der stalinistischen Periode undifferenziert auf die gleiche Stufe gestellt. Gleichzeitig wurde in der Resolution in völliger Verkehrung geschichtlicher Tatsachen der Sowjetunion die gleiche Verantwortung an der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges zugewiesen wie Hitler-Deutschland.

Gegen den ausdrücklichen Protest Russlands und die Stimmen von etwa einem Drittel der Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung wurde die Resolution durchgesetzt. Es ging den Initiatoren offenkundig nicht um einen möglichst breiten politischen Konsens, sondern um die Etablierung eines reaktionären Geschichtsbildes - geprägt von Totalitarismusdoktrin und Geschichtsverfälschung - in Europa.

Die Instrumentalisierung der europäischen Ebene für Geschichtsverfälschung wird kontinuierlich betrieben. Das jüngste Beispiel ist ein Vorstoß der Außenminister von Litauen, Lettland, Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der Tschechischen Republik, die in einem gemeinsamen offiziellen Brief vom 14. Dezember 2010 an die EU-Justizkommissarin Viviane Reding forderten, "öffentliche Billigung, Leugnung und Verharmlosung von totalitären Verbrechen" künftig zu bestrafen.

Ausdrücklich wird dieses Schreiben damit begründet, dass bislang "nur" die Leugnung des Holocausts in verschiedenen Europäischen Ländern (übrigens nicht einmal in allen sechs Initiativ-Ländern) strafbar sei. Auch dieser Vorstoß geht zurück auf die "Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus" vom Juni 2008, aus der sich die Forderung, den 23. August zum "Gedenktag gegen Totalitarismus" zu erklären, ableitete.

Solche Beispiele verdeutlichen, dass sich die Akteure der Geschichtsrevision - insbesondere in den mittel- und osteuropäischen Ländern in Übereinstimmung mit den ideologisch und politisch hegemonialen Kräften in der EU wähnen können. Sie verstehen sich als Teil des rechten ideologischen Mainstreams. Eine besondere Rolle spielen in dieser Politik die baltischen Staaten. Dort wird seit gut 15 Jahren offene Revision der Geschichte betrieben. Dabei bezieht sich diese unverblümt auf faschistische Propaganda-Topoi. Anknüpfungspunkt in den drei Staaten ist das gesellschaftliche Selbstbild einer seit Jahrhunderten besetzten Region - zuerst von Polen, dann von Russland, Deutschland und später der Sowjetunion. Dass die eigenen nationalen Regierungen keinesfalls ein Urbild von Demokratie waren, fällt dabei nicht ins Gewicht. Auch nicht die Tatsache, dass sich in den baltischen Staaten zahlreiche Kollaborateure an der faschistischen Vernichtungspolitik und der Partisanenbekämpfung beteiligten. Die Partisanen jedoch, die an der Seite der sowjetischen Streitkräfte für die Befreiung vom Faschismus kämpften, werden heute als Vorkämpfer einer sowjetischen Besetzung und als "Erfüllungsgehilfen des Bolschewismus" denunziert. Im Folgenden einige Beispiele:

Estland ist besonders rührig, wenn es um die Rehabilitierung der SS geht, gab es doch eine eigene estnische SS-Division. Nach einigem politischen Streit wurde 2005 - trotz internationaler Proteste - ein Ehrenmal für die "kühnen Kämpfer der 20. SS-Division" durch das "Museum für den Kampf zur Befreiung Estlands" errichtet. Zudem finden regelmäßig Treffen zu Ehren der SS statt. Am 20. August 2006 marschierten etwa 300 estnische, belgische und holländische SS-Angehörige, aber auch junge Skinheads in Sinimae zu Ehren der 20. SS-Division auf. Die Teilnehmer weihten weitere Denkmäler für SS-Angehörige aus Belgien und den Niederlanden ein. Während dieser Zeremonie wurde die Flagge der Niederlande am Denkmal der holländischen SS gehisst. Die belgische Nationalflagge durfte nicht entfaltet werden. Belgiens Botschafter in Estland hatte dies mit der Begründung untersagt, dass "die Belgier, die in Estland gekämpft hatten, als Verräter betrachtet werden, die Teil der Nazi-Kollaboration bilden". Anders die Haltung des estnischen Parlamentsabgeordneten der rechts-nationalen Partei Vaterlandsunion, Trivimi Velliste. Er erklärte, dass "die Esten nicht vergessen sollten, dass vom historischen Gesichtspunkt Estland immer zwei Feinde hatte: Russland und Deutschland". 2008 marschierten 800 Veteranen, auch aus Dänemark und Norwegen, und ihre Nazianhänger in Sinimae auf. Diesmal übermittelte der estnische Verteidigungsminister ein Grußschreiben und Trivimi Velliste forderte, das Parlament solle den SS-Angehörigen offiziell den Status von "Freiheitskämpfern" geben und sie auf die gleiche Stufe mit den Teilnehmern des Befreiungskampfes 1918-1920 stellen.

Internationale Aufmerksamkeit fand die gewaltsame Umsetzung des sowjetischen Ehrenmals zur Befreiung Estlands, des "Bronze Soldaten", aus dem Stadtzentrum von Tallinn. Obwohl der Staatspräsident offiziell ein entsprechendes Gesetz ablehnte und eine internationale Öffentlichkeit bis hin zum UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon gegen diese Denkmalsschändung protestierte, setzten staatliche Stellen den Abriss in der Innenstadt mit der Begründung durch, das Denkmal stehe für "russische Besatzung". Tagelange Auseinandersetzungen waren die Folge. Die russische Bevölkerung in Estland wertete dies zurecht als Diffamierung der Rolle der sowjetischen Streitkräfte bei der Befreiung vom Faschismus und als Ausdruck anti-russischer Ressentiments.

Dass es sich bei diesen Maßnahmen nicht um individuelle Entscheidungen lokaler Behörden handelte, zeigte sich anlässlich des 8. Mai 2010 im widersprüchlichen Verhalten des estnischen Präsidenten Toomas Hendrik Ilves. Zuerst würdigte er in Estland auf einer Veranstaltung zu Ehren der estnischen "Freiheitskämpfer" die SS-Freiwilligen als "Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit Estlands", dann fuhr er nach Moskau zur Gedenkfeier am 9. Mai 2010, auf der an die militärische Niederringung der verbrecherischen faschistischen Truppen, insbesondere der SS, erinnert wurde.

In Lettland konnte Erzbischof Janis Vanags unhinterfragt behaupten, die lettische Waffen-SS habe "mit dem Gewehr in der Hand versucht, den Einfluss der sowjetischen Truppen zu stoppen." So wurden aus Kriegsverbrechern und Kollaborateuren des Faschismus "Helden der nationalen Befreiung". Zur gleichen Zeit verurteilte der Oberste Gerichtshof in Riga den ehemaligen lettischen Partisanen Wassili Kononow wegen angeblicher Kriegsverbrechen. Das Verfahren, dass sich seit 1998 durch mehrere Instanzen zog, zielte auf eine Kriminalisierung des Befreiungskampfes der lettischen Partisanen an der Seite der sowjetischen Armee. Erst der Europäische Gerichtshof hob im Juni 2008 dieses Skandalurteil auf und sprach Kononow eine Entschädigung für erlittenes Unrecht zu. Die lettische Justiz focht diesen Freispruch an. Der Fall wurde an die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Strasbourg verwiesen, die im Mai 2010 zugunsten Lettlands entschied. Die Konsequenzen dieses Urteils sind weit mehr als individueller Natur, wie Rudolf Tichoja, ein russischer Staatsrechtsprofessor, kommentierte: Der "Kampf gegen die Kollaborateure war stets ein rechtmäßiger Teil des Krieges ... Die Entscheidung des Gerichtshofes in Strasbourg schafft einen sehr gefährlichen Präzedenzfall für die Nutzung der Justiz ... als Instrument der heutigen aktuellen Politik zwecks einer Revision der Politik der Vergangenheit".

Rehabilitierung und Glorifizierung der Kollaborateure und der SS gehen jedoch weiter. Seit Jahren organisieren Angehörige von SS-Verbänden und Neofaschisten am 16. März in Riga Aufmärsche zum "Befreiungstag" zu Ehren der Waffen-SS als "nationale Befreier Lettlands". 2009 rührte sich zum ersten Mal internationaler Protest. Die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) wandten sich an die lettische Regierung, Vertreter der EU wurden bei lettischen Stellen vorstellig. In Riga selbst wurden Proteste angekündigt. In der Folge wurde dieser Aufmarsch zwar offiziell verboten, konnte jedoch unter dem Schutz der Polizei am 18. März dennoch stattfinden. Und auch im 65. Jahr der Befreiung vom Faschismus konnte der Aufmarsch der SS-Verbrecher gemeinsam mit lettischen Neofaschisten mit behördlicher Genehmigung stattfinden. Antifaschistische Proteste wurden dagegen verboten. Und um dieses Verhalten auf die Spitze zu treiben, wurden außerdem öffentliche Gedenkveranstaltungen russischer Veteranen zum 9. Mai 2010 verboten.

Unter diesen Voraussetzungen war die Entscheidung des lettischen Parlaments im April 2010 nur konsequent, die mit großer Mehrheit einen Antrag der Oppositionspartei "Einheitszentrum" ablehnte, den sowjetischen antifaschistischen Veteranen den offiziellen Status eines Teilnehmers des Zweiten Weltkrieges zuzuerkennen. Der Status eines Teilnehmers des Zweiten Weltkrieges kommt den Bürgern der Baltischen Republik zu, die von 1940 an gegen die "Besatzungstruppen" in ihrem Land gekämpft hatten. Viele ehemalige Legionäre der Waffen SS sind Träger des Status. Sie erhalten vom Staat monatliche Zuschüsse von 50 Lat (100 US-Dollar). Die sowjetischen antifaschistischen Veteranen genießen dagegen keine Sozialleistungen in Lettland.

Ein ähnliches Verhalten gegenüber Kollaborateuren der faschistischen Herrschaft findet man in Litauen. Während faschistische Täter, wie die Bataillone der litauischen Polizei unter dem Kommando von Major Antanas Impulevicius, die in Weißrussland Verbrechen begingen, unbehelligt blieben, entfachten Rechtskräfte eine politische Kampagne gegen vier ehemalige jüdische Partisanen. Diese hatten sich bewaffnet gegen die faschistische Okkupation und die Kollaborateure gewehrt. Der Vorwurf lautete: "Verbrechen an Litauern". Und die Justiz reagiert mit einem "antitotalitären Reflex". Ideologische Rückendeckung erhielt sie von Vytautas Landsbergis, dem ehemaligen Staatsoberhaupt Litauens, der in einem Interview mit der rechten Wochenzeitung "Junge Freiheit" über Litauen behauptete: "Vermutlich hat kein Land so sehr unter der Sowjetherrschaft gelitten". Und so verbindet sich antirussische Aversion mit virulentem Antisemitismus zu einem kruden ideologischen Gemisch, das sich auch im offiziellen Genozid-Museum in Vilnius wiederfindet. Die 200.000 litauischen Juden, die unter deutscher Besatzung von den Nazis und ihren Kollaborateuren ermordet wurden, werden dort einfach unter die litauischen Verluste subsumiert.

Aber nicht nur in den baltischen Staaten werden massive Anstrengungen zur Veränderung des Geschichtsbildes unternommen. In Albanien versuchte bereits 2005 die damalige Regierung unter Berisha die Erinnerung an den antifaschistischen Befreiungskampf gegen die italienischen und deutschen Truppen aus der öffentlichen Wahrnahme zu verdrängen, indem der traditionelle Gedenktag, der 29. November, zugunsten eines Erinnerungstages zur Gründung des albanischen Staates am 28. November ersetzt wurde. Trotz aller Widerstanden konnten antifaschistische Kräften bis heute das Gedenken am 29. November fortsetzen, wobei sie deutlich machten, dass es nicht um die "Verdoppelung" eines Gedenktages geht, sondern um die Verdrängung einer historischen Perspektive (auf den antifaschistischen Kampf) durch nationalistische Identitätsbildung.

Eine ähnliche Geschichtsauseinandersetzung vollzieht sich auch im heutigen Bulgarien. Dabei geht der Streit seit langer Zeit um die Frage, welchen politischen Charakter die Regierung von 1923 hatte: War es eine faschistische Herrschaft oder eine monarchistisch-konservative Regierungsform? Dies ist in der Tat keine akademische Debatte, da sie die weitergehende Frage einschließt, ob man sich auf diese Regierungszeit positiv beziehen kann und welchen Charakter der politische Widerstand und der Partisanenkampf gegen diese Regierung besaß. Für die antifaschistischen Kämpfer in der faschistischen Periode, die sich gegen Verfolgung, Verhaftung, Terror und Illegalisierung wehren mussten, war dies letztlich egal. Da der antifaschistische Kampf nach der Befreiung aber auch eine politische Legitimation zum Aufbau des Sozialismus in Bulgarien war, wird dieser Paradigmenwechsel in der Einschätzung der damaligen Regierung als ideologischer Hebel zur Delegitimierung des sozialistischen Bulgarien genutzt.

Reaktionäre Geschichtspolitik findet man auch in der westlichen Ukraine. Dort wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Denkmäler beseitigt, die dem Partisanenkampf gewidmet waren, wenn sie als Ausdruck der sowjetischen Periode angesehen wurden. Diese Bilderstürmerei verbindet sich oftmals mit der Rehabilitierung ukrainischer Faschisten in den Reihen der SS oder anderer Kollaborateure.

Der Rat des westukrainischen Bezirks Ternopil stellte Ende April 2009 den Antrag bei Präsidenten Viktor Juschtschenko, die Angehörigen der ukrainischen SS-Division "Galizien" zu rehabilitieren. Die von der neofaschistischen Partei "Swoboda" getragene Initiative zielt darauf ab, die ukrainischen SS-Männer als "Kämpfer um die Freiheit der Ukraine" anzuerkennen, was gleichbedeutend mit der Anerkennung eines Veteranenstatus wäre. Gleiches betreibt die Stadtverwaltung der Stadt Lwiw. Bereits am 5. März 2009 hatten deren Stadtoberen ein Denkmal für den Nazi-Kollaborateur und Führer der "Ukrainischen Aufstandsarmee" (UPA), Roman Schuchewitsch, aufstellen lassen, der im Juli 1941 an der Spitze des Kollaborateursbataillons "Nachtigall", das bestialische Pogrom an der jüdischen Bevölkerung Lwiws (dt. Lemberg) in Kooperation mit Wehrmachtseinheiten organisiert hatte, stand. Im Oktober 2007 wurde Schuchewitsch auf Erlass Juschtschenkos der Titel eines "Helden der Ukraine" zuerkannt.

In Ungarn versuchen insbesondere die Rechtskräfte um FIDESZ und JOBBIK die Geschichte als Kampffeld zu besetzen. Die - inzwischen verbotene - "Ungarische Garde", die Kampforganisation von JOBBIK, führte ihre Aufmärsche mehrfach auf dem Heldenplatz in Budapest durch. Offen faschistische Gruppen organisierten in den vergangenen Jahren im Frühjahr Aufmärsche zum Gedenken an die SS-Einheiten, die sich in Budapest der Befreiung der Stadt durch die sowjetischen Truppen widersetzten. Zudem begann JOBBIK am 11. Juli 2009 eine Kampagne für die Beseitigung des Denkmals für die sowjetischen Befreier der Stadt Budapest. An dem Aufmarsch direkt im Angesicht der Erinnerungsstätte nahmen 2500 Neonazis und Kämpfer der verbotenen "Ungarischen Garde" teil. Seit dem politischen Machtwechsel in Ungarn 2010 werden die geschichtsrevisionistischen Auftritte zunehmend aggressiver. Es geht nicht mehr nur um die Rehabilitierung der Kollaboration mit der faschistischen Armee und eine Idealisierung der SS, nun wird diese Politik durch JOBBIK ergänzt um geopolitische Ansprüche durch die Infragestellung des Vertrags von Trianon. In aller Offenheit werden territoriale Forderungen gegenüber sämtlichen Nachbarstaaten erhoben, wobei die FIDESZ-Regierung sich offiziell in dieser Frage bedeckt hält.

Solche Aktivitäten zur geschichtspolitischen Umwertung finden teils staatliche Unterstützung, teils werden sie jedoch auch als störend in der großen ideologischen Auseinandersetzung angesehen, die man in Abwicklung kommunistischer Positionen insgesamt versucht. Denn SS-Nostalgiker und ihre Aktionen lösen oftmals internationale Proteste aus, die von dem eigentlichen Ziel, der Durchsetzung neuer Geschichtsbilder, ablenken. Gerade in den mittel- und osteuropäischen Staaten hat man zahlreiche Einrichtungen geschaffen, die neue totalitarismustheoretische Geschichtsperspektiven öffentlich durchsetzen sollen. Dazu gehören insbesondere die Museen zur Diktaturgeschichte in Osteuropa. Die Namen der Einrichtungen, die in aller Regel staatlich getragen und finanziert sind, sind bereits Programm: In Budapest finden wir ein "Haus des Terrors", in Prag das "Museum des Kommunismus", in Vilnius das "Genozid-Museum" und in Tallin und Riga "Okkupationsmuseen". In Rumänien findet sich in Sighet eine zentrale "Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und des Widerstands".

Solche historische Einrichtungen spiegeln die staatliche Geschichtspolitik wider. Ganz offen bestätigte dies die ehemalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete bereits im März 2004 auf der Leipziger Buchmesse. In ihrer Eröffnungsrede nannte sie Nazismus und Kommunismus "gleich kriminell" und sprach sogar davon, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der "Genozid an den Völkern Osteuropas" seine Fortsetzung gefunden habe. Der damalige Vize-Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, kritisierte, dass die frühere Außenministerin ihr Land als Opfer einer völkerrechtswidrigen Politik dargestellt, die Beteiligung der Letten am Holocaust hingegen unerwähnt gelassen habe. Während sich bundesdeutsche Medien um ein "Verständnis" für diesen geschichtspolitischen Vorstoß bemühten, kann man aus heutiger Perspektive nur feststellen, dass Frau Kalniete das ausgesprochen hatte, was in den folgenden Jahren in den meisten baltischen Staaten geschichtspolitisches Programm wurde.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstand nicht nur in den baltischen Staaten das Bedürfnis, den Weg in die nationale Eigenständigkeit ideologisch abzusichern. Die politisch forcierte Ablehnung der Beteiligung an der GUS und die strategische Um-Orientierung in Richtung Westen (Europäische Union und NATO) sollt auch ideologisch legitimiert werden, um in der Öffentlichkeit Akzeptanz zu erreichen bzw. kritische Stimmen auszuschalten. Dabei richtete sich die ideologische Offensive dann gegen die ehemaligen Strukturen der kommunistischen Parteien als Staatsparteien, wenn sie nicht selber Teil des Transformationsprozesses geworden waren. Es ging vor allem um jene Teile der Bevölkerung, die vom ökonomischen Veränderungsprozess unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ihnen bot man in zweierlei Richtung eine ideologische Legitimation an: Durch massive Formen von Ab- und Ausgrenzungen der russischen Minderheit, die sich zur Zeit der Sowjetunion in den baltischen Regionen angesiedelt hatte, wurde eine Gruppe von Menschen mit eingeschränkten demokratischen und Bürgerrechten geschaffen, die aus ihren angestammten Arbeitsverhältnissen verdrängt wurden und "Eingeborenen" Platz machen mussten. Dies führte in den baltischen Staaten zu einer sozialen Korrumpierung "einheimischer" Beschäftigter zu Lasten der russischen Bevölkerungsteile. Wo dies nicht ausreichte, wurde eine ideologische Legitimation verstärkt, die Umschreibung der Geschichte der sowjetischen Periode. Pauschal wird die sowjetische Periode als "zweite Okkupation" bezeichnet, in der die Staaten ihre Eigenständigkeit und kulturelle Identität verloren hätten. Folgerichtig gilt auch jegliches Handeln gegen die Sowjetunion als "Freiheitskampf", selbst wenn es verbunden war mit Kollaboration mit der faschistischen Okkupation, mit Massenmorden und Massakern unter der jüdischen Bevölkerung oder anderen Verbrechen. Insbesondere in den baltischen Staaten ist der "Opfermythos" ein konstitutives Element des historischen Selbstverständnisses.


4. Widerstand ist möglich und nötig

In dieser geschichtspolitischen Auseinandersetzung ist es notwendig, alle Formen des politischen und ideologischen Widerstandes aufzubieten, um eine dauerhafte Verschiebung der historischen Koordinaten der gesellschaftlichen Erinnerung zu verhindern, dem politisch-ideologischen Roll-Back der Rechtskräfte massiven Widerstand entgegenzusetzen.

Dabei kann man sich nur bedingt auf die etablierte Wissenschaft beziehen. In den vergangenen Jahren wurde erkennbar, dass nicht nur in Deutschland durch Lenkung von Forschungsmitteln, durch Beauftragung von Instituten und die Ausgrenzung von kritischen Historikern ein hoher Anpassungsdruck entwickelt wurde, der dazu führte, dass die ideologischen Vorgaben der Politik (z. B. Enquete-Kommission SED-Herrschaft etc.) fast ungebrochen umgesetzt wurden.

Wichtig sind daher politische Signale, die auf internationaler Ebene auch auf den europäischen und deutschen geschichtspolitischen Diskurs einwirken können.

Zu nennen wäre hier an vorderster Stelle die Entschließung der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 4. November 2008, in der von der überwiegenden Mehrheit der Staaten alle Versuche zur Verherrlichung der faschistischen Bewegung und der früheren Angehörigen der Waffen-SS, einschließlich der Errichtung von Denkmälern zur Glorifizierung dieser verbrecherischen Organisationen als "nationale Befreiungsbewegungen", verurteilt wurden. Es ist bezeichnend für die Rolle der Medien in dieser ideologischen Auseinandersetzung, dass bundesdeutsche Zeitungen und ein Großteil der politischen Öffentlichkeit diese Resolution schlicht ignorieren. Es ist für die Verhinderung von Geschichtsrevisionismus geboten, dass solche Positionen der Internationalen Gemeinschaft in den geschichtspolitischen Debatten ein stärkeres Gewicht bekommen.

Zu nennen wären aber auch die immer breiteren gesetzlichen Grundlagen des Verbots der Holocaust-Leugnung insbesondere in den europäischen Ländern. Offen faschistische Kräfte vergießen dicke Krokodilstränen um den "Verlust der Meinungsfreiheit", dass ihr Spielraum, solche Propaganda ungestraft zu verbreiten, eingeschränkt wird. Gemeinsam mit antifaschistischen und liberalen Abgeordneten im Europäischen Parlament muss es skandalisiert werden, dass Länder eine Bestrafung der Leugnung "kommunistischer Verbrechen" fordern, die die Holocaust-Leugnung als Ausdruck "freier Meinungsäußerung" ansehen.

Staatspolitisch von Bedeutung ist die Gesetzgebung Russlands vom Anfang 2009, als ein Gesetz durch die Duma verabschiedet wurde, in der die Verunglimpfung der Rolle der Sowjetunion und der sowjetischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg unter Strafe gestellt wurde. Damit versucht man Geschichtsrevisionisten vom Kaliber eines Viktor Suvorovs, der in seinen Büchern immer wieder die Behauptung propagiert, Hitler sei einem Angriffskrieg Stalins nur wenige Stunden zuvorgekommen, und anderen Fälschungen der Geschichte auch juristisch entgegenzutreten. Gleichzeitig wurde eine gesellschaftliche Historikerkommission eingesetzt, die den historischen Diskurs zu geschichtlich strittigen Fragen dieser Epoche begleiten soll. Aber nicht allein politische Deklarationen und wissenschaftliche Entlarvungen sind notwendig, wichtig sind alle Formen gemeinsamer Aktionen gegen rechtskonservativer und neofaschistischer Geschichtsrevision und das praktische Handeln der Zivilgesellschaft, wobei diese Kräfte insbesondere in den Ländern, in denen offene Geschichtsverfälschung betrieben wird, nur wenig entwickelt sind. In den baltischen Ländern werden der Protest und die gesellschaftliche Gegenbewegung zumeist von der russischen Minderheit getragen. Wie wirksam sie sein kann, zeigten in Estland die Massenproteste gegen die Verlagerung des "Bronze Soldaten" und in Lettland die Ergebnisse der letzten Europawahl, bei der Parteien der russischen Minderheit Mandate und damit eine internationale Stimme auch in dieser Frage bekamen.

In Ungarn wächst eine Zivilgesellschaft, in der Naziaufmärsche durch Bürgerproteste beantwortet werden. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens stellen sich schützend vor das Denkmal der sowjetischen Befreier.

In Deutschland standen wir vor der Herausforderung des Neonazi-Aufmarsches am 13. Februar in Dresden, wo die rechten Organisatoren von bis zu 10.000 Teilnehmenden aus Deutschland und anderen europäischen Ländern träumten. Der Erfolg vom Frühjahr 2011, wo es gelang den Aufmarsch zu blockieren, zeigt die Kraft der Zivilgesellschaft, wenn sie denn gemeinsam Widerstand leistet. Das kann nicht allein das traditionelle antifaschistische Spektrum leisten, sondern dazu benötigen man auch die Friedensbewegung.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Vilnius - durch diese hohle Gasse müssen sie kommen, die Besucher des "Museums für die Opfer des Genozid". Und das ist erst der Eingang der Schau
- Erst besudelt, dann abgeräumt, der Bronze-Soldat aus dem Stadtzentrum von Tallin
- So sieht sie aus, die Besinnung auf die gute, alte Zeit vor den sozialistischen Jahren: Der Bischof segnet einen Flugplatz ein
- Nein, nicht die Sowjetarmee hat den Faschismus besiegt. Der heilige Georg war es. Und der Drache zu seinen Füßen ist natürlich rot angemalt

Raute

Fakten und Meinungen

Velko Valkanov

Ein untauglicher Versuch, die Geschichte zu revidieren

Es gibt einen neuen Gedenktag in Bulgarien. Der erste Februar soll als Tag der Anerkennung der Opfer des kommunistischen Regimes begangen werden. Diese Entscheidung wurde durch die Regierung von Bojko auf Vorschlag von Zelü(1) und des ehemaligen Komsomolsekretärs Petar Stoyanov(2) getroffen. Bemerkenswert ist, dass Borissow und Zelen Mitglieder der Kommunistischen Partei Bulgariens waren und Stoyanov, als Sekretär des kommunistischen Jugendverbandes, ihr sehr nahe stand. Alle drei sind zu Renegaten bzw. Antikommunisten geworden.

Warum wurde der 1. Februar als Gedenktag gewählt? Am 1. Februar 1945 wurden Kriegsverbrecher wie die faschistischen Regenten und Minister, Abgeordnete, Militärs, Politiker u. a. hingerichtet, nachdem sie von einem Volksgericht für ihre Verbrechen am bulgarischen Volk zum Tode verurteilt worden waren. In der Entscheidung, daraus einen "Gedenktag für die Opfer des Kommunismus" zu machen, können wir nur einen erneuten Versuch sehen, die Geschichte zu revidieren.

Das Volksgericht in Bulgarien ist ein legitimes Ergebnis des noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges begonnenen Prozesses der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern. Die Vereinten Nationen, vertreten von den USA, der UdSSR und Großbritannien, hatten beschlossen, die Kriegsverbrecher aus Nazi-Deutschland und ihre Verbündeten für die von ihnen geplanten und begangenen Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Das war eine eindeutige Warnung! Nur wenige Monate nach Ende des Krieges begann in Nürnberg das Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher aus Deutschland seine Arbeit. Ähnliche Gerichte wurden in allen Ländern, in denen die Faschisten herrschten, geschaffen. Es war unbedingt notwendig, ein solches Gericht auch in Bulgarien einzurichten. Bulgarien war ein treuer Verbündeter von Nazi-Deutschland. Am 13. Dezember 1941 erklärte es den USA und Großbritannien den Krieg; außerdem okkupierte es wesentliche Teile des von Nazi-Deutschland angegriffenen Jugoslawiens und Griechenlands. Im Land selbst begann die bulgarische Regierung einen rücksichtslosen Kampf gegen die antifaschistischen Kräfte. Es wurden Gesetze vom Typ der Nazigesetze angenommen, wie z. B. das Gesetz zum Schutz der Nation. Auf dieser Grundlage wurden Tausende von Partisanen und ihrer Helfer getötet; Tausende von Häusern der Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand wurden niedergebrannt; 11.343 Juden wurden aus den so genannten "neuen Ländern", die sich unter Verwaltung der bulgarischen Regierung befanden, an die Nazis übergeben, um in den Gaskammern in Auschwitz vernichtet zu werden.

Durch Bombardierungen - inzwischen wurde Bulgarien von den Alliierten intensiv bombardiert - kam auch eine große Zahl unschuldiger Zivilisten ums Leben. Nur an einem Tag der Bombardierung von Sofia, am 10. Januar 1944, dem "schwarzen Montag", wurden über 400 Bürger getötet und 3500 Gebäude in der Stadt zerstört.

Diejenigen, die an der Katastrophe unseres Volkes und unseres Staates schuldig waren, mussten auf jeden Fall bestraft werden. Und sie wurden von einem solchen Volksgericht bestraft, das vom dem Typus des Nürnberger Militärtribunals war.

Völlig unhaltbar ist die Behauptung, daß das Volksgericht eine Sache der Kommunisten gewesen sei. Das Volksgericht wurde auf Anordnung der damaligen Regierung installiert. An ihr waren die vier größten Parteien des Landes beteiligt: die Bulgarische Arbeiterpartei (Kommunisten), die Bulgarische Bauernpartei, die Sozialdemokratische Partei und die Partei "Zweno". Dieser Beschluss wurde einstimmig von allen Mitgliedern der Regierung verabschiedet. Außerdem wurde er durch den Regentschaftsrat, in dem neben dem Kommunisten Todor Pavlov auch die bürgerlichen Demokraten Venelin Ganev und Tsvyatko Boboschewski saßen, politisch genehmigt. Dazu kam die Zustimmung der Kontrollkommission der alliierten Staaten in Bulgarien. Später war das Volksgericht durch die Klauseln des im Jahr 1947 mit Bulgarien unterzeichneten Friedensvertrages bestätigt.

Es ist notwendig zu betonen, dass die Einrichtung des Volksgerichts eine der programmatischen Anforderungen der Bauernpartei war. In der am 14. September 1944 herausgegebenen Zeitung "Zemedelsko zname" ("Bauern Fahne") wurde ein Appell des Ministers von der Bauernpartei Nikola Petkov veröffentlicht, wo es in Punkt 7 wörtlich heißt: "Volksgericht für alle, die das bulgarische Volk beraubt und unterdrückt haben und für diejenigen, die den Krieg erklärten und unser Land in eine Katastrophe geführt haben."

Leider hat sich unser heutiger Staat mit Schande bedeckt, indem er ohne weiteres eine Revision des Urteils der damaligen Ersten Kammer des Volksgerichts zugelassen hat. Am 26. August 1996 hat der Oberste Gerichtshof der Republik Bulgariens auf Vorschlag des Generalstaatsanwaltes Tatartschev einen Beschluss verabschiedet, mit dem "das Urteil vom 1. Februar 1945 im Strafprozess Nr. 1/44 der Ersten Kammer des Volksgerichtes aufgehoben und dieser Strafprozess eingestellt wird". So hat sich Bulgarien als der einzige, der ehemals mit Nazi-Deutschland verbündeten Staaten erwiesen, in dem keine Kriegsverbrecher aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges bestraft wurden.

Die antikommunistische Hysterie, die durch die Renegaten geschürt wurde, bekam neue Maßstäbe. Nachdem sie erklärt hatten, dass es in Bulgarien keinen Faschismus gegeben habe, nachdem sie faschistische Kriegsverbrecher freigesprochen hatten, haben sie jetzt entschieden, dass sie den Faschismus und den Kommunismus gleichsetzen können. Das ist eine hoffnungslos dumme Absicht.

Faschismus und Kommunismus sind in ihrem Wesen diametral entgegengesetzte gesellschaftliche, politische und soziale Erscheinungen.

Der Faschismus ist eine menschenfeindliche Theone und Praxis, die am Anfang des XX. Jahrhunderts entstanden ist. Für den Faschismus hat der Mensch keinen Wert. Der Mensch ist vollkommen den Interessen einer bestimmten sozialen Gruppe untergeordnet, die die höchsten Machtpositionen erobert hat. In seiner schlimmsten Form - dem Nazismus, teilt er die Menschheit in höhere und niedrige Rassen ein, wobei die höheren Rassen über die niedrigen Rassen herrschen müssen. Zu den niedrigen Rassen gehören die Slawen, die Juden, die Zigeuner und alle andern nichtarischen Rassen. Der Faschismus stellt eine globale Gefahr für die ganze Menschheit dar.

Der Kommunismus ist ein Ausdruck der ewigen Sehnsucht der Menschen nach sozialer Gerechtigkeit. Karl Marx formulierte: "Das höchste Wesen für den Menschen ist der Mensch" also sind "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknebeltes, ein verlassenes ein verächtliches Wesen ist." (in: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie) Der Kommunismus kann nicht vernichtet werden - trotz aller Bemühungen der reaktionären Regierung lebt er und wird auch weiterhin im gesellschaftlichen Bewusstsein leben. Viele Theorien sind schon vergessen, der Kommunismus aber, wird im Gegensatz dazu, die Menschheit als ihre höchste Hoffnung ständig begleiten. Der Unterschied zwischen Kommunismus und Faschismus ist so groß wie der Unterschied zwischen Karl Marx, Friedrich Engels, Rosa Luxemburg, Wladimir Lenin, Salvador Allende, Georgi Dimitroff, Hristo Botev, Nikola Vapzarov(3), Frank Thompson(4), auf der einen Seite, und Hitler, Goebbels, Göring, Mussolini, Franco, Salazar, Alexander Tsankov(5), Bogdan Filov(6), General Hristo Lukov(7), die Mörder der Kinder von Jastrebino(8), auf der anderen Seite.

Außerhalb dieser Klassifikation bleiben solche politische Nichtigkeiten wie Zelü Zhelev, Petar Stoyanov, Bojko Borissov(9), Tsetska Zatscheva(10), Zwetan Zwetanow, Sergej Ignatov, Nikolaj Mladenow(11), Volen Siderov(12) und andere solche Wesen. Die Bemühungen, den Faschismus und den Kommunismus gleichzusetzen, stützen sich auf Fehler und Irrwege, zugelassene Perversionen (Verdrehungen) beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Es gab solche, dem Sozialismus nicht weseneigene, ihm schädliche Irrwege - aber welche große Idee könnte ohne Fehler und Irrtümer umgesetzt werden? Außerdem - kann eine wirklich große Idee nicht durch misslungene Versuche, sie in eine soziale Tatsache zu verwandeln, kompromittiert werden.

Obwohl der Sozialismus, als ein wesentliches Moment der Entwicklung der kommunistischen Idee, in den Staaten Osteuropas scheiterte, bleibt er die einzige reale Alternative zu dem unmenschlichen (menschenverachtenden) kapitalistischen System. Die kommunistische Idee ist also weiterhin eine große Idee trotz aller Verdrehungen und Anfeindungen, auch trotz aller Renegaten, die versucht haben, sie ihren eigenen Interessen unterzuordnen. Diese Überlegungen gelten nicht nur für die kommunistische Idee.

Das Christentum ist ohne Zweifel ein System mit hohem moralischen Anspruch, das seit Jahrhunderten die Seelen von Millionen Menschen beherrscht. Aber warum sollten wir unsere Augen vor der Tatsache verschließen, dass dieses äußerst menschenliebende moralische System mit grausamen Verbrechen verbunden war? Die Menschheit hat - im Namen von Christus! - schreckliche Ereignisse erlebt: Bartolomeusnächte, Inquisitionen, unmenschliche Folter und unzählige auf dem Scheiterhaufen verbrannte Ketzer. Aber keines dieser Verbrechen ist imstande, die hohen moralischen Werte des Christentums aufzuheben. Es bleibt eine große Sache trotz - ich wiederhole den oben benutzten Satz - der Niedrigkeit und Gemeinheit derjenigen, die versucht haben, sie ihren eigenen Interessen unterzuordnen. So geht die Weltgeschichte hin. Kleine Geister versuchen ihren natürlichen Gang zu behindern. Sie sind gefährlich - aber sie werden keinen Erfolg haben, wenn wir wachsam sind und unseren gemeinsamen Kampf gegen Krieg und Faschismus nicht vergessen!


Anmerkungen:

(1) Ehemaliger Präsident Bulgariens 1990-1997

(2) Ehemaliger Präsident Bulgariens 1997-2002

(3) Kristo Botev und Nikola Vapzarov, zwei bulgarische Dichter. Botev fiel 1876 im Kampf gegen die türkische Herrschaft. Vapzarov wurde 1942 von den Faschisten erschossen.

(4) Frank Thompson, britischer Offizier, der zu den bulgarischen Partisanen delegiert worden war. Wurde von den Faschisten gefangen genommen und am 10.6.1944 erschossen.

(5) Alexander Tsankov, Führer der faschistischen Partei, die 1923 die legitime Regierung der Bauernpartei stürzte. Dabei wurden der Premier Stambolijski, viele Minister und Abgeordnete ermordet.

(6) Bogdan Filov, Ministerratsvorsitzender, später Regent Bulgariens. Als Premier hat er am 1.3.1941 in Wien Bulgarien dem Dreistaaten-Pakt angeschlossen und am 13.12.1941 den USA und Großbritannien den Krieg erklärt.

(7) General Lukov, Führer der faschistischen Partei "Bulgarische National-Legionen"

(8) Am 20.12.1943 erschossen die Faschisten im Dorf Jastrbino 18 Antifaschisten, darunter sechs Kinder.

(9) Bojko Borissov, Premierminister, ehemals Kommunist, heute Antikommunist

(10) Tsezka Tsascheva, Parlamentsvorsitz., ehemals Kommunist, heute Antikommunist

(11) Zvetan Zvetanov, Sergej Ignatov, Nikolaj Mladenov, Minister der Borissov-Regierung

(12) Volen Siderov, Führer der Partei "Ataka", Profaschist. Seine Partei unterstützt die Regierung Borissov. (s. a. ICARUS 4/2010)


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Ivan Dimov "Besuch im Museum", 1975. Öl/Lw., 130 x 190 cm

Raute

Fakten und Meinungen

Klaus Speter

"Sonderbeziehungen" der BRD zu Libyen

Die Regierung der Bundesrepublik bevorzugte in ihren Beziehungen zu Libyen schon immer die Form einer "kritischen Zusammenarbeit". Es ist instruktiv für die Bewertung der Bonner Außenpolitik, wenn wir uns einige Hintergründe dieser "Zusammenarbeit" ansehen.

Im Hintergrund wirkt immer auch der "Bundesnachrichtendienst", obwohl er erst seit Januar 1987 eine Legalresidentur in Tripolis eingerichtet hat, die entsprechende Arbeitsbeziehungen zu den libyschen Partnerdiensten unter dem Decknamen SKORPION unterhält.


BND bildet libysche Sondereinheiten aus

Zwischen 1979 und 1983 haben deutsche Ausbilder die libysche Präsidialgarde (das Wachregiment von Ghaddafi) in Schießen und lautlosem Töten ausgebildet. Die Vermittlung des Auftrages erfolgte über das Bundeskanzleramt und den BND.

Im Zentrum dieser Aktivitäten stand der BND-Major Hans Dieter Raethjen, BND-Deckname HATON. Der ehemalige Fallschirmjägermajor Raethjen gründete 1979 die Firma Hara-Consult GmbH, die von der Telemit-Tochter Astro-Technik mit der Ausbildung der libyschen Präsidialgarde betraut worden war. Über die Hara-Consult wurden 13 Ausbilder (ehemalige Bundeswehroffiziere und Waffentechniker) für den Einsatz in Tripolis angeworben.

Die Münchener Firma Telemit Electronic GmbH, deren Haupteigentümer seit 1976 Libyen war, arrangierte eine vielfältige Rüstungskooperation mit arabischen Staaten. Dort gingen jahrelang BND-Beamte ein und aus. Der Geschäftsführer Wolfgang Knabe (verstorben 1985) war Verbindungsperson des BND-Referatsleiters Cornelis Hausleiter, der Vertriebsmanager Quelle des BND.

Der Anstoß zu diesem Ausbildungsauftrag an Raethjen kam von dem BND-Referatsleiter Nah/Mittelost Cornelis Hausleiter, Decknamen im BND u. a. "Bernhard Fischer". Hausleiter erklärte Raethjen: Es gehe um übergeordnete Interessen. Man müsse den Libyern mit vertrauensbildenden Maßnahmen entgegenkommen, um die Öllieferungen zu sichern.(1)

Aktivitäten dieser Art fanden ihre Fortsetzung in den Jahren 2005/2006. Die private Sicherheitsfirma BDB Protection GmbH war mit 30 Ausbildern (vor allem SEK-Angehörige und ein Personenschützer des Generalinspekteurs der Bundeswehr) in Libyen im Einsatz. Mit den Angehörigen dieser Truppe hatte der BND-Resident Volker B. in Tripolis regelmäßig Kontakt. Unterstützungshandlungen dieser Art für die Führung in Libyen wurden in der BRD als Teil der EU-Strategie zur Einbindung Libyens in den "Kampf gegen den Terrorismus", konkret zum Anteil Libyens an der Eindämmung der Flüchtlingsströme aus Afrika nach Europa, betrachtet.


BRD baut Giftgasfabrik und die Geheimdienste schließen die Augen

Die in Stuttgarter ansässige Decotec-Firmengruppe mit Büros in der Schweiz, in Tripolis und in den USA lieferte über Partner in Indien drei Gaswaschanlagen nach Libyen. Sie sollten nach Auffassung der Untersuchungsbehörden für den Bau einer großen Produktionsstätte für Chemiewaffen in der libyschen Wüste nahe Tarhuna eingesetzt werden. Der Firmeneigentümer Hans-Joachim Rose setzte den Kampfstoff-Experten Fritz Güldener für Tests und Abnahmen der Anlagen in Bombay ein.

Güldener erklärte 1996 bei der Gerichtsverhandlung gegen Rose in Stuttgart: "Ich habe das Bundesverdienstkreuz bekommen, für Verdienste am Vaterland." Er habe die Anlagen vor dem Export nach Libyen fotografiert und die Fotoalben dann dem BND übergeben. Pullach habe von ihm jedes Dokument, das er über diese illegalen Deals in die Finger bekommen habe, umgehend erhalten.(2)

Partner von Firmenchef Rose in Tripolis war der deutsche Geschäftsmann Roland F. Berger, der jahrelange gute Beziehungen zum BND unterhielt.

In der Außenstelle der Decotec-Firma in den USA agierte als Waffenhändler der ehemalige CIA-Mann Bill Weisenburger, der noch im aktiven CIA-Dienst Ausrüstungen für die Terroristen-Ausbildung nach Libyen geschleust hatte.

Decotec-Chef Rose wurde 1996 in Stuttgart zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.

Dieser Skandal hat seine Vorgeschichte: 1989 wurden der Chef der Firma Imhausen-Chemie, Jürgen Hippenstiel-Imhausen, und weitere leitende Angestellte der Firma zu Haftstrafen verurteilt. Der Vorwurf: sie hatten eine komplette Giftgasfabrik zur Inbetriebnahme in Rabta/Libyen geliefert. Bereits vor der Untersuchung durch bundesdeutsche Behörden hatten monatelang die US-Geheimdienste Informationen über eine Beteiligung deutscher Firmen an diesem Projekt nach Bonn geliefert sie wurden weder vom Bundeskanzleramt noch vom BND verwertet.

Einbezogen war auch der bundeseigene Salzgitter-Konzern (Salzgitter-Industriebau GmbH), dessen Geschäftsführer Andreas Böhm wegen seiner Beteiligung am Export der Giftgasfabrik ebenfalls verurteilt wurde. Keine Rolle spielte damals, dass seine Informationen über dieses "Geschäft" bei den Herren "Wilhelm" und "Dr. Cramp" in Pullach landeten.(3)

Über einen Vermittler in Belgien lieferte die Firma Siemens Computer für Prozessleitsysteme in der Chemieproduktion (Teleperm-M-Anlagen) nach Libyen. Die deutschen Zwischenhändler kamen 1996 in U-Haft, der belgische Vermittler konnte sich rechtzeitig absetzen. Zu ihm, der seine Führungsoffiziere angeblich nie über seine Libyen-Geschäfte informiert hatte, unterhielt der BND mindestens vier Jahre lang Kontakte. Allein diese wenigen Fakten beweisen: Der BND hat in all den Skandalen mehr zur Verschleierung der Aufrüstung Libyens und der deutschen Beteiligung daran getan als zur Aufklärung dieser Skandale.

Mehr noch: in allen entscheidenden Schaltstellen saßen V-Leute des Auslandsnachrichtendienstes, von denen der BND bei den öffentlichen Untersuchungen behauptet, sie hätten zu den relevanten Sachverhalten keine Informationen geliefert.

Die Frage sei gestattet, wozu hat der BND dann diese Agenten geführt und sie mit unseren Steuergeldern bezahlt? Detailfragen? Sicher, aber ohne befriedigende Antworten wird man sich kaum ein Bild machen können, was da in Libyen eigentlich geschieht.


Anmerkungen:

(1) Vgl. STERN Nr. 2/95, S. 99; ausführlich siehe Erich Schmidt-Eenboom: Der Schattenkrieger, Econ-Verlag, 1995, S. 107 ff.

(2) Vgl. STERN, Nr. 35/96: Deckung für die "Händler des Todes", S. 156

(3) Vgl. ebd. S. 157 und Der Spiegel, Nr. 52/1991 "Deckname ZR"

Raute

Fakten und Meinungen

Klaus Eichner

Mordmaschine CIA & Co.

Anfang der 70er Jahre kam es erstmalig zu tiefer gehenden Veröffentlichungen über die "schmutzigen Tricks" der CIA.

Aussteiger wie Philipp Agee (Inside the Company-CIA Diary) oder Victor Marchetti/John Marks (The CIA and the Cult of Intelligence) publizierten ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit dem US-Geheimdienst und offenbarten erste Einblicke in dessen Innenleben. Diese Enthüllungen führten schließlich dazu, dass beide Kammern des US-Kongresses - Senat und Repräsentantenhaus - Untersuchungsausschüsse einsetzen mussten, die der schockierten Öffentlichkeit bisher geheimgehaltene Informationen über die Praktiken der CIA, über ihre verdeckten Aktionen und so genannten "dirty tricks", zur Kenntnis brachten.

Ein spezieller Teil der Berichterstattung des Senats-Ausschusses behandelte auf 350 Seiten die vielfältigen Operationen der CIA zur Ermordung missliebiger Politiker, demokratisch gewählter Staatsmänner im Ausland, bzw. zum Sturz von für die US-Politik unbequemer Regierungen.(1)

Senator Frank Church von der Demokratischen Partei, Vorsitzender des nach ihm benannten Senats-Untersuchungsausschusses, erläuterte auf einer öffentlichen Veranstaltung im Dezember 1975 einige Ergebnisse der Untersuchungen:

"Wir beseitigten die Regierung von Guatemala, als uns ihr Linkstrend missfiel;
- wir versuchten, einen Bürgerkrieg gegen Sukarno in Indonesien anzuzetteln;
- wir intervenierten, um den Schah wieder auf den Thron in Iran zu bringen, nachdem (der gewählte Ministerpräsident) Mossadegh die Monopolherrschaft von British Petroleum über das iranische Erdöl gebrochen hatte;
- wir versuchten, mit einem gescheiterten Landeunternehmen einer Exilarmee in der Schweinebucht eine Konterrevolution in Kuba zu starten;
- wir führten sogar einen geheimen Krieg in Laos und bezahlten Angehörige des Meo-Stammes und thailändische Söldner dafür dass sie dort für uns kämpften.

Alle diese Einsätze wurden ohne Wissen und Einverständnis des Kongresses begonnen. Kein Land war zu klein, kein ausländischer Staatsmann zu unbedeutend, um unserer Aufmerksamkeit zu entgehen.

- Wir schickten tödliches Gift mit der Absicht in den Kongo, Lumumba mit einer lebensgefährlichen Krankheit zu infizieren;
- wir bewaffneten Dissidenten in der Dominikanischen Republik, obwohl wir ihre Absicht kannten, Trujillo umzubringen;
- wir waren Teil eines militärischen Staatsstreiches in Südvietnam, mit dem dieselbe Regierung gestürzt wurde, die wir versprochen hatten zu verteidigen; und als sich Ministerpräsident Diem widersetzte, wurden er und sein Bruder von eben den Generalen ermordet, denen wir Geld und Unterstützung gaben;
- jahrelang versuchten wir Fidel Castro und andere kubanische Staatsmänner zu ermorden. Die verschiedenen Anschläge verteilten sich über drei (US)-Regierungen und schlossen eine ausgedehnte Zusammenarbeit zwischen CIA und Mafia ein."

Senator Church erwähnt in dieser Rede z. B. nicht die CIA-Operation zum Sturz der Regierung Allende in Chile und andere Aktionen zur Auslösung oder Unterstützung blutiger Staatsstreiche (z. B. Operation CONDOR in Südamerika).

Präsident Gerald Ford sah sich wenige Monate danach gezwungen, ein Verbot politischer Morde im Ausland durch alle US-Geheimdienste zu erlassen. Er unterzeichnete den Präsidenten-Erlass (executive order) Nr. 12033, der mit den Worte endete: "Kein Beamter der Vereinigten Staaten darf einen politischen Mord begehen oder sich an einem solchen beteiligen."

Daran haben, zumindest offiziell, alle nachfolgenden Präsidenten der USA festgehalten. Aber unmittelbar nach dem Anschlag vom 11. September 2001 forderte Präsident Bush sen. die CIA zu "weitestreichenden und tödlichen Aktionen im Rahmen von höchst risikoreichen Operationen" auf. Die Bluthunde wurden wieder von der Kette gelassen! Ein aktuelles Beispiel: Ende Januar 2011 erschütterte ein Mordfall die widersprüchlichen Beziehungen zwischen den USA und Pakistan. Der angebliche US-Diplomat Raymond Davis hatte in Lahore zwei Männer erschossen, die seinem Auto auf einem Motorrad gefolgt waren. Die Opfer waren offensichtlich pakistanische Sicherheitsbeamte, die Davis observieren sollten. Die US-Regierung bezeichnete Davis ursprünglich als Angehörigen des "technischen und Verwaltungspersonals" der US-Botschaft in Pakistan. Später kamen immer mehr Einzelheiten der nachrichtendienstlichen Tätigkeit im Auftrag der CIA, insbesondere die Verfolgung militanter Gruppen in Pakistan, an die Öffentlichkeit.


Killerdrohnen

Was bis vor einiger Zeit noch Visionen von Thriller-Autoren waren, ist heute bittere Realität.

Geheimdienst-Offiziere sitzen in wohltemperierten Räumen vor Monitoren, fernab vom eigentlichen Geschehen, und steuern mit einem Joystick fliegende Terrormaschinen auf Menschen. Sie sind Akteure der CIA-Operation "Sylvan Magnolia", aber die CIA hat längst nicht mehr den Alleinvertretungsanspruch auf diese anonymen Mordaktionen. Andere "moderne" Geheimdienste, nicht zuletzt die israelischen, haben sehr schnell nachgezogen. Bis zu 40 Staaten sind schon im Besitz von Morddrohnen.

Diese unbemannten Flugobjekte tragen den bezeichnenden Namen "Raubtier" (predator) und sind mit mehreren Luft-Boden-Raketen vom Typ Hellfire ("Höllenfeuer") bestückt. Ihre modernere Version hat die Bezeichnung "Reaper", was mit "Sensenmann" (oder Gevatter Tod) übersetzt wird. Nomen est omen! Die Reaper-Drohne kann bis zu 1,7 Tonnen Raketen und Bomben mit sich führen. Wenn der verantwortliche Geheimdienst-Mann der Überzeugung ist (gesichertes Wissen ist nicht erforderlich!), dass sich in einem Gebäude, einem Fahrzeug oder gar in einer Menschenansammlung ein Terrorist befindet, dann hat er die Berechtigung, den Abschuss der Hellfire-Raketen auszulösen. Dabei ist für seine Entscheidung unerheblich, ob sein Verdacht zutreffend ist und wie viel unschuldige Zivilisten dabei gleichzeitig mit getötet werden. Es genügt dem Geheimdienstler, wenn sich ein Zielobjekt verdächtig bewegt oder irgendwie auffällt und er daraus "schließen" kann, dass eine Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten besteht. Die unschuldigen Opfer nennt man nicht einmal mehr beschönigend "Kollateralschäden", sie sind das Resultat des modernen "Krieges gegen den Terrorismus". Nicht ohne Grund warnte der "Sonderbeauftragte für außerrechtliche Exekutionen" der UNO, der Juraprofessor Philip Alston, in einer Studie, dass damit das Völkerrecht völlig außer Kraft gesetzt wird, ein Ende der Zivilisation drohe.

Nachdem die CIA unter Präsident Bush vorwiegend mit illegalen Entführungen und Überstellungen in geheime Foltergefängnisse operierte, ist sie unter Obama zu direkten Mordaktionen übergegangen. Der Umweg über Folter und Verhöre war ihnen offensichtlich zu aufwendig und uneffektiv. Jetzt gelten nur noch tote Taliban als Arbeitsergebnis, über zivile Opfer schweigt man. Der Berater des US-Präsidenten für den Anti-Terror-Krieg, John Brennan, charakterisierte diese Entwicklung in der New York Times mit den Worten, statt des "Hammers" setze man nun das "Skalpell" ein.

Fast täglich erreichen uns jetzt Meldungen über Drohnenangriffe in Pakistan, die Toten sind kaum noch zu zählen, die Öffentlichkeit nimmt diese extralegalen Tötungshandlungen schweigend zur Kenntnis.

Allein im Grenzgebiet Pakistans zu Afghanistan wurden seit dem Amtsantritt von Präsident Obama bis Ende Oktober 2010 139 Drohnenangriffe gezählt. Dabei sind andere Konfliktregionen, wie z. B. der Jemen, Libanon, Somalia, Kenia usw., nicht mitgerechnet.

Die Hilfsorganisation "Kampagne für unschuldige Opfer in Konflikten - CIVIC" veröffentlichte kürzlich eine Untersuchung mit dem Nachweis, dass bei diesen Angriffen in der Regel unschuldige Zivilisten, häufig auch Frauen und Kinder, ermordet werden.

In Islamabad zählte man für das Jahr 2009 etwa 700 Zivilisten als Opfer von Drohnenattacken der CIA.

Nach einer kürzlichen Untersuchung der Washington Post wurden im Jahre 2010 mit 118 Einsätzen die Mordattacken der Drohnen im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Unter den 600 Menschen, die allein im Jahr 2010 auf diese Weise ermordet wurden, waren nachweislich nur zwei Personen, die als Terrorverdächtige auf der entsprechenden Liste der USA gestanden hatten. 94 Prozent der Mordopfer sind unbeteiligte Zivilisten oder sogenannte Low-Level-Fighter, vorwiegend Stammeskrieger.(3)

Nach den Worten des bisherigen CIA-Direktors Leon Panetta ist der Krieg der Drohnen die bislang aggressivste Operation in der Geschichte des Geheimdienstes.

Präsident Obama hat für das Haushaltsjahr 2010 dafür allein im Pentagon-Etat 3,5 Milliarden Dollar bereitgestellt.

Bereits im September 2009 hat der damalige Kommandeur des US-Zentralkommandos, General Petraeus, eine Direktive zur Ausdehnung der "unkonventionellen Kriegsführung" auf den ganzen Nahen Osten, Zentralasien und das Horn von Afrika unterzeichnet (Joint Unconventional Warfare Task Force Executive Order). Darin werden die Anforderungen an den Einsatz von Spezialeinheiten für Geheimoperationen präzisiert.

Über Arbeitsbeziehungen zu Partner-Geheimdiensten knüpft die CIA ein ganzes Netz von Strukturen für planmäßige Mordanschläge. Im Vordergrund stehen dabei die Kontakte mit den israelischen Geheimdiensten und ihren Killerkommandos.

Teilnehmer der Demonstrationen gegen den Naziaufmarsch in Dresden im Februar 2011 werden sich an die Überwachungsdrohne der Polizei erinnern. Von dort werden zwar noch keine Raketen auf friedliche Demonstranten abgefeuert, aber Persönlichkeitsprofile von engagierten Bürgern als Datenpool für mögliche weitere Repressionsmaßnahmen werden hier erzeugt und in den unersättlichen Datenbanken von Polizei und Geheimdiensten gespeichert.


US-israelische Mordkomplotte

Sollte ein "Schurkenstaat" aus Sicht der USA solche unbemannten Mordmaschinen entwickeln und einsetzen, dann kehrt man auch schnell wieder zur "klassischen" Mordoperation zurück.

Am 1. August 2010 zerstörte die Explosion von drei Sprengkörpern das Wohnhaus des iranischen Flugzeugingenieurs Reza Baruni. Er gilt in Expertenkreisen als der Vater der iranischen Drohnen. Dieser Mordanschlag gehört in eine ganze Serie von Anschlägen gegen Wissenschaftler des Iran, die vor allem auf dem Gebiet der Kernforschung tätig sind. Solange noch keine Entscheidung über eine direkte Aggression gegen den Iran gefallen ist, werden erst einmal Mordkommandos des Mossad und der CIA gegen Teheran eingesetzt. Diese Operationen sind Bestandteil eines Geheimdienst-Programms, mit dem durch Sabotage und die koordinierte Beseitigung führender Wissenschaftler das iranische Kernforschungsprogramm zumindest verzögert werden soll.

Nach Angaben des britischen Journalisten und Geheimdienstexperten Gordon Thomas in der Tageszeitung The Sunday Telegraph sind die israelischen Mordexperten Angehörige der Einheit KIDON (Bajonett) des Mossad, zu der lt. der hebräischen Tageszeitung Yediot Ahronot 40-50 Agenten, darunter einige Frauen, gehören.

Seit dem Jahre 2007 sind bereits drei iranische Wissenschaftler im Rahmen dieses Programms Opfer von Mordanschlägen geworden.

Fidel Castro listete in seiner Reflexion vom 6. Januar 2011 einige dieser Mordanschläge auf:

2007 starb Ardeshir Hosseinpour unter rätselhaften Umständen im Kernkraftwerk von Isfahan. Am 11. Januar 2010 wurde der Dozent für Kernphysik an der Universität Teheran, Massud Ali Mohammadi, Opfer eines Bombenattentats direkt vor seinem Haus. Eine in einem dort abgestellten Motorrad eingebaute Bombe wurde per Fernzündung zur Explosion gebracht. Nach Angaben im Internet hat der Mossad zugegeben, den Physiker Majid Shahriari ermordet und einen anderen Wissenschaftler verletzt zu haben.

Bei der Sonderoperation der israelischen Einsatzkräfte gegen die Schiffe, die im vergangenen Jahr die israelische Blockade gegen den Gazastreifen durchbrechen wollten, kamen neun Menschen ums Leben.


Deutsche Spezialeinheiten in Afghanistan

Im Rahmen der USA-geführten Interventionstruppen in Afghanistan (ISAF) operieren verstärkt deutsche Spezialkräfte zur zielgerichteten Tötung von afghanischen Aufständischen, ohne jeden Nachweis ihrer Schuld.

Der ISAF-Sprecher, Bundeswehrgeneral Josef Dieter Blotz, erklärte in einem Interview im Tagesspiegel: "Es ist völlig klar und völlig verständlich, dass Extremisten, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, unsere Soldaten zu erschießen und in die Luft zu sprengen, verfolgt und bekämpft werden müssen. Wenn man über Informationen verfügt, wo solche Extremisten zu finden sind, muss versucht werden, diese auszuschalten."(4)

Damit ist schon reguläre Praxis, was der bisherige Bundesverteidigungsminister von und zu Guttenberg für die Zeit nach dem Abzug der regulären westlichen Truppen aus Afghanistan in Aussicht stellte. Er forderte für diesen Zeitraum eine "internationale Koordination des Einsatzes von Nachrichtendiensten und Spezialkräften", damit vom Hindukusch "dauerhaft keine Gefährdung für die internationale Gemeinschaft" ausgehe. Zusammen mit Luftschlägen von außen soll so Afghanistan für antiwestliche Kräfte unregierbar gemacht werden.(5)

In einer Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (eine der führenden Denkfabriken der Bundesregierung) von Anfang 2011 wird festgestellt, dass die Verschleppung von Gefangenen, die Erstellung von Todeslisten sowie weitere heute noch praktizierte Maßnahmen westlicher Geheimdienste einen Bruch internationalen Rechts darstellten. Die Stiftung rät deshalb der Bundesregierung, dringend zu klären, "ob, wo und unter welchen Bedingungen Abweichungen vom Rechtsstaatsprinzip vertretbar sind". Die Politikberater drängen also darauf, die aktuellen Rechtsbrüche und damit die gesamte geheimdienstliche Mordmaschinerie zu legitimieren.(6)

Ein Nachtrag:
In der Nacht vom 1. zum 2. Mai 2011 überfiel ein Spezialkommando der USA-Geheimdienste ein Grundstück in Pakistan und tötete auf Befehl von US-Präsident Obama fünf Personen. Darunter soll der angebliche Chef der Al-Qaida, Osama bin Laden, gewesen sein. Die Spuren des rechtswidrigen Mordanschlages wurden beseitigt. Die Mörder warfen die Leiche in das Meer.


Anmerkungen:

(1) Senate Select Committee to Study Government Operations: Alleged Assassination Plots Involving Foreign Leaders 94th Cong., 1st sess." 1975, Rept. 94-465

(2) Zitiert in: Ilse und Horst Schäfer: Mord-Report; Sonderdruck der Zweiwochenzeitschrift OSSIETZKY, Dezember 2001

(3) Vgl. junge Welt vom 22.2.2011

(4) Zitiert in: Neues Deutschland: Gezieltes Töten ganz 'nüchtern' betrachtet; ND vom 18.8.2010

(5) Aus: German-Foreign-Policy-Newsletter vom 6.7.2010

(6) Aus: German-Foreign-Policy-Newsletter vorn 4.3.2011


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Josep Renau "Der Präsident spricht vom Frieden". Fotomontage aus dem Zyklus "Fatamorgana USA". Eulenspiegel-Verlag Berlin 1967
- 500 Jahre abendländischer Fortschritt, "Schnitter Tod", der aus der Ferne seine Pfeile schickt (österr. Plastik 1519)
- "Schnitter" (Reaper MQ 9), das ferngesteuerte Henkersschwert von 2010

Raute

Fakten und Meinungen

Hector Corche Morales

Eine Heldensage,

die im XX. Jahrhundert einen Marktstein in Amerika setzte

In diesem Jahr, in dem sich im April zum 50. Mal der Tag jährte, in dem sich die kubanische Revolution siegreich der konterrevolutionären Invasion in der Schweinebucht erwehrte, will der vorliegende Artikel dazu beitragen, die vor 58 Jahren beim Angriff auf die Moncada Kaserne in Santiago de Kuba und auf die Kaserne in Bayamo Gefallenen zu ehren und gleichfalls versuchen, den Leser in die Situation des Jahres 1953 zu versetzen, die die politischen Bedingungen dafür geschaffen hat, dass sich dieses weitreichende Ereignis vollziehen konnte: die Vorbereitungen auf den Sturm, die Tage des Angriffs, die Rolle der Verteidigungsrede Fidels vor dem Gericht und die Bedeutung, sowie der historische Wert dieses Ereignisses.

"Es schien, als dass der Apostel in seinem Jahrhundert sterben würde, dass sein Andenken für immer verlöschen würde, so groß war die Schmach. Aber er lebt, er ist nicht gestorben, sein Volk ist rebellisch, sein Volk ist würdig, sein Volk ist seinem Andenken treu; es gibt Kubaner, die bei der Verteidigung seiner Lehren gefallen sind, es gibt Jugendliche, die mit großartiger Genugtuung kamen, um an seinem Grab zu sterben, um ihm ihr Blut und ihr Leben zu geben, damit er in der Seele des Vaterlandes weiterlebt. Kuba, was wäre aus dir geworden, wenn du deinen Apostel sterben gelassen hättest!" (Fidel Castro in "Die Geschichte wird mich freisprechen")

Das Jahr 1953 verlief für die Regierung des damaligen Kuba, eine Regierung, durch einen von General Fulgencio Batista durchgeführten Staatsstreich am 10. März 1952 eingesetzt, voller Widersprüche. Genau das Jahrhundert nach der Geburt von Jose Martí, des "Apostels" in der Verteidigungsrede Fidel Castros, zeigte sich 1953, 10 Monate nach dem 10. März 1952, voller krampfhafter Zuckungen.

Die jungen Kubaner und das Volk im Allgemeinen hatten sich vorbereitet, um mit Würde und größtem Jubel den einhundertsten Jahrestag des Apostel zu begehen, aber der "Schlag" von Batista hatte die ganze patriotische Hoffnung für die Ehrung niedergeschlagen.

Das Land drängte nach grundlegenden Veränderungen. Fidel Castro hatte unerbittlich die in der verfassungsmäßigen Regierung Prio herrschende Korruption verurteilt, den unverschämten Raub, den unrechtmäßigen Besitz von Reichtümern. Ihm gelang es durch seine ständigen Enthüllungen in der Zeitung Alerta von Ramon Vasconcelos, Eigentümer und Direktor dieser Tageszeitung, die keine revolutionäre Publikation war, den Bürgern zu zeigen, wie tief korrupt jenes Regime war.

Das Erste, was Fidel tat, war den Militärputsch und seine unheilvolle Entstehungsgeschichte vor den Tribunalen der Justiz zu entlarven und Batista des politischen Verbrechens anzuklagen, jene Verfassung außer Kraft gesetzt zu haben, die ihn selbst - Batista - im Jahre 1940 begünstigt hatte. Eine Verfassung, die aus besonderen Umständen während des Zweiten Weltkrieges eine fortschrittliche Magna Charta war, in der sogar der Großgrundbesitz verboten war, was aber niemals durch entsprechende Gesetze realisiert worden ist.

Damals bereitete sich eine Gruppe Jugendlicher, inspiriert von den Ideen des Marxismus-Leninismus und den studentischen Auseinandersetzungen an der Universität von Havanna darauf vor, eine Aktion durchzuführen. Für Fidel und seine Mitstreiter gab es keinen anderen Weg für den Sieg einer wirklichen Revolution, als den Sturz des Regimes. Das Jahrhundert von Martí schien seinen tief verwurzelten Patriotismus zu verlieren, aber Fidel organisierte die Bewegung, sich dessen bewusst, dass aus den Massen der Jugendlichen, besonders den Anhängern der Orthodoxen Partei und der Sozialistischen Jugend, die Kämpfer hervorgehen, die als Herausforderung der Batista Diktatur die Festungen der Moncada in Santiago de Cuba und in Bayamo angreifen würden. Diese Bewegung nannte sich "Generation des Jahrhunderts".

Der Plan sah vor, durch einen Überraschungsangriff die Festungen Moncada und die von Bayamo zu erobern, um zu verhindern, dass auf dem Landwege militärische Verstärkungen nach Santiago kamen, das Volk über den Rundfunk aufzurufen und schließlich den Feind vom Osten bis zum Westen zur Aufgabe zu zwingen.

Die Jugendlichen der Generation des Jahrhunderts waren in Zellen organisiert und nahmen am Fackelzug zu Ehren von Martí von der Universität von Havanna zum Zentralpark Havannas am 28. Januar 1953 teil. Der Zusammenhalt und die von diesen Jugendlichen zum Ausdruck gebrachte Einigkeit erregte die Aufmerksamkeit der Bevölkerung. Zu dieser Demonstration hatte die Universität Havanna aufgerufen und auf Empfehlung Fidels beteiligten sich Hunderte, die sich auf den bewaffneten Kampf vorbereiteten.

Die Wohnung von Abel Santamaria und dessen Schwester Haydee im Zentrum der Stadtteils Vedado diente als Büro der Bewegung. Dort diskutierte man die Vorhaben der Bewegung und die bevorstehende Aktion, die politischen und philosophischen Ideen und auch die Tätigkeit zur Fortführung der Revolution nach dem Sturz der Diktatur. Die Bewegung setzte sich zusammen aus einer Gruppe, die für den bewaffneten Überraschungsangriff vorgesehen war, und weiteren Tausenden Jugendlichen, die nicht unmittelbar am Kampf teilnehmen konnten.

Der Plan sah die Überraschung als wichtigstes Element vor, daher war die Anzahl der bewaffneten Teilnehmer begrenzt.Außerdem war die Zahl der vorhandenen Armee-Uniformen und der notwendigen Waffen beschränkt. Das charakterisierte die entstandene revolutionäre Bewegung der Generation des Jahrhunderts. Es war also auch besonders wegen fehlender finanzieller Mittel nicht möglich, dass die große Anzahl der Teilnehmer am Marsch zu Ehren Martis und auch an der militärischen Ausbildung die Fahrt nach Santiago und Bayamo realisieren konnte. Sowohl Fidel und auch seine Freunde halfen mit ihren Gehältern, mit ihren Ersparnissen, mit den Bezügen ihrer vorgezogenen Ferien, mit dem Erlös auf Verkäufen von Möbeln und anderen Gegenständen, um die Ausgaben für die Organisation der Bewegung zu decken. Als dies später im Gerichtsprozess dargelegt wurde, erregte es großes Erstaunen. Es sei erwähnt, dass es einfache Jugendliche waren, in der Mehrzahl Arbeiter, Angestellte und einige Bauern aus der Gegend um Havanna und der westlichen Provinz Pinar del Rio, die allein die bescheidene Summe von 20.000 Pesos gesammelt haben, mit denen sie die wenigen Waffen für die Aktion am 26. Juli 1953 kaufen konnten. Für den Transport - etwa 900 km bis Santiago de Cuba und Bayamo nutzten sie die Eisenbahn, öffentliche Omnibusse und einige alte geliehene oder gemietete Autos.

Im Juli 1953 befand sich Abel Santamaria in Santiago de Cuba im nahegelegenem Bauernhof Tizol, heute als Granja Siboney bekannt. Dort versammelten sich die am besten vorbereiteten Kämpfer der Bewegung zur Vorbereitung des Angriffes auf die Festung, die zweitwichtigste des Landes, die Kaserne Guilermo Moncada. In einem Brunnen der Granja versteckten sie die Waffen für den Überfall.

Am 26. Juli 1953 erwachte die Stadt Santiago durch Gewehrfeuer verschiedener Kaliber. Es war der Sonntag Santa Ana, der Beginn des Karnevals von Santiago. Deshalb kamen Besucher aus verschiedenen Landesteilen in die Stadt, unter ihnen die Kämpfer der Generation des Jahrhunderts, deren Ziel nicht war, am Karneval von Santiago teilzunehmen, sondern das Gedenken an Jose Martí im 100. Jahr seiner Geburt wiederzubeleben und die Moncada Kaserne anzugreifen.

Die Einwohner und Besucher Santiagos fragten sich verwundert, was geschehe? Als die Bevölkerung gewahr wurde, dass die Schüsse aus der Moncada Kaserne kamen, steigerte sich die Unruhe und sie spitzte sich zu, da es keinerlei Informationen gab. Bis zum Abend des 26. verschwiegen die militärischen und zivilen Führer des Regimes der Bevölkerung, was da geschah. Weder die Polizeiwachen, noch die Kaserne oder die Marinebasis gaben eine genaue Version der Ereignisse.

In den Abendstunden des 26. Juli gab Oberst Alberto del Rio Chaviano, der sich zur Zeit der Attacke nicht in der Kaserne aufgehalten hatte, eine Pressekonferenz. In seiner offiziellen Erklärung klagte er direkt den Expräsidenten Carlos Prio, "Millo" Ochoa, den Führer der Orthodoxen Partei und an dritter Steile Doktor Fidel Castro an. Prio beschuldigte er als Förderer und Geldgeber der Aktion und den jungen Anwalt Fidel Castro als Leiter der Gruppe, die die Moncada gestürmt hatte. (Letzteres die einzige Wahrheit, die Chaviano von sich gegeben hat).

Nach der Pressekonferenz zeigte Chaviano das, was er "Faktenbeweis" nannte, etwas plump Zusammengestelltes. Der Beweis für die begangenen Verbrechen wurde offensichtlich: man sah die Leichname der Revolutionäre, von Folterungen entstellt. Schon bei oberflächlicher Betrachtung konnte man sehen, dass man ihnen neue Uniformen angezogen hat, nachdem man sie getötet hatte, denn keine Uniform zeigte Spuren von Einschüssen.

Aus gleichen offiziellen Erklärungen und Berichten von Personen, die aus Bayamo kamen, ging hervor, dass dort gleichzeitig mit dem Sturm auf die Moncada von einer ähnlich zusammengesetzten Gruppe die Kaserne Carlos Manuel de Cespedes angegriffen worden war.

Am 29. erschien in den Zeitungen von Santiago ein Foto von Fidel Castro, dem Führer der revolutionären Bewegung, die die Moncada Kaserne attackiert hatte. Es war ein Jugendfoto von Fidel und erschien unter dem Titel "Der Hauptangeklagte". Neben dem Foto stand in einer Spalte: "Dieser junge Anwalt wird angeklagt, weil er die tragische und dumme Attacke auf die Moncada Kaserne an der Spitze einer Gruppierung unter dem Titel "Kommandos" organisiert hat. Dieses Individuum, so sagt man, leitete die Aktion. Er war bekleidet mit einer Uniform eines Armeekommandanten ...". Ebenfalls am 29. wurde in Havanna in einer Schmähschrift des Blattes Ataja eine als Sensation aufgemachte Nachricht abgedruckt, nach der Doktor Fidel Castro "im Kampf gegen die Armee" für tot erklärt wurde. Die Notiz lautete: "Zur Zeit der Drucklegung dieser Ausgabe von Ataja hatte unserer Direktor telefonischen Kontakt mit dem Oberst Alberto del Rio Chaviano. Er befragte den Kommandeur des Regiments 1 Maceo über die jüngsten Vorkommnisse. Dieser erklärte, dass noch kleine, isolierte Gruppen verfolgt würden und dass die Ordnung in der ganzen Region absolut sicher sei. ... Später wurden wir von unserem Sonderkorrespondenten informiert, dass Oberst Carillo intensiv an der Untersuchung der Fingerabdrücke arbeite und er schätzt ein, dass sich unter den nicht identifizierten Zivilpersonen, die während des Sturmes auf die Moncada gefallen sind und die bereits beerdigt wurden, der Anführer der Angreifer Fidel Castro befindet".

Die wichtigere Mitteilung aber, am 30. Juli in der Presse Santiagos veröffentlicht, war die Gefangennahme des jungen Raul Castro, des Bruders des Führers der Bewegung Fidel Castro.

Am gleichen Tag wurden die weiteren Teilnehmer abgebildet;Jesus Montane, Israel Tapanes, Reynaldo Benitez Napoles, Julio Diaz Gonzales und Rosendo Menendez Garcia, die in dem Gebiet von Seviile verhaftet wurden, in einem Bauernhof bei Siboney. Es wurde ein beträchtliche Anzahl von Teilnehmern an der Aktion festgenommen, denen es bis zu diesem Tag gelungen war, "die Säuberungsoperationen" zu überleben und alle Armeepatrouillen setzten die ununterbrochene Suche nach Fidel fort. Traurige Berühmtheit erlangte der Militärkommandeur Andres Perez Chamount, der diesen Gefangenen als persönliche Trophäe wollte. Er gab den eindeutigen Befehl, ihn "im Kampf" zu töten. Aber ein ehrenhafter und würdevoller Offizier, der Leutnant Pedro Sarria Tartabull, überraschte den Führer der Bewegung, der erschöpft gemeinsam mit anderen Mitkämpfern in einer Hütte auf dem Berg schlief. Die würdige Haltung Sarrias und der Mut, den er gegenüber dem blutrünstigen Chaumont zeigte, der die Überführung des Gefangenen in die Moncada Kaserne forderte,ist bekannt. Sarria lieferte Fidel an den Vivac von Santiago de Cuba. In dem Vivac übernahm Fidel die Verantwortung für den Angriff auf die Moncada und er erläuterte die Pläne der Angreifer, wie auch die Ziele der Bewegung, die im Rahmen der Ehrungen des Apostels José Martí entstanden war.

Nach der Festnahme von Fidel, Raul, Melba Hernandez, Haydee Santamaria und anderer Teilnehmer an den Angriffen auf die Kasernen in Santiago und Bayamo wurde ein Tribunal zu deren Aburteilung einberufen. Hier erhielt der junge Anwalt Fidel Castro Gelegenheit sein Plädoyer zur Verteidigung zu halten, was dann als "Die Geschichte wird mich freisprechen" bekannt wurde. Vor Gericht führte Fidel in seinem und im Namen seiner Mitkämpfer aus: "Wir sind stolz auf die Geschichte unseres Vaterlandes, wir lernten es in der Schule kennen und haben heranwachsend von Freiheit, Gerechtigkeit und Rechten reden gehört. Man hat uns gelehrt sehr zeitig das leuchtende Beispiel unserer Helden und unserer Märtyrer, Cespedes, Maceo, Gomez und Martí zu ehren. Das waren die ersten Namen, die sich fest in unsere Hirne eingeprägt hatten. Man lehrte uns, dass der Titan gesagt habe gesagt, dass man um die Freiheit nicht bettelt, sondern man erobert sie mit der Schärfe der Machete." "Die Geschichte wird mich freisprechen" ist auch ein juristisches Plädoyer, das die Behandlung der historischen, sozialen und kulturellen Probleme generell mit der fachlichen Kenntnis eines Juristen verbindet, der geschickt die damals existierende Gesetzgebung nutzte. Das entsprach der Tradition der Kultur der Rechtssprechung der kubanischen Nation.

Aus diesen Gründen ist es unumgänglich im XXI. Jahrhundert den Zusammenhang zwischen dem in "Die Geschichte wird mich freisprechen" aufgeschriebenen Moncada-Programm und den sozialistischen Ideen der Revolution zu verdeutlichen. Man muss zuerst zeigen, dass die wichtigsten Organisatoren und handelnden Personen der Heldentat Fidel Castro, Abel Santamaria, Raul Castro, der Kern der Führenden, seit daher ein ausgeprägten sozialistisches Empfinden hatten, das fest in den Überzeugungen Martis verwurzelt war.

Die Ethik von José Martí, seine Analysen des Imperialismus und die Ideen von der Oktoberrevolution, die uns erreichten, waren der geistige Reichtum der jungen Kubaner. Daher hat Fidel nach der Urteilsverkündung gegen die Teilnehmer an der Erstürmung der Moncada Kaserne dem Vertreter der Anklage geantwortet, dass José Martí der geistige Vater der Aktion gewesen ist. Das ist bis in die Herzen der folgenden Generationen gedrungen.

In einem Rund-Tisch-Gespräch im kubanischen Fernsehen aus Anlass des 47. Jahrestages der Erstürmung der Kasernen Moncada und von Bayamo sagte Fidel: "Heute würden wir einen anderen Plan erarbeiten, aber jener damals erschien uns besser. Er war gut durchdacht. Ich versichere Euch, dass Batista gestürzt worden wäre. Die ersten Stunden hatten eine derartige allgemeine Verwirrung ausgelöst. Um alle Bataillone im Rest der Provinz zu irritieren, wären Befehle von der Kaserne (Moncada) erteilt worden und man hätte geglaubt, es handele sich um einen Aufstand der Unteroffiziere ... Inzwischen dachten wir, die Waffen zu erbeuten und unverzüglich die Kaserne zu verlassen, denn wenn die Luftwaffe eingegriffen hätte, wäre nach einer halben Stunde keine Seele mehr am Leben gewesen. Wir wollten die Waffen auf verschiedene Gebäude der Stadt verteilen, hätten uns aus der Kaserne zurückgezogen und das Volk bewaffnet, da wir absolutes Vertrauen in die Einwohner Santiagos hatten ..."

Mit diesen Gedanken, dargelegt 47 Jahre nach der ruhmreichen Aktion vom Anführer der Revolutionäre, der Aktion vom 26. Juli, wurde die Strategie umrissen, die jenem "Versuch zur Erstürmung des Himmels" zugrunde lag.

"Als wir uns entschieden, auf unsere eigene Rechnung zu handeln - fügte Fidel hinzu - zumal es weder eine Einheit noch ein Übereinkommen zwischen den verschiedenen Gruppen gab, die sich Batist widersetzten, überlegten wir schließlich, welche Kampfform angewandt werden müsse. Für mich war es klar, dass man zum irregulären Krieg übergehen müsse."

Obwohl der Angriff auf die Moncada nicht mit der Einnahme der Kaserne endete, bedeutete er, den Weg des bewaffneten Kampfes zu gehen, den das kubanische Volk schließlich, von Fidel angeführt, beschritt und der am 1. Januar 1956 mit dem Sieg über das Batista - Regime seinen Höhepunkt fand.

Die strategischen Ziele jener Heldentat vom 26. Juli waren erfüllt. Genau deshalb feierten wir in diesem Jahr den 50. Jahrestag den ersten Sieg über den Imperialismus in Lateinamerika, als der im April 1961 versuchte, Kuba in der Schweinebucht zu überfallen. Für ihn war es unmöglich, in seinem eigenen Hinterhof eine Revolution zu dulden, wo man das Moncada-Programm "Die Geschichte wird mich freisprechen" verwirklicht.

Die kubanische Revolution hat von Beginn an stets fest zu den Idealen jener Jugendlichen gestanden, die 1953 die Schwierigkeiten beim Sturz der Tyrannei zu überwinden wussten.

Die Errungenschaften Kubas im Erziehungswesen, in der Kultur, im Gesundheitswesen, im sozialen Bereich, im Sport, in den Wissenschaften und anderen Bereichen sind weltweit anerkannt, ungeachtet der grausamen Blockade, der das kubanische Volk unterworfen ist. Das wurde erreicht, weil es zahlreiche Kubaner gab, die seit 1868 den Kampf für die Unabhängigkeit begannen und weil ein Martí existierte, der die antiimperialistischen Gefühle tief im kubanischen Volk verwurzelte und der, wie Fidel sagte, der intellektuelle Autor des Sturmes auf die Moncada Kaserne war Das war zweifelsohne eine Heldentat in der Geschichte Amerikas des XX. Jahrhunderts.


Literatur:

Los dias del Moncada, Autorin; Marta Roja in Granma Internacional, 24.7.1996
Porque Marti Autor intelectual del Moncada Autorin; Marta Roja in Granma, 22.7.1992
La misma Guerra con un pueblo mas preparado Autorin; Marta Roja in Granma, 26.7.2000
Solo la casualidad impidio la Thoma del Moncada Autor; Orfilio Oelaez in Granma, 22.7.2003
Teniamos absoluta Confianza en los Santiageros-Fidel Autor; Pedro A. Garcia in Granma, 27.7.2000
Ultima Cena altes del Asalto. Autor: Santiago Cardoso Arias - in Granma, 20.7.1994
Croquis del Cuartel Moncada in Granma, Juli 2003
Con fuerz y alcance redoblado in Granma, 26.7.2003


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Adolf Hoffmeister "Fidel Castro", 1962 Federzeichnung aus dem Reportageband "Mrakodrapy v pralese"
- José Martí 1853-1895
- Santiago de Cuba, Monumcnto Nacional. Im Innern steht die steinerne Plastik José Martís
- Die Rückfront der Moncada-Kaserne mit den Einschusslöchern des damaligen Sturms

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter H. Feist

Hans Vent - Kopf-Bildnisse und anderes

Laudatio zur Eröffnung der Ausstellung in der Galerie der GBM in Berlin

Hans Vent zeigt hier eine kleine Auswahl aus seinem umfangreichen malerischen Werk, Arbeiten seit den achtziger Jahren, die meisten aus jüngster Zeit. Er hat sich nicht geändert. Hinzugefügt sind einige seiner kleinplastischen keramischen Arbeiten, auf die ich aber nicht näher eingehe.

Zu sehen ist was eigentlich sehr Traditionelles: Darstellungen von Menschen, und zwar konzentriert auf ihre Köpfe, sowie nicht irgendwelche Installationen, sondern Malerei mit ihrem wichtigsten Mittel, den Farben. Aber dann werden die Betrachter vielleicht zutiefst verstört, weil dieses Traditionelle so umgepflügt und weggefetzt erscheint, so widerspenstig und unzugänglich wirkt. Das ist einer der inneren Widersprüche, auf die wir uns hier einlassen müssen. Wer dialektisch denkt, weiß freilich, dass innere Widersprüche die Triebkräfte jeder Entwicklung sind.

Der Weimarer Vent bekam als Sohn eines Malers schon früh Zugang zur Kunst, verlor den Vater aber schon mit vierzehn. Erst nach einer Ausbildung im Malerhandwerk konnte er ab 1953 in Berlin-Weißensee bei guten Lehrern Malerei studieren und gewann in westberliner Ausstellungen erste Eindrücke von der internationalen modernen Kunst, die in der Nazizeit verdrängt gewesen war und im Osten jetzt wieder angefeindet wurde. Er blieb in Berlin ansässig, schuf gemeinsam z. B. mit Ronald Paris einige Wandbilder.

1961 war er mit einer "Hiddensee-Landschaft" einer der Maler, die in der von Fritz Cremer initiierten Ausstellung "Junge Kunst" eine legendär gewordene Verdammung durch die damalige Kunstpolitik der SED erfuhren. Er beugte sich den Forderungen nach einer sozialistisch genannten Thematik nicht, sondern ging seinen eigenen Weg mit Landschafts- und Architekturdarstellungen, Figuren am Ostseestrand und ersten Beispielen von Kopfdarstellungen. Ganz einzigartig war sein Gestalten mit heftigen, starkfarbigen, dicht gebündelten Pinselstrichen. Wie einige gleichaltrige Maler in Berlin prüfte er, was bei den Impressionisten, bei Cézanne und bei Expressionisten zu lernen war. Er ging immer vom Augenerlebnis aus, schuf seine Bilder aber nachher im Atelier, wenn er das Gesehene lange überdacht hatte. Er hielt fest, wie Licht und Atmosphäre die Figuren umspielen und als Bildfiguren erst entstehen lassen. Er wollte dabei sichtbar machen, dass Lebendiges immer in Bewegung, in Veränderung ist.

Die Kunstpolitik der DDR fand sich mit diesem Einzelgänger ab. Fritz Cremer trug dazu bei, dass Hans Vent 1974/75 eines der Gemälde für das Foyer des Palastes der Republik schaffen konnte. "Menschen am Strand" wurde eines der künstlerisch überzeugendsten Werke in der Geschichte der DDR-Malerei. Vent unterrichtete einige Jahre in Weißensee, durfte einige Male in den Westen reisen, einige Male nicht. Die Kunstakademie gab ihm 1982 den Kollwitzpreis. Im Wendejahr 1990 wurde er ihr Mitglied und ist es auch in der jetzigen Berliner Akademie.

Vent wählte für diese Ausstellung fast ausschließlich Studien auf Papier, die er meistens mit Tempera, neuerdings mit Acrylfarben malt. Die Kopfbildnisse, wie er sie nennt, ähneln seinen größerformatigen Gemälden in Ölfarben auf Leinwand, geben voll gültigen Aufschluss über sein Kunstkonzept. Drei Eigentümlichkeiten, zwischen denen auch Verbindungen bestehen, erscheinen mir besonders bemerkenswert.

Erstens: Vent hat bewiesen, dass er ein vorzüglicher Porträtist ist, aber er weiß um die Gefahr der Idealisierung und vermeidet die Wiedergabe einer identifizierbaren Person. Er studiert unersättlich die unerschöpfliche Vielfalt der Antlitze und damit Charaktere seiner Mitmenschen, aber jeder bleibt ein anonymer Typus. Dabei fällt auf, dass die meisten Gesichter, die er uns sehen lässt, bedrückt, oder auch dumpf, ja drohend anmuten, und dass Vent bis zur karikierenden Kritik gehen kann. Das deutet auf Erfahrungen in der Gesellschaft, in der er lebt.

Zweitens ist diese Aufmerksamkeit für Menschen gekoppelt mit einem ständigen Wechsel der Blickwinkel und Ausschnitte. Das geht von der Vorderansicht bis zum verschwindenden Profil, vom formatfüllenden Gesicht bis zum Schulterstück. Gelegentlich kommen auch Paare vor. Ebenso ständig wechseln die physiologische Genauigkeit, der Farbencharakter und Farbenauftrag, der Einsatz größerer Flächen oder heftiger Linien. Helle Köpfe vor dunklem Grund oder umgekehrt. Immer wirken die Bilder wie rasch eingefangene Ansichten von etwas hastig Vorübergehendem.

Drittens: So wie die Dargestellten nicht vollkommen, keine idealen Leitbilder sind, bleibt auch das Bild jedes Mal gleichsam unvollendet. Skizzenhaft andeutend, anscheinend flüchtig hingeschleudert, beanspruchen sie nicht, eine abschließende und richtige Meinung über eine Person zu liefern. Denn die Person kann sich ändern, und der Künstler will kein Allwissender oder Besserwisser sein, wie es manche Kunsttheorie behauptete. Die Realität ist in ständiger Veränderung, und der Maler Vent ist auch mit 77 Jahren immer noch neugierig unterwegs, ihr auf der Spur.

Hans Vent, der Nachdenkliche, Kritische, Freundliche, strebt eigentlich nach Harmonie. Die ist immer voller Spannungen. In der Wirklichkeit bleibt sie eine seltene Ausnahme oder bloßes Sehnsuchtsziel. In seinen Bildern kann er Einklang herstellen, auch wenn dieser aus Erschreckendem besteht. Damit setzt er unser Nachdenken in Gang, macht uns also klüger.

Danke, Hans Vent!


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Hans Vent
- "Kopf-Bildnis"
- "Hauptsache" Mensch


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Das Leben ist ein geheimnisvolles Nebeneinander unverkündeter Gesetze, keine Offenbarung.

Rainer Maria Rilke

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Personalia

Peter Michel

Glaubenswechsel

Ausschnitte aus "Anatomie eines Glaubenswechsels", einem Essay aus dem auf S. 45 rezensierten Buch

Hermann Raums Buch "Bildende Kunst in der DDR. Die andere Moderne. Werke - Tendenzen - Bleibendes"... Was zunächst positiv beeindruckt, ist seine künstlerische Gestaltung. Rudolf Grüttner hat als zuständiger Gebrauchsgrafiker ein Stück Buchkunst vorgelegt, das beste DDR-Traditionen auf diesem Gebiet fortsetzt ... Raum verweist auf manch schmerzliche Erfahrung, die viele von uns durchlebt haben. Zugleich aber wird der Text mit zunehmendem Erstaunen und Befremden vor allem von jenen zur Kenntnis genommen, die Hermann Raum und seine Entwicklung aus jahrzehntelanger Zusammenarbeit kennen und denen es deshalb nicht möglich ist, das Buch ohne inneren Bezug auf die Person des Autors zu lesen.

In guter Erinnerung ist sein 1977 veröffentlichtes Buch über die bildende Kunst der BRD und Westberlins, das als bedeutsame wissenschaftliche Tat gewürdigt wurde, weil es sich konsequent mit den wirklichen Sachverhalten, den realen Geschichtsprozessen auseinandersetzte und dabei jegliche Simplifizierung vermied ...

Er beschrieb ausführlich die Repressalien gegen solche Künstler wie Seitz, Ehmsen, Grzimek, Nerlinger u. a., z. B. die Entfernung Oskar Nerlingers, der mit Hofer gemeinsam die einzige gesamtdeutsche Kunstzeitschrift "bildende kunst" herausgegeben und sich an einer Solidaritätsausstellung für das koreanische Volk beteiligt hatte, aus der Westberliner Kunsthochschule 1951.

Solche Haltung scheint ihm im Laufe der Jahre schrittweise abhanden gekommen zu sein, ... Der Klappentext beschreibt kurz seine Biografie, wobei hier bereits Auslassungen auffallen. Sein Bildungsweg begann - wie dort zu lesen ist - in der Kunstakademie Nürnberg; nicht genannt wird die zuvor erfolgte Ausbildung an einer Napola-Internatsschule. Seine Professur an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee (1982-1989) wird zwar erwähnt, aber es fehlt der Hinweis, dass er als Leiter der Abteilung "Kultur- und Kunstwissenschaft" dem Prorektorat für Gesellschaftswissenschaften angeschlossen war...

Seit den "Wende"jahren trennt er "Spreu vom Weizen" - und offensichtlich ist es ihm recht, wenn die Spreu verschwindet und sein neuer "Weizen" blüht ... Ein Plädoyer Hermann Raums gegen Kunst-Fledderei und für einen ungehinderten, "demokratischen" Umgang mit den in der DDR entstandenen Werken habe ich in seinem Buch vergeblich gesucht.

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Herostraten

zwei Namen - eingebrannt in die Geschichte, wenn auch nur mit dem Destillationsapparat

Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU, im Volksmund auch "mineralnij Sekretär"; Boris Jelzin, ebenfalls Sekretär des ZK der KPdSU, aber eher "alkoholnij Sekretär"

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Rezensionen

Werner Krecek

Ich wollte spielen und Punkt

Ursula Karusseit "Wege übers Land und durch die Zeiten" - Gespräche mit Hans-Dieter Schütt,
Berlin 2009, ISBN 978-3-360-01982-0, brosch. 186 S., 16,90 €

Das ist ein gutes Dutzend Jahre her: Ein herrlicher Sommer-Sonnentag in Zollbrücke - ein paar Häuser, Störchennester auf Strommasten, die Asphaltstraße endet direkt vor der Oder. Kurz davor ein nicht sehr ansehnliches Bauernhaus im Fachwerkstil. Inzwischen ist der Ort zumindest in der Region - und die reicht mindestens bis Berlin - zu einem Begriff geworden, weil sich dort eine einzigartige Bühne etabliert hat - das Theater am Rande. Das Bauernhaus ist längst zum Lagerraum geworden. Daneben entstand ein Neubau, aus rohen Balken zusammengefügt, amphitheatralisch angelegt. Aus dem kleinen Podest für Lesungen im Bauernhaus wurde eine richtige Bühne, entsprechend erweitert wurde der Spielplan. Das Bauernhaus hätte dem Besucherstrom auf Dauer auch nicht standgehalten. Schon an jenem Sonntagvormittag war es restlos überfüllt. Die Zuhörer saßen auf wackligen Stühlen, auf durchgetretenen Treppen - vor, neben, auf und hinter dem Podest. Ursula Karusseit las aus Stephan Heyms "Immer sind die Weiber weg". Das bleibt unvergessen, wegen der Atmosphäre, vor allem aber natürlich wegen der Lesenden.

Inzwischen ist vieles anders geworden in Zollbrücke, geblieben sind ein gerüttelt Maß an Improvisation, Speckstulle und Rotwein als Pausenbrot, der Einfall, dass der Eintritt am Ende bezahlt wird -jeder gibt, wie ihm das Dargebotene gefallen hat. Treu geblieben ist dem von Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern gegründeten Unikat auch Ursula Karusseit. Ihr Name fehlt auf keiner Spielplanvorschau; in diesem Frühjahr gastierte sie u. a. zusammen mit Cornelia Heyse in "Al Capone und die Insel der Pelikane".

Nicht zufällig kommt die Schauspielerin in "Wege übers Land und durch die Zeiten" mehrmals auf das Theater an der Oder zurück. Das Buch entstand aus drei ausführlichen Gesprächen, die Hans-Dieter Schütt mit ihr in ihrem Haus in Senzig führte. Es ist im Verlag Das Neue Berlin in inzwischen zweiter Auflage erschienen. Die Autorin reist zu Lesungen, zu denen sie eingeladen wird, durchs Land.

Auf dem Klappentext steht viel Lobendes von seriösen Menschen über Buch und Autorin. In erster Linie ist es wohl ein sehr ehrliches Buch einer DDR-Bürgerin - von der Stenotypistin in Gera zu einer weltberühmten Schauspielerin mit Höhen und Zweifeln, mit Niederlagen und Eitelkeiten, mit Rollen, die Ursula Karusseit ganz ausfüllten, mit einer Kindheit in einer Familie, die in der Nachkriegszeit zusammenhielt und in der es trotzdem nicht konfliktlos zuging, mit beruflichen Wünschen, die unerfüllt blieben, weil Intriganten und Bürokraten dagegen wirkten - insgesamt das, was so allgemein als erfülltes Leben genannt wird.

Einen Großteil davon war sie an zwei der international bedeutsamen Berliner Bühnen engagiert, an der Volksbühne am Luxemburgplatz und am Deutschen Theater in der Reinhardtstraße.

Es ist unmöglich, hier auch nur einen Bruchteil der Rollen aufzuführen, die die Schauspielerin in Jahrzehnten dort - und immer unverwechselbar - verkörperte. Nur auf drei Inszenierungen sei verwiesen. 1962 war am DT Premiere von Aristophanes' "Frieden" in der Adaption von Peter Hacks, Regie Benno Besson, dem späteren Ehemann von Ursula Karusseit. Er war auch Regisseur des "Drachen" von Jewgenij Schwarz. Sie spielte darin die Elsa.

Im Gespräch mit Schütt erzählt sie nähere Umstände, denn sie bekam die Rolle nur durch eine Umbesetzung. In dem zweibändigen Werk "Theater in der Zeitenwende" (1972, Henschelverlag Berlin), heißt es, dass die Karusseit eine "Alternativbesetzung" war: "Während die Premierendarstellerin ... diese Figur als eine Art Mauerblümchen spielte, die wunschlos unglücklich dahinlebt und erst durch die Liebe Lanzelots aus ihrem ihr selbst nicht bewussten Elend herausgehoben wird, gab die Karusseit der Gestalt von Anfang an eine große innere Kraft ... vermittelte Ursula Karusseit etwas wie Stolz auf ihr Märtyrertum um selbst aktiv und kämpferisch zu werden." Beide Inszenierungen erlebten neben vielen ausverkauften Vorstellungen im Stammhaus große Erfolge bei mehreren Gastspielen im Ausland. Die längste Zeit ihres Berufslebens war die Karusseit Ensemblemitglied der Volksbühne. Dort spielte sie von 1970 bis 1979 die Hauptrolle Shen Te/Shui Tha in "Der gute Mensch von Sezuan" von Brecht. Das waren 149 Aufführungen. Im Buch erzählt sie, warum es keine 150. gab: Ein Verbot der Brecht-Erbin, das an Willkür seinesgleichen sucht.

Das lange Rollenverzeichnis weist aus, dass die Karusseit nicht die liebreizenden, liebenswerten, manchmal unglücklich Geliebten der dramatischen Literatur gespielt hat, sondern die eher etwas rauen, kantigen Gestalten - und das an der Seite großer Partner, oft auch sie an ihrer Seite: "Die jugendliche Leidende oder tragische Unschuld - das war mein Fach nie. Kein Gretchen, keine Julia vom Romeo, keine Emilia Galotti, auch keine Luise Millerin ... meine Rollen ... waren andere Frauentypen, die Gräfin Orsina, die Margarete von Aix bei Hacks, die Kommissarin in der Optimistischen Tragödie von Wischnewski. Mir lag nie so sehr ... das Blauäuige, ich liebte eher das Schräge, das Kantige, auch das etwas Raue, das Ruppige oder Burschikose." Und dabei gehörte Disziplin zur Selbstverständlichkeit. Auf eine entsprechende Frage von Schütt antwortet sie fast genervt: "Die Frage verstehe ich nicht. Ich war Schauspielerin, Disziplin und Verlässlichkeit sind oberstes Gesetz, wie bei jeder anderen Arbeit auch. Am Theater ist es nicht anders als bei Lokführern und Verkäuferinnen. Wenn der Laden aufmacht, muss die Kasse besetzt sein."

Natürlich spielt das Fernsehen in dem Erinnerungsbuch eine wesentliche Rolle, worauf schon der Titel verweist. Ende der 60er Jahre begann beim Deutschen Fernsehfunk die Zeit der Fernsehromane, die zum Tagesgespräch wurden. "Wege übers Land" von Helmut Sakowski war einer der erfolgreichsten - und Ursula Karusseit als Gertrud Habersaat in ihm prägend. Manfred Krug, Angelica Domröse, Hilmar Thate, Armin Müller-Stahl, Irmgard Lehmann, Karin Gregorek und viele andere machten aus dem Fernsehroman ein wirkliches Fernseherlebnis. Lebendig erzählt UK von den langen Drehzeiten, von Vorkommnissen am Rande, vom Verhältnis zwischen den Kollegen, von der Atmosphäre insgesamt. Es muss für eine Frau, die immer wieder betont, dass sie nur spielen wollte, eine große Befriedigung gewesen sein, solche Aufgaben bekommen zu haben.Die Gertrud Habersaat macht sie mehr als andere Rollen im Fernsehen bei Millionen bekannt - eine Figur, die aus dem Elend kommt, sich vor allem mit ihrem Frau-Sein durchsetzt und zur Persönlichkeit reift, die Niederlagen überwindet, gestärkt daraus hervorgeht und damit als eine Volksfigur zum Vorbild wird. Daran ändert auch nichts, dass solch ein Lebensweg einer dramatischen Gestalt heute manchenorts als didaktische Propagandafigur verunglimpft wird.

1986 kündigt Ursula Karusseit ihren Vertrag bei der Volksbühne, "wegen der allgemeinen Müdigkeit ... das war unlebendige Arbeit und ich hielt die Beschwichtigungen nicht mehr aus". Sie spielte dann in Köln (u. a. die Courage, die sie in der DDR nicht spielen durfte; Einspruch der Erben Brechts, siehe fehlende 150. Aufführung von "Der gute Mensch von Sezuan") und in der Schweiz. Sie kam von jedem Gastspiel zurück; mehrmals begründet sie, warum sie ans Weggehen nie gedacht hat: "Ausreise stand für mich nie zur Debatte." Sie beklagt die allgemeine Unlust Ende der 80er Jahre und ihre Aushängeschildfunktion an der Volksbühne, mehr noch aber, was danach geschah: "Was da an Kraft einer Spielkultur weggebrochen ist, mit dem Ende DDR, das ist schon bitter. Manche mussten danach wie bittstellende Anfänger durch die neue westdeutsche Landschaft tappen, andere wurden vergessen, nicht mehr beachtet."

Ursula Karusseit hat in den drei Gesprächen mit Hans-Dieter Schütt auf alle Fragen offen und ehrlich geantwortet - zu den ambivalenten Familienverhältnissen, an die sie überwiegend gute und schöne Erinnerungen hat, natürlich zu ihrem Beruf an Theatern und beim Fernsehen, zu ihrer Ehe mit dem Schweizer Regisseur Benno Besson, zu Allgemeinem und Besonderem des Schauspielerinnendaseins, zu ihrer grundsätzlich positiven Bewertung der DDR, weswegen Bürokratismus und Starrheit von ihr besonders schmerzlich empfunden wurden. Sie verschweigt nichts, nicht eigene Fehler, nicht die Trauer, heute von Theatern nicht mehr gefragt zu sein. So ergibt sich das Lebensbild einer DDR-Bürgerin, die objektiv und kritisch auch zu sich selbst zurückblickt auf ein Leben, das noch lange nicht zu Ende sein möge.

Nicht unerwähnt bleiben darf die Rolle von Hans-Dieter Schütt. Er ist nicht bloßer Fragesteller. Antworten geben ihm Anlass, weiter zu fragen, zu vertiefen. Er geht achtungsvoll mit der Partnerin um - kluge Fragen regen zu klugen Antworten an. Schütt erweitert manchmal das Thema, eröffnet einen neuen Komplex; manchmal kommt er im dritten Gespräch auf Antworten aus dem ersten zurück. Andererseits lässt er sich auch widersprechen, wenn der Partnerin eine Frage nicht passt, ob sie sich als Star gefühlt habe. Hier reagiert sie geradezu grob, dazu habe sie keine Zeit gehabt, sie wollte nur spielen. Außerdem nutzt sie die Gelegenheit, ihr Unverständnis für den heutigen Starrummel zu äußern. Die möge als Beispiel dienen für ein lebendiges, von gegenseitiger Achtung geprägtes Gespräch.

Selbstredend kommen die beiden Protagonisten auch auf die Charlotte Gauss in der Fernsehserie "In aller Freundschaft" zu sprechen. Beide sind sich einig, dass die Fähigkeiten der Schauspielerin mit dieser Kantinenwirtin mit Familienanschluss an die Heilmanns bei weitem nicht ausgeschöpft sind. Trotzdem verteidigt sie diese Aufgabe - mit Recht, schon allein deshalb, weil sie in dieser Rolle alle Möglichkeiten zwischen Gluckenhaftem und Herrscherin ausnutzt und aus der Serie nicht mehr wegzudenken ist. Weit über 500 Folgen wurden bisher gesendet. Aber noch nie wurde sie für einen Fernsehpreis vorgeschlagen, wie Ursula Karusseit bei einer Lesung einmal sagte. Obwohl die Sachsenklinik seit Jahren eine feste Größe im ARD-Programm ist, auch die Quote (!) stimmt und sie als Zweitsendung am Abend nicht selten mehr Zuschauer hat als die Vorläuferin um 20:15 Uhr. Tröstend zu vermerken, dass "In aller Freundschaft" die Goldene Henne verliehen bekommen hat. Und das ist - bei manch zweifelhaftem Preisträger - schließlich ein Preis, den die Zuschauer vergeben. Mancher Hochnäsigkeit zum Trotz bleibt sich Ursula Karusseit treu: "Zum Spektakulären tauge ich nicht und eine Diva bin schon gar nicht ... Ich wollte spielen und Punkt."

Raute

Rezensionen

Klaus Georg Przyklenk

Kunst der Besiegten

Michel, Peter: "Ankunft in der Freiheit" - Essays gegen den Werteverlust der Zeit,
Berlin 2011, ISBN 978-389793-257-9, brosch. 224 S., schw.w. Abb.

Aufregend tritt einem das Buch nicht unter die Augen, aber was drin steht, ist es schon. Eigentlich aber doch mehr empörend. Ankunft in der Freiheit ist das Angekommensein in jemandes Freiheit, nicht in der eigenen.

Angekommen ist der DDR-Bürger, nein, nicht in der der Westdeutschen, sondern in der Freiheit der besitzenden Bürger. Die Essays in Peter Michels Sammlung geben Auskunft, wie sich das anfühlt, als Besitzloser einen Platz in der Welt des Kapitals zugewiesen zu bekommen. Samt und sonders gilt der scharfe Blick des Kunstwissenschaftlers dem Bereich bildende Kunst. Was er sieht, ist exemplarisch. Was er dokumentiert, ist das Ganze, die ganze DDR, der ganze andere Gesellschaftsentwurf, zu dessen Verwirklichung sich die Menschen in der DDR angeschickt hatten.

Ihre Kunst ist den Siegern hassenswert, steht sie doch der Durchsetzung der neuen Glaubenssätze "Die DDR war ein Unrechtsstaat" und "Die DDR hat's nie gegeben" mit der anschaulichen Kraft ihrer Bildwerke entgegen. Die Zahl der Beispiele, mit denen bezeugt wird, wie diese Kunst diffamiert, verächtlich gemacht, zerstört oder der öffentlichen Wirkung beraubt wird, ist Legion. DDR-Kunst als Ganzes, einzelne Maler und Bildhauer und der Umgang der Sieger mit ihnen stehen im Mittelpunkt der zwölf im Band versammelten Essays.

Natürlich sagt keiner der neuen Kulturgewaltigen zu den betroffenen Künstlern, ihre Einstellungen zum Dasein, ihre Achtung vor der Würde des arbeitenden Menschen, ihre Bejahung des Lebens, ihre Friedensliebe oder ihre Sorge um die Verletzlichkeit der lebendigen Umwelt seien falsch gewesen. Ihr Vorwurf lautet schlicht: "Ihr seid gar keine Künstler." oder wie es Kronzeuge Baselitz so griffig formuliert hatte: "In der DDR gab es keine Maler. Das waren alles Arschlöcher."

In den einzelnen Aufsätzen treten uns die diffamierten Künstler wieder als Schöpfer von Kunst entgegen. Dazu tragen auch die schwarz-weißen Abbildungen ihrer Werke bei, die dem Text beigegeben sind.

In der Auseinandersetzung mit der kulturellen Spielart der Konterrevolution gerät dem Autor natürlich auch die eigene Zunft in den Blick. Einer von den Kunstwissenschaftlern: Hermann Raum. Mit ihm hat sich auch in den eigenen Reihen der Schabowski gefunden.

Raute

Rezensionen

Dieter Rostowski

Friedenssicherung war ihr Ziel

Autorengruppe: "Offiziershochschule der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung Franz Mehring" - Geschichte und Geschichten,
Kamenz 2010, ISBN 978-3-00-033170-1, 29,90 €

Die Rede ist von der Nationalen Volksarmee der DDR. Die NVA hatte Zeit ihres 34-jährigen Bestehens keine Absicht, andere Länder oder Völker zu überfallen, oder gegen das eigene Volk bewaffnet vorzugehen, was ihrer Friedensmission entsprach.

Damit stand sie ganz auf dem Boden der fortschrittlichen und antifaschistischen Militärtraditionen. Der alte militaristische und aggressive deutsche Korpsgeist, der blutbefleckte, war ihr fremd. Die NVA trat für den Schutz der sozialistischen Errungenschaften auf deutschem Boden ein. Sie folgte international in Europa dem Anliegen des Warschauer Vertrages zur Friedenssicherung. Das gilt es zu würdigen. Diese Grundgedanken ziehen sich unterschiedlich nuanciert wie ein roter Faden durch die Beiträge fast aller 82 Autoren, die nun eine Geschichte der Offiziershochschule (OHS) der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung "Franz Mehring" auf den deutschen Buchmarkt brachten. Sie geben Einblick in Militärgeschichte, die sie selbst erlebt und mitgestaltet haben.

Das tut Kamenz besonders gut, wo die OHS vorwiegend angesiedelt war. Es stimmt aber sicher ebenfalls die Menschen vieler anderer Städte und Orte zufrieden, wo die OHS Studien- und Ausbildungsorte hatte. Die Darstellungen, weitestgehend von ehemaligen Kommandeuren und Lehroffizieren verfasst, lassen keine Zweifel am friedensgebietenden Charakter der Volksarmee aufkommen. Es erfüllt mich angesichts dessen mit Stolz, dass ich als ehemaliger Angehöriger der Luftstreitkräfte (in Bautzen, Kamenz, Rothenburg 1957-1959 freiwillig gedient) viele der Autoren persönlich kenne. Ich schätze ihre politische Haltung sowie ihr fachwissenschaftlich-militärisches Wissen und Können. Durch meine eigene Ausbildung 1958 als Funk-Funkmessmechaniker in Kamenz weiß ich, wie damals schon nach hoher Qualität gestrebt wurde, um die moderne Kampftechnik der MiG 15/MiG 17 zu beherrschen.

In der nun vorgelegten umfassenden Geschichte der OHS wird deutlich, dass die hiesige Ausbildungsstätte über hervorragend qualifizierte Offiziere verfügte. Viele von ihnen erfuhren ihre Qualifizierung an hochrangigen sowjetischen Militär- und Studieneinrichtungen oder an der Militärakademie der NVA "Friedrich Engels" in Dresden. Viele wurden an DDR-Hochschulen bzw. Ingenieurfachschulen in ihren Fachbereichen zu Spezialisten befähigt.

Wenn man die Liste der Autoren am Ende des Buches durchsieht oder auf die verzeichneten vielfältigen militär-wissenschaftlichen Publikationen und Würdigungen der erbrachten Leistungen blickt, dann sind es wahrlich erfüllte Biografien, die dem Leser begegnen. Man gewinnt den Eindruck, dass sich in diesem Buch zur Geschichte der OHS Kommandeure, Lehroffiziere und Spezialisten freimütig äußern. Dass das manchen DDR- und NVA-Gegner nicht in das Konzept passt, ändert nichts an unumstößlichen Tatsachen.

Das in 17 Kapitel gegliederte Buch weist bedeutsame publizistische Beiträge mit hohen fachwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Aussagen aus. Das zeugt davon, dass an der OHS sowohl ein hohes wissenschaftlich-technisches und militärisches Potential, als auch wertvolle Menschen wirkten. Letzteres kommt im mehrfach akademisch ausgebildeten Offizierskorps zum Ausdruck. Somit gehört gerade auch 2011 "100 Jahre Fliegen in Kamenz" das Erscheinen dieses Buch zum Besten, was Kamenz passieren konnte. Deshalb sei allen Autoren und den Herausgebern der Publikation herzlich gedankt.

Schließlich soll hervorgehoben werden, dass die Kommandeure und Offiziere der OHS im Herbst 1989 verfassungstreu handelten, weder erwogen noch zuließen, dass es zum Einsatz von Waffen kam. Es sei betont, dass 1990/91 von Verantwortlichen der ehemaligen OHS alles unternommen wurde, dass für die in der Ausbildung stehenden Offiziersschüler entweder an der abgewickelten Einrichtung oder an anderen zivilen Studieneinrichtungen ihr Abschluss gesichert wurde.

Das fast 300 Seiten umfassende Buch hätte noch mehr Gewinn für die Leser und die Öffentlichkeit gebracht, wenn explizit die vielfältigen Verbindungen zwischen OHS, staatlichen Organen, Betrieben, Institutionen, Schulen und anderen im Territorium aufgezeigt worden wären. Das ist zwar in wenigen Beiträgen berührt worden, doch war da wohl noch mehr! Erfreulich in der Ausgabe ist, dass viele Tabellen, Übersichten und Kopien von Dokumenten einbezogen wurden. Das belebt den Gesamteindruck, der durch zahlreiche Fotos verstärkt wird. Leider sind auch einige dabei, auf denen man die Akteure nicht erkennen kann. Mancher Beitrag zeigt den Versuch, die soziale Seite, also die menschliche, des Armeelebens auszuleuchten. Insgesamt kam das aber leider zu kurz.

Mit dem Buch wird eine Lücke in der Geschichtsschreibung zur NVA und zum Hochschulwesen der DDR geschlossen. Eine gute Arbeit. Dafür danke!

Raute

Rezensionen

Jens Schulze

Konterspionage

Klaus Eichner/Gotthold Schramm: "Konterspionage - Die DDR-Aufklärung in den Geheimdiensten",
edition ost, Berlin 2010, ISBN 978-3-360-01821-2, 14,95 €

Im "Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland" finden wir auf Seite 408 die Darstellung der Funktionen der Nachrichtendienste der BRD. Dem Bundesnachrichtendienst wird neben der Auslandsaufklärung auch die Funktion der Gegenspionage, damit die Aufklärung gegnerischer Nachrichtendienste, zugeordnet. Ähnliche Eintragungen sind zu aktuellen Geheimdiensten anderer Staaten, ob nun als Gegenspionage oder Konterspionage bezeichnet, zu finden. Was verbindet diese Dienste mit dem seit 2010 vorliegenden Buch "Konterspionage" von Klaus Eichner und Gotthold Schramm? Sie standen zum Großteil unmittelbar im Blickfeld der Auslandsaufklärung der Deutschen Demokratischen Republik. Werner Großmann bringt es im Vorwort des Buches auf den Punkt: "Es handelte sich um die legitime Wahrnehmung des Rechtes auf Selbstverteidigung. Dies steht jedem Staat zu. ...".

Die Aufgaben des Bereiches Gegenspionage des Ministeriums für Staatssicherheit sind grob mit der Vorhersage bzw. frühzeitiger Erkennung von Spionageangriffen, der Lagebeurteilung bzw. Beurteilung einer möglichen, der Entwicklung im kalten Krieg zu einem heißen Krieg, dem Schutz eigener Quellen und Mitarbeiter sowie der aktiven Verhinderung von gegnerischen Maßnahmen zu beschreiben. Im Einzelnen gehen beide Autoren auf die Geschichte der Abteilung IX der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), die Schwerpunkte der Aufklärungsarbeit, ihre Entwicklung im Verlauf der Jahrzehnte, personenbezogene Einzelfalldarstellungen, die Arbeit zum Schutz der MitarbeiterInnen der Auslandsvertretungen der DDR, die Entlarvung von Agenten westlicher Dienste und die Abwehr von technischen Aktivitäten gegen Einrichtungen der DDR im Ausland ein. Die Rolle der HVA für die Bruderorgane im Warschauer Vertrag, insbesondere aus Sicht zweier deutscher Staaten, und die Vorteile, die sowohl sprachlich als auch für die Entwicklung von Legenden daraus hervorgingen und die Aufklärungsarbeit in Westberlin wurden zur Grundlage der Arbeit der Konterspionage. Im Buch werden Werbeversuche durch westliche Dienste analysiert und nicht zuletzt die Rolle der Opposition in der DDR im Zusammenhang mit Methoden der Gesprächsaufklärung durch die CIA und andere westliche Geheimdienste beleuchtet. Der Zwiespalt zwischen Wissen über gegnerische Aktivitäten, dem Schutz der eigenen Quellen, einer angemessenen Reaktion, insbesondere auf den zu erwartenden Schaden und der durch den Zufall gesteuerten Ereignisse in der Realität, lässt sich aus mehreren Kapiteln deutlich ablesen. Es werden konkrete Aussagen über Aktivitäten der "Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte" und ideologischer Diversion über Sender, wie "Radio Free Europe" und "Radio Liberty" getroffen, sowie der Leser angeregt, den Verbleib bzw. den Umzug des Senders nach Prag zu recherchieren. Beispiele zur Struktur, Methodik der Arbeit und personellen Besetzung der westlichen Geheimdienste runden den Einblick in die Aufgaben der Abteilung Gegenspionage der HVA sachlich ab. Ein breiter Fundus an abgelichteten Dokumenten findet sich im Anhang des Buches.

Von Interesse dürften auch für jüngere Leser dieses Landes die Aussagen und Darstellungen über die Arbeit und personelle Struktur des Verfassungsschutzes (VS) und des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) sein. Liest Mensch unter diesem Gesichtspunkt Verfassungsschutzberichte der Gegenwart, zum Beispiel im Internet, so wird er sich mit diesem Wissen ausgestattet kaum noch über die fachlich teilweise falschen und mehr aus der BILD Zeitung oder dem Wunschdenken einiger Politiker stammenden Darstellungen in diesen staatlichen Berichten wundern. Von nicht minderem Interesse sollten die festgehaltenen Motive sowohl für Mitarbeiter der HVA, wie auch derer der gegnerischen Dienste gewesen sein, ihren Dienst im Sinne der jeweiligen Sache zu versehen.

Einen tieferen Einblick lassen hiezu die Darstellungen zu Überläufern oder Verrätern, von welcher Seite Mensch dies auch betrachten mag, bis in die Tiefen der jeweiligen Gesellschaft zu. In diesem Sinne lässt sich zum Schlusse lediglich Karl Gebauer aus einem Brief an seine Schwester bzw. dem rezensierten Buch zitieren: "Es gibt kein schöneres Erbe als das, was uns Vater hinterlassen hat, sich für die soziale Achtung und Würde seiner Mitmenschen einzusetzen. Wir nannten uns Kundschafter für den Frieden und waren darauf bedacht, dass die NATO-Seite kein Übergewicht bekam, welches sie verführt hätte, einen Krieg anzuzetteln."

Raute

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Klaus Georg

So viel Leben

Helmut Preißler "So viel Leben - Gedichte",
Verlag die Furt, Jacobsdorf 2010, ISBN 978-3-933416-92-6, 112 S,. brosch., 9,80 €

Helmut Preißler "Drum sind Zoten in 07619 Dothen verboten - Limericks"
Verlag die Furt, Jacobsdorf 2010, ISBN 978-3-93341693-3, 144 S., brosch., 12,50 €

Das Gedicht - eine Ware? Im Regal beim Buchhändler weit weg vom Eingang, vorbei an den aufgetürmten Ratgebern, Krimis, Bestsellern, Sportlerlebensläufen und dann schließlich auch noch an den Romanen und an der Reiseliteratur vorbei, stehen da Bobrowski, Cibulka, die Ingeborg Bachmann und Eva Strittmatter und vielleicht auch Helmut Preißler. Den Verlegern und Buchhändlern ist anzumerken, dass sie sich nicht gewiss sind, ob Lyrik eine Ware ist. Kleinste Auflagen und der prekäre Platz im Regal machen ihren Zweifel deutlich.

Und sie haben natürlich Recht. Lyrik ist keine Ware. Gedichte sind Geschenke an uns, für die wir unsinnigerweise auch bezahlen sollen.

Bei Helmut Preißler steht:

"Alt werden, dass noch Zeit bleibt,
ein Werk zu vollenden, dass Früchte
noch reifen so süß, dass sie taugen
zum Geschenk für die Enkel."

Was da Frucht genannt wird, ist dann ein kleines schmales Bändchen, hundert Seiten, auf mancher davon nur sechs Verse.

Frucht, das ist ein Wort, ein Bild. Das sind schön tönende Sätze, die gehört werden wollen.

Manchmal sind es auch Endreime, sind der Zauberkraft des Wortes vertrauende Formen vom Volkslied bis zum Sonett.

"Dem biegsamen Schilf schärft die Lanzen der Wind."

Ein Bild, eine Anschauung von Welt, keine wissenschaftlich nüchterne, aber eine ebenso wahre, die Weltanschauung des Poeten Helmut Preißler. Wie jedem Großen ist ihm die Welt nicht klein. Er weiß sich den Menschen zugehörig. Und so ist sein Gedicht auch Ansprache, Ratschlag, Bitte und Bekenntnis an das Gegenüber, den Leser:

"Und die man einließ ins gelobte Land,
das mein Land ist, mein neues altes Land,
zwiefach gewendet einig Vaterland,
mühsam erstanden einst aus den Ruinen
und strahlend nun in eitel Wohlgefallen:
- lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren! -"

Ganz anders das zweite Bändchen mit den Limericks. Die sind nach amtlichen Postleitzahlen geordneten Ortsnamen gewidmet, weil doch Limericks im Englischen mit der Reimkraft gerade dieser Namen spielen. Da kann der Dichter Schalk sein, und er tut es gern:

"07731 Vierzehnheiligen
Ein Fräulein in Vierzehnheiligen
Schrieb Sonette, die vierzehnzeiligen.
Ein berühmter Poet erbot sich diskret,
sich als Mentor am Werk zu beteiligen"

Bleibt nur der freundliche Rat des Rezensenten:

Ein Leser, der sucht in Regalen
verzweifelt zu hunderten Malen
sich Lyrik zum Lesen.
Doch war nichts gewesen.
Nun kauft er nach ISB-Zahlen.

Raute

Rezensionen

Ahasverus

Durch Nacht zum Licht

Aus: Ahasverus "Glaubst du noch oder denkst du schon?",
Dabel 2009, Selbstverlag bei Jürgen Kuhlmann, 19406 Dabel, Wilhelm-Pieck-Straße 6, brosch. 128 S., 6,- €

Seit jeher überragten gewaltige Tempel, goldene Pagoden, prächtige Kathedralen, ehrfurchtgebietende Dome, ja selbst einfache Dorfkirchen die Wohnstätten der Menschen. Aus Schilfhütten, Berghöhlen, Landarbeiterkaten, Industriearbeiterkasernen und sonstwelchen Elendsquartieren krochen die Massen armer, ausgebeuteter und unterdrückter Untertanen hervor - nicht etwa, um sich aufzurichten, nein, nur um sich in diesen hohen Gotteshäusern erneut auf die Knie zu werfen, um unterwürfig ihre Unterdrücker um die Vergebung ihrer, ach, so kleinen Sünden und um die Erhaltung ihres, ach, so erbärmlichen Daseins demütig zu bitten.

Hoch aufgerichtet und Hochachtung gebietend gewährten die prächtig gewandeten Priester diesen unwürdig vor ihnen im Staube kriechenden Erdenwürmern die Vergebung ihrer Vergehen, wenn sie gelobten, hinfort noch untertäniger zu dienen, noch klagloser zu dulden, noch fester zu glauben. Zu glauben, dass diese ungeheure Ungerechtigkeit gottgewollt sei.

Diese immer wieder erneuerte Erniedrigung einfältiger Menschen durch heimtückische, abartige Artgenossen nannten die Gottesdienst, sich selbst Gottesdiener, um ihre Opfer darüber hinwegzutäuschen, dass sie genau mit dieser, ihrer raffinierten Gotteserfindung die Bewahrer dieser verwerflichen, unmenschlichen Gesellschaftsordnung, die Aufrechterhalter dieser unhaltbaren Verhältnisse waren.

Und sie sind es immer noch, sind es in den fünf neuen Ostkolonien Großdeutschlands gottlob endlich wieder. Als Zeichen ihrer erneuten Machtergreifung in Ostelbien lassen sie überall die Gotteshäuser renovieren. Von den Kanzeln drängen sie in Staatskanzleien, auf Ministersessel, besetzen Universitätskatheder, blockieren Lehrstühle, dominieren Presse, Rundfunk und Fernsehen, ja, okkupieren sogar wieder die Schulstuben, aus denen die bürgerlich demokratische Revolution sie 1848 verjagt hatte. Von diesen in der als "Wende" bezeichneten Konterrevolution zurückeroberten Bastionen herab machen sie die Ergebnisse der Aufklärung wieder rückgängig und feiern den schauerlichen Triumph des Glaubens über die Vernunft, des Kultus über die Kultur. "Kunst ohne Gottesbezug sei entartet" (Meisner), lassen sie verkündigen und verteufeln Ungläubige als "existentiell behindert" (M. Lütz), werfen ihre ideologischen Gegner, die Kommunisten, mit Faschisten in einen Topf.

Ich aber sage euch: Der Mensch wird nicht ewig verschlagen kriechen. Er wird sich schon noch aufrichten und vernünftig werden. Er wird zum Selbstbewusstsein erwachen, den ganzen Gottesschwindel als Schreckgespenst seiner scheinheiligen Seelenvergifter durchschauen, seine Gottesfurcht überwinden, seine Obrigkeit abschütteln und sein Dasein endlich menschenwürdig gestalten und dadurch den Himmel auf die Erde holen.

Noch dräuen finster die Schwarzen mit verkniff'nem Gesicht,
doch schon kündet den nahen Morgen erwachendes Licht.

Noch aber träufeln sie ihr Opium in unschuldige Kinderohren, sind mit staatlichen Geldern "Träger" evangelischer Kindergärten und Schulen, belasten naive Seelen mit mittelalterlichem Schwachsinn, lassen singen, beten und danken: "Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag, danke für meine Arbeitsstelle, für jedes kleine Glück, ... danke, dass ich dein Wort verstehe, dass deinen Geist du gibst, dass ich all meine Sorgen auf dich werfen mag, ... danke, dass Gott mich mag, ... danke, ach Herr, ich will dir danken, dass ich danken kann."

Und geduldige und sorglose und vertrauensvolle und vor allem für alles dankbare Untertanen sind doch der Traum jeder Regierung, die stützen jeden Staat. Der hat zu danken für deren Dressur. Tut er ja auch mit 20 Milliarden Euro Subvention jährlich.

Raute

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Bernd Gutte

Chronik und Lehrbuch einer Revolution

Klaus Steiniger "Portugal im April - Chronist der Nelkenrevolution"
Verlag Wiljo Heinen, Berlin, ISBN 978-3-939828-62-4, Taschenbuch, 466 Seiten, 60 s/w Fotos, 14,- €

Vor dem Buch höre ich José (Zeca) Alfonsos "Grândola, Vila Morena". Jenes Lied, das, kurz nach Mitternacht des 25. April 1974 gesendet, für die militärischen Einheiten, die sich zur "Bewegung der Streitkräfte in Portugal bekannt hatten, das vereinbarte Zeichen war, dass der bewaffneten Aufstand begonnen hatte. Ach, wie schlugen unsere Herzen mit den jungen Offizieren, die wenige Stunden später, dank der breiten Unterstützung der Bevölkerung, ohne Blutvergießen Europas älteste Diktatur gestürzt und das Ende des portugiesischen Kolonialreichs eingeläutet hatten! Vielleicht zum ersten und bisher einzigen Mal in einem vorsozialistischen Land zeigte der Aufstand der Offiziere eine tiefe Interessengemeinschaft von Volk und Militär. Am 1. Mai steckten die Soldaten Nelken in die Gewehrläufe, und sie wurden vom Volk mit Nelken geschmückt: Die "Nelkenrevolution" war geboren.

Für "Neues Deutschland" allerhöchste Zeit einen Korrespondenten nach Portugal zu schicken: Hier wird Weltgeschichte geschrieben! Aber dieses Vorhaben beginnt abenteuerlich. Klaus Steiniger, der Sonderkorrespondent, wird schließlich nicht nach Moskau oder Prag entsandt, er muss in ein NATO-Land reisen, zu dem es keinerlei diplomatische Beziehungen gibt, in dem auch die Machtfrage keineswegs hundertprozentig entschieden ist.

Schon die Einreise im Mai 1974 kann nur mit revolutionärer List gelingen. Revolutionäre List, ohne die auch viele seiner spannenden und enthüllenden Reportagen nicht gelungen wären. Die lange praktizierte Hallstein-Doktrin und dümmliche Arroganz der Gegner der Revolution geschickt ausnutzend, führte den "Alemão" in die Höhlen der Löwen und zu entlarvenden Aussagen der Konterrevolutionäre (die auch unter falscher Flagge segelnd mit Hammer und Sichel daherkommen konnten).

Allen, die sein Buch "Portugal im April - Chronist der Nelkenrevolution" in die Hand nehmen, ist also spannende Lektüre garantiert.

Steiniger hatte seine Reportagen 1982 in einem Buch verdichtet und legt diese nun in einer Neuauflage vor, die um Anmerkungen des Revolutionsgenerals und Ministerpräsidenten der provisorischen Regierung Vasco Gonçalves, ergänzt wurden.

Mit Leidenschaft und Enthusiasmus gingen die Menschen an die Umgestaltung ihres Landes. 245 inländische Konzerne und Banken wurden nationalisiert, auf über 1,3 Millionen Hektar ehemaligen Gutsbesitzerlandes entstanden Kollektivgüter und Kooperativen. An anderem Ort spricht Steiniger davon, dass diese Revolution fast an die Grenzen einer sozialistischen Revolution geführt habe. Und viele dieser leidenschaftlichen, großartigen Menschen lernen wir kennen, stellvertretend für unzählige andere: Da ist der kluge und weitsichtige Führer der portugiesischen Kommunisten, der immer bescheiden gebliebene Alvaro Cunhal. Da sind die großartigen Kommunisten, die sich auf einem Forum vorstellen und der Biografie ihre Haftzeit unter der faschistischen Diktatur anfügen - 17 Jahre Haft, 22 Jahre, 13 Jahre ... 308 Jahre Zuchthaus für ein Dutzend Aufrechter. Da ist jener Lehrer, der weit ab von der Hauptstadt in einem Dorf, dass im 15. Jahrhundert stehen geblieben scheint, gegen das "Gefängnis der Unwissenheit" angeht, in dem der Klerus die Einwohner gefangen hält. Da sind die unzähligen Namenlosen, die Arbeiter in den großen Städten, die Bauern des Alentejo, die Fischer von den Azoren.

Fünf entscheidende Jahre lang ist der Autor kreuz und quer im Land unterwegs den Puls der Geschichte zu fühlen. Und er fühlt, sieht und schildert auch die sehr bald einsetzenden Versuche der Restauration, die übergehen in immer brutaleres und offensiveres Zurückdrängen der Errungenschaften der Nelkenrevolution. Dieses Buch ist nicht schlechthin Chronik, es ist auch Lehrbuch. Allen Phrasen zum Trotz, die eine himmelhoch über den Köpfen schwebende, Freiheit predigen, zeigt es: Freiheit die der Arbeiter, der Bauern, die der Fischer - will vor allem geschützt und durchgesetzt werden.

Ist das nun eine pessimistische Chronik, ob der erstickten Revolution? Nein - "Eines Tages wird ein Sender 'Grândola, Vila Morena' erneut ausstrahlen!" Und in anderen Ländern kommt das Signal vielleicht über Facebook vielleicht ...

In seinem letzten Brief an Klaus Steiniger schreibt Vasco Gonçalves: "Wir brauchen Verständnis für die lange Dauer des Geschichtsverlaufs. Da gibt es Vormarsch und Rückzug. Wir sind nicht imstande, die Zukunft kurzfristig vorauszusehen. Heute erleben wir die Alternative: Barbarei oder Sozialismus."


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Aus den Tagen der Nelkenrevolution: Soldaten an der Seite des portugiesischen Volkes

Raute

Marginalien

Echo

Nur ein paar wenige Gedanken

Seit 2008 habe ich ICARUS abonniert und lese, besser gesagt studiere, jede neue Nummer sehr aufmerksam. Aber ich lese nicht nur, sondern vermittle neue und alte Erkenntnisse weitet Weitervermittlung heißt für mich, nicht nur mit Gleichgesinnten ins Gespräch zu kommen, sondern vor allem mit Menschen, die im Alltagsleben stehen. So bietet sich mir die Möglichkeit vor allem beim Einkauf in den Super-Centern, wo Menschen einkaufen, die mit jedem Cent sparen müssen. Für mich ist es der Ausgangspunkt, diese meist Neubundesbürger anzusprechen, sie auf immer höhere Preise hinzuweisen und ihnen zu erklären, warum die Preisspirale noch längst nicht zu Ende ist. Ich versuche, ihnen zu erläutern, wer dann am meisten verdient, warum diese Gesellschaftsordnung in aller Welt Krieg führt und warum gerade damit höchster Profit für die Monopole erzielt wird.

Viele Angesprochene stimmen zu, einige führen das Gespräch in diesem Sinne weiter, aber die meisten meinen: das sei zwar ganz gut und richtig, aber wem sollten sie denn zur nächsten Wahl ihre Stimme geben? Sie könnten ja sowieso nichts ändern.

Als parteiloser Kommunist versuche ich auch darauf zu antworten. Aber dann schließen sich meistens die Ohren. Warum? Welche Partei gibt denn heute in diesem "wiedervereinigten" Deutschland noch ein Ziel vor? Es reicht doch nicht aus, den Kapitalismus nur sozialer und menschlicher gestalten zu wollen.

Bernd Hietschold, Gera


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Aus dem Gästebuch der Hans-Vent-Ausstellung in der GBM-Galerie

Eine wunderbare Vent-Ausstellung. Bitte um Einladungen zu Ausstellungseröffnungen. Danke.

Barbara Haase, 12439 Berlin


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Danke an eine Leserin

Dass wir in dieser ICARUS-Ausgabe die zwei Lyrikbände von Helmut Preißler rezensieren können, verdanken wir einer Leserin, die uns auf die Neuerscheinungen hinwies und auch den Verlag veranlasste, uns Rezensionsexemplare zu schicken.

Danke für diese Anteilnahme an der Arbeit unserer Zeitschrift.

Redaktion


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Kleine Wahrheiten

Ich möchte was darum geben, genau zu wissen, für wen eigentlich die Taten getan worden sind, von denen man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland getan worden.
Georg Christoph Lichtenberg

Ehrliche Menschen träumen, sie wären unehrlich. Wachen sie auf, schämen sie sich. Unehrliche Menschen träumen, sie wären ehrlich. Wachen sie auf, wundern sie sich nicht.
Fasil Iskander

Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt.
Georg Christoph Lichtenberg


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Aphorismen

Großzügigkeit ist der vollständigste Ausdruck von Freiheit. Ein anziehender Verstand ist einer, bei dem die Freiheit von Dummheit besonders deutlich spürbar wird.
Fasil Iskander

Es wird neben den schnellsten Bewegungen immer langsame geben, ja solche von äußerster Langsamkeit, dass wir ihren Verlauf gar nicht erleben. Aber dazu, nicht wahr, ist ja die Menschheit da, dass sie abwarte, was über den einzelnen hinausreicht.
Rainer Maria Rilke

Es ist alles still wie in einer verschneiten Winternacht: nur ein leiser monotoner Tropfenfall. Das sind die Zinsen, die fortlaufend hinabträufeln in die Kapitalien, welche beständig anschwellen; man hört ordentlich, wie sie wachsen, die Reichtümer der Reichen.
Dazwischen das leise Schluchzen der Armut. Manchmal auch klirrt etwas, wie ein Messer, das gewetzt wird.
Heinrich Heine

Angst ist die unschuldigste Form der Reife.
Siegfried Lenz

Wir haben keine Stimme aus der Höhe gehört, die uns befahl, ein Schicksal zu erfüllen; wir haben keinen Ruf aus der Tiefe vernommen, uns anzuleiten. Für uns kann es nur eine Stimme und einen Führer geben: Vernunft und Verständnis. Wenn wir diese verwerfen, werden wir Abtrünnige der Zivilisation.
Alexander Herzen

Wenn man lügen muss, soll man auch lügen. Man lügt ja zu demselben Zweck, wie man die Wahrheit sagt. Man lügt eben, weil man sich von der Lüge einen Vorteil verspricht, gerade wie man die Wahrheit sagt, weil man damit Vorteil gewinnen und sich andere um so mehr verpflichten will. Hier wie dort ist es, auf verschiedene Weise, auf dasselbe abgesehen.
König Dareios

Neben dem Vergessen durch Vergessen gibt es ein Vergessen durch Verehrung.
Jewgeni Jewtuschenko


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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ralf Alex Fichtner, Finelinerzeichnung, laviert, 14,8 x 21 cm

Raute

Freiheit, ganz wörtlich gemeint

3478 Tote, 2099 Verletzte hat der Terror gekostet. Es sind kubanische Opfer. Die Zahlen nannte der kubanische UNO-Botschafter 1999 vor der Vollversammlung in New York. Die Twin Towers standen noch, nach deren Zerstörung die USA bemerkt hatten, dass Terrorismus sich auch gegen sie selbst richten kann. Da erklärte der US-Präsident den Krieg gegen den Terror. Kuba hatte den Kampf gegen den Terror schon lange aufnehmen müssen, allerdings nicht mit Cruises missiles, Killerdrohnen und killing groups, sondern mit Aufklärung und Verhinderung terroristischer Aktivitäten, die von den Zentren der kubanischen Konterrevolution in Miami ausgingen.

Zehn dieser kubanischen Aufklärer wurden 1998 von Miamis FBI-Chef verhaftet. Fünf von ihnen, die sich zu ihrem Auftrag bekannten, sind seither politische Gefangene der US-Regierung. Die allein kann ihre Freilassung nach über 11-jähriger Haft verfügen. An die US-Regierung richten wir deshalb unsere Willensbekundung zur Freilassung der "Cuban 5".

Unsere Bitte:
Vereinen wir die Kraft unserer Stimmen mit der europäischen Kampagne "Eine Million Unterschriften für die Freiheit der Fünf".

Unterschriften können auf Listen, die in den Ortsorganisationen der GBM vorliegen, geleistet werden. Unterschriften können auch direkt über die Internetverbindung http://www.ipetitions.com/petitionmiami5.de/ eingetragen werden. Unsere Namen stehen da in einer Reihe mit Dario Fo, Nadime Gordimer, Mikis Theodorakis, Noam Chomsky, Rigoberta Menchu und Jose Saramago, die schon unterschrieben haben.

ICARUS


"Sie haben im Dezember 2001 ... fünf unserer Männer, die Informationen über terroristische Aktionen gegen Kuba gesammelt haben, zu schweren Haftstrafen verurteilt - drei von ihnen zu lebenslänglicher Haft, einen sogar zu zweimal lebenslänglich. Das sind fünf Genossen, die wir hier in Kuba zu Helden der Republik Kuba erklärt haben"

Fidel Castro

Antonio Guerrero. Flughafeningenieur und Autor: lebenslang + 10 Jahre
Gerardo Hernandez, Cartoonist, Politologe: 2 x lebenslang + 15 Jahre
Fernando Gonzalez, Politologe: 19 Jahre
Ramon Labanino, Wirtschaftswissenschaftler; lebenslang + 18 Jahre
Rene Gonzalez. Pilot. Fluglehrer und Autor 15 Jahre

Raute

Icarus? Ja, Poet Majakowski Ikarus. Es ist sein Foto.

Er steht da mit ausgebreiteten Armen über dem alten, orthodoxen Ruussland, bereit, den Versuch zu wagen, sich zu erheben, zu fliegen. Es ist auch sein Poem "Darüber", das Alexander Rodschenko mit einer Folge von Fotomontagen zu einem Buch vereinigt hat. Damals, 1923, wussten weder der Dichter noch sein Buchgestalter vom Scheitern. Da war das Bild ein Bild der Kühnheit, des Aufbruchs, der Zeitenwende. Sieben Jahre später war der Ikarus gestürzt.

Majakowski scheiterte nicht an der Selbstüberhebung. Nicht der Sonne kam er zu nahe. Feinde waren es auf der Erde, die ihn herunter zerrten. Menschen, die er beschrieben hatte, als er noch nicht wusste, welche Bedrohung sie waren, ihm und unserem kühnen Plan.

Klaus Georg


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Alexander Rodschenko: zu Wladimir Majakowski "Darüber", 1923, Fotomontage

Raute

Unsere Autoren:

Ahasverus - Pädagoge, Dabel/Mecklenburg
Klaus Eichner - Diplomjurist, Lentzke
Klaus Georg - Autor, Berlin
Bernd Gutte - Jurist, Görlitz
Wolfgang Konschel - Staatsrechtler, Berlin
Lorenz Knorr - Publizist, Frankfurt/M.
Werner Krecek, Dr. - Kulturwissenschaftler, Berlin
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Hector Corches Morales - Kulturattaché, Botschaft der Republik Kuba in Berlin
Klaus Speter - Publizist, Berlin
Klaus Georg Przyklenk, Dr. - ICARUS-Redakteur
Wolfgang Richter, Prof Dr. - GBM-Vorsitzender, Wandlitz
Dieter Rostowski, Dr. - Historiker, Kamenz
Ulrich Schneider, Dr. - Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR), Kassel
Jens Schulze, Dipl.ing. - Berlin
Velko Valkanov, Prof. Dr. - Vorsitzender des Bulgarischen Friedensrates, Sofia


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Titelbild:
Hans Vent: "Paar im Raum<>, 2008, Acryl/Papier 100 x 70 cm
2. Umschlagseite:
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung
Rückseite des Umschlags:
Alexander Rodschenko: zu Wladimir Majakowskis Poem "Darüber", Fotomontage 1923

Abbildungsnachweis:
Archiv Przyklenk, S. 7, 11, 12, 13, 14, 21, 22, 24, 27, 33, 39, 40(2), 41, 42

edition ost, S. 47
Eulenspiegelverlag Berlin, S. 31
Ralf Alex Fichtner, S. 52
Grazer Landesmuseum, S. 32
Kubanische Nachrichtenagentur, S. 36, 37, 38 und 3. US (5)
Jürgen Kuhlmann, S. 49
Hans Vent, 1. US
Verlag am Park, S. 45
Verlag Das Neue Berlin, S. 43
Verlag der Nation, S. 50
Verlag Die Furche, S. 48
Verlag Neues Deutschland, S. 18
Verlag des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes, Praha. S. 35


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Danke

Es ist an der Zeit, uns wieder einmal bei allen Abonnenten und Freunden des ICARUS zu bedanken, die unsere Arbeit mit Spenden unterstützen, auch wenn sie noch so klein sind.

Raute

Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Telefon: 030/5578397
Fax: 030/5556355
Homepage: http://www.gbmev.de
E-Mail: gbmev@t-online.de
V.i.S.d.P.: Wolfgang Richter
Begründet von:
Dr. theol. Kuno Füssel,
Prof. Dr. sc. jur. Uwe-Jens Heuer,
Prof. Dr. sc. phil. Siegfried Prokop,
Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
Dr. Klaus Georg Przyklenk
Puschkinallee 15A, 15569 Woltersdorf
Tel.: 03362/503727
E-Mail: annyundklausp@online.de

Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms

Redaktionsschluss: 17.5.2011

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-359-7

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe weiter oben) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

Herausgeber und Redaktion arbeiten ehrenamtlich. Die Redaktion bittet um Artikel und Dokumente, die dem Charakter der Zeitschrift entsprechen. Manuskripte bitte auf elektronischem Datenträger bzw. per E-Mail und in reformierter Rechtschreibung. Honorare können nicht gezahlt werden. Spenden für die Zeitschrift überweisen Sie bitte auf das Konto 13 192 736, BLZ 10050000 bei der Berliner Sparkasse. Helfen Sie bitte durch Werbung, die Zeitschrift zu verbreiten.


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Quelle:
ICARUS Nr. 2/2011, 17. Jahrgang
Herausgeber:
Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Telefon: 030 - 557 83 97, Fax: 030 - 555 63 55
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Internet: http://www.gbmev.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2011