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IMI/1023: Lasst uns die Menschen aus den Lagern holen!


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Standpunkt 2020/012 vom 9. April 2020

Lasst uns die Menschen aus den Lagern holen!

von Jacqueline Andres


Moria - das Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesvos - droht nochmal mal mehr ein Sinnbild der menschenverachtenden Politik der EU zu werden. Rund 20.000 Menschen, eingepfercht in einem für etwa 2.500 Personen ausgerichteten Lager, teilen sich unzureichende sanitäre Anlagen. Corona steht vor den Türen des Lagers - die ersten Fälle auf den Insel wurden bereits letzte Woche gemeldet.

Die Menschen in Moria können sich noch nicht mal regelmäßig die Hände waschen!

In Teilen des Lagers nutzen rund 1.300 Menschen den gleichen Wasserhahn - Wasser gibt es für etwa vier Stunden täglich. Ein Klo wird von mehr als 160 Menschen genutzt. Erst jetzt wurde Seife gekauft, um die zahlreichen Menschen damit zu versorgen. Wer weiß, wann genau sie die Menschen erreicht.

Viele Hilfsorganisationen haben ihre Arbeit in den Lagern bereits eingestellt - die Menschen, die in den Lagern unter straffer Ausgangssperre stehen, sind somit immer mehr auf sich alleine gestellt!

Sehenden Auges lässt die EU dieses und die anderen Lager in Griechenland ins Desaster schlittern. Die EU und die BRD machen sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Einige Menschen in Moria nähen sich Schutzmasken, einige sind in den Hungerstreik getreten und haben sich als Zeichen des Protests die Lippen zugenäht. Doch selbst der Protest wird ihnen verboten - die griechische Polizei hat ihnen die zugenähten Münder mit Zwang wieder geöffnet! Sie haben ein Recht darauf zu leben, sich zu schützen und zu demonstrieren! Was können sie machen? Oder besser: Was können wir machen?

Wir haben Platz!

Bereits vor vier Wochen kündigte die BRD an, mit weiteren sieben EU Staaten insgesamt 1,500 unbegleitete Minderjährige von den Inseln aufnehmen zu wollen. 1,500 von 12,000 Kindern! Wochenlang geschah nichts. Nun heißt es, im Laufe der kommenden Woche nehme Luxemburg ganze 12 ja genau ein dutzend Kinder auf und Deutschland ganze 50. Das ist Hohn, das ist ekelhaft und unfassbar beschämend!

140 Städte und Kommunen aus der BRD haben ihre Bereitschaft dazu erklärt, Menschen aus den Lagern unterzubringen. Würden alleine diese je 300 Menschen aufnehmen, dann könnten alle 42.000 Menschen aus den Lagern von den griechischen Inseln Lesvos, Kos, Chios, Samos und Leros umverteilt werden. Die Bundesrepublik verfügt über 964.000 Hotelzimmer - die meisten sind momentan nicht belegt. Alleine im Tübinger Ibis Hotel stehen aktuell 126 Zimmer leer! Wir haben Platz!

Wir können sie herholen!

Ganze 50 Millionen EUR wurden für die Rückholaktion deutscher Staatsbürger*innen ausgegeben, ganze 40.000 Erntehelfer*innen sollen via Luftbrücke zur Spargelernte nach Deutschland eingeflogen werden - die Bundesregierung kann eine solche logistische Leistung ganz offensichtlich mit Leichtigkeit stemmen. Der Verein Mission Lifeline e.V. hat bereits alles für einen Charterflug von Berlin nach Lesvos spendenbasiert organisiert. Rund 100 Menschen könnten ab sofort nach Deutschland geholt werden - was fehlt ist die Genehmigung vom Auswärtigen Amt und dem Innenministerium, um die Start- und Landeerlaubnis zu erhalten. Es scheint der politische Wille zu sein, der fehlt. Der Verein Sea Watch fordert die EU-Kommission auf, die stillgelegten Kreuzfahrtschiffe zu nutzen, um die Menschen aus den Lagern zu holen. Das Kreuzfahrtschiff AIDAnova verfügt zum Beispiel über stolze 2626 Gästekabinen.

Wir können Druck aufbauen!

Wir können uns dem Appell anschließen, uns postalisch und per Email an die Abgeordneten zu wenden und von ihnen die Aufnahme der Menschen aus den Lagern zu fordern. Wir können Banner aus unseren Fenstern hängen, Schilder mit uns tragen, die Forderung auf unsere Mundschutzmasken schreiben und mit unseren Mitmenschen darüber reden - ob beim Spaziergang oder am Telefon. Portugal hat es vorgemacht, wie Solidarität mit Migrant*innen aussehen kann - alle Menschen in Portugal, ganz unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, haben im März 2020 eine vorerst bis Juli gültige Aufenthaltserlaubnis und somit auch Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen erhalten. Warum sollte das nicht auf die gesamte EU und die Lager anwendbar sein? Letzten Sonntag fand der bundesweite Aktionstag Leave No One Behind (Lass niemanden zurück) statt. In Berlin wurde ein Autokorso aufgelöst und in Frankfurt eine Protestaktion, bei der der Mindestabstand eingehalten wurde. Hier in Tübingen ermittelt nun die Kriminalpolizei weil in der Stadt Banner und Schilder aufgehängt wurden, mit Sprühkreide gesprüht und zwei künstlerische etwa jeweils 2 Meter lange Grenzinstallationen an den Rändern des weitläufigen Sternplatzes errichtet wurden. Doch was ist kriminell daran, auf die desaströsen Zustände in den Lagern hinzuweisen und von unseren Politiker*innen zu fordern, die Menschen aus diesem Horror rauszuholen?

Wir lassen uns nicht einschüchtern - in den Lagern kann sich ein mögliches Massensterben entfalten und trotz Corona können wir und müssen wir dagegen demonstrieren - ob virtuell, ob mit Kunst im öffentlichen Raum oder mit Mindestabstand auf der Straße! Lasst uns gemeinsam Druck auf unsere Regierung ausüben und die Menschen aus den Lagern holen! Lasst uns für die Grundrechte, die Menschenwürde und die Menschlichkeit einstehen!

Die Bundesregierung macht uns glauben, sie würde sich zur Zeit mit ihren neuen Regeln und Gesetzen vorrangig für die Menschen und ihre Gesundheit stark machen. Wenn das zur Folge hat, dass wir ihre menschenverachtende Politik nicht mehr im öffentlichen Raum kritisieren dürfen und wenn wir wissend 40.000 Menschen innerhalb Europas in den Lagern lassen, ohne uns für sie einzusetzen, dann ist Europa kein lebenswerter Ort mehr, sondern ein Ort des Schreckens, der seine Menschlichkeit verloren hat. Dann bin ich versucht zu schreien: Soll uns Corona doch zu Grunde richten! Keine/r von uns kann sagen, er oder sie habe von nichts gewusst. Lasst die Menschen aus den Lagern holen! Lasst uns unser wertvolles und fundamentales Recht zu Protestieren und unsere Menschlichkeit kämpferisch verteidigen!

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Quelle:
IMI-Standpunkt 2020/012 vom 9. April 2020
Lasst uns die Menschen aus den Lagern holen!
http://www.imi-online.de/2020/04/09/lasst-uns-die-menschen-aus-den-lagern-holen/
Herausgeber: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
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E-Mail: imi@imi-online.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2020

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