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IMI/1058: Hunger am anderen Ende der Welt - Eine globale Folge des Krieges in der Ukraine


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Analyse 2022/22 vom 4. April 2022

Hunger am anderen Ende der Welt
Eine globale Folge des Krieges in der Ukraine

von Peter Clausing


Die Konsequenzen von Kriegen tragen bekanntermaßen nicht jene, die ihn angezettelt haben und - im vorliegenden Fall - schon gar nicht jene, die durch das jahrzehntelange Versagen einer Entspannungspolitik indirekt zu seinem Ausbruch beigetragen haben und nun auf ein Regime Change beim Aggressor hoffen, der am 24. Februar 2022 selbst den Versuch eines Regime Change in seinem Nachbarland startete. Die ukrainische Bevölkerung ist das Opfer dieses Krieges. Seine Dauer, damit verbundenes Leid und mit ihm einhergehende Zerstörungen sind nicht absehbar.

Wenig beachtet wird die Bevölkerung eines Landes, dessen Hauptstadt rund 2.400 km Luftlinie von Kiew entfernt ist und das vor rund 10 Jahren mit einem Regime Change bedacht wurde, die nun zusätzlich und besonders heftig unter den Folgen des Ukraine-Kriegs zu leiden hat. Die Rede ist von Libyen, einem Land, das von 2011 bis 2020 von Bürgerkriegen erschüttert wurde.

Dabei ist - wie unten zu lesen sein wird - Libyen nicht das am schwersten betroffene Land, was die vom Ukraine-Krieg ausgehenden Schockwellen für die Welternährung anbetrifft. Aber es ist ein besonders tragisches Beispiel für das Nicht-zur-Ruhe-kommen unter den Bedingungen eines krisengeschüttelten Globus. Betrachtet man die Importabhängigkeit bei Weizen im Kontext des Ukrainekriegs, liegt Libyen - zusammen mit Pakistan und Tansania - im oberen Mittelfeld. In der Summe kamen 2021 etwas über 50 Prozent der Weizenimporte dieser Länder aus Russland und der Ukraine, bei Ägypten waren es über 70 Prozent, bei Eritrea 100 Prozent.

Inzwischen dürfte in das öffentliche Bewusstsein vorgedrungen sein, dass Russland und die Ukraine zu den wichtigsten Produzenten von Weizen, Gerste und Sonnenblumenkernen bzw. -öl gehören. Beide Länder zusammengenommen produzieren über die Hälfte der globalen Sonnenblumenernte. Bei Gerste und Weizen sind es 19 bzw. 14 Prozent. Hinzu kommt die Abhängigkeit vieler Landwirte von Düngemitteln, bei denen die Russische Föderation Spitzenplätze unter den Exporteuren einnimmt - Platz 1 bei Stickstoffdüngern und Platz 2 bei Phosphor und Kalium. Damit nicht genug, stellt die Synthese von Stickstoffdüngern, wofür inzwischen weltweit fast ausnahmslos Gas verwendet wird, einen extrem energieintensiven chemischen Prozess dar. Die hohen Gaspreise schlugen sich bereits vor Beginn des Krieges in den Stickstoffdüngerpreisen nieder und eine Störung der Gasversorgung in der EU hätte auch Folgen für Preise und Verfügbarkeit von Stickstoffdüngern, deren Produktion an anderen Standorten umso wichtiger würde, wenn Russland als Exporteur ausfällt. Derzeit ist es aber so, dass der größte westliche Düngemittelproduzent - das norwegische Unternehmen Yara - seine Produktion aufgrund der hohen Gaspreise zurückfährt.[1]

Drei Faktoren machen wahrscheinlich, dass es infolge des Krieges zu einer spürbar geringeren Getreidemenge auf dem Weltmarkt und somit zu einer massiven Verschärfung der Ernährungssituation in jenen Ländern führen wird, die von Getreideimporten abhängig sind: ungeerntete Flächen, unbestellte Flächen und geringere Erträge. Hinzu kommen logistische Probleme und die Folgen von Sanktionen. All diese Aspekte wurden in einer 40-seitigen Studie[2] der Welternährungsorganisation (FAO) beleuchtet, die Anfang März 2022 publiziert wurde.

In Russland und in der Ukraine wird das Wintergetreide in der Regel im Juni und Juli geerntet. Ab April wächst diese Aussaat und es müsste gedüngt werden. Zur gleichen Zeit beginnt die Periode der Aussaat von Sommergetreide und Sonnenblumen. Aussaat und Ernte, aber auch die Düngung und Behandlung mit Pestiziden in der Ukraine dürften durch die kriegsbedingte Zerstörung von Äckern, durch die fehlende Zugänglichkeit der Äcker aufgrund von Kampfhandlungen und durch das Fehlen von Arbeitskräften, die zum Militärdienst eingezogen wurden, beeinträchtigt werden. Hinzu kommt bei Stickstoffdünger, der sich auch zur Herstellung von Sprengstoff eignet, dass er für militärische Zwecke abgezweigt werden könnte. Die FAO schätzt, dass in der Ukraine 20 Prozent des Wintergetreides nicht geerntet werden und dass 30 Prozent der Felder unbestellt bleiben könnten. Ein großer Teil der ukrainischen Getreideexporte wird normalerweise über die Schwarzmeerhäfen abgewickelt, insbesondere für die Exporte in den Nahen Osten und nach Nordafrika. Diese Häfen stehen derzeit jedoch nicht zur Verfügung. Auf der russischen Seite sind es vor allem Handelssanktionen, die zu einem verringerten Angebot an Getreide auf dem Weltmarkt führen könnten. Bezüglich des Sonnenblumenöls schätzt die FAO ein, dass dies - im Gegensatz zu Getreide - durch andere Ölfrüchte (Raps, Soja etc.) leichter ersetzt werden könne.

Schon 2021 hatte der Food Price Index der FAO, in den die Weltmarktpreise von 95 Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln einfließen,[3] den Wert von 2008, als es in 39 Ländern zu "Brotrevolten" kam,[4] deutlich überschritten. Während der Index im Jahr 2008 bei 117,5 lag, kletterte er 2021 auf 125,7. Dass es keine neuen Brotrevolten gab, bei denen in der Regel die städtische Bevölkerung der betroffenen Länder erschwingliche Lebensmittelpreise einfordert, war vor allem auf staatliche Subventionen zurückzuführen.

Preistreibend wirkte im vorigen Jahr vor allem die Preisentwicklung bei Energierohstoffen. Selbst in Deutschland hatte das schon vor Ausbruch des Ukraine-Krieges zu rund fünf Prozent höheren Lebensmittelpreisen geführt. Der Präsident des Handelsverbands Deutschland, Josef Sanktjohanser, rechnet mit einer zweiten Welle an Preissteigerungen in Deutschland, die dann "sicherlich zweistellig" ausfallen werde.[5]

Es gibt berechtigte Zweifel, dass finanziell angeschlagene Länder, die infolge von Klimawandel und Corona-Krise schon in den Jahren zuvor extrem belastet wurden, die Preissteigerungen bei Lebensmitteln abpuffern können. In einem Arbeitspapier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik[6] wird von "schwindender staatlicher Stabilität im Nahen und Mittleren Osten" (angesichts der realen Situation ein Euphemismus) gesprochen. Die Autoren des Papiers betrachten Ägypten, Jordanien, Libanon, Libyen und Tunesien als Länder, die vor inneren Unruhen stehen würden, weil sie "signifikant von Nahrungsmittelimporten abhängig sind".

Modellrechnungen der FAO zufolge wird sich die Zahl der unterernährten Menschen weiter erhöhen. Diese Zahl steigt bereits seit mehreren Jahren wieder an (2019: 799 Mio.; 2020: 814 Mio.; 2021: 817 Mio). Im Jahr 2022 erwartet die FAO zusätzlich zwischen 7,6 (mittleres Szenario) und 13,1 Millionen Menschen (worst case) in dieser Kategorie.

In einem gemeinsam veröffentlichten Papier von FAO und Welternährungsprogramm (WFP)[7] wurden die Hunger-Hotspots für die Zeit von Februar bis Mai 2022 identifiziert. Das sind Länder, in denen Teile der Bevölkerung von akuter Hungerkrise und damit verbunden Hungertod bedroht sind. Das sind Äthiopien, Jemen, Südsudan und - in den Medien kaum beachtet - Nigeria. Hinzu kommen die "Besorgnis erregenden" Länder Afghanistan, Demokratische Republik Kongo, Haiti, Honduras, Sudan, Syrien und die Zentralafrikanische Republik. Viele dieser Länder sind von einer WFP-Unterstützung abhängig. Aber die Lieferungen des WFP müssen auf dem Weltmarkt eingekauft werden. Das sind in der Tat düstere Aussichten.

Wenn hohe Lebensmittelpreise auf Haushalte mit geringer Kaufkraft treffen, hat das auch bei Menschen, die nicht von einer akuten Hungerkrise bedroht sind, negative Konsequenzen - selbst in Deutschland. Um das Essen zu finanzieren, wird dann bei Ausgaben für Heizung, Bildung und Gesundheit gespart.

Die Dringlichkeit, den Ukraine-Krieg zu beenden, besteht also nicht nur mit Blick auf die unmittelbar betroffene Bevölkerung in diesem Land, sondern auch aufgrund der schwerwiegenden Auswirkungen auf Millionen von Menschen, die Tausende Kilometer entfernt vom Krisenherd leben. Diplomatie ist die einzige Lösung.


Anmerkungen

[1] "Yara curtails production due to increased natural gas prices", Pressemitteilung vom 9.3.2022, www.yara.com.
https://www.yara.com/corporate-releases/yara-curtails-production-due-to-increased-natural-gas-prices/

[2] FAO: The importance of Ukraine and the Russian Federation for global agricultural markets and the risks associated with the current conflict, verfügbar unter: www.reliefweb.int.
https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/cb9013en.pdf

[3] FAO Food Price Index (04/03/2022), www.fao.org.
https://www.fao.org/worldfoodsituation/foodpricesindex/en/

[4] Klaus Pedersen: Food Riots sind keine "chaotischen Gewaltausbrüche", IMI-Analyse 2010/006, AUSDRUCK (Februar 2010), www.imi-online.de.
https://www.imi-online.de/2010/02/16/food-riots-sind-kein/

[5] "Lebensmittel werden noch teurer - bei Aldi schon ab Montag", Meldung im Deutschlandfunk vom 4.3.2022, www.deutschlandfunk.de.
https://www.deutschlandfunk.de/lebensmittel-werden-noch-teurer-bei-aldi-schon-ab-montag-104.html

[6] Stefan Lukas / Marius Paradies: Düstere Aussichten für den Nahen Osten: Russlands Angriffskrieg und seine Folgen für die regionale Ernährungssicherheit, BAKS-Arbeitspapier 2/22, www.baks.bund.de.
https://www.baks.bund.de/de/arbeitspapiere/2022/duestere-aussichten-fuer-den-nahen-osten-russlands-angriffskrieg-und-seine

[7] FAO/WFP: Hunger Hotspots February to May 2022 Outlook, docs.wfp.org.
https://docs.wfp.org/api/documents/WFP-0000136243/download/


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Quelle:
IMI-Analyse 2022/22 vom 4. April 2022
Hunger am anderen Ende der Welt
https://www.imi-online.de/2022/04/04/hunger-am-anderen-ende-der-welt/
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 9. April 2022

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