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IMI/1091: Brüchiger Frieden in Mali


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Analyse 2023/20 vom 19. April 2023

Brüchiger Frieden in Mali

von Pablo Flock


Das malische Militär überfliegt Positionen der Tuareg im Norden mit Kampfjets, was von diesen als Waffenstillstandsbruch gewertet wird. Der Friedensprozess steckt fest. Die Tuareg lehnen Verfassungsentwurf ab.

Kurz vor dem Jahrestag der Ausrufung des Tuareg-Staats "Azawad" im Norden Malis am 6. April 2012, flog das malische Militär am 5. April 2023 mit Kampfjets über die Stadt Kidal und Basen der Tuareg-Organisationen, die seit einem Friedensvertrag im Jahr 2015 in den nördlichen Provinzen geduldet sind. Von Seiten des Verteidigungsministeriums wurde keine Erklärung gegeben, doch es steht zu vermuten, dass es sich um eine Warnung vor den Feierlichkeiten handelte, zu denen die Tuareg auch Diplomaten und Vertreter internationaler Organisationen eingeladen hatten.

Die Koordination der Bewegungen des Azawads (CMA) beklagte, dass malische Streitkräfte "in bewusst provokativer Höhe" über ihre "Stellungen in Ber, Amassine, Anafis und Kidal geflogen sind, und das inmitten einer Zeit der Spannungen aufgrund des festgefahrenen Friedensprozesses". Für sie handelt es sich um "eine offenkundige Verletzung des Waffenstillstands vom 23. Mai 2014 und eine schwere Provokation, die unter den Augen der internationalen Gemeinschaft, die für die Sicherheitsvereinbarungen und das Friedensabkommen bürgt, stattfand". Einige malische Medien berichteten, die Tuareg hätten Warnschüsse aus Flugabwehrkanonen abgegeben, was von diesen wiederum als Kriegserklärung dargestellt wird.[1]

Wie die junge Welt kürzlich berichtete, verkündete die MNLA, die größte der militärischen Tuareg Organisationen, sogar, "dass sie "keine Möglichkeit" mehr sehe für eine "gemeinsame Zukunft" mit Bamako."[2]

Solche Stimmen, die zu einer Rückkehr des militärischen Konflikts aufrufen, mehrten sich in letzter Zeit sowohl von malischen Politikern, die den Rückzug der CMA aus Gremien des Friedensprozesses als Blockade desselben bezeichnen, wie auch von Delegierten der Tuareg, die dies mit dem fehlenden politischen Willen begründen, die im Friedensvertrag festgehaltene Dezentralisierung im Verfassungsentwurf zu verwirklichen. Versuche des internationalen Mediationsteams angeführt von Algerien, die Krise in einem neuen Treffen zu klären, werden positiv von den Tuareg-Organisationen gesehen. Allerdings, gaben diese gegenüber Radio France International an, müsste die Regierung gewisse Unklarheiten ausräumen. "Wenn sie an bestimmten Punkten nicht mehr interessiert sind, müssen sie es allen sagen."[3]

Die Regierung wiederum steht auch unter dem Druck von Bellizisten, Nationalisten und anderen, die sie im malischen Kernland zu mehr Durchsetzungskraft gegenüber den Tuareg drängen. Das Medium MaliActu erinnert daran, dass die Regierung "als Reaktion auf die Entscheidung mehrerer unterzeichnender Bewegungen vom Dezember letzten Jahres, ihre Beteiligung an den verschiedenen Gremien des Abkommens auszusetzen, die ihnen in diesem Rahmen seit Anfang des Jahres gewährten Zugeständnisse ausgesetzt hatte",[4] und begründete damit die Rechtmäßigkeit der Einschüchterungsflüge.

Verschiedene lokale und internationale Medien, wie das malische Onlinemagazin Bamada,[5] deuten gar an, die internationale Gemeinschaft stelle sich im Bezug auf Mali und den Friedensprozess hinter Frankreich, welches Mali über kurz oder lang spalten wolle. Der 6. April wird als Beginn eines langen blutigen Kriegs und als nichts zum feiern gesehen.

Ein postkolonialer und internationaler Konflikt

Kurz nachdem die Tuareg vor elf Jahren ihren Staat ausgerufen hatten, wurden sie in eben diesem Gebiet von dschihadistischen Gruppen, die die Rebellen zuvor teilweise unterstützten, verdrängt. Schon während der Offensive der Tuareg putschte in Bamako das Militär und rief bald darauf die ehemalige Kolonialmacht Frankreich zur Hilfe, welche zusammen mit dem malischen Militär und den Tuareg die Dschihadisten bekämpfte. Während die Tuareg unter algerischer Vermittlung 2015 einen Friedensvertrag mit der Zentralregierung aushandelten, der ihnen neben der Duldung ihrer militärischen Stellungen auch Ministerposten in der Zentralregierung und Mitspracherechte bei einer möglichen neuen Verfassungsgebung einräumte, breiteten sich die Angriffe und Terroranschläge der Islamisten nach Süden aus. Trotz der Unterstützung durch die französische Operation Barkhane, deren Mandat sich zwischenzeitig beinahe über die ganze Sahelregion erstreckte, durch die europäische Ausbildungsmission EUTM und die Stabilisierungsmission MINUSMA der Vereinten Nationen, an denen sich auch Deutschland beteiligte, schaffte es das malische Militär nicht, die Islamisten in die Schranken zu weisen.

Im Sommer 2020 putschte wieder einmal das Militär und beendete damit Massenproteste gegen die Korruption und manipulierte Parlamentswahlen der Regierung des in zweiter Amtszeit regierenden Ibrahim Boubacar Keïtas (IBK) sowie deren Unfähigkeit, die Terroristen zurück zu drängen. Obwohl in den Massenprotesten der Ruf "France dégage!" (Frankreich hau ab!) das "IBK dégage!" oft ergänzte, bekannte sich die Putschregierung zügig und ausdrücklich zu den internationalen Militäreinsätzen.

Doch dies änderte sich nachdem Präsident Emmanuel Macron im Juni 2021 der Stimmung in der französischen Bevölkerung statt gab, die, wie viele Sahelbewohner*innen, die Truppenstationierung in den ehemaligen Kolonien im Sahel mehrheitlich ablehnte, und verkündete, die Operation Barkhane recht zügig zu reduzieren und langfristig beenden zu wollen. Die malische Regierung reagierte empört, forderte Frankreichs Truppen auf, so schnell wie möglich das Land zu verlassen, und verstärkte die Sicherheitszusammenarbeit mit Russland. Zuerst wurden nur Materiallieferungen bis hin zu Kampfjets zugegeben. Doch UN-Berichte bestätigten Anfang 2022 die im Westen schon lange gemutmaßte Anwesenheit russischer Söldner der Wagner-Gruppe und beschuldigen diese Menschenrechtsverletzungen, besonders das Töten von Zivilisten, begangen zu haben. Opfer soll ein Dorf der Fulbe (auch unter dem französischen Namen Peul bekannt) gewesen sein, die als marginalisierte Minderheit oft von den Islamisten rekrutiert werden. Auch unter französischer Führung gab es, zum Beispiel beim Beschuss einer Hochzeitsgesellschaft im Dorf Bounti, Massaker an Angehörigen dieser Ethnie. Trotzdem ist die Kooperation mit russischen Kräften natürlich ein rotes Tuch für die Westeuropäer, weshalb die Kampfausbildungen im Rahmen der EUTM ausgesetzt bleiben.

Während sich also an der rein militärischen Bekämpfung des Dschihadismus wenig geändert hat und mit Islamisten assoziierte Minderheiten wie die Fulbe durch die russische statt französische Militärunterstützung gegebenenfalls noch mehr Skrupellosigkeit ob des fehlenden westlichen Menschenrechtsregimes befürchten müssen, soll sich die Sicherheitslage jedoch maßgeblich verbessert haben.

Sicherheit und Frieden

Der vielschichtige Konflikt in Mali ist ohne Frage, auch ohne die jüngsten verbalen Scharmützel zwischen den Tuareg und der Zentralregierung ausarten zu sehen, noch lange nicht gelöst und dschihadistische Gruppen sind in weiten Teilen des Landes noch aktiv. Doch zumindest in den zentralen Regionen des Landes scheinen die Menschen sich wieder sicherer zu fühlen. So berichtet Olaf Bernau, Sprecher der NGO Afrique-Europe-Interact, in seinem Sahel-Blog von seiner jüngsten Delegationsreise, dass es "in jüngerer Zeit keine komplexeren Angriffe terroristischer Kräfte mehr auf Kasernen, Militärposten etc. gegeben" hätte. Nach Einschätzung seiner Gesprächspartner im Südwesten und in Zentralmali "hätten die terroristischen Gruppen die Fähigkeit verloren, größere Gebiete zu kontrollieren, was vor vor allem die stark von (dschihadistischem) Alltagsterror betroffenen Bauern und Bäuerinnen im Office du Niger betonen". Ein junger Beamter hätte ihm sogar erzählt, "dass die Antiterroreinheiten der malischen Armee in jüngerer Zeit Schwierigkeiten gehabt hätten, überhaupt noch größere Verbände von Terroristen ausfindig zu machen", da sich diese wohl in das Nachbarland Burkina Faso geflüchtet hätten, wo die dschihadistische Gewalt derzeit eskaliert. Nun "stünden im aktuellen Antiterrorkampf Kontrollen und die systematische Suche nach Waffen im Vordergrund."[6]

Die umfangreichen vierteljährlichen Berichte der Vereinten Nationen bestätigen dies teilweise. In den letzten beiden ist über die zentralen Regionen und den Südwesten hauptsächlich über institutionelle Bemühungen zur Rückführung von Binnenvertriebenen, lokale Friedens- und Landnutzungsabkommen und derlei befriedende Maßnahmen zu lesen. Dschihadistische Gewalt wurde in Zentralmali, außer in der an den Norden angrenzenden Region Mopti, fast nur durch selbstgebaute Minen, also aus dem Hinterhalt begangen.[7]

In den nördlichen Regionen - Gao, Kidal und Timbuktu - und in Mopti an der Grenze zu Burkina Faso werden immer noch Gebiete vom Islamischen Staat in der Sahara und der an al-Qaida angebundenen Jama'a Nusrat ul-Islam wa al-Muslimin kontrolliert, die sich auch gegenseitig bekämpfen. Dies führte auch im letzten Quartal wieder zu über zehntausend Binnenvertriebenen, was in Hotspots wie der Stadt Kidal wieder Konflikte über Wasser und Land zwischen lokaler Bevölkerung und Binnenvertriebenen anfachte. Die dort verantwortlichen Tuareg beklagen mitunter auch, die Zentralregierung würde sich in der Terrorbekämpfung zu sehr auf die zentralen Gegenden konzentrieren und sie somit mit dem Problem im Norden alleine lassen.

Zuhause geliebt, im Westen verhasst

In den zentralen Gegenden scheint die Putschistenregierung, die unter Jubel in Bamako mit gepanzerten Wagen einfuhr und - auch noch als die Frankreich und die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) Sanktionen gegen das Land verhängte - Zehntausende zu ihrer Unterstützung auf die Straße brachte, noch immer große Zustimmung zu genießen. Die gegenüber Bernau besonders häufig genannten Gründe dafür seien der, im Vergleich zur vorherigen Regierung, "ungleich ernsthafter geführte Kampf gegen Korruption", "die spürbare Verbesserung von öffentlicher Infrastruktur", "die Beseitigung des mafiösen Handels mit Landtiteln" und auch die Verwendung des Bambara, der Sprache der größten Ethnie des Landes, in öffentlichen Stellungnahmen der Regierung. Die in der europäischen Berichterstattung so präsente Militärkooperation mit Russland bzw. deren Wagner-Söldner sei, laut Bernau, kaum Thema in der Bevölkerung - und wenn, dann als positive Referenz bezüglich effektiver Ausrüstungslieferungen für die Armee.

Letztendlich wird die Übergangsregierung auch außerhalb des Landes alles andere als nur gerügt. So finden sich im UN-Quartalsbericht keine harten Worte oder gegenüber den Bemühungen der Übergangsregierung im Friedensprozess und es wird angemerkt, dass auch Elemente aus dem Friedensvertrag in den Verfassungsentwurf einflossen. Neben verschiedenen Kritiken an diesem, von Seiten der Tuareg, aber auch von religiösen Führern, die die laizistische Natur der neugegründeten Republik ablehnen, und natürlich von den altgedienten Parteien, wird ebenso festgestellt, dass er vom größten Gewerkschaftsbund und anderen soziokulturellen Organisationen begrüßt wird. Die laufenden Vorbereitungen für Wahlen werden ausgiebig beschrieben.

Dass die sogenannte internationale Gemeinschaft, bzw. zumindest die Vereinten Nationen, diese Bemühungen nicht als unzureichend oder Farce ablehnen, zeigt sich auch daran, dass die MINUSMA und andere UN-Organisationen zum Beispiel bei der Rekrutierung von Wahlhelfern assistieren und diese an bereitgestellten Technologien zur biometrischen Erkennung ausbilden, verschiedene Programme zur Einbeziehung von Frauen und Mädchen in die Wahlen und Politikprogramme durchführen, und sich an Wiedereingliederungsmaßnahmen für ehemalige Kämpfer der Islamisten und der Tuareg sowie ihre Familien beteiligen. Warum ausgerechnet Militärs deren Einkommensform demilitarisieren, ist wiederum eine andere Frage.

Inwieweit die CMA berechtigte Kritik an nur nachlässig verwirklichten Abmachungen zur Dezentralisierung der Macht in der Verfassung anbringt oder ob es hauptsächlich um das Gefeilsche um Posten und Gehälter bei der geplanten Integration der Tuareg-Kämpfer und Offiziere in die malische Armee geht, ist schwer zu durchschauen oder auch eine Frage der Perspektive. Wenn sie allerdings, wie Berichte des US Mediums Voice of America andeuten [8], wirklich gemeinsame Sache mit dem lokalen al-Qaida-Ableger und dessen Führer Iyad Ag Ghaly machen sollten, gefährden sie nicht nur ihre im Friedensvertrag ausgehandelten Pfründe, sondern auch die Hoffnung von Millionen von Malier*innen auf ein gerechteres politisches System.


Anmerkungen

[1] Mali : Vive tension entre les parties signataires de l'Accord de paix de 2015. 06.04.2023 maliactu.net
https://maliactu.net/mali-vive-tension-entre-les-parties-signataires-de-laccord-de-paix-de-2015/

[2] Tiedjen, Jörg: Gespenst der Sezession Mali: Tuareg lehnen Entwurf zu neuer Verfassung ab. Ruf nach Vermittlung. 05.04.2023 jungewelt.de
https://www.jungewelt.de/artikel/448302.konflikt-im-sahel-gespenst-der-sezession.html

[3] Baché, David: Mali: ce que l'on sait des propositions de la médiation pour sauver l'accord de paix. 11.04.2023 rfi.fr
https://www.rfi.fr/fr/afrique/20230411-mali-pr%C3%A9cisions-sur-les-propositions-de-la-m%C3%A9diation-pour-sauver-l-accord-de-paix

[4] Mali : Vive tension entre les parties signataires de l'Accord de paix de 2015. 06.04.2023 maliactu.net
https://maliactu.net/mali-vive-tension-entre-les-parties-signataires-de-laccord-de-paix-de-2015/

[5] Thiam, Ahmed M.: Célebration de la déclaration de l'indépendance de l'Azawad: Médiation internationale complice, rébellion insolente. 11.04.2023 bamada.net
https://bamada.net/celebration-de-la-declaration-de-lindependance-de-lazawad-mediation-internationale-complice-rebellion-insolente

[6] Bernau, Olaf: Mali im Umbruch - Eindrücke von einer 2-wöchigen Delegationsreise nach Mali olafbernau.de
https://olafbernau.de/2023/02/21/09-02-2023-mali-im-umbruch-eindruecke-von-einer-2-woechigen-delegationsreise-nach-mali/

[7] United Nations Security Council: Situation in Mali. Report of the Secretary General. 30.03.2023 Download: securitycouncilreport.org/
https://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7b65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3-CF6E4FF96FF9%7d/S_2023_236.pdf

[8] Mali Jihadist Leader in Secret Talks With Northern Groups. 31.01.2023 voanews.com
https://www.voanews.com/a/mali-jihadist-leader-in-secret-talks-with-northern-groups/6942094.html
Weitere Hintergründe zu den jüngsten Zusammenschlüssen der Tuareg, der aktuellen Lage der internationalen Militäreinsätze und zum geopolitischen Rahmen in der letzten IMI-Analyse zu dem Thema:
Marischka, Christoph: IMI-Analyse 2023/06: Sahel. Neue Allianzen, neue Missionen 16.02.2023
https://www.imi-online.de/2023/02/16/sahel/


Der Artikel kann im PDF-Format heruntergeladen werden unter:
https://www.imi-online.de/download/IMI-Analyse2023-20-Mali.pdf

*

Quelle:
IMI-Analyse 2023/20 vom 19. April 2023
Brüchiger Frieden in Mali
https://www.imi-online.de/2023/04/19/bruechiger-frieden-in-mali/
Herausgeber: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Hechinger Str. 203, 72072 Tübingen
Tel.: 07071/49154, Fax: 07071/49159
E-Mail: imi@imi-online.de
Internet: www.imi-online.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 21. April 2023

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