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IMI/352: Die Resolution 1973 - Persilschein für Interventionen in Bürgerkriege?


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Analyse 2011/10 vom 31.3.2011

Die Resolution 1973 (2011) des UN-Sicherheitsrates -
Persilschein für Interventionen in Bürgerkriege?

Von Michael Haid, 31.03.2001


Die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 17. März 2011 verabschiedete Resolution 1973[1] ermächtigt alle UN-Mitglieder zum Einsatz militärischer Gewalt gegen das Regime Muammar al-Gaddafis in Libyen. Das Mandat erlaubt den Militäreinsatz zum Zweck des Schutzes der "Zivilbevölkerung" (Punkt 4 der Resolution) vor Angriffen durch Kräfte des libyschen Staates. Zu diesem Zweck sollte auch eine Flugverbotszone für die Luftwaffe al-Gaddafis über Libyen durchgesetzt werden (Punkt 6 der Resolution). Weiterhin erklärte das Mandat in Punkt 13 unter Bezugnahme auf Ziffer 9 und 10 der Resolution 1970 (2011) des Sicherheitsrates ein Waffenembargo für Libyen. Zwei Tage später begann eine Koalition aus zwischenzeitlich elf Staaten unter Führung von Frankreich, Großbritannien und den USA mit Angriffen gegen Gaddafi-treue Einheiten von See und aus der Luft. Inzwischen hat die NATO am 27. März 2011 erklärt, die Leitung der einzelstaatlichen Militäroperationen zu übernehmen und unter ihrem Kommando zu vereinen. Nach Angaben des US-Vize-Admirals Bill Gortney seien bis zum 29. März 2011 1602 Lufteinsätze, davon 735 Angriffe, geflogen worden.[2]

Die meisten der an dieser Koalition beteiligten Staatsführungen gaben in der Folgezeit als Ziel ihres Militärschlags verklausuliert oder offen an, in Libyen einen Regimewechsel herbeiführen zu wollen, obwohl das Mandat des Sicherheitsrates ausdrücklich keinen Regierungswechsel zulässt, sondern nur den Schutz der "Zivilbevölkerung" vor Angriffen durch die libyschen Regierungseinheiten legitimiert. Dass die mit dieser Intervention verfolgte Absicht über ihr eigentliches Mandat deutlich hinausgehen wird, war bereits sehr früh zu erkennen. Bereits eine Woche vor Verabschiedung der Resolution hatte der französische Staatspräsident Nikolas Sarkozy den "Nationalen Übergangsrat" Libyens ("Interim Transitional National Council") als Vertretung der Aufständischen anerkannt und plant nun den Austausch von Botschaftern. Diese Handlung Frankreichs vor dem Erlass der Resolution dürfte gegen das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Libyens verstoßen haben (Art. 2 Ziff. 1 und 7 UN-Charta). Dasselbe tat das Emirat Katar einen Tag nach Übernahme der Operationen durch die NATO. Die USA, die Europäische Union und die Arabische Liga stehen mit dem "Nationalen Übergangsrat" in Verhandlungen. Folglich könnte die Vorgabe des Schutzes der Zivilbevölkerung als Feigenblattfunktion für einen militärisch erzwungenen Regimewechsel dienen. In sehr deutlichen Worten kritisierte dieses Vorgehen Reinhard Merkel: "Das Ziel, einen Tyrannen zu stürzen und bewaffneten Aufständischen dabei zu helfen, ist kein legitimer Titel zur gewaltsamen Intervention dritter Staaten. (...) Diese Normen [Artikel 3 des Zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1977, Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs im Streitfall "Nicaragua v. USA" von 1986] statuieren ein striktes Verbot des militärischen Eingreifens in Bürgerkriege auf fremdem Territorium."[3]


Menschenrechte als Legitimation für Militärinterventionen

Dieser Beitrag möchte nicht die durchaus möglich erscheinende Berechtigung zum Aufstand bzw. die Unrechtmäßigkeit des Regimes von al-Gaddafi und seine gewaltsamen Aktionen zur Niederschlagung des Aufstands behandeln. Vielmehr steht im Mittelpunkt, aus einer völkerrechtlichen Perspektive die höchst brisanten Problematiken aufzuzeigen, die sich aus der Begründung dieses militärischen Eingreifens ergeben. Der Sicherheitsrat gibt in der Resolution an, dass er die von libyschen Behörden begangenen "groben und systematischen Verletzungen von Menschenrechten, insbesondere willkürliche Inhaftierungen, des Verschwindenlassens und summarischer Hinrichtungen" sowie die "Gewalthandlungen und Einschüchterungsmaßnahmen gegen Journalisten und andere Medienangehörige" verurteile und erwäge, dass die "derzeit stattfindenden ausgedehnten und systematischen Angriffe gegen die Zivilbevölkerung möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit" darstellen könnten. Aus diesen Gründen stellt der Sicherheitsrat fest, dass die Situation in Libyen eine "Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" darstelle und deshalb nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen tätig werde, deren Artikel 39 und 42 zu militärischen Maßnahmen ermächtigen. Entscheidend ist hierbei die Bewertung der Gewaltmaßnahmen der libyschen Regierung als möglicherweise vorliegende Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nach Artikel 5 Abs. 1b i. V. m. Artikel 7 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 als "schwerste Verbrechen" einzuordnen sind, welche die "internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren" würden.

Im Kern gehe es um die Frage, so Hans-Joachim Heintze, der im Vorfeld der Resolution eine militärische Intervention in der Hoffnung auf die Erzwingbarkeit von Menschenrechten einforderte, "ob die Menschenrechte eigentlich nur eine hohle Phrase sind und letztlich nicht durchgesetzt werden können."[4] Die Legitimationsfigur hierfür ist das Konzept der "Responsibility to Protect (R2P)", welche 2005 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen offiziell anerkannt wurde (deklaratorisch), aber kein geltendes Recht darstellt. Nach der R2P soll "die dem souveränen Einzelstaat obliegende Schutzverantwortung gegenüber den eigenen Einwohnern dann auf die Staatengemeinschaft übergehen, wenn der betroffene Staat nicht willens oder in der Lage ist, gegen Menschlichkeitsverbrechen vorzugehen."[5] Die Resolution 1973 wird von ihren Befürwortern als einen "historischen Durchbruch"[6] in der Frage der militärischen Erzwingung von Menschenrechtsprinzipien bezeichnet. Ihre Gegner sehen die Militärintervention als ungerechtfertigt an.[7] Besonders Reinhard Merkel hat hierfür eine klare Sprache gefunden: "Der demokratische Interventionismus, propagiert 2003 (...) und jetzt in der euphemistischen Maske einer Pflicht zur kriegerischen Hilfe im Freiheitskampf wiedererstanden, ist politisch, ethisch und völkerrechtlich eine Missgeburt."[8] Um diesen Paradigmenwechsel in der Legitimation des Einsatzes von militärischer Gewalt zur Erzwingung von Menschenrechten durch den UN-Sicherheitsrat zu verstehen, muss kurz daran erinnert werden, welche Voraussetzungen der Wortlaut der UN-Charta für ein militärisches Eingreifen in einen souveränen Staat vorsieht.


Das Gewaltanwendungsverbot der UN-Charta

Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs wurde mit der UN-Charta 1945 ein Kriegsverhütungsrecht geschaffen, das die zwischenstaatliche Gewaltanwendung nur unter ganz engen Voraussetzungen als rechtmäßig erklärt. Als Kerngehalt der UN-Charta gilt grundsätzlich das Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4. Dort heißt es: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt." Als weitere in diesem Zusammenhang bedeutende Ziele formuliert die UN-Charta in Artikel 2 Ziff. 1 den "Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder" (Souveränitätsprinzip). Ebenso bedeutend ist der in Artikel 2 Ziff. 7 der UN-Charta niedergelegte Grundsatz des Interventionsverbots, der formuliert, dass in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, außer bei Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII, nicht eingegriffen werden darf. Das heißt, dass eine vor der Resolution gewährte Unterstützung jeglicher Art der Aufständischen dieses Prinzip hätte verletzen können.

Vom zwischenstaatlichen Gewaltanwendungsverbot sind nur zwei Ausnahmen zulässig. Ansonsten ist eine Gewaltanwendung absolut völkerrechtswidrig. Einmal verleiht es im Falle eines bewaffneten Angriffs das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Charta). Zum anderen können Maßnahmen der kollektiven Sicherheit (Ar. 39-50 UN-Charta) ergriffen werden. Danach steht dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen[9] das Recht zu, zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens oder der internationalen Sicherheit festzustellen, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung durch einen Mitgliedsstaat vorliegt (Art. 39 i. V. m. Art. 27 Abs. 3 UN-Charta). Erst wenn der Sicherheitsrat der Auffassung ist, dass die in Art. 41 UN-Charta vorgesehenen nicht-militärischen Maßnahmen unzulänglich sein würden oder sich als unzulänglich erwiesen haben, kann er die Anwendung militärischer Maßnahmen erlauben (Art. 42 UN-Charta).

Danach müsste also Libyen eine Bedrohung oder der Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorzuwerfen sein. Unter dem Tatbestandsmerkmal "Bruch des Friedens" ist ein mit Waffengewalt ausgetragener Konflikt zwischen zwei oder mehr Staaten zu verstehen. Mit Bedrohung des Friedens wird eine Gefährdungslage im Vorfeld eines Friedensbruches beschrieben. Der Begriff der Angriffshandlung wurde durch die Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung, der "Aggressionsdefinition", im Wege einer Auslegungshilfe konkretisiert, die allerdings in der Praxis wenig Anwendung findet.[10]

Keine der drei erforderlichen Voraussetzungen liegen im Fall Libyens vor, da Muammar al-Gaddafi keinen anderen Staat militärisch angreifen ließ oder dies nachweisbar geplant hätte. Folglich hätte, streng genommen, nach dem Wortlaut der Artikel 39 und 42 der UN-Charta der Sicherheitsrat die Resolution nicht erlassen dürfen. Denn Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta verbietet lediglich die Gewaltanwendung der Staaten in ihren internationalen Beziehungen. Damit wird grundsätzlich die Gewaltanwendung innerhalb der Grenzen eines Staates nicht erfasst.[11]

Die genannten Tatbestände werden in der völkerrechtlichen Literatur als "offene Ermächtigungsnorm"[12] bezeichnet, da diese Begriffe sich jeglicher Bestimmtheit entziehen und auch in der Praxis stellt der Sicherheitsrat kaum die tatbestandlichen Voraussetzungen fest, sondern erklärt lediglich, dass eine bestimmte Verhaltensweise eines Staates eine Bedrohung des Weltfriedens oder der internationalen Sicherheit darstelle und weist nur ganz allgemein auf Kapitel VII der UN-Charta als Ermächtigungsgrundlage hin.[13] Diese gängige Intransparenz wurde auch im Fall der Libyen-Resolution praktiziert. Dort hatte der Sicherheitsrat nicht ausdrücklich beschrieben, weshalb die dem al-Gaddafi-Regime vorgeworfenen Menschenrechtsverletzungen eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens darstellen sollen. Für die Nachvollziehbarkeit wäre es aber unumgänglich, dass der Sicherheitsrat eine Subsumtion unter die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Ermächtigungsnorm vornimmt. Auch würde dadurch eine Vergleichbarkeit mit der Situation in anderen (arabischen) Staaten hergestellt werden können, in denen aktuell die dort herrschenden Regime ebenfalls gewaltsam ihre Oppositionsbewegungen unterdrücken. Damit haftet dieser Praxis des Sicherheitsrates ein hohes Missbrauchspotential an und lässt den Vorwurf berechtigt erscheinen, dass "der Westen mit doppelten Standards misst."[14]


Der Paradigmenwechsel zur "Responsibility to Protect" (R2P)

Ursprünglich hatte der Sicherheitsrat nur bei militärischen Konflikten zwischen Staaten eine Bedrohung oder einen Bruch des Weltfriedens oder der internationalen Sicherheit angenommen, so wie es dem vorher gezeigten Wortlaut der UN-Charta entspricht. Dies wird in der Völkerrechtslehre als negativer Friedensbegriff, im Sinne einer Abwesenheit von Krieg zwischen Staaten, bezeichnet. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts interpretierte der Sicherheitsrat in bestimmten Fällen die UN-Charta nach dem R2P-Konzept dahingehend, dass schwere Menschenrechtsverletzungen mit einer Bedrohung des Friedens gleichzusetzen sei (positiver oder erweiterter Friedensbegriff). Dies wurde auch im Fall Libyens getan.[15] Das erste Mal hatte der Sicherheitsrat 1992 unter Hinweis auf schwere Menschenrechtsverletzungen in Somalia dies als eine Bedrohung für den internationalen Frieden erklärt und damit unter Aufweichung des Souveränitätsprinzips auch staatsinterne Vorgänge als Friedensbedrohung klassifiziert. "Mit dieser einstimmig gefassten Resolution [Resolution des Sicherheitsrates 794 vom 3. Dezember 1992] wurde erstmals ein innerstaatlicher Vorgang als Friedensbedrohung qualifiziert (...). Die durch diese Resolution nach Kapitel VII der VN-Charta ermächtigte Militäraktion bildete die erste militärische Intervention der Vereinten Nationen auf humanitärer Grundlage. Die Somalia-Resolution stellt eine Fortführung der schrittweisen Erweiterung der funktionellen Zuständigkeit des Sicherheitsrates dar (...). Dieser Prozess führte zu einer fortschreitenden Relativierung des Souveränitätsgrundsatzes und eröffnete den Vereinten Nationen weitreichende Kompetenzen zum Eingreifen in Ländern auch aus humanitären und menschenrechtlichen Gründen."[16] Diese Funktionsausweitung fußt auf dem äußerst umstrittenen Konzept der menschlichen Sicherheit, wonach staatsinterne Faktoren ebenso zum Gegenstand des Sicherheitskonzepts erhoben werden.[17] Aus diesen Überlegungen entwickelten sich die Konzepte der R2P und der humanitären Intervention. Allerdings weisen beide Konzepte die Gefahr einer "problematischen Selektivität" und eines "machtpolitischen Missbrauchs" auf: "Die Verknüpfung von Interventionsentscheidungen bzw. Nichtentscheidungen im Sicherheitsrat sowie von Unterstützungsleistungen an die Vereinten Nationen mit nationalen Interessen und Vorbehalten führt jedoch zu einer unter dem Aspekt der Unveräußerlichkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte bedenklichen Selektivität im Sinne eines 'Interventionismus à la carte'".[18]


Der Libyen-Einsatz als Beispiel für selektive Interventionen und politischen Machtmissbrauch

Die beschriebenen Gefahren sind bezüglich der Libyen-Resolution evident. Als besonders eindrückliches Beispiel für die selektive Auswahl, wo interveniert wird und wo nicht, kann die gewaltsame Niederschlagung der Oppositionsbewegung in Bahrain durch bahrainische Sicherheitskräfte mit Unterstützung von 1.000 Soldaten Saudi-Arabiens dienen. Der engste außenpolitische Berater der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton, Robert Cooper, warb für Verständnis für die Niederschlagung der Demonstrationen in Bahrain, die 21 Menschenleben forderte. Navi Pillay, Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCR), bezeichnete dieses Vorgehen als eine schockierende und eklatante Verletzung internationalen Rechts ("shocking and a blatant violation of international law").[19] Weshalb - an diesem Beispiel verdeutlicht - mit zweierlei Maß gemessen wird, offenbart der ehemalige US-Botschafter in Deutschland John Kornblum. Auf die Frage von "Deutschlandradio Kultur": "Was ist denn der Unterschied zwischen einer Intervention in Libyen, um dort die Aufständischen zu unterstützen, und einer möglichen Intervention in Bahrain, in Jemen, in Syrien, möglicherweise sogar, wenn das schlimmer wird, auch in Saudi Arabien?" antwortete John Kornblum: "Das Problem ist (...) dass die Interessen des Westens anders sind - vor allem unsere Interessen in Saudi Arabien und in den Golfstaaten. Es gibt (...) bestimmt mindestens einen, Bahrain, der wirklich wichtig ist für die Vereinigten Staaten. (...) Da hat man die Prinzipien jetzt ein bisschen verletzt, indem man zumindest in die andere Richtung geschaut hat, als die Saudis militärisch eingegriffen haben, um eine demokratische Bewegung zu unterdrücken."[20] Diese Doppelmoral hat natürlich Gründe: In Bahrain befindet sich das Hauptquartier der Fünften Amerikanischen Flotte, der wichtigste Militärstützpunkt der USA im Nahen Osten. Die Mehrheit der Demonstranten sind Schiiten, die verdächtigt werden, die Sache des schiitischen Iran, des großen Gegners in der Region, zu vertreten. Gleichzeitig ist Saudi Arabien der engste Verbündete des Westens, der für 2011 Waffen im Wert von Milliarden Dollar beziehen wird.[21]

Die Gefahr des machtpolitischen Missbrauchs dieser Intervention ist trotz anderslautender verbaler Äußerungen von Vertretern der Interventionsstaaten eindeutig. So nehmen diese einseitig Partei für den "Nationalen Übergangsrat" und sind damit Teil in einem Bürgerkrieg, im völkerrechtlichen Sprachgebrauch nicht-internationaler bewaffneter Konflikt genannt.[22] Einige prägnante Maßnahmen einer einseitigen Parteinahme sind besonders hervorzuheben.[23]

Mittlerweile wird vom Chef der französischen Luftwaffe, General Jean-Paul Paloméros, erklärt, dass die Ziele der Resolution 1973 erreicht seien. Auch die Flugverbotszone über Libyen ist errichtet, da al-Gaddafi keine Luftabwehrmaßnahmen mehr besitzt. Trotzdem beginnt bereits eine von der Resolution 1973 nicht mehr gedeckte weitere Eskalationsstufe durch die direkte Unterstützung der Aufständischen in Form einer Nahluftunterstützung und einer geplanten indirekten Unterstützung durch Waffenlieferungen unter Verstoß des geltenden Waffenembargos als nächster Eskalationsstufe. "Das Ziel in Libyen war, die Zivilbevölkerung zu schützen. Dieses Ziel ist erreicht" erklärte General Jean-Paul Paloméros in der FAZ, nun gelte es einen "strategischen Wendepunkt"[24] zu erreichen. Die britische, französische und amerikanische Regierung planen offenbar nach Erkenntnissen der FAZ Waffenlieferungen an die Aufständischen. Durch die US-Regierung seien bereits Lieferungen von Kommunikationsmitteln und medizinischer Ausrüstung genehmigt worden, möglicherweise auch von Transportmitteln. Nach Ansicht amerikanischer Fachleute würden die geplanten Waffenlieferungen vor allem aus Sturmgewehren des Typs AK-47 und aus Panzerfäusten bestehen, so der FAZ-Artikel weiter.[25] Zwischenzeitlich forderte der Befehlshaber des für Libyen zuständigen Afrika-Kommandos der US-Streitkräfte, General Carter Ham, den Einsatz der Flugzeugtypen AC-130 und A-10 zur Luftnahunterstützung gegen die libyschen Regierungstruppen an. Es gelte dabei als wahrscheinlich, dass die Flugzeuge als "eine Art Luftwaffe der Rebellen deren Vormarsch nach Westen"[26] unterstützen sollen. Auf der Londoner Libyen-Konferenz am 29. März 2011, auf der Vertreter von 40 Staaten und internationaler Organisationen (unter anderem Vereinte Nationen, NATO, EU, Arabische Liga) teilgenommen haben, wurde auf Initiative des Emirats Katar vereinbart (Katar ist an den Luftschlägen mit Kampfflugzeugen beteiligt), die Aufständischen beim Verkauf von Erdöl für humanitäre Zwecke zu unterstützen. Damit stellen sich die Teilnehmer der Libyen-Konferenz in London klar auf die Seite der Gaddafi-Gegner, denn dies sei nach Hillary Clinton eine Möglichkeit, Libyens "Nationalen Übergangsrat" zu unterstützen: "Sie brauchen Geld, um voranzukommen",[27] erklärte die US-Außenministerin. Libyen könnte nach Ali Tarhuni, ehemals Wirtschaftsprofessor an der Universität von Washington und nun Leiter eines der fünf Ressorts des exekutiven Arms des "Nationalen Übergangsrates", zuständig für die Bereiche Finanzen, Wirtschaft und Öl ("Superwirtschaftsminister"), binnen zwei Wochen ihre Tagesproduktion von 130.000 auf 400.000 Fass (je 159 Liter) steigern. Das würde dem "Nationalen Übergangsrat" beim derzeitigen Ölpreis von mehr als 100 Dollar je Fass bis zu 40 Mio. Dollar Gewinn pro Tag einbringen. Der Staat förderte vor Ausbruch des Krieges täglich etwa 1,6 Millionen Fass.[28] Ali Tarhuni schloss mit der "Quatar Petroleum Company" - Katar hatte auf der Londoner Konferenz den Vorschlag eingebracht, den Erdölverkauf durch den "Nationalen Übergangsrat" zu erlauben - einen Exklusivvertrag über die Vermarktung des Rohöls in den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten.[29]


Humanitäre Intervention ohne UN-Mandat

Im Falle Libyens konnten zwar die interventionswilligen Staaten eine Resolution des Sicherheitsrates erreichen, jedoch wurden in der Vergangenheit Positionen vorgebracht, die versuchten auch eine nicht mandatierte humanitäre Intervention unter bestimmten Umständen als völkerrechtlich rechtmäßig erscheinen zu lassen. Dies könnte auch zukünftig wieder als Legitimation in einem menschenrechtlichen Kontext herangezogen werden. Sämtliche hierfür vorgebrachten Begründungsansätze sind aber im Lichte des geltenden Völkerrechts unhaltbar. Ein hierfür angegebener Ansatz ist, das in der UN-Charta enthaltene Gewaltverbot eingeschränkt zu interpretieren. Da eine humanitäre Intervention dem Schutz der Menschenrechte diene und daher selbstlos sei, könne sie nicht verboten sein. Diese Interpretation qualifiziert Angelika Nußberger allerdings als "eine juristische Spitzfindigkeit, mit der im Grunde das in der Charta angelegte formalisierte Kriegsverhütungsrecht"[30] untergraben werde.

Ein anderer Begründungsversuch bezieht sich auf eine Entschließung des Europäischen Parlaments von 1994, die eine humanitäre Intervention unter folgenden Voraussetzungen als zulässig erklärt hatte: Danach müsse es sich um eine Situation schwerer Menschenrechtsverletzungen in einem Staat handeln, bei der sich die UNO zum Eingreifen außerstande sieht, alle andere als militärische Mittel erfolglos unternommen wurden und die Interventionsmacht kein Eigeninteresse habe und ihre Gewaltanwendung angemessen und zeitlich begrenzt sei. Auch dieser Begründungsversuch ist abzulehnen, da sich das Europäische Parlament von dem in der UN-Charta enthaltenen Verständnis des Kriegsführungsrechts abwende,[31] mithin also im offenen Gegensatz zur UN-Charta stehe.

Daher wird häufig von den Befürwortern die Zulässigkeit der humanitären Intervention auf ein neues Völkergewohnheitsrecht gestützt, das sich entgegen dem Wortlaut der UN-Charta herausgebildet habe. Bezugspunkt dafür ist der NATO-Luftkrieg gegen die Republik Jugoslawien 1999. Für das Vorhandensein einer gewohnheitsrechtlichen Völkerrechtsnorm fordert die Völkerrechtslehre die Erfüllung zweier Voraussetzungen: Zum einen als objektive Voraussetzung die wiederholte oder regelmäßige, einheitliche Übung der Staaten (Staatenpraxis). Zum anderen ist daneben als subjektive Voraussetzung die Überzeugung erforderlich, rechtlich zu diesem Verhalten verpflichtet zu sein (opinio juris). Völkergewohnheitsrecht entsteht also durch Staatenpraxis, die von einer entsprechenden opinio juris getragen wird.[32] Allerdings treffen diese Voraussetzungen aus mehreren Gründen nicht zu. Einerseits hat eine Reihe von Staaten den Kosovo-Einsatz für rechtswidrig erklärt, darunter auch die in der Gruppe 77 zusammengeschlossenen Entwicklungsländer. Deshalb fehle es an einer opinio juris für die Herausbildung neuen Völkergewohnheitsrechts. Andererseits ist die humanitäre Intervention ohne UN-Mandat im Kosovo bisher ein Einzelfall geblieben. Eine entsprechende Staatenpraxis ist folglich nicht nachweisbar.[33] Selbst die Befürworter der humanitären Intervention sehen die Gefahr, dass sie zu einer "Art Blanko-Vollmacht für einen menschenrechtlichen Imperialismus"[34] werden könne.


Fazit

Die Militärintervention in Libyen stellt einen geradezu klassischen Fall dar, wie Menschenrechtsverletzungen als Begründung für ein militärisches Eingreifen genutzt wird. Welche Folgen dies haben kann, vor allem hinsichtlich der völkerrechtlichen Architektur des Kriegsverhütungsrechts, sollte dieser Beitrag verdeutlichen. Dazu noch einmal abschließend Reinhard Merkel: "Die Intervention der Alliierten, so berechtigt ihr Schutzanliegen ist, steht auf brüchigem normativen Boden. (...) Es geht (...) um die Garantie des Gewaltverbots und seiner vernünftigen Grenzen als Grundprinzip der Weltordnung. Der Krieg wird diese Grenzen weiter ins machtpolitisch Disponible verschieben. So berechtigt seine humanitären Ziele sind: Die Beschädigung der Fundamente des Völkerrechts decken sie nicht."[35]


Anmerkungen:

[1] S/RES/1973 (2011). Eine deutsche Übersetzung ist abrufbar unter
http://www.un.org/Depts/german/sr/sr_11/sr1973.pdf.

[2] Vgl. Internationale Gemeinschaft berät Libyen ohne Gaddafi, in:
http://www.tagesspiegel.de, 29. März 2011.

[3] Merkel, Reinhard: Der libysche Aufstand gegen Gaddafi ist illegitim, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. März 2011, S. 31. Der Autor hat einen Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg inne.

[4] Heintze, Hans-Joachim: Revolution in Libyen - Staatliche Souveränität vs. Menschenrechte, in: Legal Tribune Online, 28.02.2011. Der Autor lehrt Völkerrecht am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum.

[5] Heintze, ebd.

[6] Hilpold, Peter: Ein Sieg der Humanität, der auch Österreich fordert, in: http://derstandard.at, 22. März 2011. Der Autor ist Professor für Völker- und Europarecht der Universität Innsbruck.

[7] Vgl. bspw. Walzer, Michael: Diese Intervention ist durch nichts zu rechtfertigen - Motive fragwürdig, Ziele unklar, in: http://derstandard.at, 21. März 2011. Der Autor lehrt Moralphilosophie an der Universität Princeton.

[8] Merkel, ebd., S. 31.

[9] Dem Sicherheitsrat gehören die fünf ständigen Mitglieder USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich, denen nach Artikel 24 Abs. 1 der UN-Charta die Hauptverantwortung für den Weltfrieden übertragen wurde, sowie weitere zehn nicht-ständige Mitglieder an. Derzeit sind dies Bosnien-Herzegowina, Brasilien, Deutschland, Gabun, Indien, Kolumbien, Libanon, Nigeria, Portugal und Südafrika. Nach Artikel 27 Abs. 3 der UN-Charta bedarf es zur Verabschiedung von Resolutionen, die ein militärisches Eingreifen legitimieren, der Zustimmung von neun Sicherheitsratsmitgliedern, einschließlich sämtlicher ständiger Mitglieder. Jedes der ständigen Mitglieder besitzt demnach ein Vetorecht.

[10] Vgl. Hobe, Stephan: Einführung in das Völkerrecht, 9. Auflage, Tübingen u. a. 2008, S. 346.

[11] Vgl. Hobe, ebd., S. 328.

[12] Herdegen, Matthias: Völkerrecht, 7. Auflage, München 2008, § 41 Rn. 8.

[13] Vgl. Hobe, ebd., S. 346.

[14] Ladurner, Ulrich: Warum ist der Westen so gespalten?, in:
http://www.zeit.de, 25. März 2011.

[15] Vgl. Bothe, Michael: Gespräch mit Gerwald Herter über die "Responsibility to Protect", in: http://www.dradio.de, 22. März 2011. Der Interviewte ist Professor emeritus für Völkerrecht der Universität Frankfurt am Main. Für die generelle Entwicklung vom negativen zum positiven oder erweiterten Friedensbegriff unter Einbeziehung des Konzepts der menschlichen Sicherheit und von R2P siehe Schrijver, Nico J.: The Future of the Charter of the United Nations, Max Planck Yearbook of United Nations, Volume 10, 2006.

[16] Vgl. Varwick, Johannes: Humanitäre Intervention und die Schutzverantwortung ('Responsibility to Protect'): Kämpfen für die Menschenrechte?, Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik Nr.25, Januar 2009, S. 5. Der Autor bekleidet eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg.

[17] Vgl. hierzu Trachsler, Daniel: Menschliche Sicherheit. Entstehung, Debatten, Trends, CSS Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 90, März 2011.

[18] Varwick, ebd., S. 13.

[19] Pillay, Navi: UN human rights chief alarmed by military takeover of hospitals in Bahrain, GENEVA (17 March 2011), in: http://www.ohchr.org.

[20] Kornblum, John: Gespräch mit Michael Ziegler "Am Anfang mussten die Waffen sprechen", in: http://www.dradio.de, 26. März 2011.

[21] Vgl. Ladurner, Ulrich: Warum ist der Westen so gespalten?, in:
http://www.zeit.de, 25. März 2011.

[22] Die Einordnung der Gewalthandlungen in Libyen als nicht-internationaler bewaffneter Konflikt in Abgrenzung zu bloßen Unruhen würde teilweise andere Rechtsregime Anwendung finden lassen und damit die Beteiligten in einen anderen rechtlichen Status erheben. Ob dies vorliegt, ist umstritten. Vgl. Heintze, Hans-Joachim: Anwendung des humanitären Völkerrechts in Libyen? - UN-Sicherheitsrat lässt die Frage offen, Bofaxe Nr. 369D, 1. März 2011. Da aber zwischenzeitlich die bewaffneten Aufständischen einen Teil Libyens dauerhaft kontrollieren und langanhaltende und koordinierte Kampfhandlungen durchführen können, wird in diesem Beitrag von einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt in Libyen ausgegangen. Hinsichtlich der gegen Libyen ausgeführten Luftangriffe handelt es sich um einen internationalen bewaffneten Konflikt, dessen Vorliegen ebenfalls die rechtlichen Verhältnisse der Beteiligten verändert. Vgl. Roeder, Tina: Veränderte Situation in Libyen: schwierige Gemischlage von internationalem und nicht-internationalem bewaffneten Konflikt, Bofaxe Nr. 374D, 28. März 2011.

[23] Für eine tiefer gehende Analyse zu den Interessen der Interventionsstaaten siehe Wagner, Jürgen: Libyen-Krieg: Die Machtfrage ins Ausland verlagern, IMI-Studie Nr.4/2011.

[24] Paloméros, Jean-Paul, zitiert nach: Washington plant Waffenlieferungen an Rebellen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. März 2011, S. 2.

[25] Washington plant Waffenlieferungen an Rebellen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. März 2011, S. 2.

[26] Kritik an Obamas Rede zum Libyen-Krieg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. März 2011, S. 6.

[27] Clinton, Hillary, zitiert nach: Hecking, Claus/ Borger, Sebastian: Krieg in Libyen. Rebellen dürfen Öl verkaufen, in: http://www.ftd.de, 29. März 2011.

[28] Vgl. Hecking, Claus/ Borger, Sebastian, ebd.

[29] Vgl. Hermann, Rainer: Die libyschen Rebellen wollen bald Öl exportieren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. März 2011, S. 12.

[30] Nußberger, Angelika: Das Völkerrecht. Geschichte - Institutionen - Perspektiven, München 2009, S. 72. Die Autorin bekleidet eine Professur für Verfassungs- und Völkerrecht und ist Direktorin des Instituts für Ostrecht an der Universität Köln. Seit 2011 ist sie Richterin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

[31] Vgl. Nußberger, ebd., S. 73.

[32] Vgl. Hobe, ebd., S. 191.

[33] Vgl. Nußberger, ebd., S. 72 f..

[34] Herdegen, Matthias, zitiert nach Nußberger, ebd., S. 73.

[35] Merkel, ebd., S. 33.


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Quelle:
IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2011