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IZ3W/188: Rezension - Scheitern an der Zweiten Welt


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 315 - November/Dezember 2009

Scheitern an der Zweiten Welt

Von Sören Scholvin


In der Zweiten Welt, so die Kernthese von Parag Khannas Buch The Second World, werde die Machtverteilung für das 21. Jahrhundert entschieden. Die Zweite Welt bestehe aus all den Ländern, die gleichzeitig über Merkmale der Ersten und der Dritten Welt verfügen wie etwa Brasilien, Iran oder Vietnam. Es seien Länder, in denen Armut und Wohlstand, rasante Entwicklung und perspektivlose Unterentwicklung Seite an Seite aufträten. Auf dem, was Khanna als »geopolitischen Marktplatz« bezeichnet, könnten sie sich eines der drei Imperien China, EU und USA als Partner wählen. Wegen ihrer wirtschaftlichen Dynamik und ihres Ressourcenreichtums beeinflussten die Länder der Zweiten Welt so den Kampf um die weltweite Vorherrschaft in entscheidendem Ausmaß.

Khannas Ansatz, eine enorme Anzahl von Staaten in Asien, Lateinamerika und Osteuropa zu untersuchen, ist an sich schon beeindruckend. Gleiches gilt für den beruflichen Werdegang des 1977 in Indien geborenen Autors, der in bedeutenden US-amerikanischen Think Tanks gearbeitet hat. Im vergangenen Jahr war Khanna als Ratgeber Barack Obamas tätig. Beste Voraussetzungen, um ein aus erster Hand informiertes Buch über die Geopolitik des 21. Jahrhunderts zu schreiben.

Doch The Second World enttäuscht. Das Buch ist über weite Strecken ein aus subjektiven Eindrücken zusammengebastelter Reisebericht. Khannas beliebteste Interviewpartner sind Taxifahrer, deren Aussagen als objektive Analyse präsentiert werden. Mit ihnen kommt er auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel ins Gespräch. Den Entwicklungsstand eines Landes bewertet er nach der Qualität der Straßen, auf denen er fährt. Die weiteren GesprächspartnerInnen gehören zumeist der kosmopolitischen Bildungselite der Zweiten Welt an. Wie problematisch dies ist, wird besonders bei den Ausführungen zur innenpolitischen Lage Ägyptens deutlich: Khanna befragt einen Menschenrechtsaktivisten, einen pro-demokratischen Politiker und eine Studentin. Hieraus entsteht das Bild einer von überzeugten DemokratInnen geprägten ägyptischen Gesellschaft. Es geht an der Realität vorbei.

Auch an anderer Stelle kommt man aus dem Staunen nicht heraus: Die politische Instabilität Lateinamerikas erklärt Khanna mit der »lateinamerikanischen Kultur«. Sie fördere Korruption und Verlogenheit. LateinamerikanerInnen seien zwar stolz, doch zeigten sie wenig Respekt für ihre Mitmenschen, wie Elend und ungezügelte Kriminalität verdeutlichten. Neben solchen Ärgernissen hapert es des Öfteren an sachlicher Richtigkeit: Chinas Engagement bei der UN Mission auf Haiti wird von Khanna als gleichwertig mit demjenigen Brasiliens dargestellt. Es dient als Indiz für den angeblich überall wachsenden Einfluss der Volksrepublik, der sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht. Doch während Brasilien den Oberbefehlshaber der internationalen Truppe auf Haiti und mit mehr als 1.000 Soldaten das deutlich größte Kontingent stellt, nehmen lediglich 143 Polizei- und Zivilkräfte Chinas teil. An anderer Stelle bezeichnet Khanna das von einer alevitischen Elite beherrschte Syrien als »sunnitischen Staat wie Saudi Arabien«. Und die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad wird auf das Jahr 1991 datiert (korrekt ist 1999).

Dank der sprachlich-stilistischen Fähigkeiten des Autors ist das Buch leicht lesbar. Und die Bandbreite der angesprochenen, geopolitisch zentralen Themen ist groß. Die Grundidee von The Second World mag zwar vorzüglich sein, doch ist Khanna an der Umsetzung gescheitert.


Parag Khanna:
The Second World. Empires and Influence in the New Global Order
Penguin Books, London 2008. 496 Seiten, 9,40 Euro


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 315 - November / Dezember 2009


THEMENSCHWERPUNKT:
Digitale Welten - SoftWares und das Internet

Über 1,2 Milliarden Menschen weltweit und über die Hälfte der EU-BürgerInnen nutzen inzwischen das Internet. Die IT-Kommunikation wird in gelegentlich aber immer noch in überirdischen Metaphern beschrieben: "Nur gut, dass man das Internet nicht hören kann, denn allein das chinesische Netzgeschnatter wäre wohl laut genug, um das gesamte Universum zum Einsturz zu bringen", schreibt Christian Y. Schmidt in seinem neuen China-Buch "Bliefe von dlüben". Die Volksrepublik steht mit über 300 Millionen registrierten InternetnutzerInnen weltweit an erster Stelle derer, die spielen, chatten, posten und bloggen, "was die Tasten hergeben".

Wenn vom Süden und dem Internet die Rede ist, muss man auch über die "digitale Kluft" sprechen. Da schon heute in absoluten Zahlen rund 60 Prozent der InternetnutzerInnen im Süden leben, ist eine weitere entscheidende Frage zur digitalen Welt, wie die digitale Kommunikation im Süden genutzt wird. Und gerade in autoritären Regimes spielt das Internet eine wichtige Rolle für dissidente Sichtweisen: Freiheitsbestrebungen, die im politischen Raum scheitern, lassen sich im Netz kaum unterdrücken.

Themen im Schwerpunkt:
Im Netz von Clans - Global verteilte Gemeinschaften statt globaler Gesellschaft + Internet-Vernetzung für Weltverbesserer + to be bangalored... - Internationale Arbeitsteilung in der Softwareindustrie + Copy light - Freie Software und globale Emanzipation + Agender, Bigender, Genderqueer - Feministische Auseinandersetzungen um das Internet + "Das Internet wird überbewertet" - Interview mit John Bwakali über Indymedia Kenya + "Schluss mit dem Kulturpessimismus" - Interview mit Geert Lovink über die neuen Kommunikationsmittel

Weitere Themen im Heft:

Politik und Ökonomie:
Mexiko: Arbeitskampf Contra Continental + Erfolgreiche Skandalisierung - Das NoBorder-Camp auf der griechischen Insel Lesbos + Migration: Ohne Sprachzertifikat kein Ehegattennachzug + Menschenrechte: Erfahrungen mit Kinderrechten in Guatemala und Indien + Chile: Geschichtspolitik um den 11. September + Drogenpolitik: Die ekuadorianische Regierung zwischen Repression und Liberalisierung

Kultur und Debatte:
Film: Der Regisseur Barry Barclay und das indigene Kino aus Neuseeland + Vergangenheitspolitik: Der Berliner Streit um die Ausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" + Nationalsozialismus: Interview mit Raffael Scheck über sein neues Buch "Hitlers amerikanische Opfer"



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INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial: Schlimmer geht's immer!


Politik und Ökonomie

Arbeitskämpfe: Contra Continental
Ein mexikanischer Arbeitskampf fordert deutsche Gewerkschaften heraus Interview mit Lars Stubbe

NoBorder: Erfolgreiche Skandalisierung
Das NoBorder-Camp auf der griechischen Insel Lesbos
von Miriam Edding

Migration: »Ihr wollt uns nicht«
Ohne Sprachzertifikat kein Ehegattennachzug
von Katja Giersemehl

Menschenrechte: Die Ohnmacht des Rechts
Erfahrungen mit Kinderrechten in Guatemala und Indien
von Manfred Liebel

Chile: Erinnern, um zu vergessen
Geschichtspolitik um den 11. September in Chile
von Sebastian Sternthal

Drogenpolitik: »Legt euch nicht mit Ekuador an!«
Die Drogenpolitik der Regierung Correa zwischen Repression und Liberalisierung
von Linda Helfrich


Schwerpunkt: Digitale Welten

Editorial

Im Netz von Clans
Global verteilte Gemeinschaften statt globaler Gesellschaft
von Karsten Weber

Internet-Vernetzung für Weltverbesserer
von Sascha Klemz

to be bangalored - or not to be
Internationale Arbeitsteilung in der Softwareindustrie
von Vaba Mustkass und Winfried Rust

Copy light
Freie Software und globale Emanzipation
von Stefan Meretz

Agender - Bigender - Genderqueer
Feministische Auseinandersetzungen um das Internet
von Tanja Carstensen

»Das Internet wird überbewertet«
Interview mit John Bwakali über Indymedia Kenya

»Schluss mit dem Kulturpessimismus!«
Interview mit Geert Lovink über die neuen Kommunikationsmittel


Kultur und Debatte

Film: Der Wegbereiter
Barry Barclay und das indigene Kino aus Neuseeland
von Ulrike Mattern

Vergangenheitspolitik: Erinnerung als Politikum Der Berliner Streit um die Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«

Nationalsozialismus: »Sie wurden einfach erschossen«
Interview mit Raffael Scheck über sein Buch »Hitlers afrikanische Opfer«

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 315 - November / Dezember 2009, S.
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
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Internet: www.iz3w.org

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für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2009