Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/232: Rezension - Völkerrecht bricht Staatsrecht


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 321 - November/Dezember 2010

Völkerrecht bricht Staatsrecht

Von Klaus Thörner


In seinem neuen Buch "Der Wahn vom Weltsouverän" analysiert der Wiener Publizist Gerhard Scheit die Fallstricke des Völkerrechts. Ohne Adolf Hitlers Parole »Menschenrecht bricht Staatsrecht« direkt zu zitieren, verdeutlicht er implizit deren gefährliche Aktualität. Dabei sind die Verfechter dieser Maxime heute weniger Neofaschisten, sondern Linke und Linksliberale wie Jürgen Habermas. Bereits der sprachliche Widerspruch zwischen dem deutschen »Völkerrecht«, dem ansonsten weltweit gebräuchlichen »international law« und dem »Menschenrecht« verweist auf das von Scheit in den Mittelpunkt gestellte Dilemma. Für wen sollen diese Rechte gelten? Für Staaten, so genannte Völker oder für Individuen? Und welche Instanz, welcher Souverän garantiert und exekutiert die Durchsetzung dieser überstaatlichen Rechte? Einzelne Staaten selbst, die UNO, ein internationaler Gerichtshof oder eine angestrebte Weltregierung?

Scheit reflektiert diese Debatte nicht allein mit Verweis auf juristische Dispute, sondern unter Berücksichtigung ihrer historischen und philosophischen Entwicklung. Ausgangspunkt ist die Schrift »Über den ewigen Frieden« von Immanuel Kant. Schon hier formuliert Scheit die These, dass ein international geltendes Recht als gefährliche Illusion zu betrachten ist. Weitere wesentliche Bezugsquellen seiner Analyse sind die Schriften von Montesquieu, Hobbes, Hannah Arendt, Max Weber, Hans Kelsen und Carl Schmitt. Aus ihnen sowie aus der Kritik an der gegenwärtigen politischen Weltlage, dem Islamismus und einer immer größer werdenden Zahl von »failed states« zieht Scheit unter Verweis auf Adorno und Marx eine klare Schlussfolgerung: Der Wahn vom Weltsouverän zerstört den Souverän und ist zugleich das Gegenteil einer Befreiung vom Staat. Also das Gegenteil jener versöhnten Vielfalt, die allein ein menschenwürdiger Zustand wäre - die freie Assoziation der Individuen.

Die heutige Gesellschaft kann sich einen »Weltsouverän« nur konsequent vormachen, wenn sie einen gemeinsamen Feind halluziniert, der bereits heimlich die Welt beherrscht: das Weltjudentum, fokussiert im Staat Israel, der sich der Untergrabung seines Selbstverteidigungsrechtes unter dem Banner des Weltfriedens widersetzt. So beseitigen viele Linke und Linksliberale den letzten Rest jener politischen Vernunft, die Gewalt und Recht aufeinander zu beziehen weiß. Gänzlich vergessen wird von ihnen die Erkenntnis von Hobbes: Entweder es gibt Staaten, dann kann es keinen Staat über ihnen geben, oder es gibt keinen Staat, dann aber auch keinen Weltsouverän - und die Menschen leben in Frieden ohne Unterwerfung. Tertium non datur (ein Drittes ist nicht gegeben).

Sehr gut gelingen Scheit auch die präzise und so noch nie getroffene Unterscheidung von Faschismus und Nationalsozialismus und seine Darstellung der Parallelen von Nationalsozialismus und Islamismus. Während er den Faschismus als »totalen Staat« oder »Staat um jeden Preis« charakterisiert, definiert er den Nationalsozialismus als Bewegung, in der verschiedene »Gangs« koexistieren. Gemeinsam streben sie - wie der Islamismus - über den Staat und die Nation hinaus, zur Weltherrschaft. Anders als der italienische und der spanische Faschismus haben Nationalsozialismus und Islamismus, so Scheit, ihren Ursprung im Wahn von der jüdischen Weltverschwörung. Beide Bewegungen betreiben die Auflösung des Gewaltmonopols in ein Konglomerat von Banden, die sich für den »Endsieg« arrangieren und die Existenz eines einheitlichen politischen Gebildes nur noch völkerrechtlich vortäuschen. In den Worten Ernst Jüngers: Deutsche Grenzen gibt es gar nicht, es sei denn, die Juden sind endgültig vernichtet.


Gerhard Scheit:
Der Wahn vom Weltsouverän. Zur Kritik des Völkerrechts.
Ca ira Verlag, Freiburg 2009. 300 Seiten, 20 Euro.


*


Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 321 - November/Dezember 2010


Dossier:
Corpus delicti - umkämpftes Recht auf Gesundheit

Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Sie umfasst sowohl körperliches als auch psychisches und soziales Wohlbefinden. Doch das insbesondere Menschenrecht von Frauen auf Gesundheit ist stetig umkämpft und wird oft verletzt. Der Frauenkörper gilt weithin als Ware, er wird als begehrens- und besitzenswertes Objekt ge- und misshandelt. Spätestens mit Geburt des neuzeitlichen Staates war die Verwaltung und Kontrolle des Frauenkörpers auch ein wichtiges Instrument der Bevölkerungsregulierung.

Das hierarchische Verhältnis zwischen Nord und Süd kommt beim Zugriff auf Frauenkörper ebenfalls zum Tragen - in allen Aspekten wie race, class, gender, disability und identity. Das Dossier zeichnet die vielfältigen Eingriffe, Angriffe und Übergriffe auf Frauenkörper nach, präsentiert aber auch Ansätze zur Veränderung. Im Mittelpunkt steht dabei das Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit.

Themen des Schwerpunkts:
Jungfräulich, nackt, unrein - Eine Reise in die Porno-Tropen + Untergeben und erobert - Der Schwarze Frauenkörper in Südafrika + Gespendet, gehandelt, getauscht - Interview über die Globalisierung der Eizellmärkte + Kinderlos, unfruchtbar, nutzlos - Unerwünschte Kinderlosigkeit in Brasilien + Umkämpft und verteidigt - Streit um (un-)sichere Abtreibungen in Lateinamerika + Symptomatisch verkannt - Gegen Müttersterblichkeit helfen keine einfachen medizinischen Lösungen + "Weg vom Albert-Schweizer-Modell" - Interview über medizinische Entwicklungszusammenarbeit + Verletzt, verstümmelt, verkannt - Genitalverstümmelung im Nordirak + Ausgebeutet oder ausgeschlossen? - Recht auf Gesundheit im Kontext migrantischer Prostitution


INHALTSÜBERSICHT


Hefteditorial: Hurra wir sind erwachsen!


POLITIK UND ÖKONOMIE

Swaziland: Die Tyrannei des Löwen
Ein besonders repressives Patriarchat fördert die Ausbreitung von Aids
von Thomas Schmidinger

Ruanda: Kagame, wer sonst?
Tagebuchnotizen zur Präsidentenwahl in Ruanda
von Stefan Sommer

Namibia: Entlang der Roten Linie
Die Landreform ist mehr als eine Frage der Umverteilung
von Sören Scholvin

Aserbaidschan: Regiert wie geschmiert
Was bedeuten Wahlen im Erdölstaat Aserbaidschan?
von Ismail Küpeli

Zypern: Kalter Krieg im Mittelmeer
Die Lösung des Zypernkonflikts rückt in die Ferne
von Sabine Hagemann-Ünlüsoy

Ausstellung: Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg
Das iz3w präsentiert umfangreiches Begleitprogramm zur Ausstellung in Freiburg
von Jan Keetman


DOSSIER: AFRIKA POSTKOLONIAL

Editorial: "Your body is a battleground"

Was ist neu am Neokolonialismus?
Formelle und informelle Herrschaft im unabhängigen Afrika
von Reinhart Kößler

Jungfräulich, nackt, unrein
Eine Reise in die Porno-Tropen
von Alice Rombach

Untergeben und erobert
Der Schwarze Frauenkörper in Südafrika
von Rita Schäfer

Gespendet - gehandelt - getauscht
Interview mit Erika Feyerabend über die Gobalisierung der Eizellmärkte

Umkämpft und verteidigt
Streit um (un-)sichere Abtreibungen in Lateinamerika
von Kirsten Achtelik

Symptomatisch verkannt
Gegen Müttersterblichkeit helfen keine einfachen medizinischen Lösungen
von Martina Backes

»Weg vom Albert-Schweitzer-Modell«
Interview mit dem Arzt Michael Runge über medizinische Entwicklungszusammenarbeit

Verletzt - verstümmelt - verkannt
Genitalverstümmelung im Nordirak
von Arvid Vormann

Ausgebeutet oder ausgeschlossen?
Gesundheit im Kontext migrantischer Prostitution
von Veronika Ott


KULTUR UND DEBATTE

Sklaverei: Wettstreit der Erinnerungen
Ein neues Buch facht die Debatte über den arabischen Sklavenhandel an
von Simon Brüggemann

Medien: »Wir sind offen für Kontroversen«
Interview mit Tidiane Kassé über die panafrikanische Internetplattform Pambazuka News

Kunst: Die Versprechen der Moderne
Lateinamerikas abstrakte Kunst
von Katja Behrens

Film: Das »Coca-Cola der Fruchtsäfte«
Eine Doku über Jaffa-Orangen zeichnet palästinensisch-israelische Geschichte nach
von Ulrike Mattern

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


*


Quelle:
iz3w Nr. 321 - November/Dezember 2010
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Tel. 0761/740 03, Fax 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org

iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 5,30 Euro plus Porto.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2010