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IZ3W/236: Editorial von Ausgabe 322 - Vielfalt erleben


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr 322 - Januar/Februar 2011

Hefteditorial
Vielfalt erleben


CSU-Chef Horst Seehofer drehte auf dem Deutschland-Tag der Jungen Union mächtig auf: »Wir dürfen nicht zum Sozialamt für die ganze Welt werden«. Und legte nach: »Wir als Union treten für die deutsche Leitkultur und gegen Multikulti ein - Multikulti ist tot.« Von Seiten der sich sonst so modern gerierenden Jungen Union gab es keinerlei Widerspruch, im Gegenteil. Der JU-Vorsitzende Philipp Mißfelder sah die Aufgabe der CSU darin, »für die Union insgesamt die Lufthoheit über den Stammtischen zurückzugewinnen«. Zustimmung bekam Seehofer für seine Gegnerschaft zu »Multikulti« auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel: »Dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert.« Ihr ging es dabei nicht um eine durchaus berechtigte Kritik des Kulturalismus, sondern ums Ressentiment gegen das »Multi«. An MigrantInnen richtete Merkel die Warnung: »Wer das christliche Menschenbild nicht akzeptiert, ist fehl am Platze.«

Wenige Tage später nahmen die neonazistischen Hilfstruppen der Konservativen die Kampfansage »Multikulti ist tot« wörtlich. Was ihrem Opfer, dem 19-jährigen Kamal K., widerfuhr, beschreibt der sächsische Ausländerbeauftragte Martin Gillo so: »In der Nacht vom Samstag auf Sonntag, den 24. Oktober 2010, war er mit seiner deutschen Freundin auf dem Weg nach Hause in einer 'Wohnplatte' in der Nähe des Hauptbahnhofs, als er im Park vor dem Leipziger Hauptbahnhof einen Überfall von zwei Männern auf einen sechzehnjährigen Jungen bemerkte. Er trat mutig hinzu, um den Jungen zu retten und wurde sofort von den beiden Männern feige angegriffen und brutal erstochen. Seine Freundin und der überfallene Junge konnten die Täter gegenüber der Polizei identifizieren. Doch jegliche Hilfe kam für Kamal zu spät. Er erlag seinen schweren Wunden am nächsten Tag in der Universitätsklinik Leipzig.«

Der rassistische Mord durch die als rechtsradikal bekannten Männer erregte in der überregionalen Presse nur wenig Aufmerksamkeit. Anders als im Falle Dominik Brunners, der in München eine Schülergruppe vor zwei Angreifern in Schutz genommen hatte und dafür mit seinem Leben bezahlte, wurde die Zivilcourage von Kamal K. nirgends gelobt. Schon gar nicht von Seehofer und Merkel. Kamal K. war eben fehl am Platze, auch wenn er Christ war. Seine Familie war unter anderem deshalb in den 1990er Jahren aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet.

Zu den vielen Verrücktheiten der gegenwärtigen Debatte um »Integration« gehört, dass ausgerechnet die deutschen Konzerne gar nicht begeistert sind vom Abgesang der Politik auf den Multikulturalismus. »Auch Unternehmen wissen: Ohne Multikulti haben sie keine Zukunft«, heißt es beispielsweise in einer Beilage der Süddeutschen Zeitung mit dem schönen Titel »vielfalt erleben - das Magazin für Diversity Management«. Herausgegeben wurde sie von big playern wie Daimler, Telekom und HypoVereinsbank. Explizit wenden sich die Unternehmen darin gegen sarrazinistische Bestrebungen der Politik: »Forderungen, den Zuzug von ausländischen Arbeitnehmern weiter zu reglementieren und einzuschränken, (sind) nur schwer nachvollziehbar.«

Bei derlei Postulaten geht es freilich um ein simples Kalkül: »Multikulturelle Zusammenarbeit ist eine wesentliche Voraussetzung, wenn globale Märkte bedient werden.« Die bisherige »personelle Monokultur« deutscher Unternehmen ist dabei hinderlich, wird in »vielfalt erleben« festgestellt. Deshalb setzt die deutsche Wirtschaft nun nahezu geschlossen auf Diversity.

Es handelt sich dabei um einen klassischen Fall der Usurpation von Begriffen. Die Forderung nach mehr Diversity in den staatlichen Institutionen und in der Wirtschaft wurde zuerst von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA aufgestellt. 1987 stellte eine bahnbrechende Studie unter der bezeichnenden Überschrift »Workforce 2000« fest, dass der Schrumpfung der arbeitenden weißen Mittelschicht nur durch Diversity Management zu begegnen sei. Gemeint ist damit die von oben gesteuerte Einbindung von Minderheiten aller Art sowie von Frauen in die Unternehmenswelten, die bislang weiß, männlich und heterosexuell geprägt sind.

Mittlerweile ist dieser Ansatz ebenso global verbreitet wie sozialtechnokratisch ausgefeilt. Die Bertelsmann Stiftung kommentiert den Aufstieg des Diversity Managements so: »Ursprünglich gedacht als Maßnahme für die Umsetzung von Gleichberechtigung, hat es sich weiterentwickelt zu einem betriebswirtschaftlichen Instrument zur verbesserten Nutzung der Humanressource.« Vielen Dank, deutlicher hätten wir auch nicht sagen können, worin das Elend des Diversity Management besteht. Aber man muss den Unternehmen in diesen Zeiten dankbar sein: Sie wollen die »Humanressource« nutzen, nicht totschlagen.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern
erholsame Tage und ein tolles Jahr 2011!

die redaktion


PS: Ende November wurde unsere Webseite www.iz3w.org grundlegend modernisiert. Die Inhalte der alten Seite wurden transferiert und erweitert. Mittlerweile ergeben die diversen Unterseiten von iz3w-Projekten wie AG Bildung, freiburg postkolonial oder FernWeh einen ganzen Mikrokosmos, der zum stundenlangen Schmökern einlädt. Klicken Sie mal rein. Außerdem besteht nun die Möglichkeit zum (kostenpflichtigen) PDF-Download der iz3w. Das ist vorteilhaft, wenn es mal ganz schnell gehen soll.


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 322 - Januar/Februar 2011


Verteilungskämpfe
Wenn Öffentliches privat wird

»Das ist meins!« Schon von klein auf stellt sich die Verteilungsfrage. Doch was im Sandkasten eine harmlose Zankerei ist, ist im globalen Maßstab zu einem Hauen und Stechen mit massiven negativen Folgen für die Enteigneten geworden. Die weltweite Konkurrenzgesellschaft hat die private Aneignung von öffentlichen Gütern zum integralen Bestandteil fast jeden Wirtschaftens werden lassen. Im globalen Süden sind Verteilungskämpfe etwa um Land sehr oft ein Aufbegehren gegen bedrückende wirtschaftliche Not, sie verdienen allein deshalb große Aufmerksamkeit. Dort wie hier artikuliert sich in ihnen aber auch, welches Modell des Zusammenlebens gewünscht wird.

In unserem Themenschwerpunkt zeichnen wir die Geschichte der Menschheit als Geschichte der Verteilungskämpfe nach. Wir präsentieren Beispiele für erfolgreiche und -lose Kämpfe aus verschiedenen Ländern und Kontexten. Und wir debattieren die Frage, inwiefern das Konzept der Commons weiterführend ist - oder nicht.


INHALTSÜBERSICHT


Hefteditorial: Vielfalt erleben


POLITIK UND ÖKONOMIE

Atomkraft: Corporate Killers
Die Atomaußenpolitik der deutschen Bundesregierung
von Regine Richter

Nicaragua: Tödlicher Biosprit
Die Renaissance des Zuckerrohranbaus
von Heinz Reinke

Nicaragua: »Wir hinterlassen unseren Kindern nur Krankheiten«
Interview mit Geschädigten des Zuckerrohrbetriebs Ingenio Monte Rosa

Fair Trade: Geprüfter Kaffee
Was ändern die Sozialstandards?
von Ameli Cosenza

Kolumbien: Auf Distanz zu Uribe
Der neue Präsident Santos überrascht mit einer Landreform
von Ralf Leonhard

Homophobie: Sexualapostel
In vielen afrikanischen Ländern richten religiöse Extremisten über sexuelle Minderheiten
von Klaus Jetz

Ruanda: Verbrechen auf 522 Seiten
Ein UN-Bericht über Ruandas Vorgehen in der DR Kongo wird zum Politikum (Langfassung)
von Bernard Schmid

Asienpolitik: Die Karten werden neu verteilt
EU, Asien und ein People's Forum in der Krise
von Christa Wichterich

Ägypten: Demokratie auf ägyptisch
Seit fast sechzig Jahren herrschen die Freien Offiziere
von Sören Scholvin


SCHWERPUNKT: VERTEILUNGSKÄMPFE

Editorial des Themenschwerpunktes

Alles für Alle!
Eine Tour de Force durch die lange Geschichte der Verteilungskämpfe
von Gerhard Hanloser

Einschluss statt Ausschluss
Commons jenseits des Kapitalismus
von Stefan Meretz

Which Commons Sense?
Die Debatte um Gemeingüter ist oft rückwärtsgewandt
von Winfried Rust

Revolte am Drehkreuz
Nulltarif-Kampagnen in Brasilien als Teil sozialer Bewegungen
von Katja Polnik

Klimawandel im Kapitalismus
Warum die Kampagne »TüBus umsonst!« übers Schwabenland hinausweist
von der Gruppe ZAK3 Tübingen

Interview: »Was zählt, ist Macht«
Brasilianische Fischer kämpfen gegen die Enteignung durch ThyssenKrupp

»No Land! No House! No Vote!«
In Südafrika kämpfen lokale Bewegungen um das Recht auf Wohnraum
von Gerhard Kienast

Eine andere Welt ist pflanzbar
Verteilungsfragen in urbanen Gemeinschaftsgärten
von Ella von der Haide und Severin Halder

Das ist unser Monte!
Die mexikanische Genossenschaft Piedra Canteada eignete sich ein Waldgebiet an
von Samuel Weber

Kalorien oder Joule
Der globale Verteilungskampf um das Meer
von Christoph Spehr


KULTUR UND DEBATTE

Krimi: Detektiv mit Pfeife
Eine faszinierende Krimireihe aus Sansibar kommt endlich nach Deutschland
von Ulrike Mattern

Vergangenheitspolitik: »Meine Jugend wird niemals wieder gut«
Frauen sprechen über ihre Zeit in japanischen Militärbordellen
von Nataly Jung-Hwa Han

Kunst: Vorwärts erinnern
Moderne Aboriginal Art aus Australien kommt nach Köln
von Katja Behrens

Rezensionen


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Quelle:
iz3w Nr. 322 - Januar/Februar 2011, S.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2010