iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr 323 - März/April 2011
Editorial Themenschwerpunkt - Die Islamdebatte
Über den Islam wird im Okzident seit Jahrhunderten räsoniert. Oft löste er Faszination aus, das bekannteste Beispiel dürfte der »West-östliche Divan« von Goethe sein. Doch im Rahmen der seit rund zehn Jahren geführten »Islamdebatte« wird der Islam vor allem hinsichtlich der Fragestellung thematisiert, ob er gewaltverherrlichend und gegenaufklärerisch sei. Auslöser dafür war die Islamisierung des palästinensischen Protests gegen die israelische Besatzung im Rahmen der Al-Aksa-Intifada, die sich unter anderem in Selbstmordattentaten und Märtyrerkult manifestierte. Massiv beschleunigt wurde die Islamdebatte durch die Anschläge vom 11. September 2001 und den War on Terror, dessen militärische Komponente fast ausschließlich in Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung ausgetragen wird.
Anschläge islamistischer Gruppierungen sowie antimuslimische Kampagnen etwa gegen Moscheenbau führten zur weiteren Verhärtung der Fronten. Und es erweiterten sich die Themen der Islamdebatte: Bald ging es nicht mehr nur um den Terror von Taliban und Hamas, sondern auch um Frauenunterdrückung, Homophobie und Parallelgesellschaften. Die medialen Öffentlichkeiten sowohl im Westen als auch in muslimischen Ländern zeigten sich ungeheuer erregbar, wie im Fall der Mohammed-Karikaturen. Der von Samuel Huntington herbei geschriebene »Kampf der Kulturen« ist als Kampf der Religionen teilweise Realität geworden.
In den Feuilletons tobt seither ein heftiger, in seiner Rigorosität oft unerträglicher Schlagabtausch zwischen »IslamkritikerInnen« und »IslamversteherInnen«. Auf beiden Seiten wird munter essentialisiert: Den einen gilt der Islam als per se friedliche Religion; der Islamismus wird als mehr oder minder randständige Abweichung vom wahren Geist der islamischen Religionslehre verharmlost. Reflexhaft wehren sie jede Religionskritik am Islam ab und verfangen sich in den Angeln des Kulturrelativismus oder des Orientalismus. Die anderen geißeln den Islam und den Koran als durchweg gewaltorientiert; er habe keine Aufklärung nach westlichem Vorbild durchlaufen und sei daher rückständig.
Tief gespalten sind beim Thema Islam auch die Linke und die Frauenbewegung. Die einen berufen sich auf die Werte von Aufklärung und Emanzipation und wenden sich gegen den umfassenden Herrschaftsanspruch des Islam, wie er durch Kopftuchgebote, »Ehren«morde, Homophobie, islamischen Antisemitismus und vieles mehr zum Ausdruck komme. Die anderen kritisieren die »Islamophobie« als Ausdruck eines westlichen Rassismus, der von der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit ausginge. Beide Seiten neigen zu dubiosen BündnispartnerInnen und zur Ausblendung der problematischen Tendenzen auf der eigenen Seite. Dasselbe Phänomen ist zu beobachten bei manchen migrantischen ProtagonistInnen der Debatte, die sich von einer der beiden Seiten als KronzeugInnen vereinnahmen lassen.
Radikale Religionskritik ist zweifelsohne berechtigt - das ist beim Islam nicht anders als bei anderen Religionen, in deren Namen unterdrückt und gemordet wird. Doch die in westlichen Ländern gängige »Islamdebatte« zeichnet sich immer mehr durch Regression aus. Die Grenzen zwischen aufklärerischer, universeller Religionskritik am Islam in emanzipatorischer Absicht und populistischer, pauschalisierender und kulturalisierender Hetze gegen Muslime sind längst verschwommen. Für diese Entwicklung stehen in unterschiedlichem Ausmaß Namen wie Alice Schwarzer, Ralph Giordano, Justus Wertmüller, Henryk M. Broder, Oriana Fallaci, Pim Fortuyn, Geert Wilders und zuletzt Thilo Sarrazin. Ganz weit unten angekommen sind jene Bewegungen und Parteien, die sich in europäischen Ländern erfolgreich unter dem Label »Islamkritik« formieren, um eine seltsame Mischung aus xenophobem Rechtspopulismus, radikalem pro-westlichem Liberalismus und militantem Antifaschismus zu propagieren. Letzteres deshalb, weil man vor »Appeasement« gegenüber den »Islamfaschisten« warnt.
Unser Themenschwerpunkt soll nicht eruieren, was »der Islam« wirklich ist oder welche Facetten er aufweist. Gegenstand ist vielmehr die Debatte über den Islam. Anders gesagt: Es geht um die kritische Analyse der Diskurse über den Islam - im Wissen, dass legitime Religions- und Ideologiekritik umschlagen kann in antimuslimisches Ressentiment.
Ein mögliches Fazit aus diesem Themenschwerpunkt lautet: Viele der gesellschaftlichen Probleme, die im Rahmen der Islamdebatte mehr schlecht als recht verhandelt werden, wären in anderen Debatten besser aufgehoben. Etwa in einer Patriarchatsdebatte, in der Frauenunterdrückung und machistische Männerrollen angegangen werden, ohne sie ausschließlich im Kontext einer einzigen Religion zu verorten. Oder im Rahmen einer Nationalismusdebatte, Antisemitismusdebatte, Sozialdebatte und Rassismusdebatte, innerhalb derer selbstverständlich auch die Abgründe islamisch begründeter Ideologien nicht ausgespart werden dürfen.
Ein weiteres Fazit ist: Die derzeit in Tunesien, Ägypten oder Jemen geführten Debatten über die künftige Rolle des Islam in Politik und Gesellschaft sind von einer ganz anderen Relevanz als in Europa. Hier geht es grundlegend um die Gestaltung des alltäglichen Lebens, nicht um einen Kulturkonflikt.
die redaktion
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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 323 - März/April 2011
Die Islamdebatte
Ganz unten angekommen
Spätestens seit 9/11 wird weltweit eine erbitterte 'Islamdebatte' geführt. In den Medien tobt seither ein in seiner Rigorosität oft unerträglicher Schlagabtausch zwischen "IslamkritikerInnen" und "IslamversteherInnen". Auf beiden Seiten wird munter essentialisiert: Den einen gilt der Islam als per se friedliche Religion; der Islamismus wird als mehr oder minder randständige Abweichung vom wahren Geist der islamischen Religionslehre verharmlost. Reflexhaft wehren sie jede Religionskritik am Islam ab und verfangen sich in den Angeln des Kulturrelativismus oder des Orientalismus. Die anderen geißeln den Islam und den Koran als durchweg gewaltorientiert; er habe keine Aufklärung nach westlichem Vorbild durchlaufen und sei daher rückständig.
Unser Themenschwerpunkt soll nicht eruieren, was "der Islam" wirklich ist oder welche Facetten er aufweist. Gegenstand ist vielmehr die Debatte über den Islam. Anders gesagt: Es geht um die kritische Analyse der Diskurse über den Islam - im Wissen, dass legitime Religions- und Ideologiekritik umschlagen kann in antimuslimisches Ressentiment.
INHALTSÜBERSICHT
Hefteditorial: Wir haben einen Traum
POLITIK UND ÖKONOMIE
Nordafrika: Die Angst wechselt das Lager
Im Nahen Osten und in Nordafrika beginnt eine neue Epoche
von Frederic Schmachtel
Sudan: Stabiler Frieden in weiter Ferne
Der Südsudan auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft
von Thomas Schmidinger
Westsahara: Eine endlose Geschichte
In Marokkos Kolonie eskaliert der Konflikt erneut
von Axel Goldau
Ägypten: Wenn Schlepperbanden zu Geiselnehmern werden
Skrupellose Geschäfte mit afrikanischen Flüchtlingen
von Philipp Eckstein
Somalia: Gar nicht romantisch
Die militärische Pirateriebekämpfung
von Miriam Edding
Cote d'Ivoire: Déjà Vu
Das Wahldesaster von 2000 droht sich zu wiederholen
von Bettina Engels
Entwicklungspolitik: Ohne Risikodeckung
Können Mikroversicherungen Gesundheit für alle gewährleisten
von Andreas Wulf
SCHWERPUNKT: ISLAMDEBATTE
Editorial zum Themenschwerpunkt
Die Regression der Islamdebatte
von Jörn Schulz
Kritik ja! Aber woran?
Eine Debatte über Rassismus, Ressentiment und Islamkritik
von Birgit Rommelspacher, Lothar Galow-Bergemann, Markus Mersault und Ismail Küpeli
Licht und Dunkel
Die Islamdebatte und der Rechtspopulismus
von Winfried Rust
Alles Machos?
Der Topos »islamische Jugendliche« wird niemandem gerecht
von Ahmet Toprak
Unter Kontrolle des Staates
In der Türkei wird eine ganz eigene Islamdebatte geführt
von Sabine Küper-Busch
Nachhaltig angekratzt
Die Islamdebatte wird in arabischen Medien als Kampf der Religionen empfunden
von Hannah Wettig
What's right with America
In den USA etabliert die Tea Party eine anti-islamische Stimmung
von Michael Hahn
Land der kurzen Lunten
Die niederländische Islamdebatte ist notorisch leicht entflammbar
von Tobias Müller
Grenzen der Nation Die Islamdebatte in Frankreich zwischen Universalismus und Rassismus.
Eine Diskussion zwischen Lotte Arndt, Kolja Lindner und Bernhard Schmid
KULTUR UND DEBATTE
Glosse: Ein Job für Lebensmüde
In der Zeitschrift welt-sichten sucht die Bundeswehr Kanonenfutter für Afghanistan
von Christian Neven-du Mont
Postkolonialismus: Ich helfe, du hilfst, ... ihnen wird geholfen
Der Freiwilligendienst weltwärts reproduziert altbekannte Strukturen
von Kristina Kontzi
Literatur: Trilogie des Terrors
Drei Romane von Yasmina Khadra zeigen die Gesichter hinter der islamistischen Gewalt
von Winfried Rust
Debatte: Lieberman in Freiburg?
Eine Replik zur Rezension von Moshe Zuckermanns Buch »Antisemit!«
von Gerhard Hanloser
Rezension, Tagungen & Kurz belichtet
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Quelle:
iz3w Nr. 323 - März/April 2011, S. 16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2011