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IZ3W/292: Rezension - Andreas Böhm "Teuflische Schatten. Zwei Frauen gegen die Mara Salvatrucha."


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 334 - Januar/Februar 2013

REZENSION
Allgegenwärtige Gewalt

von Rosa Lehmann und Sascha Klemz



»Ich will nicht, dass dieses Verbrechen auch so endet, wie fast alle anderen in diesem Land, nämlich ohne einen Schuldigen! Es war doch kein Hund, den man getötet hat, sondern ein Mensch, unsere Mutter! Ich kann und will nicht mehr schweigen, selbst wenn es mich das Leben kosten sollte!« Diese Worte brechen aus Sandra López heraus, als sie im Zeugenstand Aussagen zur Ermordung ihrer Mutter macht. Die junge Guatemaltekin aus der Gemeinde Palencia nordöstlich von Guatemala-Stadt meint es ernst. Denn angeklagt ist ein Mitglied der Mara Salvatrucha, eine jener »Pandillas« (Banden), die in den mittelamerikanischen Staaten Honduras, El Salvador und Guatemala für hunderte Morde verantwortlich sind. Die Maras sind meist tief in Drogen-, Waffen- und Menschenhandel, Schutzgelderpressung und Raub verwickelt.

Der Schweizer Journalist Andreas Böhm, der seit einigen Jahren in Guatemala lebt, zeichnet Sandras Leben basierend auf Interviews nach: Eine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, in der Pubertät der Wunsch nach Ausbrechen, die Geburt ihrer Kinder. Allgegenwärtig und erschreckend sind die patriarchalen Strukturen und die Familienhierarchien. Verbale und physische Gewalt wird nicht nur durch drogensüchtige Väter ausgeübt, sondern auch zwischen Müttern und ihren Kindern - in Sandras Familie und quer durch die Gesellschaft. Immer stärker sind die Mitglieder der Mara Salvatrucha als Bekannte oder als Freunde in Sandras Leben präsent.

Böhm ist durchgängig nah dran am Alltag des gesellschaftlichen Milieus von Sandra und ihrer Familie. Auch die Bandenmitglieder sind realistisch dargestellt: Es sind junge Männer (und weniger Frauen), die der häuslichen Enge und den väterlichen Schlägen entfliehen wollen. In einer Gesellschaft, die Jugendlichen nur wenig Freiheiten und bezahlte Arbeitsmöglichkeiten bietet, erscheint das Leben in der Bande als einzige Alternative. Doch häufig führt dieser Weg nicht zu Glück und Wohlstand, sondern zerstört Familien und führt in die Alkoholabhängigkeit. Oft ist das Leben finanziert durch Drogendelikte und Erpressungen, gelegentliche Gefängnisaufenthalte inbegriffen.

Die hohe Authentizität des Textes hat jedoch ihren Preis. Die detaillierten Schilderungen sind auf Dauer etwas zäh und langatmig. Unpassend ist der religiös aufgeladene Titel Teuflische Schatten: Er suggeriert, dass die Maras vom Teufel gesandt sind. Dabei beschreibt das gesamte Buch ausführlich die gesellschaftlichen Strukturen, in denen die Banden agieren, sowie die individuellen Motivationen. Lediglich die Verflechtungen von Justiz und Polizei mit dem organisierten Verbrechen sowie die Unterschiede innerhalb der Maras kommen zu kurz.

Das Buch ist für eine Vor- und Nachbereitung eines Aufenthaltes in Mittelamerika sowie für eine Beschäftigung mit dem Thema jenseits wissenschaftlicher Literatur und Zeitungsartikeln geeignet. Sein Gegenstand ist aktuell: In El Salvador schlossen im März 2012 die beiden großen Maras Salvatrucha und MS 18 mit Unterhändlern der Regierung ein Abkommen. Bandenkonflikte sollen fortan unbewaffnet ausgetragen und Rekrutierungen auf Schulhöfen unterlassen werden. Dafür wurden inhaftierten Bandenchefs Hafterleichterungen gewährt. Auch wenn Drogenhandel und Schutzgelderpressung weitergehen und sozioökonomische Probleme nicht angetastet werden, sank doch die Mordrate seit dem Abkommen von durchschnittlich 14 auf 5,2 pro Morde pro Tag.


Andreas Böhm:
Teuflische Schatten.
Zwei Frauen gegen die Mara Salvatrucha.
Horlemann Verlag, Berlin 2011. 298 Seiten, 19,90 Euro.

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 334 - Januar/Februar 2013


Antiziganismus
Vergangenheit und Gegenwart

Ressentiments bis hin zu Rassismus finden sich historisch wie aktuell in der Rede über die »Zigeuner« und in der undifferenzierten Wahrnehmung eines »Sinti- oder Romaproblems«. Im institutionellen Alltag und in individuellen Begegnungen erwächst aus Vorurteilen und Rassismen eine konkrete Diskriminierungspraxis. Im Themenschwerpunkt fragen wir nach den Ursachen, Auswirkungen und Erscheinungsformen der antiziganistischen Zustände in Europa.

Dieser Themenschwerpunkt ist keiner über Roma, Sinti, Jenische oder Travellers. Es geht nicht darum, wie »sie« leben, wie sie »wirklich« sind. Ohnehin gibt es nicht »die« Roma und »die« Sinti, mit diesen Bezeichnungen werden sozial, politisch und kulturell heterogene Gruppen zusammengefasst. Der Themenschwerpunkt handelt vielmehr von der Mehrheitsgesellschaft, genauer gesagt: Vom Ressentiment der Mehrheit gegenüber einer Minderheit. Anders gesagt: In diesem Themenschwerpunkt erfahren wir etwas über »uns«, nicht über »sie«.

Erfreulicherweise ist es gelungen, einige Unterstützung für diesen Themenschwerpunkt und die dazugehörige Veranstaltungsreihe in Freiburg zu gewinnen. Wir bedanken uns sehr herzlich bei der Stiftung :do, bei der Amadeu Antonio-Stiftumg und beim EPIZ Reuttlingen.


Editorial

POLITIK UND ÖKONOMIE

Nahostkonflikt I: Der arabische Frühling und der israelische Feind.
Kommentar von Abdulateef Al-Mulhim

Nahostkonflikt II: Das Ende von Bitterlemons.net.
Warum wir aufhören. Von Ghassan Khatib
Die Kurve des Pendels von Yossi Alpher

Iran: Ein kategorischer Imperativ
Das iranische Regime und das Versagen vieler Linker
von Stephan Grigat

Mali: Gefährliche Vereinfachungen
Die Militarisierung europäischer Entwicklungspolitik
von Stefan Brocza

Senegal: »Barcelona oder Sterben«
Interview mit Moussa Sène Absa über seinen Film »Yoole« und die Migration von Jugendlichen

Venezuela: Kommune oder Staat?
Zwischen regionaler Selbstverwaltung und Zentralismus
von Michael Karrer


SCHWERPUNKT: ANTIZIGANISMUS

Editorial: Die Aktualität des Antiziganismus

Europa erfindet die Zigeuner
Die dunkle Seite der Moderne
von Klaus-Michael Bogdal

Bis zum Völkermord
Antisemitismus und Antiziganismus
von Wolfgang Wippermann

»Zu Sündenböcken gemacht«
Interview mit Romani Rose über die Aktualität des Antiziganismus

Inszenierte Wildheit
Antiziganismus im geschlechterspezifischen Kontext
von Felia Eisenmann

Als Kollektiv definiert
Risiken und Nebenwirkungen einer Aufklärungspädagogik gegen Antiziganismus
von Albert Scherr

»Nicht nur die EU-Politik ist falsch«
Interview mit Valeriu Nicolae zu europäischen Strategien gegen Antiziganismus

Die Stille durchbrechen
Ein biografischer Bericht zur Lage der Roma und Sinti in Italien
von Paolo Finzi

Antiziganismus ist Mainstream
Roma werden von Ungarns Rechtsregierung systematisch diskriminiert
von pusztaranger

Aufgeklärte Vorurteilsforschung
Ein Buch über die Armut der Roma in Südosteuropa
von Winfried Rust

Kampf um Entschädigung
Eine Studie über Sinti und Roma nach dem Nationalsozialismus
von Tobias von Borcke

»Wir sind mehr als ausgelastet«
Interview mit Walter Schlecht über praktische Solidarität
Kultur und Debatte

Burkina Faso: »Eine Revolution vom Volk für das Volk«
Thomas Sankaras Linksregime zwischen Mythos und Wirklichkeit
von Martin Bodenstein

Comic: »Es hat mir den Kopf geöffnet«
Interview mit Pti' Luc über afrikanische Comics

Rezensionen

Szene/Tagungen

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Quelle:
iz3w Nr. 334 - Januar/Februar 2013, Rezensionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2013