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IZ3W/294: Rezension des Buches "Postkoloniale Schweiz"


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 334 - Januar/Februar 2013

REZENSION
Koloniale Komplizin

Von Marina Ginal



Der Aufsatzband Postkoloniale Schweiz befasst sich mit den »Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien«. Dabei verfolgen die Herausgeberinnen nicht nur die Spuren, Kontinuitäten und Brüche der (post-)kolonialen Verstrickungen der Schweiz in das Weltgeschehen. Sie gehen auch explizit der Frage nach, warum es Sinn macht, sich aus der theoretischen Perspektive des Postkolonialismus an einen Nationalstaat ohne Kolonien anzunähern. Dadurch wird deutlich, dass sich der Begriff »postkolonial« auf ein größeres Feld als die bloße An- oder Abwesenheit einstiger Kolonien bezieht.

»Wir leben in einer postkolonialen Welt«, so Shalini Randeria in ihrem Vorwort. Gerade die Nationalstaaten Europas sind nicht ohne die Verbindungen zur kolonialen Vergangenheit und postkolonialen Gegenwart denkbar. Diesem Vorbild folgend, begibt sich der Band auf Spurensuche und belegt eindringlich »verwobene« Schweizer Geschichten einer »kolonialen Komplizenschaft«. Den AutorInnen geht es dabei weniger um die Darstellung ökonomischer Ausbeutung. Vielmehr verfolgen sie kulturwissenschaftliche Ansätze zur Analyse asymmetrischer Machtverhältnisse: Es geht um subtile Rassismen in Kindergeschichten (Partricia Purtschert) und Entwicklungspolitik (Sara Elmer und Konrad J. Kuhn) genauso wie um den zur Schau gestellten Evolutionsmus der Völkerschauen (Christof Dejung). Analysiert werden die einst zu Fremden gemachten Fahrenden in der Schweiz (Francesca Falk) ebenso wie die zeitgenössische diskursive Verwendung des muslimischen Schleiers (Meral Kaya). Dabei macht die Kritik auch vor etablierten wissenschaftlichen Institutionen nicht halt und legt offen, wie Volkskunde und Anthropologie den kolonialen Blick noch verstärkten (Bernhard C. Schär).

Der Band verdeutlicht, dass das europäisch-koloniale Projekt und die Selbsterfindung Europas über seine Kolonien auch die Neutralitätspolitiken der Schweiz betrifft (Speich Chassé), bis in die Gegenwartsliteratur reicht (Alexander Honold), Comedyfiguren hervorbringt (Rohit Jain) und selbst in Alpengedichten lesbar wird (Bernhard C. Schär). Eindrucksvoll belegen die AutorInnen, dass es nicht nur in den angrenzenden Nachbarstaaten, die ihre koloniale Vergangenheit entweder leugnen (wie Deutschland) oder ins Positive verkehren (wie Frankreich), dringend eines kritischen Umgangs mit der kolonialen Vergangenheit und der postkolonialen Gegenwart bedarf. Gerade vor dem Hintergrund rassistischer und dabei mehrheitsfähiger Debatten vor allem in der deutschsprachigen Schweiz - erinnert sei an das Minarett-Verbot und an die rassistische Plakatkampagne zur »Ausschaffungsinitiative 2007« der Schweizerischen Volkspartei - scheint es allerhöchste Zeit, kritisch auf postkoloniale Muster aufmerksam zu machen.

Den Herausgeberinnen ist eine umfangreiche und kritische Grundlage für eine Auseinandersetzung mit einer postkolonialen Schweiz gelungen. Das ist nicht nur ein wichtiger Ausgangspunkt für künftige Theoriebildung, sondern auch relevant für die politische Praxis. Denn »eine postkoloniale Perspektive vermag es, solche zur Selbstverständlichkeit geronnen Vorstellungen aufzubrechen, durch die der strukturelle Rassismus in der Schweiz gleichzeitig omnipräsent und unsichtbar gemacht wird.«


Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hg.):
Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien.
Transcript Verlag, Bielefeld 2012. 422 Seiten, 32,80 Euro.

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 334 - Januar/Februar 2013


Antiziganismus
Vergangenheit und Gegenwart

Ressentiments bis hin zu Rassismus finden sich historisch wie aktuell in der Rede über die »Zigeuner« und in der undifferenzierten Wahrnehmung eines »Sinti- oder Romaproblems«. Im institutionellen Alltag und in individuellen Begegnungen erwächst aus Vorurteilen und Rassismen eine konkrete Diskriminierungspraxis. Im Themenschwerpunkt fragen wir nach den Ursachen, Auswirkungen und Erscheinungsformen der antiziganistischen Zustände in Europa.

Dieser Themenschwerpunkt ist keiner über Roma, Sinti, Jenische oder Travellers. Es geht nicht darum, wie »sie« leben, wie sie »wirklich« sind. Ohnehin gibt es nicht »die« Roma und »die« Sinti, mit diesen Bezeichnungen werden sozial, politisch und kulturell heterogene Gruppen zusammengefasst. Der Themenschwerpunkt handelt vielmehr von der Mehrheitsgesellschaft, genauer gesagt: Vom Ressentiment der Mehrheit gegenüber einer Minderheit. Anders gesagt: In diesem Themenschwerpunkt erfahren wir etwas über »uns«, nicht über »sie«.

Erfreulicherweise ist es gelungen, einige Unterstützung für diesen Themenschwerpunkt und die dazugehörige Veranstaltungsreihe in Freiburg zu gewinnen. Wir bedanken uns sehr herzlich bei der Stiftung :do, bei der Amadeu Antonio-Stiftumg und beim EPIZ Reuttlingen.


Editorial

POLITIK UND ÖKONOMIE

Nahostkonflikt I: Der arabische Frühling und der israelische Feind.
Kommentar von Abdulateef Al-Mulhim

Nahostkonflikt II: Das Ende von Bitterlemons.net.
Warum wir aufhören. Von Ghassan Khatib
Die Kurve des Pendels von Yossi Alpher

Iran: Ein kategorischer Imperativ
Das iranische Regime und das Versagen vieler Linker
von Stephan Grigat

Mali: Gefährliche Vereinfachungen
Die Militarisierung europäischer Entwicklungspolitik
von Stefan Brocza

Senegal: »Barcelona oder Sterben«
Interview mit Moussa Sène Absa über seinen Film »Yoole« und die Migration von Jugendlichen

Venezuela: Kommune oder Staat?
Zwischen regionaler Selbstverwaltung und Zentralismus
von Michael Karrer


SCHWERPUNKT: ANTIZIGANISMUS

Editorial: Die Aktualität des Antiziganismus

Europa erfindet die Zigeuner
Die dunkle Seite der Moderne
von Klaus-Michael Bogdal

Bis zum Völkermord
Antisemitismus und Antiziganismus
von Wolfgang Wippermann

»Zu Sündenböcken gemacht«
Interview mit Romani Rose über die Aktualität des Antiziganismus

Inszenierte Wildheit
Antiziganismus im geschlechterspezifischen Kontext
von Felia Eisenmann

Als Kollektiv definiert
Risiken und Nebenwirkungen einer Aufklärungspädagogik gegen Antiziganismus
von Albert Scherr

»Nicht nur die EU-Politik ist falsch«
Interview mit Valeriu Nicolae zu europäischen Strategien gegen Antiziganismus

Die Stille durchbrechen
Ein biografischer Bericht zur Lage der Roma und Sinti in Italien
von Paolo Finzi

Antiziganismus ist Mainstream
Roma werden von Ungarns Rechtsregierung systematisch diskriminiert
von pusztaranger

Aufgeklärte Vorurteilsforschung
Ein Buch über die Armut der Roma in Südosteuropa
von Winfried Rust

Kampf um Entschädigung
Eine Studie über Sinti und Roma nach dem Nationalsozialismus
von Tobias von Borcke

»Wir sind mehr als ausgelastet«
Interview mit Walter Schlecht über praktische Solidarität
Kultur und Debatte

Burkina Faso: »Eine Revolution vom Volk für das Volk«
Thomas Sankaras Linksregime zwischen Mythos und Wirklichkeit
von Martin Bodenstein

Comic: »Es hat mir den Kopf geöffnet«
Interview mit Pti' Luc über afrikanische Comics

Rezensionen

Szene/Tagungen

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Quelle:
iz3w Nr. 334 - Januar/Februar 2013, Rezensionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2013