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IZ3W/309: "Verräter" oder "Opfer"? - Diskussion über algerische Hilfssoldaten an der Seite Frankreichs


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 336 - Mai/Juni 2013

»Verräter« oder »Opfer«?
Die Diskussion über algerische Hilfssoldaten an der Seite des kolonialen Frankreich

von Anna Laiß



Bis heute flammen in Frankreich wiederholt heftige Auseinandersetzungen um die koloniale Vergangenheit auf. Kontrovers debattiert wird vor allem der Algerienkrieg, dessen Auswirkungen bis heute in der französischen Gesellschaft zu spüren sind. Eine besonders davon betroffene Gruppe sind die Harkis, die als Hilfssoldaten für Frankreich gegen die antikoloniale FLN gekämpft hatten. Sind sie verachtenswerte Kollaborateure? Oder handelt es sich um eine spezifische Opfergruppe des Kolonialismus?

Der französische Historiker Benjamin Stora spricht von einem »Krieg der Erinnerungen«: Ihm zufolge versuchen die ehemaligen Akteure des Algerienkrieges den Krieg auf der Ebene der Erinnerungen fortzusetzen. Verschiedene Verbände betreiben bis heute Lobbyarbeit und versuchen ihre Deutung der Vergangenheit und ihre Ansprüche, die sie daraus ableiten, durchzusetzen. Bedeutend sind vor allem Veteranenverbände sowie die zahlreichen Verbände, die die Interessen der ehemaligen französischen SiedlerInnen in Algerien vertreten. Rund eine Million dieser »Pieds-Noirs« wurden nach Ende des Krieges nach Frankreich repatriiert.

An den Debatten beteiligen sich auch die Verbände der »Français Musulmans rapatriés«. Das sind jene Muslime, die während des Algerienkrieges auf der französischen Seite standen und nach Kriegsende nach Frankreich umgesiedelt wurden. Sie nehmen in den Debatten um den Algerienkrieg eine ambivalente Rolle ein: Als ehemals Kolonialisierte, die sich an der Seite der Kolonialmacht am Krieg beteiligten, lassen sie sich nur schwer einem Lager zuordnen, sondern sitzen stets zwischen den Stühlen. In besonderem Maße gilt dies für die Harkis, die muslimischen Hilfssoldaten. Bis heute sind sie auf der Suche nach ihrem Platz in der französischen Gesellschaft. Dies schlägt sich in den Debatten um ihre Rolle während des Algerienkrieges und um ihren Platz in der französischen Erinnerungskultur nieder.


Nicht mehr nützlich

1961 änderte Präsident Charles de Gaulle die bislang rigide Algerienpolitik und nahm Verhandlungen mit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN auf. Die muslimischen Hilfssoldaten, deren Dienste die französische Armee während des Krieges massiv in Anspruch genommen hatte, stellten nun ein Hindernis für die französische Politik dar. Die militärische und politische Führung war deshalb darum bemüht, sich ihrer schnell zu entledigen. Noch vor Inkrafttreten des Waffenstillstands wurden sie entwaffnet und mit einer Prämie ins Zivilleben entlassen. Eine Ausreise nach Frankreich war lediglich für die muslimischen Beamten und die regulären Soldaten vorgesehen, nicht jedoch für die Harkis. Diesen wurde zwar bei »guter physischer Verfasstheit« die Möglichkeit eingeräumt, einen Vertrag mit der französischen Armee zu unterzeichnen. Die Leitlinie bestand jedoch darin, die Mehrheit in das unabhängige Algerien zu integrieren.

Dies ließ sich jedoch nicht ohne weiteres realisieren. Durch die massive Beteiligung von muslimischen Kräften auf der französischen Seite hatte die französische Armee den Krieg um die Dimension eines Bürgerkrieges erweitert. Dies wurde immer deutlicher, als sich die französischen Truppen aus Algerien zurückzogen. Vor allem in der Zeit nach der Unabhängigkeit, als durch Machtkämpfe innerhalb des FLN ein Machtvakuum entstand, kam es zu Racheakten gegenüber jenen Muslimen, die während des Krieges auf französischer Seite gestanden hatten. Vor allem betraf dies die Harkis. Es lässt sich nicht endgültig klären, ob diese Ausschreitungen vom FLN gesteuert wurden oder ob sie auf das Machtvakuum zurückzuführen waren. Ebenso wenig lässt sich die Opferzahl bis heute klären. Revisionistische prokoloniale Kräfte innerhalb Frankreichs halten an der Zahl von 150.000 ermordeten »profranzösischen« Muslimen fest, glaubwürdigere Quellen sprechen von 70.000 Opfern.

Die französische Regierung wurde durch diese Massaker zum Handeln gezwungen und genehmigte den ehemaligen Hilfssoldaten und deren Familien vermehrt die Ausreise nach Frankreich. Die Frage nach dem Umgang mit den Harkis war innerhalb des ohnehin gespaltenen Militärs zunehmend zu einer Streitfrage geworden. De Gaulle war mit Hilfe von Militärs an die Macht gekommen, die in ihm den Retter des Kolonialreichs sahen. Diese Militärs fühlten sich nun von ihm verraten und wandten sich von ihm ab, als deutlich wurde, dass er die Unabhängigkeit Algeriens anstrebte.

Die Algerienfrage wurde so zur Krise der französischen Armee, die schließlich im Frühjahr 1961 in der Gründung der terroristischen Untergrundorganisation OAS (Organisation d'Armée Secrète) gipfelte. Diese Organisation akzeptierte den Waffenstillstand nicht, sondern versuchte mit Attentaten in Algerien, aber auch in Frankreich, den Krieg fortzuführen. Die OAS war nicht nur bemüht, die Harkis für ihren terroristischen Untergrundkampf zu rekrutieren, sondern benutzte sie zudem zur Rechtfertigung ihres Vorgehens. So wurde der »Verrat« an diesen Muslimen zu einem wichtigen Thema in den Prozessen gegen die OAS-Spitzen General Salan und General Johaud. Deren Verteidigung verwies immer wieder darauf, dass die Angeklagten aus der moralischen Verantwortung gegenüber denjenigen Algeriern gehandelt hätten, die Frankreich treu geblieben und von de Gaulle nun verraten worden wären.


Linke gegen Lumpenproletariat

Der Verdacht, die ehemaligen Hilfssoldaten ließen sich von der OAS instrumentalisieren, verschärfte die ohnehin bestehende Ablehnung der kolonialkritischen linken Intellektuellen in Frankreich gegenüber dieser Gruppe. Heftig kritisiert wurden die Harkis auch vom Theoretiker des antikolonialen Befreiungskampfes, Frantz Fanon. Er beschrieb 1961 in seinem Werk »Die Verdammten dieser Erde« die Entstehung eines neuen freien Menschentypus durch die Dekolonialisierung. Diejenigen, die sich nicht am Dekolonialisierungskampf beteiligten, blieben weiterhin koloniale Objekte und ließen sich als solche immer wieder von den Kolonialherren als Werkzeug instrumentalisieren. In Algerien stellten Fanon zufolge die Harkis dieses »Lumpenproletariat« dar, dessen sich Frankreich bedienen konnte.

Die Harkis waren bereits während des Krieges in die Kritik der linken Intellektuellen geraten. Unter dem Polizeipräsidenten Maurice Papon waren sie als Hilfspolizisten auch in den Pariser Vorstädten eingesetzt worden, um die Geldflüsse der algerischen Immigranten an den FLN zu stoppen. Dass diese Harkis innerhalb Frankreichs Folterungen durchführten, wurde unter anderem durch die Recherchen der Journalistin Paulette Péju an die Öffentlichkeit getragen. Auch Claude Lanzmann thematisierte dies in seinem 1961 veröffentlichten Artikel »L'humaniste et ses chiens«. Da nun zusätzlich eine Instrumentalisierung der Harkis durch die OAS drohte, wurde in der Tageszeitung Liberation wiederholt vor einer Repatriierung der ehemaligen Hilfssoldaten gewarnt. Allerdings gab es aus der Linken auch Stimmen, die sich trotz ihrer Beteiligung an Folterungen für die Aufnahme der Harkis in Frankreich aussprachen. So schrieb der prominente Kolonialkritiker Pierre Vidal Naquet im Frühjahr 1962 in Le monde: »Diese Männer, selbst diejenigen, die auf Befehl Verbrechen begangen haben, sind ebenso Opfer wie Täter, Opfer der kolonialen Ordnung.« Er sah Frankreich in der Verantwortung, für die Sicherheit der Harkis zu sorgen.

Dennoch blieben es vor allem die KolonialbefürworterInnen, die als Sprachrohr der Harkis auftraten und sie als Beleg für die positive Rolle Frankreichs in den Kolonien und für den Verrat durch de Gaulle heranzogen. Für diese Akteure stand allerdings nicht die Verbesserung der sozialen Situation von Harkis innerhalb Frankreichs im Vordergrund. Ihre Forderungen konzentrierten sich in den Jahren nach dem Krieg auf materielle Entschädigungen für die Pieds-Noirs und die muslimische Elite sowie auf eine Generalamnestie für die inhaftierten Mitglieder der OAS. Während die Pieds-Noirs und die muslimische Elite durch verschiedene Gesetze großzügige finanzielle Hilfen und Entschädigungen erhielten und ihre Integration in Frankreich insgesamt als Erfolgsgeschichte angesehen wird, blieb die Lage der ehemaligen Hilfssoldaten in Frankreich hingegen prekär.

Die Harkis waren von Hilfs- und Entschädigungszahlungen ausgeschlossen und daher mittellos und auf fremde Hilfe angewiesen. Vor ihrer Verteilung auf ganz Frankreich wurden sie zusammen mit ihren Familien in improvisierten Militärlagern untergebracht. Bei der Verteilung wurde streng auf eine räumliche Trennung von Harkis und algerischen ImmigrantInnen geachtet, um mögliche Konflikte zwischen beiden Gruppen zu verhindern. So wurde eine große Anzahl der Harkis in verlassenen Walddörfern untergebracht, in denen sie als Hilfsarbeiter des Forstamtes eingesetzt wurden. Diejenigen, die als nicht arbeitsfähig eingestuft wurden, blieben dauerhaft in den nun aus Baracken bestehenden Lagern. Sowohl die Walddörfer als auch die Lager wurden von ehemaligen Offizieren geleitet, die die BewohnerInnen einer quasi-militärischen Kontrolle unterwarfen. Da sie sich angeblich durch eine »spezielle Kenntnis der muslimischen Mentalität« auszeichneten, wurde zudem unter Pieds-Noirs Personal angeworben, das für die soziale Kontrolle der BewohnerInnen zuständig war. Somit wurden koloniale Strukturen fortgesetzt und die Harkis in postkolonialen Abhängigkeiten gehalten.


Zweite Generation im Aufstand

Den Harkis fehlten die Mittel, eine Verbesserung ihrer Situation zu fordern. Von den Ereignissen des Krieges und vom erzwungenen Exil meist traumatisiert, zogen sie sich in ein kollektives Schweigen zurück. Es war die zweite Generation, die Nachfahren der Harkis, die erstmals in den 1970er Jahren an die Öffentlichkeit trat und versuchte, durch gewaltsame Aufstände auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Im Lager von St. Maurice l'Ardoise nahmen Jugendliche dessen Leiter als Geisel und forderten das Ende der Lagerpolitik. Während die Ereignisse von der Linken kaum rezipiert wurden, wussten erneut Pieds-Noirs, Militärs sowie der neugegründete Front National die Situation für sich zu nutzen: Es wurde der neogaullistischen Regierung vorgeworfen, diejenigen, die Frankreich treu geblieben waren, zu ignorieren, gleichzeitig jedoch massenweise algerische ImmigrantInnen aufzunehmen, die sich doch mit der Unterstützung des FLN während des Krieges klar gegen Frankreich ausgesprochen hatten.

Dennoch markierten die Aufstände für die ehemaligen Hilfssoldaten eine wichtige Etappe. Es entstanden in den 1970er Jahren erste Verbände muslimischer Repatriierter. In ihnen waren zwar nicht die Harkis selbst, sondern die muslimische Elite dominant, diese setzte sich jedoch für eine konkrete Verbesserung der sozialen Situation der ehemaligen Hilfssoldaten ein. Im Laufe der 1980er und 90er Jahre entstanden weitere Verbände muslimischer Repatriierter, vor allem der zweiten Generation, darunter auch Harkiverbände. Durch Verbandsarbeit und weitere Aufstände wie die von 1991 sowie durch verschiedene Hungerstreiks versuchte die zweite Generation auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Es konnten so wichtige materielle Forderungen durchgesetzt werden. 1986 wurde ein Entschädigungsgesetz verabschiedet, das auch die ehemaligen Hilfssoldaten bedachte. Sozialprogramme sollten die Situation der zweiten Generation verbessern, die unter den Folgen ihrer Sozialisation in den Lagern litt und nur schwer in den Arbeitsmarkt zu integrieren war.

Einige dieser neu entstandenen Verbände standen den Kolonialbefürwortern nahe. Und es waren weiterhin vor allem Pieds-Noirs, ehemalige Militärs (vor allem aus den Reihen der OAS) sowie der Front National, die den Hungerstreikenden ihre Aufmerksamkeit schenkten. Sie betonten den Gegensatz zwischen Harkis und algerischen ImmigrantInnen, um ihn für ihre Anti-Migrations-Rhetorik zu nutzen. Doch diese Dichotomie bestand gar nicht in dem Maße. Wie die zweite Generation maghrebinischer EinwandererInnen sah sich vor allem die zweite Generation der Harkis in Frankreich mit Rassismus und Ausgrenzung konfrontiert. Aus diesem Grund kämpften Harkis der zweiten Generation nicht nur für ihre eigenen materiellen Interessen, sondern beteiligten sich auch an der Anti-Rassismus-Bewegung der 1980er Jahre. 1983 etwa initiierten sie gemeinsam mit den maghrebinischen EinwandererInnen den »Marche pour l'égalité«.


Postkoloniale Erinnerungspolitik

Erst Ende der 1980er setzte in Frankreich die wissenschaftliche und erinnerungspolitische Aufarbeitung des Algerienkriegs ein. Dabei wurden auch Forderungen nach einer symbolischen Anerkennung des Schicksals der Harkis durch Frankreich laut. Erneut instrumentalisierten Pieds-Noirs, Militärs und Front National die Harkis, diesmal um in den Debatten über den Algerienkrieg ihre Deutung des französischen Kolonialismus durchzusetzen und die »antifranzösische« Thematisierung des Algerienkriegs anzuprangern. So wurden die Harkis herangezogen, um gegen den Vorstoß des linksgerichteten Veteranenverbands FNACA vorzugehen, der schon seit den 1980er Jahren forderte, den 19. März, den Tag des Waffenstillstands zwischen Frankreich und dem FLN, als nationalen Gedenktag einzurichten.

Für den Pieds-Noir-Verband Anfanoma stand dieses Datum für eine »schmachvolle Niederlage Frankreichs«. Der Verband verwies auf die Harkis als treue Soldaten Frankreichs, die als Beweis dafür angesehen werden könnten, dass der Algerienkrieg kein Krieg gegen die Bevölkerung, sondern gegen einige wenige Rebellen gewesen sei. Als Beleg für die Gewalt dieser Rebellen dienten unter anderem die Racheakte an den Harkis nach Kriegsende. Des 19. März als Ende des Krieges zu gedenken, hieße, die Harkis aus dem französischen Gedenken auszuschließen und die Gewalt des FLN zu verharmlosen. Die Harkis wurden erneut herangezogen, als im Jahr 2000 die Debatte um die Folterungen durch die französische Armee während des Algerienkrieges aufkam. Um die Anwendung der Folter zu relativieren und zu rechtfertigen, verwies man auf die grausamen Racheakte an den Harkis, die zum Sinnbild für die Gewalt des FLN stilisiert wurden.

Dass die Harkis im Kampf um Anerkennung von den KolonialbefürworterInnen unterstützt wurden, schlug sich schließlich in der staatlichen Erinnerungspolitik nieder. Ein 1994 unter Präsident François Mitterand verabschiedetes Gesetz sollte bezeugen, dass die französische Republik die Opfer anerkannte, die die Hilfssoldaten für Frankreich erbracht hatten. Besondere Aufmerksamkeit schenkte Jacques Chirac den Harkis. Er hatte als Soldat im Algerienkrieg gekämpft und räumte während seiner Amtszeit der erinnerungspolitischen Aufarbeitung oberste Priorität ein. Für ihn stellte es eine besondere Aufgabe dar, die Harkis in dieses Gedenken zu integrieren. 2001 führte er den nationalen Gedenktag zur »Würdigung der Harkis« ein. In einer zentralen Gedenkfeier in Paris und bei Feiern in den Départements werden seitdem jährlich verdienten Harkis militärische Orden überreicht und diese als treue Soldaten Frankreichs geehrt.

Chirac nutzte den ersten Gedenktag 2001, um sich bei den Harkis für die zögerliche Repatriierung nach Kriegsende zu entschuldigen: »Frankreich wusste seine Kinder nicht zu schützen«. Gleichzeitig lobte er ihren Beitrag zu den zivilisatorischen Leistungen Frankreichs in Algerien. An der modernisierungstheoretischen Rhetorik Chiracs wird deutlich, welche Leitlinie er in der Erinnerungspolitik verfolgte. Er stilisierte die Harkis zu treuen Soldaten Frankreichs, die sich bewusst für die französische Seite und somit für den Weg der »Moderne« entschieden hätten.

Besonders deutlich wurde dies 2005, als ein Gesetz verabschiedet wurde, durch welches »das erlebte Leid und die erbrachten Opfer« der Repatriierten und der Harkis anerkannt werden sollte. Das Gesetz sollte gleichzeitig den Forderungen der Harkis und der Repatriiertenverbände nach symbolischer Anerkennung gerecht werden. Zudem wurden die materiellen Entschädigungen für Harkis neu geregelt und diffamierende Äußerungen gegenüber ihnen unter Strafe gestellt.

In der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde das Gesetz aufgrund des 4. Artikels, der die »positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee« zur Leitlinie in der Schul- und Universitätsbildung erklärte. Mehrere HistorikerInnen hatten mit einem offenen Brief in Le monde auf diesen Artikel aufmerksam gemacht und damit heftige Debatten ausgelöst. Chirac sah sich schließlich gezwungen, diesen Artikel zurückzuziehen. Dass in einem Gesetz, das die symbolische und materielle Entschädigung der Harkis regeln sollte, zugleich auch die »positive Rolle der französischen Kolonisation« festgeschrieben wurde, ist auf den Einfluss der KolonialbefürworterInnen auf die staatliche Erinnerungspolitik zurückzuführen. In dem Gesetz wurden Forderungen der Harkis mit jenen der Pieds-Noirs vermischt.


Zweifelhafte Anerkennung

Die französische Linke trat den Forderungen der Harkis nach Anerkennung mit Unverständnis gegenüber. Sie sah damit das Bild der Harkis als Diener der Kolonialherren im Sinne Fanons bestätigt. So spottete beispielsweise der französische Karikaturist Siné 1997 mit einer Karikatur in der Satirezeitschrift Charlie Hebdo: »Obwohl ich vollkommen damit einverstanden bin, dass diese Harkis in einen Hungerstreik treten, um endlich die Anerkennung zu bekommen, die Frankreich ihnen schuldet, kann ich es nicht verhindern, dass ich Lust bekomme, ihnen ins Gesicht zu spucken! [...] Als Vaterlandsverräter verdienen sie nur Verachtung, aber als loyale Diener der Kolonialmacht, als eifrige Kollaborateure haben sie ein Recht auf die Dankbarkeit und auf die Glückwünsche ihrer Herren.«

Es muss jedoch festgehalten werden, dass sich auch Harkiverbände gegen die zweifelhafte Würdigung aussprachen. So wandten sich einige Verbände deutlich gegen das Gesetz von 2005. Fatima Besnaci-Lancou, Gründerin des Verbands »Harkis et droits de l'homme« und selbst Tochter eines Harkis, äußerte sich dazu im Februar 2005 so: »Nach den Lagern, nach den Stacheldrähten wurden die Harkis und ihre Familien nun in einem widerlichen Gesetz eingeschlossen, das von Nostalgikern eines französischen Algeriens beschlossen wurde.« Besnaci-Lancou vertritt eine neue Generation von Harkis, die den Schulterschluss mit linken Intellektuellen und HistorikerInnen sucht. Auch sie setzt sich dafür ein, dass der französische Staat seine Verantwortung am Schicksal der Harkis anerkennt, allerdings nicht, indem sie als treue Soldaten Frankreichs geehrt werden, sondern im Kontext des Kolonialismus und Postkolonialismus. Sie verweist darauf, dass Harkis ebenso wie alle anderen AlgerierInnen als Opfer des Kolonialismus angesehen werden müssen und dass sie auch innerhalb Frankreichs weiterhin als Kolonialisierte behandelt wurden, was durch den Einfluss von Pieds-Noirs und Militärs verstärkt wurde. Sie distanziert sich aus diesem Grund von diesen Kräften und spricht sich für eine gemeinsame Erinnerungskultur von algerischen ImmigrantInnen und Harkis aus.

Dies unterstreicht noch einmal, dass die Harkis in Frankreich nie mit einer Stimme sprachen. Der Grund, warum sich stets vor allem diejenigen durchsetzten, die an der Seite der KolonialbefürworterInnen auftraten, ist darin zu suchen, dass letztere die Mittel hatten, ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Zunehmend setzen sich aber jene Harkis durch, die sich von diesen Kräften distanzieren. Ihre Position lässt sich mit den Worten Fatima Besnaci-Lancous so zusammenfassen: »Die Harkis fordern eine Anerkennung und keine Medaillen.«


Anna Laiß promoviert in Geschichtswissenschaft an der Universität Freiburg


Literatur

Fatima Besnaci-Lancou/ Gilles Manceron (Hg.): Les harkis dans la colonisation et ses suites. Ivry-sur-Seine, Les Éditions de l'Atélier 2008

Fatima Besnaci-Lancou/ Benoît Falaize/ Gilles Manceron: Les Harkis. Histoire, mémoire et transmission. Paris, Editions de l'Atélier 2010

Tom Charbit: Les harkis. Paris, La Découverte 2006

Claude Lanzmann (Hg.): Les Harkis. Les mythes et les faits (Les Temps modernes No 666). Paris 2011

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Was sind Harkis?

Harki leitet sich aus dem arabischen Wort haraka ab und steht für »Bewegung«. Bereits vor der französischen Kolonialzeit wurde der Begriff im Maghreb für mobile Milizen verwendet, die für politische oder religiöse Autoritäten Steuern eintrieben und Repressalien durchsetzten. Während des Algerienkriegs bezeichnete der Begriff »harkas« eine von mehreren militärischen Hilfseinheiten, für die Muslime rekrutiert wurden. Da diese Hilfseinheit quantitativ von größter Bedeutung war, setzte sich die Bezeichnung Harkis während des Krieges für alle Mitglieder der verschiedenen muslimischen Hilfseinheiten durch. Seither wird der Begriff in Frankreich auf zweifache Weise benutzt: Zum einen bezeichnet er weiterhin die ehemaligen Hilfssoldaten, zum anderen wird der Begriff teilweise weiter gefasst und synonym für all diejenigen verwendet, die die französische Seite während des Algerienkriegs unterstützt hatten und nach dem Krieg nach Frankreich ausreisen durften. Neben den Hilfssoldaten waren dies die muslimischen Soldaten, die in regulären Einheiten dienten, sowie muslimische Notabeln und Beamte. Im vorliegenden Beitrag werden als Harkis die ehemaligen Hilfssoldaten bezeichnet, denen nur zögerlich das Recht eingeräumt wurde, nach Frankreich auszureisen und deren Situation sich nach dem Ende des Krieges grundlegend von der der anderen Repatriierten unterschied.


Harkis im Algerienkrieg

Frankreich setzte während der gesamten Kolonialzeit nicht nur in der Verwaltung auf die Unterstützung einheimischer Kräfte, sondern auch im Militär. Bereits an der Eroberung Algeriens 1830 waren einheimische Soldaten beteiligt. Auch in den beiden Weltkriegen kämpften auf der französischen Seite muslimische Soldaten, vor allem aus Algerien. Algerien hatte innerhalb des französischen Kolonialreichs eine besondere Stellung inne, galt es doch staatsrechtlich nicht als Kolonie, sondern als integraler Bestandteil des »Mutterlandes«. So wurde die muslimische Bevölkerung dort schon vor dem Ersten Weltkrieg der Wehrpflicht unterworfen.

Besondere Bedeutung für das französische Militär gewannen in Algerien die einheimischen Kräfte während des Algerienkrieges (1954-62). Auf französischer Seite kämpften bis zu 40.000 algerische Wehrpflichtige und 25.000 Berufssoldaten. Zudem setzte die französische Armee auf verschiedene muslimische Hilfseinheiten mit zeitweise mehr als 150.000 Hilfssoldaten, die den offiziellen Status von Tagelöhnern hatten.

Für die französische Armee stellten die Hilfssoldaten eine günstige Möglichkeit dar, ihre Reihen aufzufüllen. Zudem hatte sie aus dem Indochinakrieg die Lehre gezogen, dass ein asymmetrisch geführter Kolonialkrieg nur durch die Unterstützung der Bevölkerung gewonnen werden könne und die Doktrin der »psychologischen Kriegsführung« entwickelt. Innerhalb dieser Doktrin war die Rekrutierung möglichst vieler muslimischer Hilfssoldaten von großer Bedeutung. Durch sie sollte der Kontakt zu der Bevölkerung hergestellt und die These untermauert werden, Frankreich befinde sich an der Seite der Bevölkerung Algeriens »aller Konfessionen« im Kampf gegen einige wenige »Rebellen«, die Algerien in das Chaos stürzen wollten.

Um Hilfssoldaten anzuwerben, setzte die Armee auf Manipulation und Druck. Zudem konnte sie von der ökonomischen Misere in Algerien profitieren. Durch eine Umsiedlungspolitik, bei der die Bevölkerung ganzer Dörfer ihre Häuser und ihre Herden und Felder verlassen musste, um in von der Armee überwachte Siedlungen zu ziehen, wurde die agrarische Gesellschaft Algeriens grundlegend erschüttert. Die französische Armee gewann als Arbeitgeberin an Bedeutung. Viele Harkis geben zudem an, sich der Armee angeschlossen zu haben, nachdem Familienmitglieder Opfer von Gewalttaten des FLN geworden waren.

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 336 - Mai/Juni 2013


In weiter Ferne -
das Ende der Armut

Die Formen, Vermessungen und Darstellungen der Armut ändern sich, aber die Armut bleibt. Rund drei Milliarden Menschen gelten als arm, rund eine Milliarde als extrem arm. Armut ist nicht nur ein Problem des globalen Südens - die Ursachen sind vielfältig. Sie findet sich in der Stadt wie auf dem Land, trotz Rohstoffreichtum und Bildung, trotz oder gerade wegen bestimmter Formen von Lohnarbeit. Doch anstatt der Armut werden oftmals die Armen bekämpft und ihr Armsein gerechtfertigt.

Der Analyse der Armut in ihren verschiedenen Dimensionen widmet sich dieser Themenschwerpunkt. Wie ergeht es den Menschen in ehemals sozialistischen Staaten? Ist Armut dem siegreichen kapitalistischen Vergesellschaftungsmodell immanent? Ist Arbeit im informellen Sektor Teil des Problems oder Teil der Lösung? Gibt es globale Antworten auf diese transnationale Herausforderung?


BEITRÄGE ZUM DOSSIER

Editorial - In weiter Ferne

Abolish Poverty
Die Erzählweisen über Armut ändern sich, die Armut bleibt
von Winfried Rust

Wer Armut definiert, hat Macht
Die Vermessung der Armut dient auch der Kontrolle
von Reinhart Kößler

»Lasst einige zuerst reich werden«
Von der sozialistischen zur kapitalistischen Armut in China
von Uwe Hoering

Kommt die Eine Wohlfahrtswelt?
Rezension von Friedemann Köngeter

Nichts Neues aus Afrika
Der Zusammenhang von Rohstoffreichtum und Armut
von Henning Melber

Misere und Millionenstädte
Wird die Armut städtisch?
von Christoph Parnreiter

Wirtschaftswunder der Armut
Der informelle Sektor wächst weltweit
von Martina Backes

Harte Wende
Mongolei: Aus dem Sozialismus in die Armut?
von Friederike Enssle

Universal sozial
Transnationale Armut und »globale Sozialpolitik«
von Wolfgang Hein

'Warum Allah Arme und Reiche schuf...'
Islamische Wohlfahrt und soziale Fürsorge in der Türkei
von Anne Steckner

Keine Wunderwaffe
Bildung im Kampf gegen Armut
von Christoph Butterwegge

Bildung als Baldrian
von Martina Backes


AUSSERDEM IM HEFT:

Hefteditorial - Ein Auslaufmodell

POLITIK UND ÖKONOMIE

Mali I: Ein Ende mit Schrecken
Die malische Version der Demokratie ist vorerst gescheitert
von Ruben Eberlein

Mali II: Aufs falsche Kamel gesetzt

Die Konflikte um Tuareg und Islamisten haben eine lange
Vorgeschichte

von Claus-Dieter König

Kenia: Wer mit der Macht spielt
Nach den Wahlen
von Isabel Rodde

Postkolonialismus: »Verräter« oder »Opfer«?
Die Diskussion über algerische Hilfssoldaten an der Seite des kolonialen Frankreich
von Anna Laiß

Tourismus I: Begegnungen auf der Deponie
Tourismus, Müll und Armutsbekämpfung in Mexiko
von Eveline Dürr

Tourismus II: Nah am Geschehen
Das Slumming ist eine umstrittene Form des Tourismus
von Till Schmidt


KULTUR UND DEBATTE

Digitales I: Die »Nigeria Connection«
Vorschussbetrug per Email greift oft auf westliche Stereotype über Afrika zurück
von Sebastian Prothmann

Digitales II: Am virtuellen Pranger
Scambaiting als rassistische Form der Kriminalitätsbekämpfung im Internet
von Matthias Krings

Film: Immun gegen Reue
»The Act of Killing« zeigt die indonesischen Massenmörder der 1960er Jahre
von Isabel Rodde

Debatte: Wie aus dem Lehrbuch
Eine rassismuskritische Broschüre tendiert zum Schwarz-Weiß-Denken
von Christian Stock

Rezensionen

Szene/Tagungen

Impressum

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Quelle:
iz3w Nr. 336 - Mai/Juni 2013, Dossier S. 10-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2013


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2013