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IZ3W/344: Editorial von Ausgabe 345 zum Dossier - Barrieren und Behinderungen


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 345 - November/Dezember 2014

Editorial zum Dossier
Barrieren und Behinderungen



Was ist Behinderung? Menschen mit Behinderungen sind so unterschiedlich wie Menschen nur sein können. Was hat etwa der Weltklassesprinter Oscar Pistorius aus Südafrika mit Zimha Albima aus Angola zu tun? Pistorius kommt aus einem Elternhaus, das ihm ein BWL-Studium und eine Sportlerkarriere ermöglichte. Der Fastest Man On No Legs ist für seine Höchstleistungen wie den Hundert-Meter-Lauf in 10,91 Sekunden weltberühmt. Ermöglicht wird ihm das unter anderem durch spezielle Fußprothesen aus kohlefaserverstärktem Kunststoff.

Zimha Albima ist eine Protagonistin der Fotoserie, die dieses Dossier begleitet. Sie hat Diabetes und lebt allein in Luanda. Ihre Beine wurden nach und nach amputiert, weil Medikamente fehlen oder zu teuer sind. Ihre Prothesen sind so schwer, dass sie sich mit ihnen kaum fortbewegen kann. Daher sitzt sie meistens in ihrem Rollstuhl, mit dem sie nicht in ihre eigene Küche kommt.

Bei dem extrem ungleichen Paar könnte man Oscar Pistorius als Prototyp des »Superkrüppel« anführen. So nennt die amerikanische Behindertenbewegung die Diskursfigur des Helden, der »trotz« Behinderung Höchstleistungen vollbringt. Die deutsche Behinderteninitiative leidmedien.de kritisiert diese Darstellung als spektakuläres Pendant zur Darstellung von Menschen mit Behinderung als Opfer. Natürlich ist der Olympiateilnehmer Oscar Pistorius bei dem vorgestellten Paar untypisch (nicht nur wegen der Mordanklage gegen ihn).

Zimha Albima ist es nicht. Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es verallgemeinerbare Tatsachen, die für viele Menschen mit Behinderung gelten. Diese Gemeinsamkeiten sind nichts Individuelles, sondern etwas Gesellschaftliches: So ist die von Menschen erschaffene Infrastruktur wie Wege, U-Bahnzugänge, Hauseingänge, ja sogar Wohnungen erstaunlicherweise nicht auf die Bedürfnisse dieser Menschen zugeschnitten. Somit entsteht überhaupt erst eine Gruppe von Menschen mit besonderen Problemen, welche man dann gerne als deren Probleme betrachtet.

Häufig ist, wie bei Zimha Albima, Behinderung mit Armut verbunden. Eine Behinderung schafft oder verfestigt Armut. Umgekehrt sind schlechte Lebensbedingungen wie mangelhafte Ernährung oder Gesundheitsfürsorge häufig die Ursache für Behinderung. Zum Beispiel variiert die Gefährlichkeit von Diabetes stark je nach medizinischer Behandlung. Behinderung ist auch eine der Folgen von Krieg und Bürgerkrieg. Die Lebensbedingungen des Globalen Südens schaffen aber mehr Behinderung und sie geben den Menschen zugleich weniger Ressourcen an die Hand, um eine menschengerechte, also barrierearme Umgebung zu schaffen.

Das Vorkommen von Behinderungen ist größer als allgemein angenommen. 2011 korrigierte die WHO im Weltbehindertenbericht die Zahl von Menschen mit Behinderung von 650 Millionen auf eine Milliarde. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung leben in Deutschland durchschnittlich zwölf Prozent, im Globalen Süden etwa 20 Prozent der Menschen mit einer Behinderung.

Ein weiteres Problem beim Thema Behinderung ist ebenfalls gesellschaftlicher Natur: Behindertenfeindlichkeit. Sie drückt sich nicht »nur« strukturell in städtebaulicher Ignoranz oder Benachteilungen auf dem Arbeitsmarkt aus. Zudem besteht eine ideologische Behindertenfeindlichkeit. Weltweit müssen Behinderte gegen Diskriminierung und Verfolgung kämpfen. Das Wegsperren von Familienangehörigen mit Behinderung oder ihre Quarantänehaltung als »Kettenmenschen« gibt es häufiger als man glauben mag. Die Zeitschrift »Behinderung und Dritte Welt« beschrieb im Januar 2007, dass Menschenrechte für Menschen mit Behinderung nur eingeschränkt gelten. Auch die Leistungsgesellschaft bringt ihre behindertenfeindliche Ideologie hervor. Aber andererseits stößt Behindertenfeindlichkeit auf Widerstand seitens der vielfältigen Behindertenbewegungen im Norden wie im Süden.

Bei diesem Themenschwerpunkt wollen wir die Besonderung von Menschen mit Behinderung vermeiden. Zugleich möchten wir jene Mechanismen aufzeigen, die diese Gruppe ideologisch und materiell konstruieren. Daher: Weg mit den Barrieren - in den Köpfen und im Alltag!


die redaktion

P.S. Mehr zur Fotostrecke und den Fotos von Flurina Rothenberger im Interview auf S. 26

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 345 - November/Dezember 2014

von Barrieren und Behinderungen
Diskriminierung inklusive

Die Zahl der Menschen mit Behinderung liegt weltweit bei über einer Milliarde und ist damit deutlich höher als bisher angenommen. Rund 80 Prozent von ihnen leben im Globalen Süden. Hier sind Betroffene besonders benachteiligt, da Behinderung Armut schafft oder verfestigt. Umgekehrt sind schlechte Lebensbedingungen wie mangelhafte Ernährung und Gesundheitsfürsorge ebenso wie Kriege häufig die Ursache von Behinderungen.

Hinzu kommt überall Diskriminierung - im Süden wie im Norden. Deshalb beschäftigen wir uns in der aktuellen Ausgabe der iz3w auch mit grundlegenden Fragen: Ist oder wird ein Mensch behindert? Was ist mit "Inklusion" und "Disability Studies" gemeint? Mit welchen Diskriminierungen sehen sich Betroffene konfrontiert? Und welche Gegenstrategien und Selbstorganisationen gibt es, um Barrieren entgegen zu treten?

Der südnordfunk - die monatliche Radio-Magazinsendung des iz3w - ergänzt das Dossier mit Podcasts rund um das Thema Behinderung. Nachzuhören auf iz3w.org.


Inhaltsübersicht aus dem Themenschwerpunkt:

Dossier: von Barrieren und Behinderungen

Editorial

Kein Defekt, sondern Benachteiligung
Von einer inklusiven Gesellschaft sind Nord und Süd weit entfernt
von Jana Offergeld

Zurück zur sozialen Wirklichkeit
Was ist Behinderung? Kontroversen und ihr Hintergrund
von Michael Zander

Weder gottgefällig noch leistungskonform
Behindertenfeindlichkeit hat verschiedene Hintergründe
von Volker van der Locht

Unantastbar und unerreicht
Würde und Behinderung sind k/ein Gegensatz
von Nati Radtke und Udo Sierck

Konstruiert
Disability Studies: Wie wird Behinderung hergestellt?
von Swantje Köbsell

Mehr Ausgaben, weniger Einnahmen
Die ökonomische Situation von Menschen mit Behinderung ist schwierig
von Gabriele Weigt

Asexuelle Neutren
Wie Geschlecht und Behinderung zusammenhängen
von Nina Ewers zum Rode

Inklusion durch Radio
Ein mexikanisches Programm von und für Menschen mit Behinderung
von Mareike Lohr

Doppelt diskriminiert?
Bei Migration und Behinderung überschneiden sich Benachteiligungen
von Nausikaa Schirilla

»Ich will einfach nur Mensch sein!«
Interview mit dem pakistanischen Aktivisten Shafiq ur Rehman

»Man darf nicht romantisieren«
Interview mit Francis Müller über das Fotoprojekt »Minenopfer in Angola«


POLITIK UND ÖKONOMIE

Hefteditorial

Dschihadismus I: Ein Kalifat in Borno
Die Dschihadisten von Boko Haram erobern Teile Nigerias
von Norbert Rusch

Dschihadismus II: Erfolg macht erfolgreich
Der Islamische Staat errichtet in Irak und Syrien ein Terrorregime
von Thomas Schmidinger

Tschad I: »Die Prioritäten haben sich verschoben«
Interview mit dem tschadischen Abgeordneten Béral Mkaikoubou über die Rolle des Tschad in der Sahel-Region

Tschad II: Vom Outlaw zum Verbündeten
von Helga Dickow

Fidschi: Das Ende der CoupCulture?
Fidschis ethnischer Konflikt und die Demokratie
von Eberhard Weber

Australien: »An einem absoluten Tiefpunkt angelangt«
Interview über die australische Politik der Flüchtlingsabwehr

Senegal: Zwischen den Fronten
Frauen setzen sich für Frieden in der Casamance ein
von Martina Backes


KULTUR UND DEBATTE

Vietnam »Noch ein langer Weg«
Geschlechterdiskriminierung im sozialistischen Vietnam
von Christopher Wimmer

Literatur: Afrika verkomplizieren
Mit »Afropolitan« ist eine neue Literaturgattung entstanden
von Rosaly Magg

Film: Postkoloniale Ikone
»Concerning Violence« trivialisiert das Werk von Frantz Fanon
von Udo Wolter

Rezensionen

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Quelle:
iz3w Nr. 345 - November/Dezember 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2014