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LICHTBLICK/176: Kriminalpolitik - Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus im September 2011


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 348 - 3/2011

Eine auffordernde Einleitung zur Teilnahme an den bevorstehenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus. Gleichzeitig eine Betrachtung zur Relevanz des Wahlausganges für die Haftbedingungen.



2011 ist großes Wahljahr - in vielen Bundesländern werden die Volksvertreter neu gewählt; so auch in Berlin: Am 18. September finden die Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin statt. Zu den wahlberechtigten Bürgern gehören auch Inhaftierte - zwar verliert wer wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurde für die Dauer von fünf Jahren das passive Wahlrecht. Diesen Bürgerinnen und Bürgern wird die Fähigkeit entzogen, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen. Das aktive Wahlrecht - der Gang zur Wahlurne - bleibt aber erhalten.

Gewählt jedoch wird von wenigen Gefängnisinsassen - die Wahlbeteiligung ist gering. Auch "draussen" existiert eine Wahlmüdigkeit - wieso immer mehr Bürgerinnen und Bürger ihr Wahlrecht nicht ausüben, bleibt im Dunkeln. Wissenschaftler vermuten, dass es an sinkendem Vertrauen in die Parteiendemokratie aufgrund von nicht gehaltenen Wahlversprechen liegen könnte. Außerdem würden die Unterschiede zwischen den Parteien immer schwerer erkennbar, so die Politik-Experten. Dies würde zu einer Politikverdrossenheit führen.

Oft liegt es auch an ganz banalen Gründen: bei gutem Wetter gehen mehr zur Wahl, als bei schlechtem.

Mangelnde Wahlbeteiligung im Gefängnis kann jedenfalls nicht daran liegen, dass die Gefangenen am Wahltag etwas besseres vorhätten oder ein Unwetter den Gang ins Wahllokal unangenehm werden lassen könnte: die Urne kommt nämlich zu den Gefangenen in die Zelle.

Das Wählen in bundesdeutschen Justizvollzugsanstalten steht jedoch in der Kritik: Unlängst wandte sich Rechtsanwalt Jan Oelbermann für die Vereinigung Berliner Strafverteidiger an die Landeswahlleiterin Dr. Petra Michaelis-Merzbach; auch der lichtblick und die Tegeler Gesamtinsassenvertretung haben das Anliegen unterstützt. Moniert wird, dass Gefangene zur Ausübung ihres Wahlrechts auf die Briefwahl verwiesen werden, ohne dass dies gesetzlich vorgesehen wäre. Das Wahlrecht aus Art. 38 GG gebietet unter anderem eine allgemeine und gleiche Wahl. Inhaftierten ist es, im Gegensatz zu anderen Stimmberechtigten, nicht möglich, am Wahltag ein Wahllokal aufzusuchen. Diese Ungleichbehandlung und der damit verbundene Eingriff in das verfassungsrechtlich garantierte Wahlrecht ist nicht legalisiert. Jeder Eingriff in die Grundrechte von Gefangenen bedarf einer gesetzlichen Grundlage. Die gibt es nicht! Im Gegenteil: § 73 StVollzG verpflichtet die Justizbehörden sogar ausdrücklich, die Gefangenen bei der Ausübung ihres Wahlrechts zu unterstützen.

Tatsächlich genügt zudem die in den Anstalten durchgeführte Wahl nicht annähernd den gesetzlichen Vorgaben: Bei der letzten Wahl in der Justizvollzugsanstalt Tegel beispielsweise wurden zwar den (wahlberechtigten) Gefangenen Wahlunterlagen angeboten - aber bereits die Annahme der Unterlagen oder deren Verweigerung wurde von den Justizvollzugsbediensteten vermerkt! Schlimmer noch: Die Wahlunterlagen sind während einer kurzen regulären Zählung ausgegeben worden - Inhaftierte, die gemeinschaftlich untergebracht waren, hatten keine Möglichkeit, ihre Wahl geheim durchzuführen. Gekrönt wurde die widrige Vorgehensweise dadurch, dass die ausgefüllten Wahlunterlagen zwar in einem verschlossenen Umschlag einem Justizvollzugsbediensteten zum Zeitpunkt des Aufschlusses abgeben werden mussten - jedoch nicht per Einwurf in eine Wahlurne, sondern eindeutig dem Gefangenen zuordenbar. Justizvollzugsbedienstete nahmen Sie per Hand in Empfang und notierten den Namen des Wählenden in einer Liste.

Trotzdem: Wählen! Manch Gefangener meint vielleicht, dass der Ausgang der Wahl für ihn keine Relevanz habe - er ja schließlich im Knast säße, mit Politik nicht viel am Hut habe und sie auf ihn keinen Einfluss habe. Weit gefehlt: Die Politik gestaltet maßgeblich auch den Vollzugsalltag - sie bestimmt gar darüber, welches Verhalten überhaupt strafbar ist und welche Sanktionen die dem Gesetzesbruch angemessen sind!

Politiker gestalten Landesvollstreckungspläne, fördern den Offenen Vollzug oder schließen ihn, sie weisen Gelder für Soziale Dienste oder Resozialisierungsmaßnahmen zu - oder beschneiden sie, sie beeinflussen gar den Gefängnisalltag: Tagesabläufe, Sicherheitsmaßnahmen, zugelassene Gegenstände - der Justizminister, dessen Benennung durch den / die Wahlsieger erfolgt, hält das Zepter in der Hand.

Die deutsche Kriminalpolitik ist seit etwa 10 Jahren im Wandel begriffen: Kontinuierlich werden Gesetze verschärft, Kontrollen verstärkt, Einschränkungen vorgenommen und Befugnisse erweitert. Auf die Frage nach dem Warum gibt die Politikwissenschaft eine deutliche Antwort: Der Staat, der seinen Bürgern ganz offensichtlich keine ausreichende Sozial-, Renten- und Gesundheitsversorgung mehr bieten kann, der auch bei der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen versagt und Bildungsangebote reduziert, müsse sich eben anders legitimieren - als Sicherheitsstaat. Dieser Sicherheitsstaat hat sich vom Resozialisierungsstrafrecht abgewandt und dem kontrollorientierten Präventionsstrafrecht hingegeben. Welche Partei steuert diesen Kurs in hässliche neue Welten (frei nach Huxley) und welche nicht?

Bereits Anfang des Jahres verschickte der lichtblick an alle großen Parteien eine Bitte und ein Angebot: Stellen Sie sich und Ihre Partei vor, berichten Sie auch den inhaftierten Bürgern über die Ziele Ihrer Partei - besonders in Hinblick auf den Strafvollzug.

Alle Parteien antworteten - und standen in der lichtblick-Redaktion Rede und Antwort; die interessanten Interviews lesen Sie in den nachfolgen Artikeln. Und: Wählen!

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Quelle:
der lichtblick, 43. Jahrgang, Heft Nr. 348, 3/2011, Seite 5
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2011