Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

LICHTBLICK/180: Parteien im Interview - Dirk Behrendt, Bündnis 90/Die Grünen


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 348 - 3/2011

Parteien im Interview: BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN, vertreten durch den Abgeordneten und Juristen Dirk Behrendt

Ein subjektiver Bericht



Grün ist die Farbe der Hoffnung - auch in bundesdeutschen Justizvollzugsanstalten können die Gefangenen auf "Grün" hoffen: grünes Licht für Humanität, Sozialstaatlichkeit und wissensbasierten Strafvollzug; dies beinhaltet die Strafvollzugspolitik der Partei BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN.

Grün blinkte unser Telefon - umgehend nach dem Versand unserer Interviewanfrage kontaktierte uns der Referent der Grünen für Inneres, Demokratie und Recht, und wir verabredeten einen Termin mit dem Abgeordneten und rechtspolitischen Sprecher der Grünen Dirk Behrendt. Übertrieben wäre es zu sagen, dass Dirk Behrendt im Knast ebenso zu Hause ist, wie wir - aber er kennt sich aus, besucht die Berliner Haftanstalten regelmäßig, steht mit Gefangenen persönlich in Kontakt und kann als ausgewiesener - und empathischer - Experte im Strafvollzug gelten.

Auch in unserer Redaktion sind die Grünen bekannt - und geschätzt. Es sind die Grünen, die uns regelmäßig mit Materialien aus dem Abgeordnetenhaus versorgen; es sind die Grünen, die für Sorgen und Ängste der Gefangenen ein offenes Ohr haben; es sind die Grünen, die sich für das Resozialisierungsstrafrecht einsetzen.

Es sind aber auch die Grünen, die im wiedervereinigten Berlin noch nie in der Regierungsverantwortung standen und deren Politik sich einer Bewährung in der Realität noch nie stellen musste. Oder anders: Oppositionelle Politik ist nicht Regierungspolitik!

Klar macht das aber auch Dirk Behrendt: "Die Leute glauben manchmal, dass, wenn die Grünen die Regierung stellen, alle Knäste geschlossen und Straftäter entlassen werden. Da werden manchmal Ängste geschürt - aber auch übertriebene Erwartungen publiziert. Wir stehen für eine rationale Strafvollzugspolitik, die sich am einzelnen Menschen orientiert - und die Belange der Bevölkerung erfüllt. Das geht nämlich!", insistiert Dirk Behrendt, "Das geht, in dem man mit beiden Füßen auf dem Boden der Realität steht, sich Gedanken macht: sorgfältig Problematiken analysiert und - zusammen mit der Wissenschaft - Lösungen erarbeitet und umsetzt. Das geht, in dem man nicht auf den Zug populistischer Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionsorgien aufspringt."

"Und was heißt das konkret? Wie "geht" das konkret?", frage ich, der ein grün-rotes T-Shirt trägt: Die Politik der Grünen erhält in etlichen Punkten meine Stimme.

"Zu viele Gefangene sind zu lange in Haft", antwortet Dirk Behrendt mit betroffenem Gesicht. "Gedient ist damit niemandem: Weder der Bevölkerung, noch natürlich dem einzelnen Inhaftierten, der einen Rechtsanspruch auf Resozialisierung hat - der ja auch nur deshalb in Haft ist, um resozialisiert zu werden. Nirgendwo gibt es ein so weites Auseinanderklaffen zwischen der Intention des eigentlich sehr guten Strafvollzugsgesetzes und der trüben Realität", führt Dirk Behrendt aus.

Kritisch merke ich an, dass das gesetzliche Ziel des Strafvollzuges ist, den Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Leider würde unseres Erachtens in der Vollzugsrealität aber oft eine starke Verschiebung des Strafzweckes in die Richtung des Schutzes der Allgemeinheit - der vorübergehenden Unschädlichmachung von Straftätern - sowie der Sühne für begangenes Unrecht stattfinden.

Dirk Behrendt hakt ein und erläutert, dass beispielsweise mehr Einschluss nicht mehr Resozialisierung bringe: "Wie können Gitter, verschlossene Türen und Restriktionen aus einem Menschen, der - aus welchen Gründen auch immer - strafrechtlich in Erscheinung getreten ist und nicht selten Handicaps hat, einen besseren Menschen machen, seine individuellen Probleme lösen."

"Was also kann helfen?", frage ich.

Dirk Behrendt: "Zuerst einmal muss mit der Behandlung vom ersten Tag an begonnen werden -", ich unterbreche ihn und werfe ein: "Kennzeichen Berliner Einweisungspolitik scheint jedoch zu sein, in der Behandlungsuntersuchung das Scheitern der Behandlung anzunehmen: Überwiegend wird eine Vollverbüßung festgeschrieben - an der sich nicht selten in der Folge orientiert wird. Dabei führt das Strafgesetzbuch in § 57 ja eindeutig als für eine vorzeitige Entlassung zu berücksichtigen Aspekte Gegebenheiten an, die erst im Laufe des Vollzugs - der Behandlung - zu Tage treten!"

"Da darf tatsächlich daran gezweifelt werden, ob dieses Vorgehen zielführend ist", stellt Dirk Behrendt fest. "Wir jedenfalls wollen, dass Gefangene möglichst frühzeitig Lockerungen erhalten. In Berlin wird nicht genug gelockert. Die sogenannte Erprobung von Inhaftierten in Lockerungsmaßnahmen aber ist ja - das ist nicht nur einsichtig, sondern auch wissenschaftlich belegt - der richtige Weg für eine nachhaltige Resozialisierung und erhöht die Legalbewährung ungemein. Wir verstehen nicht, wieso nicht - auch vom geschlossenen Vollzug aus - mehr Lockerungen gewährt werden. Die Missbrauchsquote liegt bei unter 0,1 %."

Ich erwähne, dass Berlin - bezogen auf die Prozentzahl der im Offenen Vollzug untergebrachten - deutschlandweit an der Spitze steht - das würde ich ziemlich gut finden und sähe auch die Lebensbedingungen der Gefangenen im geschlossenen Vollzug in Berlin zusammengefasst als ganz "okay" an: "In Berlin werden großzügige Aufschlusszeiten gewährt, Freizeit- und Bildungsangebote sind vorhanden, Telefonieren und Kochen ist möglich, Sozialarbeiter stehen den Gefangenen zur Seite, etc. - alles Gegebenheiten, die anderenorts manchmal im Argen liegen, wenig(er) vorhanden und möglich sind. Zwar hapert's beim Besuch: karg die Räume, knapp die Zeiten - im Großen und Ganzen aber gebe ich dem Berliner Strafvollzug ganz gute Noten - auch wenn's immer besser geht!"

Dirk Behrendt erwidert: "Durchaus - beispielsweise geht jedoch der Personalabbau im Vollzug zu Lasten der Gefangenen. Weniger Personal bedeutet auch weniger Möglichkeiten - sei es des Gesprächs oder einer Ausführung oder der Durchführung von Freizeitangeboten. Strafvollzug kostet erst mal Geld - dieses Geld ist aber gut angelegt: ein Inhaftierter muss wenigstens so unbeschädigt wie möglich aus dem Gefängnis wieder herauskommen. Nur mit Einsatz finanzieller Mittel (für Personal, sachgerechte Bauund Betriebsausstattung, Bildungsmaßnahmen, etc.) kann dies gewährleistet werden. Und nur so wird nachhaltig die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten sein."

"Und Schwarzfahrer - wegsperren?", frage ich provokant.

"Eben nicht!", insistiert Dirk Behrendt, "Schwarzfahrer gehören nicht ins Gefängnis. Wir wollen Schwarzfahrer entkriminalisieren - für uns wäre das Schwarzfahren allenfalls im Bereich der Ordnungswidrigkeiten anzusiedeln. Zudem ist das Konzept der Ersatzfreiheitsstrafe unseres Erachtens problematisch: Schwarzfahrer wurden zu einer Geldstrafe verurteilt, und nicht zu einer Freiheitsstrafe. Zudem sind kurze Freiheitsstrafen grundsätzlich zu vermeiden, weil die schädlichen Folgen ganz eindeutig überwiegen." Als sinnvoll erachtet Dirk Behrendt Projekte wie "Arbeit statt Strafe" ("Schwitzen statt Sitzen"). Diese seien auszubauen.

Kurz und knapp: "Was ist Resozialisierung?"

Dirk Behrendt hält sich nicht mit dem Gemeinplatz der Befähigung zum straffreien Leben auf, sondern benennt konkret: Arbeitsplätze in den JVAen, die über reine Hilfstätigkeiten hinausgehen - die Arbeitslosigkeit sei in Berliner Haftanstalten nach wie vor viel zu hoch: etwa 40% seien ohne Arbeit. Des Weiteren seien Bildungsangebote notwendig. Zudem müsse das Übergangsmanagement ausgebaut werden - als Beispiel für eine mangelhafte Arbeit der Justizbehörde nannte er, dass immer noch Gefangene aus dem Knast mit dem vielzitierten "blauen Müllsack" entlassen werden würden - es gar Insassen gäbe, die zur Entlassung nicht einmal einen Personalausweis besäßen und somit die notwendigsten Lebenssicherungsmaßnahmen in Freiheit nur erschwert ergriffen werden könnten. "Das ist ein Skandal!", erzürnt er sich. "All diese Maßnahmen bedürfen qualifizierten Personals", führt Dirk Behrendt aus.

"Internem oder externem?", frage ich.

"Strafvollzug ist staatliche Aufgabe - jedoch kann die Öffnung des Vollzuges für Freie Träger durchaus Sinn machen", erläutert Dirk Behrendt. "So kann beispielsweise eine durchgängige Betreuung gewährleistet werden. Zudem können spezielle Behandlungsmaßnahmen sicher von besonders qualifizierten Therapeuten bzw. Sozialarbeitern besser erbracht werden, als der Vollzug selbst das kann."

"Das ist unseres Wissen ja ein Teil des Neuen Rahmenkonzepts, nicht wahr?", frage ich. "Wie finden Sie dieses neue Konzept?"

Dirk Behrendt: "Das Neue Rahmenkonzept besitzt gute und schlechte Aspekte. Es behebt die Probleme im Berliner Strafvollzug jedoch eher nicht - ist aber immerhin ein Anfang. Und eröffnet Chancen."

Über Heidering wollen wir nicht mehr reden. Dirk Behrendt hat es pointiert in einer der letzten Sitzungen des Rechtsausschusses benannt: "Ich habe genug Realitätssinn, um nicht mehr gegen Heidering zu votieren, wenn es bereits gebaut ist. Trotzdem: Auf den Bau hätte man verzichten sollen."

Angesprochen auf die geringe Zahl vorzeitig Entlassener (Halbstrafe und 2/3) antwortet Dirk Behrendt: "Da ist bereits viel früher in den einzelnen Vollzugsplänen der 2/3-Zeitpunkt als voraussichtliches Entlassungsdatum anzunehmen und festzuschreiben - und dementsprechend müssen alle Anstrengungen und Maßnahmen unternommen werden, um die vorzeitige Entlassung des Gefangenen aus der Haft zu erreichen. Haft ist Ultima Ratio - der Vollzug muss sich bemühen, einen Straftäter möglichst bald zu entlassen - das ist seine Aufgabe, das fordert zu Recht auch die Allgemeinheit, die für die Kosten des Strafvollzugs aufkommt und ein großes Interesse daran hat, dass Gefangene eben nicht zum Endstrafenzeitpunkt mit dem blauen Müllsack entlassen werden. Das wird eines unserer Themen in der nächsten Legislaturperiode sein. Des Weiteren wollen wir die Mediennutzung im Gefängnis den Verhältnissen draußen anpassen: Es ist nicht einsichtig, wieso Gefangenen beispielsweise das Internet vorenthalten wird."

Unsere Zeit ist rum - wir schütteln uns die Hände und ich sage "Auf Wiedersehen"; "Auf bald!" sagt Dirk Behrendt, denn schon demnächst wird er wieder mit vollzuglichen Belangen befasst sein.

Meine Zusammenfassung

Auch die Partei BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN kocht nur mit Wasser - Wunder in der Lösung von Problemen (im Strafvollzug) können auch sie nicht vollbringen. Jedoch gehen sie die Dinge mit Verständnis, Courage und gesundem Menschenverstand an - und sind auch Alternativen gegenüber aufgeschlossen. Werden die Grünen bei den bevorstehenden Wahlen viele Stimmen erhalten und die Regierung (mit-)bilden, können die Gefangenen zumindest erwarten, dass sich die Verhältnisse nicht verschlechtern werden - und durch die Flure des Justizsenats resozialisierungsfreundliche Töne wehen werden.

*

Quelle:
der lichtblick, 43. Jahrgang, Heft Nr. 348, 3/2011, Seite 12-13
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
Seidelstraße 39, 13507 Berlin
Telefon/Fax: 030/90 147-23 29
E-Mail: gefangenenzeitung-lichtblick@jva-tegel.de
Internet: www.lichtblick-zeitung.de

"der lichtblick" erscheint sechsmal im Jahr.
Der Bezug ist kostenfrei. Spenden zu Gunsten
des Gefangenenmagazins "der lichtblick" sind als
gemeinnützig anerkannt und steuerlich absetzbar.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2011