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LICHTBLICK/215: Strafvollzug und Resozialisierung - ein Paradoxon?!


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 367 - 2/2016

Strafvollzug und Resozialisierung - ein Paradoxon?! - ein Konferenzbericht -

von Dr. Volkmar Schöneburg


Als der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, seines Zeichens der Initiator des "Auschwitzprozesses", in den 60er Jahren ein Gefängnis besuchte, begann er seine Ansprache mit den Worten: "Meine Kameraden". Diese Anrede löste in der Presse einen Sturm der Entrüstung aus und hatte ein parlamentarisches Nachspiel. Bauer hatte die Formulierung jedoch mit Bedacht gewählt. Nicht nur, weil er unter den Nazis selbst in Haft saß. Für ihn war die Garantie der Menschenwürde der Leitfaden seines Handelns. Aber insbesondere die Würde von Minoritäten - ob nun Hartz-VI-Empfänger, Obdachlose, Homosexuelle oder Gefangene - ist besonders gefährdet.

Denn das Gefängnis ist nicht per se ein Ort des positiven sozialen Lernens, sondern der Machtdemonstrationen, der Anpassung, Gewalt, Unterordnung, der Verrohung. Zu den schwersten Einschränkungen für Gefangene zählt der Verlust an Autonomie und Rechtssicherheit. Deshalb hatten die Bundestagsfraktion und die Brandenburger Landtagsfraktion der Linkspartei mit Unterstützung der Brandenburger Strafverteidigervereinigung zu einer Konferenz unter obiger Überschrift nach Potsdam eingeladen.

Den öffentlichen Auftakt der Konferenz bildete die Ausstellungseröffnung "Gesichter und Geschichten aus dem Strafvollzug" am 24. Mai im Flur der Brandenburger Linksfraktion. Der Strafvollzug ist für die meisten Menschen eine "Terra Incognita". Die Fotografin Julia Schönstädt sowie die Autoren Claudia Frank und Reimund Neufeld geben hingegen mit der Ausstellung und dem Begleitband Menschen im Gefängnis eine Stimme. Die Gefangenen berichten nicht selten von einem Gefühl des Versteckt- und Vergessenseins. Die bewegenden Fotografien und das Buch kämpfen dagegen an und liefern gleichzeitig einen aktiven Beitrag zur Resozialisierung. Die anschließende Podiumsdiskussion mit Julia Schönstädt, Volkert Ruhe (Gefangene helfen Jugendlichen), Prof. Johannes Feest (Vollzugswissenschaftler) und Volkmar Schöneburg (MdL) widmete sich vor mehr als 60 interessierten Zuhörern Fragen der künstlerischen Erfassung des Haftalltags, der Hafterfahrung und der Perspektive des Gefängniswesens in Deutschland.

Nach diesem Aufgalopp startete die wissenschaftliche Konferenz am nächsten Tag mit einem Referat von Dr. Thomas Galli, der gegenwärtig mit seinem Buch "Die Schwere der Schuld" bundesweit für Furore sorgt. Galli, selbst Anstaltsleiter der JVA Zeithain, fordert die Abschaffung der Gefängnisse. Dabei hat er gute Argumente auf seiner Seite, die er unter der Überschrift "Das Gefängnis - ein überholtes Prinzip" vorstellte.

Die Ziele der Freiheitsstrafe (Resozialisierung, Schutz der Allgemeinheit, Abschreckung u.s.w.) würden letztlich verfehlt. Die Haft zerstöre soziale Ressourcen, richte sich gegen Selbständigkeit, Selbstachtung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Gefangenen. Das Gefängnis mit seinen Parallelgesellschaften könne nicht positiv wirken. Es stehe letztlich nur für den Strafzweck der Vergeltung. Alternativen zur Freiheitsstrafe sind für Galli die gemeinnützige Arbeit, die Geldstrafe oder der Hausarrest.

Um die konkrete Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe ging es im Anschluss. Prof. Feest und Halina Wawzyniak, rechtspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE, plädierten für deren Abschaffung. Täglich würden etwa 4000 Ersatzfreiheitsstrafen verbüßt. Betroffen seien primär Menschen aus prekären sozialen Verhältnissen, die durch den Gefängnisaufenthalt noch verschärft würden. Daneben seien die Ersatzfreiheitsstrafer eine Belastung für den Vollzug. Man fühlte sich bei dem Thema an den französischen Soziologen Lolc Wacquant erinnert, der das Gefängnis als eine Art "Sozialstaubsauger, der den menschlichen Abfall der derzeitigen ökonomischen Transformation beseitigt", charakterisierte.

Die Forderung nach der Einbeziehung Gefangenen in die Rentenversicherung ist so alt wie aktuell. Martin Singe vom Grundrechtekomitee und Martina Franke von der Gefangenengewerkschaft machten die Dimension der Diskriminierung, der Exklusion und der vorprogrammierten Altersarmut auf.

Beide Themen - Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe und Einbeziehung in die Rentenversicherung - werden auf der Justizministerkonferenz behandelt. Man darf gespannt sein. Vielleicht kann man sich ja darauf verständigen, das mit der Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe eingesparte Geld in die Rentenversicherung einzuzahlen...

Ein weiterer Schwerpunkt der Tagung waren die Landesstrafvollzugsgesetze. Schöneburg referierte zu dem von ihm zu verantwortenden Brandenburger Gesetz. Das Gesetz habe die Rechtsposition der Gefangenen an mehreren Stellen gestärkt. Zu nennen seien beispielhaft die Abschaffung des Arrests, die Erhöhung der Besuchszeit auf 4h, der Anspruch auf Langzeitsprecher, die konsequente Einzelunterbringung, die Abschaffung der Sicherungsmaßnahme "Entzug des Aufenthalts im Freien", die Abschaffung der Arbeitspflicht, das Verbot der Überwachung der Gefangenenpost an Gerichte, Staatsanwaltschaften und Aufsichtsbehörden und die Festlegung der Haftraumgröße. Darüber hinaus seien die Anforderungen an die Verlegung in den Offenen Vollzug und an die Gewährung von Lockerungen gesenkt worden. Doch hier ändere sich die Praxis nur schleppend. Als Gründe dafür nannte Schöneburg die Reformunwilligkeit des Apparats, das Menschenbild manches Verwaltungsbeamten, eine "Ablehnungskultur" bei Anträgen der Gefangenen und einen übermäßig verrechtlichten Absicherungsmechanismus. Um dem zu begegnen, müsse der Justizminister seinen politischen Willen klar artikulieren. Wenn hingegen das Gesetz nochmals nachgebessert würde, so seien die Ermessenstatbestände einzuschränken.

Marlen Block vom Vorstand der Brandenburger Strafverteidigervereinigung ergänzte Schöneburg durch konkrete Beispiele aus der Verteidigung in Vollzugssachen, die dokumentieren, wie mühselig die Durchsetzung des neuen Gesetzes ist.

Die Tagung wurde durch Prof. Frieder Dünkel, Strafrechtler und Kriminologe, abgerundet. Dünkel stellte den Entwurf eines Landesresozialisierungsgesetzes vor. Ein solches Gesetz soll durch die Verzahnung der stationären und ambulanten Hilfen und eine Stärkung der Bewährungshilfe die Chancen zur Wiedereingliederung Strafgefangener in die Gesellschaft erhöhen.

Die Konferenz bot vielfältige Anregungen für eine anzugehende Reform des Gefängniswesens. Sie ist eine Herkulesaufgabe. Galli verwies in diesem Kontext auf Che Guevara: "Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche."


lichtblick Kommentar

Wir danken Dr. Schöneburg und allen Beteiligten der Konferenz für ihr Engagement, sowie für die sehr zeitnahe und exclusive Berichterstattung.

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Quelle:
der lichtblick, 48. Jahrgang, Heft Nr. 367, 2/2016, Seite 22-23
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
(Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2016

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