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MARXISTISCHE BLÄTTER/372: Der Aufstand in Bolivien als Teil des Klassenkampfs


Marxistische Blätter Heft 6-08

Der Aufstand in Bolivien als Teil des Klassenkampfs

Von Günter Pohl


Der gewaltsame Aufstand der rechten Präfekten in seinen östlichen Departements hat ein Schlaglicht auf das südamerikanische Land Bolivien geworfen. Der Prozess gesellschaftlicher Veränderungen durch die Regierung des linksgerichteten Präsidenten Evo Morales wurde seit seiner Amtseinführung im Januar 2006 immer wieder von den konservativen Kreisen behindert - aber die Ereignisse der ersten Septemberhälfte 2008 waren es, die sehr konkrete Erinnerungen an den 11. September 1973 wach und die internationale Solidarität auf den Plan riefen.

Ob ein Putsch das eigentliche Ziel der Aufständischen war, ist nicht wirklich wahrscheinlich; eine alleinige Betrachtung ihres Vorgehens klärt diesen Umstand jedenfalls nicht. Dass die rechte "Jugendunion von Santa Cruz", der größten und reichsten Präfektur, als ein Teil der Aufständischen ohne die geringsten Anstalten ihre politischen Ansichten zu verbergen mit Hakenkreuzensymbolik Jagd auf Regierungsanhänger/innen machte, lässt eher vermuten, dass es um Destabilisierung einerseits und Provokation der Regierung zu unbedachten Handlungen andererseits ging. Denn eine Anerkennung eines derart offen faschistischen Putschs wäre nicht nur von den südamerikanischen Nachbarn nicht zu erwarten gewesen (die sich in der Südamerikanischen Nationenunion UNASUR denn auch sehr deutlich äußerten), sondern selbst von der EU oder den USA nicht. Die bolivianische Zentralregierung unter Evo Morales hat sich auch dieses Mal nicht provozieren lassen, sondern sucht nach wie vor den Dialog mit der Opposition in den Sachfragen, die diese "argumentativ" aufwirft, wie der Verwendung der Gewinne aus den Gasexporten für ein Verbleiben dieser Gelder in den gasreichen Departements anstatt einer Grundrente für alle, die es so in Bolivien bislang nie gab. Mit der Strategie des Dialogs erreicht die Regierung, dass die Opposition sich weiter spaltet, weil einige Sektoren auf Gespräche eingehen, andere nicht. Der "Putsch" im September 2008 war nicht der letzte, aber schon ein sehr verzweifelter Versuch der Opposition in den eigenen Reihen für Einheit zu sorgen. Er ist gescheitert.

In den vier Departements Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija, die mal nur mehr Autonomie wollen, mal mit der Abspaltung von Bolivien drohen, wenn ihre Oberschicht Privilegien abgeben muss, wurden zentralstaatliche Institutionen, Gebäude und Anhänger/innen der Regierung angegriffen. Paramilitärische Einheiten massakrierten etwa 18 Bauern in dem Ort El Porvenir im Departement Pando, weil sie für die Verteidigung der legitimen und kurz zuvor in einem Referendum bestätigten Regierung auf die Straße gingen. Gasindustrieanlagen wurden attackiert, um einen Export nach Brasilien zu verhindern und damit finanziellen Druck auf die Regierung ausüben zu können.

Die weltweite Aufmerksamkeit, die zahlreichen Solidaritätserklärungen, Mahnwachen und Unterschriftenaktionen, die sogar bis hin zu Aktivitäten der Fraktion der Partei "Die Linke" im Bundestag führten, waren entsprechend darauf gerichtet einen Sturz der Regierung Morales und seiner "Bewegung zum Sozialismus" (Movimiento al Socialismo - MAS) zu verhindern. Und das Szenario war dazu ja auch passend: die stete Einmischung der USA gegen die "sozialistische" Regierung, die Ernennung eines Botschafters durch die US-Regierung. der als Sezessionsexperte gilt (weil er vor Jahren im ehemaligen Jugoslawien eingesetzt war), dann seine Erklärung zur "Persona non grata" durch Evo Morales, am Ende das Massaker im Departement Pando - genug Gründe ein zweites Chile zu befürchten und sich für Bolivien einzusetzen. Und das ist natürlich auch richtig so und war das, was im Nachgang von hier aus noch zu tun war.

Aber eine genauere Betrachtung der Vorgeschichte hätte manche Aufgeregtheit vermieden, wenn auch natürlich nicht verhindern können. Denn wenig von dem, was seit ihrem Amtsantritt mit der Regierung Morales geschieht, ist neu: die Attacken auf die Volksbewegung der Indígenas gegen die kolonialen und gleichzeitig neoliberalen Zustände, also die Basis der Regierung, hat es schon vor 2006 gegeben. Die USA - und kaum weniger die Europäische Union - haben Boliviens Regierende (sowie die anderer lateinamerikanischer Länder) immer unter Druck für eine Politik gemäß ihrer Interessen gesetzt. Vorher die rechten und sozialdemokratischen Regierungen, die schnell gefügig zu machen waren, und heute die linke Regierung, mit der das so nicht mehr geht. Der Charakter der Regierungspartei MAS ist ein anderes Missverständnis. Ihr Name ist ein historischer Zufall. denn die Gruppe um Evo Morales hatte Schwierigkeiten mit der Einschreibung ihrer Bewegung IPSP (Politisches Instrument für die Souveränität der Völker) als Partei und übernahm schlicht eine bereits existierende und im Wahlregister eingeschriebene Partei mit dem Namen "Bewegung zum Sozialismus". Das (und dass es sich dabei um eine rechtsgerichtete Partei handelte) nimmt der heutigen MAS nicht den Charakter einer Linkspartei mit fortschrittlichen Zielen und auch nicht die Möglichkeit engagiert für den Sozialismus zu kämpfen. Aber ihr mittelfristiges Ziel ist nach Aussage von Vizepräsident Alvaro García Linera, einem Marxisten und ehemaligen Guerillero, der für die Regierung die weißen Intellektuellen anspricht, gar nicht der Sozialismus, sondern zunächst einmal ein "Capitalismo Andino", ein Andenkapitalismus, da es derzeit schlicht und einfach kaum etwas Akkumuliertes zu verteilen gibt. Was europäische Journalisten und manche Linkspolitiker nicht davon abhält, mehr auf den Namen als auf das Programm der Partei zu geben.

Was den Botschafter angeht, so ist es von den solidarischen Verteidigern der bolivianischen Regierung naiv zu glauben, dass den USA ein Sezessionsszenario der vier reichen Departements am Einfachsten mit dem jugoslawienerfahrenen Botschafter Philip Goldberg umsetzbar schien - und nicht etwa am Schwierigsten, da dessen Vorgeschichte ja bekannt war. Goldberg ist von Evo Morales richtiger Weise ausgewiesen worden, aber nicht wegen seiner Vorgeschichte oder weil der bolivianische Präsident einen Hang zu Verschwörungsphantasien pflegen würde, sondern weil der Statthalter der USA sehr konkret das getan hat, was alle Botschafter der imperialistischen Großmacht in Bolivien getan hätten: dafür zu sorgen, dass die USAID-Gelder zur Spaltung der Bauernvereinigungen genutzt werden, dass die wie üblich "unabhängigen" Nichtregierungsorganisationen materiell und finanziell ausgestattet werden, dass die Präfekten des Ostens in ihren Forderungen mediale Aufmerksamkeit erhalten, dass Morales wegen seiner guten Kontakte nach Kuba und Venezuela angegriffen oder dass Boliviens jahrtausendealter Kokaanbau für fünf Jahrzehnte Kokainmissbrauch der Erste-Welt-Metropolen verantwortlich gemacht wird.

Letztlich sind leider auch die Massaker wie jenes in El Porvenir in einer Kontinuität zu sehen: die blutigen Auseinandersetzungen um das Wasser in Cochabamba (2000), um das Gas in La Paz (2003), die von staatlicher Gewalt begleiteten Straßenblockaden oder der Sturz von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada 2003 mit über sechzig Toten sind ab 2006, mit Morales' Regierungsübernahme, nicht beendet worden, sondern gehen weiter. Weil ihr Besitzer mit der linken Regierung nicht gewechselt hat, wird um die Macht auch weiterhin gekämpft.

Denn Bolivien nur unter dem Licht des jahrelangen Widerstandes (und schon gar nur dieses Aufstandes) der Präfekten der abtrünnigen Departements Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija gegen die Regierung Morales zu sehen, würde zu einer selektiven Betrachtung dessen führen, was zum einen Klassenkampf, zum anderen Entkolonialisierungskampf ist. Zwar ist mit der Regierungsübernahme deutlich geworden, wie die Mehrheitsverhältnisse in Bolivien sind; aber weil das Volk nicht die Macht in den Händen hält, solange die Besitzfrage nicht zu seinen Gunsten geklärt ist, ist der Fall Bolivien für die Bourgeoisie noch nicht verloren. Und ihr Angriff ist nicht allein einer auf "die Regierung", sondern er ist immer auch einer gegen die Volksbewegung, die in Bolivien bis in die Achtziger Jahre von den Minenarbeitern, dann verstärkt von den Kokabauern, deren Vertreter Evo Morales war und ist, gestellt wurde. Wo nämlich gesellschaftliche Bewegungen so stark wurden, dass sie irgendwann die Regierung übernehmen könnten, so wurden diese vom Imperialismus angegriffen, dann in der Regel natürlich in Zusammenarbeit mit den Regierenden. Auf dass auf das zuweilen (und heute in Lateinamerika mehr denn je) unvermeidliche Regierungsübernehmen nicht auch noch das Machtübernehmen folge. Entsprechend gehen diese Angriffe auf die fortschrittlichen Bewegungen weiter, auch wenn der Bourgeoisie die Regierung verlorenging. Da die regierende Linke mit Widersprüchen zu kämpfen hat und immer auch ihre Legitimation nachweisen muss, ist die Aufgabe für sie in solcher Situation nicht einmal einfacher als aus der Opposition heraus.

Widersprüche tun sich bekanntlich nicht nur zum Gegner auf. In Bolivien ist die soziale Frage aufgrund der indianischen Bevölkerungsmehrheit nicht von der ethnischen Frage zu trennen, was der Legitimation der Regierung aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit gegenüber den Weißen zugute kommt. Aber es birgt auch den Chauvinismus, und in der Tat treten die "links"extremen Kritiker eines zu "weichen Kurses" der Regierung gegen die "Eroberer und Kolonisatoren auf den Plan. Sie sind in der Gewerkschaftszentrale COB und um radikale Indianerführer wie Felipe Quispe zu finden, dessen Konzept eines "Bolivien nicht für Weiße" subjektiv Gerechtigkeit sucht und objektiv dem Imperialismus in die Hände spielt.

Was im konkreten Fall des Aufstandes im September letztendlich gegen die abtrünnigen Präfekten half, war die Ausrufung des Ausnahmezustands in Pando durch die Regierung des Präsidenten Evo Morales und die Entsendung von Regierungssoldaten. Eine Sprache, die die Mächtigen verstehen, weil sie sich selbst ja kaum einmal einer anderen bedient haben. Dass das ging, hat mit einer aktuell sehr loyalen Militärführung und damit, dass sie derzeit die Mehrheiten in Bolivien akzeptiert, zu tun: das Land hat einen Indigenaanteil von etwa 62 Prozent, und da diese zu den Wahlen im Dezember 2005 erstmals mobilisierbar waren, weil einer von ihnen, der Aymara Evo Morales, wählbar und dabei chancenreich war, gewann die Linke mit fast 54 Prozent. Im Juli 2006 gab es eine ähnlich hohe Zustimmung bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung, die im November 2007 einen Verfassungstext beschloss, dessen Ratifizierung vom Volk von der Opposition aber seitdem erfolgreich blockiert wird. Um seine Regierung nochmals zu legitimieren und die Verfassung endlich auf den Weg bringen zu können, rief Evo Morales zu einem Abwahlreferendum gegen sich selbst, aber auch gegen alle Präfekten auf. Er überstand das Referendum am 10. August nicht nur, sondern legte in der Zustimmung um dreizehn Prozentpunkte auf 67 Prozent zu, während die Opposition zwei von sechs von ihr gehaltenen Departements abgeben musste. Damit war Morales noch mehr als zuvor legitimiert, aber in den östlichen Departements reichte es trotz bemerkenswerter Zugewinne nicht für eine eigene Mehrheit. Es folgte der Aufstand, dem das Militär aber keine Rückendeckung gab.

Es zeigt sich wieder einmal sehr dringlich, dass es hilfreich ist, wenn internationale Solidarität grundsätzlich früher beginnen würde, und zwar schon, wenn die Unterstützten noch Opposition sind. Denn es ist falsch zu glauben, der Klassenkampf um Sozialismus sei mit der Regierungsübernahme, ihrer Verteidigung in Wahlen und überstandenen Abwahlreferenden und der Zurückschlagung eines Putschs automatisch an einem günstigeren Ausgangspunkt angelangt. Für den Kampf um "eine gerechtere Gesellschaft", um "das Ende des Neoliberalismus" oder einen kapitalismuszähmenden (d. h. in der Sache kapitalismusbewahrenden) "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" mag das ja stimmen. Aber für eine sozialistische Revolution müssen andere Bedingungen gegeben sein, die mit dem Bewusstsein des Volkes zu tun haben und seiner Bereitschaft sich für die Machtübernahme einzusetzen: aber auch mit den Möglichkeiten einer Verteidigung des Projekts. Die Grundlagen für gute Bedingungen dafür sind in Bolivien mit den Kämpfen ab Ende der neunziger Jahre gelegt worden. In Lateinamerika haben einzig in Kolumbien die Revolutionäre für eine sozialistische Revolution derzeit bessere Fundamente gesetzt als Bolivien, was Bewusstsein, Bereitschaft und Wahl der Mittel angeht, die zur Verfügung stehen. Es wäre falsch zu glauben, in Venezuela oder Bolivien stünden die Bedingungen für eine sozialistische Revolution besser als in Kolumbien: es ist nicht entscheidend, wer die Regierung stellt, sondern wer die Produktionsmittel übernehmen will und wie er ihren Besitz verteidigen kann.

Die Gretchenfrage ist denn auch der Umgang der linken Regierungen mit der sozialen Revolte an sich, und konkret in Kolumbien. Auf der Tagesordnung des Imperialismus steht die Entwaffnung der kolumbianischen Revolutionäre, und wer dabei hilft, indem er den bewaffneten Kampf für obsolet erklärt, wie es auch linke Präsidenten Südamerikas tun, begeht entweder einen Fehler oder hat ein anderes Ziel. Boliviens Regierung wird in dieser Frage mit der Zeit konsequenter werden, und zwar in dem Maße, wie der Gegner irrationalen Druck gegen sie aufbaut. Und die Geschichte hat gezeigt. dass dem Imperialismus zuweilen die Rationalität durchaus verloren gehen kann.


Günther Pohl, Sprockhövel, stellvertretender Leiter der Internationalen Kommission der DKP


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-08, 46. Jahrgang, S. 21-25
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2009