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MARXISTISCHE BLÄTTER/397: Zum Streit um die DDR


Marxistische Blätter Heft 3-09

Zum Streit um die DDR

Von Erich Hahn


"Da einzelne historische Ereignisse und Vorgänge nicht ohne eine übergreifende Theorie und Methode analysiert werden können, Quellen nicht für sich sprechen, sie nur einen Indizien-, aber keinen Beweiswert haben (einschließlich der Akten der Staatssicherheit), versteht es sich, dass von der Qualität der übergreifenden Theorien und Methoden die Ergebnisse der Analyse wesentlich mitbestimmt werden. Es scheint daher sinnvoll und an der Zeit, sich über Methode und Funktion der Interpretation und Wertung der Geschichte der DDR Klarheit zu verschaffen, wie sie gegenwärtig in konzertierter Aktion von Historikern, Politikern, Pfarrern, Journalisten, Juristen und sich neu profilierenden Wendeaktivisten praktiziert werden."(1)

Der Streit um die DDR bietet in diesem Jubiläumsjahr '09 das Bild eines Stellungskrieges. Alles scheint gesagt zu sein. Man kennt die Positionen und Argumente, die Leute, die sie verfechten. In der unendlichen Vielzahl von unterschiedlichen Sichtweisen treten konträre Grundstandpunkte zutage, die sich im Laufe der Zeit kaum verändert haben.

Umso dringlicher ist die Frage nach den theoretischen und methodischen Grundlagen dieses ideologischen Antagonismus. Eine Frage, die sich ihrerseits nicht ohne theoretische Überlegungen erörtern lässt.

Das obige Zitat habe ich als gewissermaßen programmatischen Einstieg gewählt. Nicht nur die antikommunistischen Angriffe auf die DDR weisen Kontinuitätslinien auf. Im Rahmen der zwanzigjährigen Auseinandersetzungen wurden eine Vielzahl wichtiger Argumente und Überlegungen zur Zurückweisung dieser Attacken vorgetragen - nicht selten in Zeitungsartikeln, die natürlich das Schicksal tragen, rasch abgelegt zu werden -, die es wert sind, in Erinnerung gerufen zu werden. Was hier an einigen Beispielen gezeigt werden soll.

Winfried Schröder selbst verweist auf drei geistige Fundamente dieses Antikommunismus: die Totalitarismustheorie; die Interpretation der DDR als teleologische Verfallsgeschichte, von Anfang an auf Zusammenbruch angelegt; die "Vereinfachung" des Verständnisses von Sozialismus als "Vision" oder "Utopie" - nicht als Produkt realer Verhältnisse.

Diese Beobachtung aus dem Jahr 1993 wurde durch die folgende Entwicklung vielfach bestätigt. Bis in die unmittelbare Gegenwart fungieren - bei allen Nuancierungen - die Totalitarismus-Doktrin bzw. das Muster "Demokratie - Diktatur" als die entscheidenden methodischen Grundlagen der Bemühungen um die geschichtspolitische Steuerung der "DDR-Erinnerungskultur". Offenkundig ist dies bei den Vertretern einer orthodoxen Position.(2)

"Die staatliche Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland ist im politischen Raum aber nur zu legitimieren, wenn das Paradigma des Kampfes zwischen Demokratie und Diktatur in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auch für die DDR gilt."(3)

Andere Historiker kritisieren das Verständnis des Diktaturenvergleichs als "bloße Vollstreckung eines geschichtspolitischen Delegitimierungsauftrags"(4) und plädieren für die realistische Einsicht, dass im Laufe der Jahre die "Anschaulichkeit der Diktaturvergangenheit" der DDR "verblasst" - woraus die Gefahr einer politischen und moralischen "Relegitimierung" des Herrschaftssystems der DDR in der öffentlichen Diskussion erwachse.(5) Daraus werden wachsende Ansprüche an die "theoretisch-methodische und didaktische Professionalisierung der historischen Beschäftigung mit der DDR abgeleitet. Einen Verzicht auf die genannten Prämissen bedeutet dies freilich nicht.

Die Begriffe "Diktaturcharakter der DDR" und "SED-Diktatur" werden keinesfalls aufgegeben. Der Diktaturenvergleich soll fortan dazu beitragen, den "Eigencharakter" des Untersuchungsgegenstandes DDR als "Spielart totalitärer Herrschaft" zu bestimmen. Die "Unterscheidung von Demokratie und Diktatur" solle nicht mehr als "normative Erkenntnisgrundlage", sondern als "historische Leitfrage nach der Herausbildung der beiden gegensätzlichen politischen Ordnungen" fungieren.(6) Abgesehen davon, dass es schwer fällt, gravierende Unterschiede zwischen "normativer Erkenntnisgrundlage" und "historischer Leitfrage" auszumachen, wird definitiv die Grundfrage nach den Ursachen der Gegensätzlichkeit beider politischen Ordnungen durch die Festlegung auf das methodische Normativ "Demokratie - Diktatur" eingeschränkt und in eine falsche Richtung gelenkt.

Auch auf diese Weise wird verdeutlicht, dass es beim "Streit um die DDR" nicht um die "Aufbereitung" historischer Fehler eines Gesellschaftssystems oder Staates geht, sondern um Revanche (für das "Unrecht", die Macht des Kapitals für einige Jahrzehnte beschränkt zu haben) und Prävention (die Eindämmung des Risikos, dass die Erinnerung an die tatsächliche DDR als befreiender Impuls bei kommenden Kämpfen wirken könnte). Es handelt sich um eine Phase des historischen Zyklus von der französischen Revolution bis zur Oktoberrevolution bzw. deren Nachwirkungen, um eine weitere Etappe des Kampfes zwischen Revolution und Konterrevolution.

Winfried Schröder ist dafür, sich bei der Analyse und historischen Wertung der DDR - mit Marx - auf eine Methodologie zu stützen, die sich an einem Verständnis der Geschichte als widerspruchsvollem, gesetzmäßigem, nach vorn offenem Prozess als Wechsel geschichtlicher Formationen orientiert und die konkrete Analyse der gegebenen Verhältnisse fordert.

Nun könnte man fragen, mit welcher wissenschaftlichen Begründung und Berechtigung die marxistische Geschichtsauffassung den Anspruch erhebt, die angemessene methodische Grundlage für eine historische Realität darzustellen, die als Realisierung eben dieser Auffassung entstanden ist. Und aus der die Ziele und Motive der Akteure sich letztlich herleiten.

Meines Erachtens ist dieser Anspruch darin begründet, dass der Marxismus zwar den Kapitalismus theoretisch zu übergreifen vermag, die bürgerliche Geschichtsideologie dagegen keine den Sozialismus übergreifende Theorie vorweisen kann.

Marx und Engels erklären - programmatisch im "Kommunistischen Manifest" - den Kapitalismus, sein Entstehen, seine historische Notwendigkeit und seine Funktion für den historischen Fortschritt aus den materiellen Bedingungen, Faktoren und Triebkräften der menschlichen Geschichte. Auf gleichermaßen rationale Weise erklären sie die historische Notwendigkeit des Sozialismus aus materiellen Widersprüchen innerhalb der kapitalistischen Formation.

Der Marxismus selbst ist aus dieser Konstellation zu begründen. Die bürgerliche Ideologie begründet den Kapitalismus als ewige Normalität. Der Sozialismus gilt ihr als Abweichung von dieser Normalität. Als korrigierbare, rückgängig zu machende Abweichung, als Sonderweg usw. Das Jahr 1989 muss ihr insofern als entscheidendes Datum gelten, da es die Rücknahme der Anomalie der Oktoberrevolution, des Jahres 1917, markiert. Anlässlich des 50. Jahrestages des 8. Mai 1945 gab es um diese Frage einen höchst aktuellen Meinungsstreit in der alten BRD.(7)

Dass dies nicht nur in historisch epochaler Dimension zutrifft, hat Robert Kurz vor einiger Zeit angemerkt. Ein Grund für die Unfähigkeit auch der hochkarätigsten bürgerlichen Ökonomen, die derzeitige Krise des kapitalistischen Systems vorherzusagen, bestehe darin, dass die offizielle Wirtschaftswissenschaft keine theoretischen Begriffe hat, um "das Potenzial eines inneren Selbstwiderspruchs in der kapitalistischen Entwicklung wahrnehmen zu können."(8)

Eine erste wichtige Konsequenz aus dem dialektischen Verständnis der Geschichte ist die Forderung, geschichtliche Prozesse von ihrem Ausgangspunkt her zu begreifen.

Unter einem geschichtlichen Ausgangspunkt ist die Gesamtheit der relevanten Bedingungen und die gegebene geschichtliche Situation in ihrer Einmaligkeit, ihrem historischen "Sosein" (Lukács) zu verstehen. Historische Brüche, eine Unterbrechung der Entwicklung, sind als Reaktionen auf gegebene geschichtliche Herausforderungen und die durch sie eingeleitete neue Entwicklungsphase als Prozess ihrer tendenziellen Bewältigung zu werten.

Dazu einige Anmerkungen.

Erstens. Wie die Oktoberrevolution waren auch die geschichtlichen Veränderungen in Europa nach 1945 Reaktionen auf gesamtgesellschaftliche existentielle Katastrophen. Sie waren nicht die Konsequenz einer theoretischen Debatte über Konsequenzen einer "Kapital"-Lektüre oder einer "normalen parlamentarischen Mehrheitsentscheidung.

Zweitens. Diese Katastrophen hatten ein historisches und moralisches, ein klassenmäßiges Vorzeichen. Sie waren nicht das Resultat schicksalhafter Naturvorgänge oder unbeherrschbarer Krisen, sondern der Logik des kapitalistischen Profitsystems. Deshalb stand die Veränderung (Beseitigung) konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse, eines Gesellschaftssystems auf der Tagesordnung. Für Deutschland war die Beseitigung des deutschen Imperialismus als Verursacher der Katastrophe die geschichtliche Aufgabe.

Drittens. Diese Ausgangskonstellation war als realer Faktor präsent und wirksam bis zum Ende der staatlichen Alternative zum kapitalistischen Deutschland. Sie fand eine folgenreiche Reproduktion als äußere Bedingung der Entwicklung der DDR. Die "Geschichte der DDR" war "die erste reale Herausforderung für die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland" (Winfried Schröder). Sie war Moment (Resultat und hewegender Faktor) einer epochalen Auseinandersetzung.

Die "Fortexistenz" und Reproduktion dieser Ausgangsbedingungen hat einen nachhaltig prägenden Einfluss auf die Formierung und Entwicklung des Sozialismus in der DDR ausgeübt. Eine sozialistische Gesellschaft, die aus der Katastrophe eines faschistischen Weltkrieges hervorgegangen ist und in unmittelbarer Nachbarschaft zur Herrschaft eines materiell überlegenen antagonistischen Klassengegners existiert, ist eine andere als die aus einer parlamentarischen Entscheidung hervorgegangene.

Sinnfälligen Ausdruck findet dies in der historischen Kontinuität des Antikommunismus. Die Argumente, Institutionen und Subjekte des deutschen Antikommunismus nach 1989 unterscheiden sich kaum von denen vor 1989! Die antikommunistische Ideologie und die Agitation der Konservativen hat sich "in über fünfzig Jahren kein Stück weiterentwickelt".(9)

Die Anerkennung oder Leugnung des Einflusses derartiger Bedingungen auf die Gesamtentwicklung der DDR ist Gegenstand scharfer ideologischer Auseinandersetzungen.

Viertens. Aus den theoretischen Prämissen der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung ergibt sich schließlich, dass es verfehlt ist, ein gesellschaftliches System von seinem Ende her zu beurteilen. Anders gesagt: vor die Frage nach den Ursachen des "Scheiterns" dieses Sozialismus gehört die Frage nach den Ursachen seines Entstehens, seiner Existenz und seiner jahrzehntelangen Behauptung.

Eine angemessene Wertung dieses Sozialismus darf dessen objektive Wirkungen auf die nichtsozialistische Welt nicht ausklammern. Diese Wirkungen haben in die Grundtendenzen der gegenwärtigen Epoche eingegriffen. Sie haben die Kräfte des Friedens und des Fortschritts gestärkt. Und sie sind keine zusätzlichen oder zufälligen äußeren Effekte des Systems, sondern dessen Konsequenz, Ausdruck seiner spezifischen historischen Qualität. Sie lassen Rückschlüsse auf seine inneren Wesenszüge zu, die bei seiner Gesamt-Wertung nicht ausgeblendet werden dürfen. Hans-Jochen Vogel, seinerzeit Studentenpfarrer in Chemnitz, schrieb 1999:

"Die russische Revolution hat nicht den Sozialismus gebracht. Sie hat aber die Initialzündung dargestellt für einen weltweiten Prozess der Entkolonialisierung, der nationalen Befreiungs- und sozialen Kämpfe, der das Gesicht der Erde nachhaltig verändert hat. Das Einmalige an dem Prozess der nationalen Befreiungskämpfe - das unterscheidet ihn vom gegenwärtigen Zerbrechen von Staaten in Stammes- und Bandenkämpfen - war doch, dass er weithin mit den universalistischen humanistischen Ideen des Marxismus bzw. des Sozialismus verknüpft war. Der Kapitalismus selbst musste sich unter dem Druck dieser Bewegung verändern und neue Potentiale in seinem System erschließen. In diesen Zusammenhang gehört auch die von Eric Hobsbawm benannte Paradoxie, dass es Stalins Sowjetunion war, die die "westlichen Demokratien" vorm Faschismus rettete. Ein Teil dieser Auseinandersetzung fand auf deutschem Boden statt. Deutsche waren auf diverse Weise daran beteiligt. Die Rollen, die sie dabei gespielt haben, ihre Motive und Vorstellungen, ihre Verflechtungen und Abhängigkeiten sollten sachlich beleuchtet werden, ohne den Drang zu vorschneller Be- und Verurteilung."(10)

Und der Marburger Politikwissenschaftler Frank Deppe betont in einer seiner jüngsten Publikationen:

"Spätestens seit 1945 hatte sich an der Peripherie in antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungsbewegungen Widerstand gegen den Imperialismus der Zentren formiert, der sich z. B. in Algerien, Kuba und Vietnam am Entwicklungsmodell des "realen Sozialismus" Osteuropas und der UdSSR orientierte."(11)

Es geht dabei meines Erachtens nicht nur um die oft genannte, in der Regel allerdings nicht hinreichend konkret analysierte "Beispielwirkung" des sozialistischen Systems, also um die Attraktivität bestimmter einzelner seiner Züge. Es geht um seinen Einfluss als realer Machtfaktor im internationalen Geschehen. Michael Benjamin und Sahra Wagenknecht schrieben 1995, es entspreche ihrer "Überzeugung, dass die Welt berechenbarer war, als dieser unvollkommene, frühe Sozialismus ungebremste Kapitalherrschaft auf diesem Planeten verhinderte".(12)

Zu den objektiven Wirkungen des Sozialismus in der DDR, die bei der nachträglichen Beurteilung der historischen Rolle dieses Staates zu berücksichtigen sind, zählen auch Spuren, die er im historischen Gedächtnis, in tradierten Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen der Menschen hinterlassen hat.

Es ist höchst charakteristisch, dass derartige Spuren sich in dem Maße aktualisieren und mental bemerkbar machen, in dem der Kontrast des in der DDR Erlebten mit der alltäglichen sozialen Wirklichkeit des realen Kapitalismus zutage tritt bzw. sich verschärft. In den bereits erwähnten Debatten um die Konzeption der zukünftigen offiziellen Geschichtspolitik der BRD wird dies zunehmend registriert. So wird in den "Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ,Aufarbeitung der SED-Diktatur" vom Mai 2006 davor gewarnt, bei der historischen Aufarbeitung die "Bindungskräfte der DDR in ihren jeweiligen Entwicklungsstadien" zu ignorieren. Dies würde "die Selbstwahrnehmung breiter Schichten der früheren DDR-Bevölkerung und ihrer nachwachsenden Generationen nicht angemessen erfassen ..." Diese "Bindungskräfte" hätten "von ideologischer Überzeugung über soziale Aufstiegsmöglichkeiten und wirtschaftliche Grundsicherung bis hin zu missmutiger Loyalität" gereicht.(13)

Ekkehard Lieberam und Roland Wötzel haben bereits vor einem Jahrzehnt darauf aufmerksam gemacht, dass die Tendenz der Stabilisierung einer "nachsozialistischen Subkultur" in Ostdeutschland stärker sei als die ihrer Auflösung. In Erscheinung trete diese nachsozialistische Subkultur "in Gestalt eigener Interessenorganisationen, besonderer gesellschaftlicher Beziehungen, eines anderen Parteiensystems, aber auch als eigenständiges Wertesystem, als Komplex spezifischer Anschauungen (über Kapitalismus und Sozialismus, über die Rolle des Staates als Garant sozialer Sicherheit, hinsichtlich Klassenkampf, sozialer Gerechtigkeit und Machtstrukturen). Geprägt von den Erfahrungen mit zwei gesellschaftlichen und politischen Systemen gibt es eine kritische Sicht auf Staat, Wirtschaft, Kapitalmacht und Demokratie in der Bundesrepublik."(14) Es ist ein enormer Fortschritt gegenüber den ersten "Nachwende"-Jahren, dass sich in der öffentlichen Erinnerung an die DDR kräftige Anzeichen von Differenzierung bemerkbar machen: Negatives, aber auch Positives, Defizite, aber auch Errungenschaften und Leistungen werden ins Gedächtnis gerufen.

Auch dieser Prozess vollzieht sich allerdings nicht jenseits der gesellschaftlichen Grundkonflikte. Unterschiedliche Aspekte sind zu unterscheiden und theoretisch-methodisch zu hinterfragen. Von Seiten vieler DDR-Bürger ist die Differenzierung ein Aufbäumen, ein reflektierter Protest gegen die pauschale Verdammung einer erlebten Realität. Zu stark kontrastiert die ununterbrochene verordnete Kriminalisierung der DDR mit der eigenen Erfahrung und Erinnerung.

Für antikommunistische Apostel ist die Differenzierung einerseits eine Provokation.

Der Delegitimierungsauftrag per Totalverriss scheint bedroht. Was bleibt, ist das Bemühen um einen krampfhaften Eklektizismus. "Wenn ... Teilbereiche der Sozialpolitik als besonders positive Leistungen buchstäblich vom Diktaturcharakter des Systems gelöst werden, dann führt das meiner Meinung nach in die Irre. In meinen Augen ist der Staatssicherheitsdienst charakteristischer für die DDR als die Kinderkrippen." So Prof. Horst Möller, einer der schärfsten Kontrahenten jeglicher Bemühungen um Differenzierung bei der künftigen Geschichtspolitik der BRD gegenüber der DDR in der bereits erwähnten Debatte.(15) Genauso könnte auf den "Unrechtsstaat"-Diskurs verwiesen werden.

Andere Größen der herrschenden Politik befleißigen sich selbst einer gewissen "Differenzierung", um den Anschein einer sachlichen, einer "fairen" Bewertung zu erwecken. Sie spüren, dass die generelle Verurteilung der DDR immer weniger "ankommt" und fürchten um Wählerstimmen. Ihr Verfahren läuft darauf hinaus, zwischen dem "System" und "den Menschen" oder "den Bürgern" zu unterscheiden bzw. in einen unüberbrückbaren Gegensatz zueinander zu bringen. Auf der einen Seite das "gescheiterte System" oder der "Unrechtsstaat", auf der anderen "die" nicht gescheiterten Menschen.

Nun soll hier nichts vereinfacht werden. Gegensätze zwischen Staat und Bürgern sowie Opposition gegen das System hat es von Anbeginn der Existenz der DDR an gegeben. Aufschluss ist auch nicht zu erwarten aus statistischen Analysen quantitativer Relationen zwischen Befürwortern und Gegnern des Sozialismus. Es geht um die Frage, ob die Behauptung eines absoluten Gegensatzes zwischen System und Bürgern geeignet ist, der realen Entwicklung dieser Gesellschaft gerecht zu werden und zu einem angemessenen historischen Urteil zu gelangen.

So warnte Matthias Oehme kürzlich vor einer methodischen Sackgasse der "Dederistik", jener seit 1990 mehr als 1000 Forschungsprojekte umfassenden Disziplin, die sich dem Forschungsfeld "DDR" widmet.

"Ein Grundfehler der nicht explizit antikommunistischen DDR-Forschung ... besteht darin, dass alle Ereignisse, alle Hervorbringungen, Leistungen, Errungenschaften, Institutionen und Ziele der DDR-Geschichte allein unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden. Sie werden an einem Idealtypus von Sozialismus gemessen, der nirgends sonst als in den Köpfen einiger Theoretiker existiert, denen der historische Materialismus fremd ist. Und sie werden, sofern sie nach diesem ersten Kriterium nicht überhaupt als fehlerhaft oder verbrecherisch erklärt, wenn sie also ansatzweise geschichtlich bewertet werden, stets als Ergebnisse eines gegen diesen Staat gerichteten Handelns betrachtet und nicht, wie es für jeden Unvoreingenommenen auf der Hand liegt, als solche, die eben durch diesen Staat bewirkt worden sind."

Es handele sich dabei - so Oehme - um einen Grundfehler der sogenannten "oral history", einer Denkschule, die "die Möglichkeit unmittelbaren historischen Wissens vorgaukelt": "Aus den beiden Erlebnisberichten eines Grenzsoldaten und eines Grenzverletzers, so machen uns die Anhänger dieser Schule glauben, erfährt man schon irgendwie die historische Wahrheit über die DDR-Grenzen. In solcherart Positivismus ersäuft jeder Erkenntnisgewinn."(16)

Vor allem fällt wiederum die Unfähigkeit und der Unwille der bürgerlichen Ideologie auf, Widersprüche des Geschichtsprozesses bzw. im Rahmen historischer Formationen als eine Grundgegehenheit anzuerkennen. "Die Ausklammerung der spezifischen historischen Widersprüchlichkeit ist ein hervorstechender Zug des offiziellen Umgangs mit der DDR-Geschichte."(17)

Das Nebeneinander von Positivem und Negativem ist nicht aufzuhellen, wenn es nicht auf die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten und Widersprüche des gegebenen historischen Geschehens bezogen wird. Fehlentwicklungen und Errungenschaften stehen nicht in einem äußerlichen, mechanischen Verhältnis zueinander. Sie sind nur als Momente der widersprüchlichen Entwicklung einer konkreten historischen Totalität zu begreifen. Das meint zum einen, wahrzuhaben, dass gesellschaftliche Systeme eine historische Identität aufweisen, die sich aus dem Charakter der gegebenen Produktionsverhältnisse ergibt. Und zum anderen, dass die Realisierung, Ausprägung, Fortentwicklung und Reproduktion des Systems sich in einem widerspruchsvollen Prozess vollzieht.

"Was die dialektische Bewegung ausmacht, ist gerade das Nebeneinanderbestehen der beiden entgegengesetzten Seiten, ihr Widerstreit und ihr Aufgehen in eine neue Kategorie. Sowie man sich nur das Problem stellt, die schlechte Seite auszumerzen, schneidet man die dialektische Bewegung entzwei." Und Marx warnt davor, einzelne Phasen und Erscheinungen eines Systems erklären zu wollen, ohne sie auf das Ganze zu beziehen. Man verrenke die Glieder des gesellschaftlichen Systems, wenn man außer acht lasse, dass im "Gesellschaftskörper ... alle Beziehungen gleichzeitig existieren und einander stützen."(18)

Es bleibt also der denkenden Aneignung der Wirklichkeit nicht erspart, im konkreten einzelnen Fall die ins Auge springenden Erscheinungen auf diese Grundverhältnisse zu beziehen. Nicht um sie zu beschönigen oder in den Himmel zu heben, sondern um sie zu erklären, ihr Auftauchen und ihren Hergang zu entschlüsseln. Wie ist es zum Negativen und zum Positiven gekommen? Hängen sie eventuell miteinander zusammen? Solchen Fragen nachzugehen, bedeutet, sie auf das System zu beziehen, sie in einen systematischen Zusammenhang zu bringen.

Peter Marcuse, Professor an der Columbia University in New York und Sohn von Herbert Marcuse, einem der bekanntesten Repräsentanten der "Frankfurter Schule" hat 1992 in einem Artikel für die 'Frankfurter Rundschau' dargelegt, wie er sich den Umgang mit realen Prozessen der vergangenen DDR vorstellt, auf welche Weise man als Bürger der USA aus diesen Erfahrungen lernen könnte. Einige Beispiele für seine Fragen. Mit welchen Maßnahmen und zu welchem Preis wurde Vollbeschäftigung erreicht? Wie könnte dieser Preis reduziert werden?

Was kann geplant werden und wie könnte anders und besser geplant werden? Welche Rolle muss, kann und sollte Privateigentum und privater Profit spielen? Wie funktionieren Städte ohne die Kommerzialisierung der Innenstädte? Was bewirkt das Fehlen eines Immobilienmarktes und was bewirkt es nicht?

Was kann mit staatlicher Politik für die Gleichberechtigung der Frau erreicht werden und was nicht? Wie sieht eine Gesellschaft mit einer Einkommensspannbreite von 7 : 1 (vom höchsten bis zum niedrigsten Einkommen) im Vergleich zu einer anderen, wo diese Spanne bei 160 : 1 liegt aus?

Diese Sichtweise ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst werden die Fragen aus dem kritischen Wissen um Probleme der eigenen Gesellschaft (den USA) gestellt. Sodann klingt in ihrer Formulierung die Kenntnis der übergreifenden gesellschaftlichen Bedeutsamkeit und Widersprüchlichkeit jedes einzelnen der genannten Prozesse an. Und sie sind in dem Bewusstsein formuliert, dass es sich um Maßnahmen handelt, die dem spezifischen Charakter dieses Systems entsprechen. Die Formulierung der damit verfolgten Ziele sei "signifikant anders" gewesen als die in der BRD "und was zu ihrer Erreichung getan wurde, ist es wert, untersucht zu werden". Und schließlich die Folgerung: "... es ist genau eine solche Untersuchung, ein sorgfältiger Blick auf die DDR-Vergangenheit, die positive wie auch die negative - wie das System genau funktionierte, und was seine spezifischen Ergebnisse waren - die durch die ausschließliche Konzentration auf die Stasi und die Frage nach der Moral der Individuen verhindert" wird. Eine solche Untersuchung könnte freilich zu radikalen, subversiven Schlüssen führen, die "von einer antikommunistischen Position aus Schutzgründen heraus natürlich abgelehnt werden".(18) Die dialektisch-materialistische Methode bietet mithin auch auf diesem Feld eine solide Grundlage für angemessene Entscheidung und Orientierung. In dem zitierten Antrag einiger Genossen an einen Landesparteitag der PDS heißt es:

"Die von den Autoren dieses Papiers geführten Aneinandersetzungen um eine historisch gerechte Bewertung des Sozialismus und daher auch der DDR waren zu keiner Zeit von Vereinfachungen gekennzeichnet. Gerade auch deshalb waren wir nie bereit, zu Kritisierendes und Bewahrenswertes einfach schematisch getrennt voneinander zu betrachten. Wir waren und sind vielmehr davon überzeugt, dass gerade ein differenzierter Umgang mit den sozialistischen und nichtsozialistischen Zügen der DDR ein grundsätzliches Bekenntnis zu ihr ermöglicht."(19)


Erich Hahn, Prof. Dr., Berlin, Philosoph


Anmerkungen:
(1) Winfried Schröder, Schlichter geht's nimmer. ND 9./10. Januar 1993
(2) Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Herausgegeben von Martin Sabrow und anderen. Göttingen 2007. S. 66
(3) Martin Sabrow, Historisierung der Zweistaatlichkeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 3/2007. 15.1.2007, S. 22
(4) Wohin treibt die DDR-Erinnerung? A. a. O. S. 22
(5) Martin Sabrow. Historisierung der Zweistaatlichkeit. A. a. O. S. 23
(6) Vgl. Erich Hahn, 1989 und die Folgen. Fußnoten zur Ideologie der "Berliner Republik". In: Gegen den Zeitgeist. Herausgegeben von Gerhard Fischer und anderen. Schkeuditz 1999
(7) Robert Kurz. Ökonomie und Psychologie. ND 30. Januar 2009
(8) Jan Korte, Falsche Parallele. ND 4./5. Oktober 2008
(9) Hans-Jochen Vogel, Produkt und Teil der Entwicklung des Jahrhunderts. ND 19.2.1999
(10) Frank Deppe, Der neue Imperialismus. Heilbronn 2004. S.59
(11) Kurt Goldstein, Arne Brix, Ellen Brombacher und andere. Antrag Nr. 3 an die 5. Tagung des 10. Landesparteitages der Linkspartei PDS am 11. März 2007
(12) Wohin treibt die DDR-Erinnerung? A. a. O. S. 22, 34
(13) Ekkehard Lieberam und Roland Wötzel. Geblieben ist eine nachsozialistische Subkultur. ND 11. Januar 2000
(14) Wohin treibt die DDR-Erinnerung? A. a. O. S. 56
(15) Matthias Oehme, Sackgassen. ND, Beilage zur Frankfurter Buchmesse. 6. bis 10. Oktober 2004
(16) Michael Schumann, Emanzipation und Geschichtsbewusstsein. ND 3. November 1992
(17) MEW 4/131 ff.
(18) Peter Marcuse, Das Feindbild Stasi sichert dem Westen den Status quo. Frankfurter Rundschau 14. Mai 1992
(19) Kurt Goldstein und andere. Antrag Nr. 3. A. a. O.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-09, 47. Jahrgang, S. 33-39
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2009