Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

MARXISTISCHE BLÄTTER/408: Grundlagen eines materialistischen Kulturbegriffs


Marxistische Blätter Heft 4-09

Materielle Reproduktion, menschliche Selbstproduktion und kultureller Prozess
Zu den Grundlagen eines materialistischen Kulturbegriffs(1)

Von Thomas Metscher


Menschliches Dasein - 'Sein in der Welt' - ist ontologisch durch eine materielle Reflexionsstruktur charakterisiert: das praktisch-tätige Verhältnis des Natursubjekts Mensch zu der es umgehenden Natur wie zu der Natur, die es selbst ist. Dieses Verhältnis ist ein nicht-hintergehbares Gegebenes, die erste Tatsache, die materialistische Philosophie zu ihrer Voraussetzung macht. Im methodologischen Sinn ist es die Basis jeder weiterführenden theoretischen Reflexion, so auch der Theorie des Kulturellen, des Ästhetischen und der Künste. 'Sein in der Welt' aber bedeutet, daß der Mensch bei der kruden Unmittelbarkeit eines reproduktiven Naturverhältnisses nicht stehen bleibt, daß die "Reproduktion des wirklichen Lebens" menschliche Selbstproduktion einschließt, ja zu ihrem Kern hat: Menschliche Selbstproduktion ist die erste Kulturtatsache.

Im Zentrum materialistischer Kulturtheorie steht also die Explikation der Kategorie menschlicher Selbstproduktion in allen Formen menschlicher Tätigkeit: von der Arbeit bis zum Spiel und unter Einbezug kontemplativer Akte. Dabei kommt der Arbeit als Elementartatsache menschlichen Lebens eine Sonderrolle zu: Der Prozeß lebenssichernder menschlicher Arbeit ist fundomentum menschlicher Selbstproduktion. Im scheinbaren Kreislauf der materiellen Reproduktion konstituieren sich "neue Qualitäten" innerhalb der menschlichen Naturkräfte: vollzieht sich der Prozeß kultureller Bildung als Prozeß der Menschwerdung des Menschen durch eigene Tätigkeit. Der Prozeß kultureller Bildung eine selbstzweckhafte Struktur. Das Kulturelle heißt das Moment der Selbstproduktion in der Gesamtheit menschlicher Tätigkeiten.

Das Kulturelle bezeichnet somit keine besondere, separat von anderen existierende Form menschlicher Tätigkeit. Es bezeichnet vielmehr - in einem subjektiven wie objektiven Sinn - Selbstproduktion als Dimension innerhalb der Totalität menschlicher Tätigkeiten. Kultur ist das Gesamt selbstproduktiver Akte wie ihrer vergegenständlichten Objektivationen. Menschliche Selbstproduktion wird dabei als Selbstzweckhandlung verstanden: als Zweck-in-sich-selbst. Die sich als Selbstzweck geltende menschliche Kraftentwicklung (Marx' Begriff; MEW 25,828) ist die eigentliche Kulturtatsache.

Der Prozeß menschlicher Selbstproduktion umfaßt Subjekt und Objekt, subjektive und objektive Kultur. Er umgreift menschliches Ich und menschliche Welt. Ich-Bildung und Welt-bildung sind notwendig korreliert. Das eine ist nicht ohne das andere. Nach der subjektiven Seite hin bedeutet Selbstproduktion Entwicklung individuell-gesellschaftlicher Fähigkeiten physisch, emotional, intellektuell, damit auch Selbstverwirklichung, Selbstfindung, Selbstschöpfung - in allen geschichtlichen Epochen, Gesellschaftsformationen, Klassen und Schichten, Lebensweisen und Tätigkeitsformen. Kultur heißt hier: selbsttätige, selbstzweckhafte Verwirklichung menschlicher Subjekte damit auch: die Produktion von Subjektfähigkeit. Kultur ist so der eigentliche Kern und Inhalt der geschichtlichen Bildung menschlicher Bedürfnisse, Fähigkeiten und Kräfte - geschichtliche Bildung, verstanden als Selbstkonstitution des menschlichen Subjekts. Nach seiner objektiven Seite hin bedeutet Selbstproduktion die Ausbildung einer sinnlich-gegenständlichen Welt als Wohnort des Menschen im Ganzen der Natur - den Bau einer menschlichen Welt.


Kultur als Selbstproduktion

1. Der Gedanke, Kultur im Moment der Selbstproduktion zu fassen, identifiziert das Kulturelle, über die Kategorie selbstproduktiver Tätigkeiten, als Kern der historisch-gesellschaftlichen Bildung des Menschen - der geschichtlichen Bildung der menschlichen Natur. Diese ist nicht Ausgangspunkt, sondern als Resultat. Ausgangspunkt ist sie allein im Sinne eines genetisch gegebenen Potentials - ich spreche von einem "energetischen Potential" -, das solche Entwicklung ermöglicht.(2) Kultur ist selbsttätige Verwirklichung des gesellschaftlichen Subjekts: "Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck" (MEW 26.2, 111), Die Geschichte ist Bildungsprozeß des gesellschaftlichen Menschen - der Bildung seiner produktiven Gattungskräfte -, und sie ist Bildungsprozeß der menschlichen Welt.

2. Der Fundamentalbereich kultureller Bildung ist die materielle Arbeit: Arbeit als Prozeß der Vermittlung, Regelung und Kontrolle des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. In ihm tritt der Mensch dem "Naturstoff" als "Naturmacht" gegenüber und verändert mit der Veränderung der Natur außer ihm "zugleich seine eigne Natur". Er entwickelt die "in ihr schlummernden Potenzen" und unterwirft "das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit" (MEW 23, 192f.). Diese Entwicklung der schlummernden Potenzen der Natur des Menschen im Vollzug menschlicher Arbeit (darüber hinaus in allen menschlichen Tätigkeitsformen) bildet den kategorialen Kernbereich des Kulturellen im Sinn eines selbstproduktiven Akts. Es ist der Punkt auch, an dem der Begriff des menschlichen Wesens kategorial zu verankern ist. Dieses ist, analog zum Begriff der menschlichen Natur, als genetisch determiniertes (= 'entelechisches') Potential zu definieren, das sich in der Form differenter, geschichtlich sich verändernder 'Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse' (vgl. MEW 3, 6) konstituiert.

3. Die selbstzweckhafte Entwicklung schlummernder Potenzen betrifft die Totalität menschlicher Vermögen: physische, emotionale und intellektuelle Fähigkeiten. Signifikant dafür, dass der hier zugrunde gelegte Begriff allgemeiner Arbeit materielle und geistige Momente in organischer Verbindung vereint. Die der "Leiblichkeit" des Menschen angehörigen "Naturkräfte" sind Arme, Beine, Kopf und Hand. Spezifikum menschlicher Arbeit gegenüber jeder tierischen ist, daß bei menschlicher Arbeit am Ende des Arbeitsprozesses ein Resultat herauskommt, "das bei Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war". Das Besondere, Eigentümliche und Unverwechselbare menschlicher Arbeit besteht gerade in der Synthesis materieller und ideeller Momente. Das Ideelle, Geistige ist Attribut des Materiellen: Der "Kopf" ist eine der Leiblichkeit des Menschen angehörende "Naturkraft" und funktioniert nur in Verbindung mit den anderen - mit Armen, Beinen und Hand.

4. Die Bestimmung des Kulturellen im Sinne von Selbstproduktion impliziert die Kritik an kulturtheoretischen Ansätzen, die Kultur am einfachen Tatbestand der Reproduktion festmachen. Das Kulturelle in Akten der Reproduktion meint allein jene Aspekte, die als selbstproduktiv zu qualifizieren sind. Ein Moment selbsttätiger Aneignung von Subjektfähigkeit und gegenständlicher Welt ist die Bedingung seines Begriffs. In allen seinen Formen ist Kulturelles auf Ich-Bildung und Subjektkonstitution bezogen: meint Produktion von Individualität, des Individuellen im Gesellschaftlichen - wie es immer auch auf Weltbildung bezogen ist.

5. Kultur als Selbstproduktion meint also die selbsttätige, selbstzweckhafte Verwirklichung menschlicher Subjekte. Ihr Inhalt ist die geschichtliche Bildung menschlicher Bedürfnisse, Fähigkeiten und Kräfte: Veränderung der menschlichen Natur durch die Entwicklung ihrer schlummernden Potenzen. Die Existenz solcher Potenzen, eine exzeptionelle Entwicklungs- und Formungsfähigkeit des Menschen ist ein empirisch gegebener Sachverhalt - eine 'Tatsache' durchaus im Sinn des frühen Wittgenstein.(3) Der Prozeß kultureller Bildung nun - die Entwicklung und Formung menschlicher Vermögen - geschieht auf keinem anderem Weg als dem der gegenständlichen Weltkonstitution. Sein ontologischer Raum ist die Weltgeschichte. Kulturelle Bildung ist geschichtlicher Prozeß als Geschichte der Gattung - geschichtlicher Prozeß, der empirisch in einer Vielzahl singulärer und differenter historisch-kultureller Formen verläuft und sich in individuellen Geschichten spiegelt.

6. Im Prozeß der Kultur konstituiert sich menschliche Subjektivität, und es konstituiert sich menschliche Welt. Der kulturelle Prozeß ist der Prozeß einer Bildung von Mensch und Welt. Das Verhältnis beider ist ein dialektisches. Die Bildung von Welt ist die Bedingung der Bildung des Subjekts und die Bildung des Subjekts die Bedingung der Bildung der Welt. So bildet der Mensch, mit Blick auf die objektive Seite dieses Prozesses, innerhalb der natürlichen Wirklichkeit und in unaufhebbaren Bezug zu ihr eine zweite Wirklichkeit heraus: die von ihm geschaffene gegenständliche Welt. Dem Prozeß der Menschwerdung des Menschen korrespondiert die Weltwerdung der Natur. Geschichte als kultureller Prozeß heißt: vom Sein in der Natur zum Sein in der Welt. Im ontologischen Sinn freilich bleibt Welt als 'zweite Wirklichkeit' Teil der 'ersten Wirklichkeit Natur', so naturfremd diese 'zweite Wirklichkeit' auch erscheinen mag. Zu sprechen ist vom unaufhebbaren ontologischen Primat der Ersten Wirklichkeit vor der Zweiten.


Kulturbildende Arbeit als Basiskategorie

Fundament menschlicher Selbstproduktion ist der Prozeß lebenssichernder menschlicher Arbeit. Er ist damit auch das Fundament der Kultur - Arbeit hat den Charakter einer kulturtheoretischen Basiskategorie. Aus ihrem Feld sind daher die kategorialen Grundbestimmungen des Kulturbegriffs zu gewinnen.

Zu diesem Zweck greife ich auf die Einsicht zurück, daß marxistische Theorie nur Voraussetzungen macht, die auf empirischem Weg konstatierbar sind, und das sind "die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen", Individuen, die, um überleben zu können, ihre Lebensmittel selbst produzieren und damit "indirekt ihr materielles Leben" (MEW 3, 20f.). Sie existieren als bewußte Naturwesen "Freie bewußte Tätigkeit" ist ihre "Gattungsnatur". "Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens" (MEW, Ergbd. 1, 516). Angesprochen ist die in der Tat empirisch konstatierbare Tatsache, daß der Mensch, um sich am Leben zu erhalten, der Arbeit bedarf, ganz gleich, wie die Arbeit organisiert und sozial verteilt ist: und Arbeit meint: Bearbeitung der unorganischen Natur zum Zweck der Produktion von Gebrauchswerten. Arbeit ist die praktische Erzeugung einer gegenständlichen Welt. Der Arbeitsprozeß, "unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form" betrachtet, ist ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, in dem "der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert". Er setzt "die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, (...) in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen" (MEW 23, 192). Ein Teil der Natur - Mensch - tritt einem anderen Teil der Natur - Naturstoff - gegenüber, bearbeitet und verändert ihn und stellt in diesem Prozeß Gegenstände ('Gebrauchswerte') her, die er benötigt, um seine Bedürfnisse befriedigen zu können. In diesem Prozeß vollzieht sich nicht allein die Veränderung eines Naturstoffs - der Natur außerhalb des Menschen - durch den Menschen, auch der Mensch selbst, seine 'Natur' verändert sich. Er entwickelt Bedürfnisse wie die Fähigkeiten, sie zu befriedigen. "Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit" (ebd.). Der Mensch produziert mit dem Zweck der Reproduktion, doch er entwickelt dabei in ihm angelegte Vermögen - Kräfte, Fähigkeiten des Subjekts. In diesem Sinn produziert der Mensch also seine eigene menschlich-gesellschaftliche Natur - ist er Produzent seines 'Wesens'. Dieses existiert 'an sich' allein in der Form der Möglichkeit. Es wird wirklich erst als Resultat menschlichen Tuns. Die "Weltgeschichte", formuliert Marx emphatisch in den frühen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, ist "die Erzeugung des Menschen durch menschliche Arbeit, (...) das Werden der Natur für den Menschen" (MEW, Ergbd. 1, 546). Er faßt die menschliche Geschichte als gattungsgeschichtlichen Bildungsprozeß des Menschen selbst. Im Unterschied zur Naturgeschichte, so lautet ein Passus im Kapital(4), ist die Menschengeschichte von den Menschen selbst gemacht: Sie ist Resultat menschlichen Handelns und als solches der menschlichen Erkenntnis leichter zugänglich als die Geschichte der Natur. Ja in dem genannten Passus bezeichnet er die "Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen" als die materielle Basis jeder besonderen Gesellschaftsorganisation. Sie verkörpert sich in der Technologie. In dieser liegt dann auch der Schlüssel zur Erklärung dieser Organisation in allen ihren Formen bis in die geistigen Vorstellungen hinein.

Der Gedanke menschlicher Selbstproduktion, der zivilisatorische Prozeß als eine Bildungsgeschichte produktiver menschlicher Organe, der Totalität seiner Vermögen auf der Basis der Geschichte der Technologie - dies ist der Kerngedanke der hier vertretenen Theorie kultureller Konstitution. Marx bietet in seinem Werk eine Fülle von Formulierungen dafür an. Sie beziehen sich sämtlich auf die (gleichwohl durch eine lange Geschichte europäischer Dichtung und Philosophie, von Homer, Hesiod, Aischylos und Vergil bis Hegel, Schiller und Goethe vorbereitete) Erkenntnis, daß sich der Mensch in den Prozessen der Zivilisation als menschliches Wesen herstellt, sich durch gegenständliche Tätigkeit, mit dem Kern der Arbeit als Synthesis materieller und geistiger Momente, materieller und geistiger Produktion, geschichtlich konstituiert, als Gattung erst bildet die Arbeit als "das sich bewährende Wesen des Menschen" (MEW, Ergbd. 1, 546). Erst über gegenständliches Tun, das "praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt", entfaltet sich der Reichtum menschlicher Bedürfnisse, Vermögen und Eigenschaften. Der Prozeß gegenständlicher kultureller Bildung umfaßt alle 'Seiten' des gesellschaftlichen Subjekts Mensch, die Totalität seiner sinnlichen Vermögen: das physische ebenso wie das emotionale, ästhetische, ethische, theoretische usf. Die Sinne werden hier als produktive Organe gefaßt: als Vermögen oder 'Wesenskräfte'. D.h., sie werden gefaßt unter dem Aspekt der Tätigkeit.

Kultur, in diesem Sinn, ist Formierung von Sinnlichkeit, menschliche Selbstproduktion die Bildung und Ausbildung der menschlichen Sinne als Wesenskräfte des menschlichen Subjekts, der 'physischen' wie 'seelisch-geistigen'. Vorausgesetzt wird hier der Mensch als "komplexes Triebwesen" (Ernst Bloch), wird eine Pluralität menschlicher Bedürfnisse, des sinnlichen Potentials des Menschen insgesamt. Marx geht von keiner festgelegten Vielfalt menschlicher Sinne aus. Er stellt neben die 'Sinne' "die sogenannten geistigen Sinne(5), die praktischen Sinne (Wille, Liebe etc.)". Diese entwickeln sich über die Gegenständlichkeit des Kulturprozesses - das Medium sinnlich-gegenständlicher Tätigkeit. Sie entwickeln sich also geschichtlich: Sie "bestätigen sich", werden "teils erst ausgebildet", "teils erst erzeugt". Das bedeutet: die menschliche Sinnlichkeit ist nicht nur qualitativ offen, sie ist es auch quantitativ. Die Zahl der Sinne ist nicht festgelegt. Im Potential menschlicher sinnlicher Vermögen, "menschlicher Wesenskräfte" besteht der Reichtum der menschlichen Natur.


Die Geschichtlichkeit des menschlichen Wesens und der Begriff der Humanität

Das, was wir 'menschliches Wesen' nennen, ist also geschichtlich. Es bildet sich im geschichtlichen Prozeß. Es ist nicht Ausgangspunkt, sondern Resultat. Es ist nicht 'fest', sondern veränderlich und 'offen'. Es verändert sich mit den Veränderungen der Geschichte, unter Mitwirkung handelnder Menschen. In diesen Zusammenhang ist der Begriff der Humanität, als dialektischer Grundbegriff, kategorial zu verankern. Er bezieht sich, jenseits seiner eingebürgerten ethischen Bedeutung, auf die besondere Qualität des menschlichen Wesens, die den Menschen von anderen Naturwesen unterscheidet.(5) Im Konstitutionsprozeß von Humanität nun kommt der Arbeit in der geschilderten Weise eine Schlüsselfunktion zu. So wenig sie der einzige wirkende Faktor in diesem Prozeß ist, sie besitzt in ihm fundierenden Charakter - aus Gründen, die genannt wurden. Das menschliche Wesen, so läßt sich formulieren, bildet sich im Ensemble gegenständlicher Tätigkeiten, fundamental in den Prozessen materieller und geistiger Produktion. Den Produktionsprozeß des menschlichen Wesens nenne ich Prozeß kultureller Bildung. 'Kultur' meint dann die prozessualen Formen der Vergegenständlichung und Aneignung sich geschichtlich bildender, stets sich wandelnder, sich also entwickelnder menschlicher Kräfte, Fähigkeiten, Bedürfnisse, Eigenschaften in der sinnlich-praktischen menschlichen Tätigkeit, in geistigen Vergegenständlichungs- und Aneignungsformen wie in den Formen des sozialen Verkehrs und der materiellen Produktion. Arbeit, unter dem Kulturbildungsaspekt, meint die Einheit materieller und geistiger Produktion. Marx gebraucht dafür den Begriff 'allgemeiner Arbeit', wozu er zählt: "alle wissenschaftliche Arbeit, alle Entdeckung, alle Erfindung" (MEW 23, 349). Ethos - im Sinne ethischen Bewußtseins - gehört wesentlich zum Prozeß der Kultur - wie es unabdingbar zum menschlichen Wesen gehört.


Menschliche Selbstproduktion und die Dialektik der Kultur. Resümee und Ausblick

1. Die Frage, welchem Bereich menschlicher Praxis kultureller Charakter zukommt, kann also nicht damit beantwortet werden, daß ein bestimmter Bereich oder bestimmte Form von Tätigkeit als 'kulturell' ausgesondert und von anderen, 'nicht-kulturellen' unterschieden wird. Jeder gegenständlichen Tätigkeit, jeder Form der Aneignung von äußerer und innerer Welt zwischen den Polen von Arbeit, Spiel, Kontemplation kommt prinzipiell ein kultureller Wert zu - den sie unter bestimmten Bedingungen verlieren kann. Kriterium des Kulturellen - seiner Existenz oder Nichtexistenz - ist einzig und allein das Moment menschlicher Selbstproduktion: die sich als Selbstzweck geltende Kraftentwicklung. Das Kulturelle wurde deshalb als das 'Gesamt selbstproduktiver Akte' bestimmt. Kultur als 'Resultante', die sich aus diesen Akten samt ihren Verkörperungen ergibt.

2. Kulturell sind alle Formen produktiver Aneignung von Wirklichkeit - von Naturstoff oder Gebrauchswerten (also bereits durch menschliche Tätigkeit Hervorgebrachtem), wobei unter produktiver Aneignung eine solche verstanden wird, in der ein Mensch zwecksetzend (zumindest die Zwecke mit-setzend) tätig ist und in diesem Vorgang, der immer den Einsatz subjektiver Vermögen involviert, diese Vermögen entwickelt. Aneignung ist hier nach ihrer produktivem und konsumtiven Seite hin zu verstehen: als Produktion von Neuem bis in die Bereiche von Wissenschaft, Entdeckung, Erfindung hinein und als Umgang mit bereits Vorhandenem - wobei der produktiven Seite eine prioritäre Position zukommt. Die kulturelle Dimension von Arbeit besteht also keineswegs in der Produktion von Gebrauchswerten an sich, sondern vielmehr darin, daß der Mensch in der Produktion von Gebrauchswerten - aber auch in ihrer produktiven Konsumtion seine 'Natur' verändert, in ihr schlummernden Potenzen weckt und entwickelt, dies selbstgesetzten Zwecken unterwirft: das Kriterium der Selbstproduktion erfüllt. Daß Arbeit in bestimmten repulsiven Formen - in der Sklaven- und Zwangsarbeit, in vielfältigen Formen entfremdeter Arbeit - ihren kulturellen Charakter einbüßen, die kulturelle Qualität von Arbeit verlöschen kann, liegt auf der Hand.

3. Der Begriff der freien Arbeit ('travail attractif') bezeichnet jene Formen von Arbeit, die in ausgezeichneter Weise den Charakter kultureller Bildung besitzen, in denen das Moment der Selbstproduktion dominant ist. Freie Arbeit ist sich als Selbstzweck setzende Kraftentwicklung. Mit der Ausnahme extremer Formen repulsiver und entfremdeter Arbeit ist sie in allen Formen der Arbeit als - meist untergeordnetes, den Arbeitenden nicht bewußtes - Moment präsent. Sie gehört dem Arbeitsprozeß an sich, seinem Charakter allgemeiner Arbeit als organischer Bestandteil an. Die Begriffe freier und allgemeiner Arbeit sind also korreliert.

4. Freie Arbeit meint die Formen von Arbeit, die den repulsiven Charakter abgestreift haben - in Marx' Beispiel: das Komponieren -, in denen der selbstproduktive, schöpferische Charakter von Arbeit die entscheidende Rolle spielt, die menschliche Kraftentwicklung sich zum Selbstzweck wird. Die Entwicklung der Potenzen menschlicher Arbeitskraft unmittelbare Produktivkraftentwicklung - hat stets einen 'freien' und damit kulturellen Charakter.

5. Zum Begriff der freien Arbeit gehört, daß die zu erreichenden Zwecke von dem Arbeitenden selbst gesetzt sind. Freie Arbeit ist Selbstverwirklichung des Subjekts und Realisierung seiner Freiheit.

6. Der kulturelle Wert der Arbeit korrespondiert also mit den Begriffen freier und allgemeiner Arbeit. Allgemeine Arbeit enthält die Kategorie des Selbstproduktiven als organisches, aber untergeordnetes Moment innerhalb eines Ensembles von anderen, als Moment damit auch der historisch auftretenden, in der Regel repulsiven Formen von Arbeit. In historisch auftretenden Formen der Arbeit muß der Charakter freier Arbeit also zumindest als Moment vorhanden sein, damit von einem kulturellen Wert dieser Arbeit gesprochen werden kann.

7. Die in der uns bekannten Geschichte auftretenden Formen der Arbeit waren in der großen Mehrzahl Formen repulsiver Arbeit. Die kulturelle Dimension der Arbeit hat sich also für die große Masse der Arbeitenden geschichtlich in Formen vollzogen, die seine Entfaltung behinderten. Sie verliefen gewissermaßen hinter den Rücken der Arbeitenden, diesen, wie vermuten ist, meist nicht bewußt. Sie wären also dem Begriff eines 'gesellschaftlichen Unbewußten' zuzuordnen. Und doch konnte das Bewußtsein dieses Sachverhalts - und damit auch ein Bewußtsein von Wert und Würde der Arbeit - sich als bewußter Akt der Selbstwerdung des Arbeitenden, als Akt des Widerstands vollziehen (diese Erfahrung ist in den Prometheus-Mythos und seine literarische Ausgestaltung von Aischylos bis Shelley eingeflossen: George Thomson nennt ihn nicht umsonst den "Schutzheiligen des Proletariats").

8. Die Vorstellung, daß in einer klassenlosen Gesellschaft jede Arbeit unmittelbar freie Arbeit wäre, ist schlechtester Utopismus. Marx hätte sie mit Sicherheit als illusionär gegolten. So wird die durch Naturnotwendigkeiten bestimmte materielle Produktion wie auch bestimmte Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich ihren repulsiven Charakter zwar mindern, doch nie völlig abstreifen können. Erst im Raum 'freier Zeit' jenseits des Reichs der Notwendigkeit beginnt, nach Marx' Auffassung, das Reich der Freiheit, das freilich weder als Reich bürgerlicher Freizeit noch als Schlaraffenland-Utopie des Müßiggangs gedacht werden darf. Vielmehr ist es zu denken als Reich freier Arbeit, die 'verdammtester Ernst', intensivste Anstrengung und zugleich Spiel ist - Freizeit als mit freier Arbeit erfüllte Zeit -, wobei die künstlerische Arbeit als Modell dienen kann. Ein solches Stück konkreter Utopie sollte auch dem historischen Materialisten gestattet sein.

9. In einer weiteren Ausarbeitung der Kulturtheorie wäre die Dimension kultureller Bildung über die Arbeitskategorie hinaus auf sämtliche Bereiche menschlicher Tätigkeit zu erweitern - bis hin zu Spiel und Kontemplation. Vor allem dem Spiel kommt, im Verbund mit der Mimesis, eine eminent kulturelle Funktion zu. Kultur zwischen den Polen von Arbeit und Spiel - dies könnte für ein solches Programm der Titel sein.

10. Die Produktion des menschlichen Wesens ist als Vorgang zu denken, an dem sämtliche Vermögen des Menschen, produktive wie reproduktive beteiligt sind, Ergebnis der Aneignung von Natur durch ein vielschichtiges Ensemble menschlicher Tätigkeit, in dem der Arbeit fundierende Bedeutung zukommt - dies mit Sicherheit, doch auch nicht mehr.

11. Kultur ist zugleich als menschliches Naturverhältnis zu denken, nicht im Unterschied zur Natur, sondern in einer vermittelten Einheit mit ihr. Die Bestimmung des Kulturellen als menschliche Selbstproduktion scheint dessen Spezifik gerade in einer Differenz zu jedem ursprünglich Gegebenen festzumachen und damit zu allem, was Natur heißen kann. Die Versuchung liegt nahe, Kultur in einem einfachen Gegensatz zu Natur zu denken, - etwa im Sinn des oft gehörten Satzes 'Kultur ist alles, was nicht Natur ist, d.h. alles vom Menschen Geschaffene'. Ein solcher Satz vergißt den Tatbestand, daß sich alle menschliche Tätigkeit innerhalb eines umfassenden Naturganzen vollzieht, sich menschliche Welt zwar in Differenz zu jedem ursprünglich-naturhaften Gegebenen konstituiert, nie jedoch jenseits oder außerhalb der natürlichen Wirklichkeit und wenn, dann zum Preis der Selbstvernichtung (die gleichwohl heute historische Möglichkeit ist). Menschliche Geschichte ist Teil der allgemeinen Naturgeschichte; menschliche Welt bedeutet ein Sich-Einformen in ein umgreifendes Naturganzes. In diesem Sinn bezeichnet der Kulturbegriff ein je bestimmtes, historisch-gesellschaftlich und individuell unterschiedenes menschliches Naturverhältnis, das Naturverhältnis damit auch einer je bestimmten geschichtlichen Formation. Die Unterscheidung zur Natur kann nie eine andere sein als eine Differenz in der Identität.

12. So hält bereits die ursprüngliche Wortbedeutung des lateinischen cultura fest, daß es sich bei dieser um ein Naturverhältnis handelt, das Veränderung, Veredelung, auch Pflege und Bewahrung von Natur einschließt. 'Cultura' heißt: Bearbeitung, Anbau, Ackerbau, Ausbildung, Verehrung, auch Anpflanzung und Ehrung, mit einem Bedeutungsfeld, das bis zu Kult und Religion reicht: festgehalten auch in den angeschlossenen metaphorischen Wendungen wie 'animi culti', 'cultura animi', 'tempora cultiora', 'cultus literarum'. An diesem Bedeutungsfeld ist im Sinne einer Orientierung festzuhalten. Er liefert Kriterien für kulturelle Wertung wie auch für politisches Handeln im kulturellen Bereich. Er erinnert, daß Kultur als Selbstproduktion die Veränderung, Entwicklung, Formung und Bildung von Natur, menschliche Bildung unumkehrbar auf Natur bezogen ist. Die marxsche Formel der Humanisierung der Natur und der Naturalisierung des Menschen (Ökonomisch-philosophische Manuskripte) könnte für solche Überlegungen das Leitwort sein.

13. Die Produktion des menschlichen Wesens ist also ein Vorgang innerhalb der Natur und im Rahmen ihrer Gesetze - Aristoteles' Vorstellung, daß alles menschliche Herstellen entweder "die Gebilde der Natur nachbildet" oder sie "zu einem Abschluß bringt", "wo sie die Natur nicht selbst zu einem Abschluß zu bringen vermag" (Physik), ist hier voll in ihr Recht einzusetzen. Die Produktion des menschlichen Wesens wäre nicht möglich, wenn es nicht ein mit dem Naturwesen Mensch gegebenes entwicklungsfähiges Potential gäbe - ich führte den Begriff des anthropischen Potentials dafür ein. Dieses Potential, die enorme Wandlungs- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen ist es, was den Menschen von allen anderen uns bekannten Naturwesen unterscheidet, worauf seine Besonderheit beruht.

14. Raum menschlicher Selbstproduktion ist der historische Prozeß, der selbst Teil der Naturgeschichte ist und innerhalb ihrer Grenzen verläuft - auch hier gilt der Begriff der Differenz in der Identität -, nicht im Sinne eines wie auch immer gefaßten teleologischen Ablaufs, einer prädeterminierten 'geheimen Geschichte der Natur', sondern als geschichtlich-empirische Tatsache. Es gibt daher auch kein 'Ende' dieser Geschichte, es sei denn durch eine Naturkatastrophe oder durch Selbstzerstörung, und es ist ein Prozeß, der sich unter den Vorzeichen einer ständigen Gefährdung vollzieht, in dem jeder Fortschritt bedroht ist durch den jederzeit möglichen Rückfall in Barbarei oder Selbstzerstörung. "Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen" - die Worte des sterbenden Faust sind solcher Geschichtsauffassung eingeschrieben. Eine solche Erkenntnis erst verdient den Titel einer Kopernikanischen Wende des modernen Bilds der Geschichte.

15. Als Teil der menschlichen Geschichte unterliegt der kulturelle Prozeß freilich einer Dynamik, die sich von der Dynamik natürlicher Prozesse qualitativ unterscheidet. Er ist, wie die Geschichte, der er zugehört, in ein Feld zerreißender Widersprüche gestellt. Kulturelle Bildung verläuft, in allen uns bekannten Gesellschaften, in den Strukturen von Macht, Unterwerfung und Herrschaft - im Rahmen eines geschichtlichen Prozesses, den Hegel mit der Metapher einer "Schlachtbank" beschrieb; Schlachtbank, "auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht" werden (Philosophie der Geschichte) - doch ohne versöhnenden 'Endzweck' und lenkenden 'Weltgeist'. Die Gewaltstruktur von Geschichte ist vielmehr als factum brutum hinzunehmen, sie ist ohne metaphysische Vertröstung auszuhalten. Und doch vollzieht sich in ihr und in keiner anderen Form, was der Vorgang menschlicher Bildung, also kultureller Progreß genannt werden kann.

16. Dies jedenfalls ist festzuhalten: In allen seinen Momenten ist kultureller Fortschritt in der bisherigen Geschichte durch Menschenopfer erkauft. Es ist deshalb "niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein". "Es dankt sein Dasein", wie Walter Benjamin scharfsinnig bemerkt, "nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen." Seine "Abkunft" ist deshalb "nicht ohne Grauen" zu bedenken (Geschichtsphilosophische Thesen). Der zivilisatorische Prozeß steht, bis auf den heutigen Tag, in der Doppeldeutigkeit einer solchen Dialektik der Kultur. Und doch ist dieser das Bild einer Welt eingeschrieben, in der menschlicher Fortschritt nicht mehr "jenem scheußlichen heidnischen Götzen (gleicht), der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte" (Marx; MEW 9, 226). Es ist das Bild einer sich frei assoziierenden, ihre Sache in kooperativer Planung betreibenden Menschheit - in Einklang mit den erkannten Gesetzen der Natur.

17. Kultur ist 'Bau menschlicher Welt', doch muß dieser, will er die barbarische Form seiner bisherigen Geschichte abstreifen, die Gestalt eines kooperativ betriebenen Werks freier Produzenten annehmen, und er darf, wenn er halten soll, kein Gebilde sein, das wie der Turm zu Babel der Natur entwächst. Dauer hat er nur als gemeinschaftlich betriebene Konstruktion, die mit dem kosmischen Wohnort des Menschen, der Erde fest verwurzelt ist. Er ist zudem ein Bau, der zu seiner Erhaltung der sorgfältigen Pflege - einer cultura orbis - bedarf. Wo diese nicht ist und wo das gemeinsame Handeln fehlt, steht er in der Gefahr der Selbstvernichtung und führt, wie der Turm zu Babel, in den Zerfall.


Thomas Metscher, Prof. Dr., Grafenau, Literaturwissenschaftler


Anmerkungen:

(1) Der hier veröffentlichte Text enthält Auszüge aus dem kulturtheoretischen Teil eines Buchs, das unter dem Titel Logos und Wirklichkeit. Beiträge zu einer Theorie des gesellschaftlichen Bewußtseins im Herbst 2009 bei Peter Lang, Frankfurt a.M., erscheinen soll.

(2) Von gr. energeia = Wirksamkeit, Tätigkeit, Tatkraft; 'energetisches P.' = sich im Tun äußerndes, in gegenständlicher Tätigkeit wirksam werdendes genetisches P.

(3) Vgl. Ludwig Wittgenstein,Tractatus Logico-philosophicus, 1,1.1.

(4) MEW 23, 392.

(5) Der Begriff der Humanität ist kein primär ethischer, sondern ein ontologisch-anthropologischer wie kulturtheoretischer Begriff.


*


Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-09, 47. Jahrgang, S. 44-53
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Tel.: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: Redaktion@Marxistische-Blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de

Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 8,50 Euro, Jahresabonnement 45,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2009