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MARXISTISCHE BLÄTTER/450: Kunst, Kunstprozess und Gesellschaft


Marxistische Blätter Heft 3-10

Kunst, Kunstprozess und Gesellschaft
Gesichtspunkte einer Ontologie der Künste. Entwurf(1)

Von Thomas Metscher


Die folgenden Überlegungen stellen in thesenartig konzentrierter Form Gesichtspunkte zur Diskussion, die für eine materialistische Theorie der Künste grundlegenden Charakters sind. Sie zielen auf permanente Strukturen des Kunstprozesses, betrachten diesen also 'unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form' (Marx) - vom Standpunkt freilich seiner historisch entwickeltsten Gestalt. In diesem Sinn kann hier von einer 'Ontologie der Künste' gesprochen werden; einer Ontologie freilich, die sich nicht als Gegensatz zu einer geschichtlichen Theorie versteht, sondern als ihre fundierende Ergänzung.


Axiomatische Grund-Sätze

1. Erstes Axiom der materialistischen Kunstauffassung ist die Existenz einer sinnlich-gegenständlichen, durch menschliches Handeln hergestellten Wirklichkeit - des Ensembles einer gesellschaftlichen Welt -, auf die sich die Künste in unterschiedlicher Weise beziehen, in der sie 'verortet' sind und historisch wechselnde Funktionen ausüben. Wie jede andere geistige Äußerung des Menschen ist Kunst organischer Teil von Gesellschaft. Sie ist, in Produktion und Rezeption, in menschliche Welt eingebunden und kann vollständig nur aus welthaften Zusammenhängen erfasst werden.

2. Die materialistische Kunsttheorie tut ein Doppeltes. Sie stellt den künstlerischen Prozess (die Produktion, Distribution und Konsumtion von Kunstwerken) in den strukturierten Zusammenhang einer ganzen Gesellschaft. Sie betont zugleich die relative Eigenständigkeit der Künste. Leitfaden für diese Auffassung ist die Einsicht, dass in allen entwickelten Gesellschaftsformen die Künste einen Bereich hochgradiger struktureller Selbstständigkeit (= Autochthonie) bilden. Zu sprechen. ist von der Besonderheit und internen Pluralität der ästhetischen Sphäre innerhalb des strukturierten Ganzen einer Gesellschaft. In der ästhetischen Sphäre sind, als konstituierende Momente, bestimmte Prinzipien, Regularitäten oder 'Gesetze' am Werk, die die ästhetische Theorie als Wissenschaft zu erforschen hat. Nur so ist erklärbar, dass die Künste quasi-autonome Weltbilder bilden, die auf kein vorgängiges Anderes (weder gesellschaftliche Tatsachen noch Ideen, Ideologien oder psychische Dispositionen) reduzierbar sind.

3. Der Zusammenhang des Kunstbereichs mit dem Ganzen einer gegebenen Gesellschaft ist ein vermittelter Zusammenhang, der zugleich die Differenz zwischen den gesellschaftlichen Sphären, ihren autochthonen Charakter festhält. Analog ist kunsttheoretisch von einem Begriff künstlerischer Tätigkeit auszugehen - als Gestalt sinnlich-gegenständlicher Praxis -, der den gesamten Prozess der Produktion und Rezeption von Kunstwerken umgreift. Das Herauslösen eines Moments aus diesem Prozess - unter dem Titel der Produktions-, Werk- oder Rezeptionsästhetik - zerstört einen ganzheitlichen Vorgang, der Trennungen nur in einem methodologischen Sinn zulässt. Gegenstand materialistischer Kunsttheorie (wie auch der einzelnen Kunstwissenschaften) ist deshalb der künstlerische Prozess in der Einheit seiner verschiedenen Momente - oder sollte es zumindest sein.

4. Marx begriff Kunst als 'gesellschaftliche Bewusstseinsform': eine der 'ideologischen Formen', in denen sich die Menschen der gesellschaftlichen Konflikte ihrer Zeit 'bewusst werden' und sie 'ausfechten'.(2) Er verstand zugleich Kunst als Gestalt sinnlicher Bildung: Modus der kulturellen Selbstkonstitution des Menschen. Kunst für Marx ist, mit Siegbert S. Prawer, "a means of expression" und "a means of self-constitution". "(...) man not only labours to satisfy his physical needs and urges, but also forms according to the laws of beauty. Literature, therefore, answers a human need and like the other arts creates and shapes the senses by which it is enjoyed."(3)


Kunst als Gestalt der Kultur

1. Dieses Moment sinnlicher Bildung ist gemeint, wenn hier das Ästhetische als Modus des Kulturellen, Kunst als Gestalt der Kultur aufgefasst wird. Denn der materialistische Kulturbegriff hat den Aspekt sinnlich-gegenständlicher Bildung in der Bedeutung menschlicher Selbstproduktion zu seinem Kern.(4) Kultur ist das Gesamt selbstproduktiver Akte wie der Vergegenständlichungsformen solcher Akte. Die ontologisch-anthropologische Fundierung dieser Auffassung ist in dem empirischen Vorgang der Selbstkonstitution menschlichen Daseins durch lebenspraktische ('sinnlich-gegenständliche') Tätigkeiten zu finden. Leitender Grundbegriff dafür ist bewusste Lebenstätigkeit (ein Begriff, der den Anteil des Unbewussten an der Konstitution menschlicher Subjektivität nicht ausgrenzt, sondern eingrenzt). Seinen Einsatz nimmt dieses Denken in elementaren Reproduktionsakten menschlicher Gesellschaft: Zeugen, Gebären, Erziehen und Arbeiten. Produktion und Reproduktion menschlichen Lebens ist auf dieser elementaren Ebene ontologisch gleichursprünglich. Menschliches Sein ist nur als bewusstes.

2. Auf allen Stufen menschlicher Entwicklung - phylogenetisch und ontogenetisch - bringen Menschen im Vollzug sinnlich-gegenständlicher Handlungen latent vorhandene Anlagen (produktive Potenzen menschlicher Subjektfähigkeit: ich spreche von einem energetischen Potential) hervor und entwickeln diese. Im gleichen Maß bildet sich menschliche Subjektivität erst im Vollzug lebenspraktischer Tätigkeiten aus, in einer solchen Weise, dass vom Prozesscharakter menschlicher Subjektivität geredet werden kann. Selbstkonstitution des Subjekts und kulturelle Selbstproduktion umfassen Subjekt und Objekt als dialektischen Lebenszusammenhang. Sie sind stets bezogen auf eine gegenständliche Welt und vollziehen sich in der Weise von Vergegenständlichungen. Jeder kulturelle Akt ist sinnlich-gegenständlicher Natur, jede kulturelle Selbstproduktion umfasst Subjekt und Objekt im Sinne eines aufeinander bezogenen, ko-referentiellen Verhältnisses. Dies gilt auch für das Ästhetische.

3. Kunst ist eine Form gegenständlicher Tätigkeit ("sinnlich menschlicher Tätigkeit, Praxis") im Sinn der Feuerbach-Thesen.(5) Sie ist als solche Teil des Prozesses der Kultur, ursprünglich eingebunden in die welthafte Ganzheit menschlichen Seins. Im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung und auf der Basis sich herausbildender Arbeitsteilung konstituiert sie sich als distinkter gesellschaftlicher Raum - als Form autochthoner menschlicher Praxis -, bis hin zum Extrem einer (freilich scheinhaften) Ablösung von jeder Lebenspraxis überhaupt in bestimmten historischen Kulturformen. Auch in der entwickelten Gestalt des sozial institutionalisierten, quasiautonomen Raums bleibt der künstlerische Prozess der Sache nach, was er in seinen lebenspraktisch eingebundenen früheren Formen auch ostentativ war: funktional wirkender Bestandteil einer gegebenen gesellschaftlichen Formation und Element der sinnlich-gegenständlichen Selbstkonstitution von Menschen.


Begriff des Ästhetischen

1. Solcher Kunstauffassung liegt ein bestimmter Begriff des Ästhetischen zugrunde. Mit diesem ist dreierlei gemeint: erstens ein Vermögen des Subjekts, zweitens eine ästhetische Gegenständlichkeit, drittens ästhetische Praxis: gegenständliches Handeln und kommunikativer Prozess. Spreche ich von Ästhetik (im Sinne des Ästhetischen als eines ubiquitären, omnipräsenten Phänomens), Ästhetizität (im Sinne des strukturellen Spezifikums von Ästhetik), ästhetischer Praxis (im Sinne menschlicher Betätigungsformen, bei denen Ästhetisches im Spiel ist), so mache ich eine grundlegende Voraussetzung: dass es so etwas wie ein ästhetisches Vermögen des Menschen gibt. Dieses ist zu denken als phylogenetisch entstanden, genetisch vermittelt und ontogenetisch anzueignen und zu entwickeln. Es ist Teil des Ensembles der menschlichen kulturellen Produktivkräfte, nicht als apriorisches Gattungsvermögen, sondern als der historisch-genetischen Rekonstruktion zugängliches Ergebnis phylogenetischer Entwicklungsprozesse. Es ist damit also auch in einem strukturell bestimmenden Sinn geschichtlich: Teil der Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen.

2. Die Geschichte des Ästhetischen insgesamt - in allen seinen Manifestationen - ist das aufgeschlagene Buch der gegenständlichen Bildung menschlicher Sinnlichkeit. In der Arbeit an der Bildung menschlicher Sinnlichkeit lässt sich die elementarste Funktion des Ästhetischen erblicken. In dieser Bedeutung sind gerade die Künste Vergegenständlichungen (und damit Entwicklung und Bildung) menschlichen Subjektvermögens. So arbeitet Literatur an der Bildung menschlicher Sprachfähigkeit, Musik an der Bildung des Ohrs, die bildhaft gestaltenden Künste an der Entwicklung des Sehens. Diese elementare Funktion der Künste ist auch ihre permanente Funktion.


Kunst als gegenständliche Tätigkeit

1. Kunst als Form gegenständlicher Tätigkeit bewegt sich zwischen den Polen von Arbeit und Spiel. Kunst als Arbeit bezieht sich auf den Sachverhalt, dass alle Kunst Produktion ist und als solche den Strukturbestimmungen der allgemeinen Arbeit unterliegt.(6) Kunst als Spiel bezieht sich auf den besonderen Modus ästhetischer Gebrauchswertproduktion, ihren kulturell-selbstzweckhaften - selbstreflexiven (subjektbezogenen) - Charakter. Alle Kunst, dies sei hier hypothetisch formuliert, hat, wie rudimentär auch immer, an beiden Polen teil - die Gewichtung beider Seiten freilich variiert im höchsten Maße.

2. Kunst als Tätigkeitsform heißt: sie ist Prozess der Produktion und Konsumtion von Kunstwerken. Im Kernbereich dieser Tätigkeitsform steht der Akt einer Gestaltung: Gestaltung (im Sinn von Formung, Form-Gebung) im Medium gegenständlicher Materialien. Ästhetische Form fungiert hier als Grundbegriff. Ästhetische Form meint: kompositorische Gestaltung (= Poiesis) innerhalb eines spezifischen Materials und auf der Grundlage eines besonderen Stands der Entwicklung der ästhetischen Produktivkräfte. Form bezieht sich also auf das Werkhafte von Kunst. Werk heißt: materielle Vergegenständlichung künstlerischer Arbeit. Ich spreche vom Formapriori ästhetischer Produktionen, in dem Sinn, dass Form Bedingung von Kunst überhaupt ist. So gibt es keine Kunst ohne das tragende Moment kompositorischer Gestaltung - wogegen es durchaus 'weltlose' (nicht-mimetische) Kunst gibt: Kunstformen, die intentional rein formale Konstruktionen sind, was immer ihre theoretische Begründung. Die "gegenstandslose" Kunst der Moderne ist das jüngste Beispiel für solche formal-konstruktivistische Kunst.

3. Kunst als Produktion bedeutet: sie ist Formung (kompositorische Gestaltung) im Medium gegenständlicher Materialien (naturhaft vorgefundener oder kulturell geformter), die so unterschiedlicher Art sein können wie Töne, Sprache, Farbe, Erde, Stein, Holz, Eisen, Papier. Auch der menschliche Körper, auch die Stimme kann als Mittel künstlerischer Formung innerhalb eines Materialganzen fungieren (z. B. in den theatralen Künsten). Die Unterschiede in der stofflichen Beschaffenheit der Materialien fundieren die Unterschiede der Kunstarten (Musik, Dichtung, Bildende Künste usw.) in einem elementaren Sinn. Sie geben formal wie inhaltlich Möglichkeiten und Grenzen der Werkgestaltung, Bedeutungskonstitution und Funktion der einzelnen Künste vor. Der Materialcharakter begrenzt also technisch wie semantisch die Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Künste. Die stofflichen Materialien der Künste bilden darüber hinaus die Grundlage für die Entwicklung künstlerischer Produktivkräfte. Mit der Entfaltung der ökonomisch-technologischen wie auch der kulturellen Produktivkräfte werden auch die ästhetischen Produktivkräfte entwickelt, ja es entstehen neue, an die allgemeine gesellschaftliche Produktivkraftentwicklung gebundene Künste wie Möglichkeiten der künstlerischen Artikulation. Der Begriff der ästhetischen Form bezeichnet in diesem Zusammenhang die kompositorische Ausgestaltung innerhalb des gewählten Materials auf der Grundlage des Standes künstlerischer Produktivkraftentwicklung.

4. Erste Produktivkraft in allen Künsten ist die subjektive Fähigkeit zur gegenständlichen Gestaltung: das produktive ästhetische Vermögen. Diesem gehören Einbildungskraft und Vernunft, Phantasie und Verstand, intuitive und rationale Momente gleichgewichtig zu. In ihm gehen Opus-Phantasie und Opus-Rationalität eine Verbindung ein: Opus-Phantasie als Vermögen der imaginativen Antizipation von Möglichkeiten des Materialgebrauches, der Formentfaltung und inhaltlich-semantischen Ausgestaltung, Opus-Rationalität als Vermögen konzeptiver Gestaltung.

5. Form ist Inbegriff des gestalteten Werks: Resultat des Prozesses künstlerischer Produktion als eines Modus individuell-gesellschaftlicher Arbeit. Motor dieser Arbeit ist die künstlerische Phantasie im Bund mit der ordnungsstiftenden Kraft des Intellekts. Das kompositorische Werk ist der Ort ihrer Synthesis.

6. Opus-Rationalität und Opus-Phantasie stehen in einem Verhältnis von bewusst und unbewusst. Kunst ist die Synthesis beider. In ihrem bestimmenden Kern freilich ist sie eine teleologische Setzung. Phantasie und Intuition sind ihre notwendigen Bedingungen - im wesentlichen Sinn ist sie Werk der freien bewussten Tätigkeit des Menschen.


Die Bedeutung der ästhetischen Form und der Begriff des kompositorischen Werks

1. Die Besonderheit der Künste hat also in keinem anderen Moment ihren Grund als in der Formbestimmheit des ästhetischen Produkts. Der Begriff eines kompositorischen Machens ('Poiesis' als 'Herstellen' und 'Erfinden') ist erstes Prinzip des Kunstästhetischen. Die "geschichtliche und natürliche Wirklichkeit in ihrem Bezug auf den Menschen", die als allgemeiner Gegenstand künstlerischer Produktion vorgeschlagen wurde (Naumann 1973, 49 f.), kann, für sich genommen, nicht das erste Distinktionskriterium von Kunst sein. Sie ist auch Gegenstand von Wissenschaft. 'Ästhetische Form' dagegen bezeichnet - das Spezifikum der Künste.

2. In den Künsten ist, nicht anders auch als in der Natur- und Alltagsästhetik, der Formbegriff an den Gesichtspunkt interner Zweckmäßigkeit, Kohärenz und Gestalt gebunden. Form in den Künsten meint das Kompositorische im weitesten Sinn - ich spreche von der kompositorischen Gestalt. Form bezieht sich damit auf den Gesamtkomplex historisch entstandener und sich historisch verändernder ästhetischer Produktivkräfte, über die ein Künstler verfügt, mit deren Hilfe er die kompositorische Gestalt des Kunstwerks herstellt. Mit der Kategorie ästhetischer Produktivkräfte ist der Komplex wechselseitig wirkender sachlich-gegenständlicher und menschlich-subjektiver Elemente in der Kunstproduktion gemeint: das System der in der Geschichte der Künste überlieferten Techniken oder Produktionsmittel, die einem Künstler zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt zu Gebote stehen, wie auch seine Fähigkeit zum schöpferischen Gebrauch dieser Mittel, zu ihrer Anwendung und Weiterentwicklung.

3. Die ästhetische Form konkretisiert sich im kompositorischen Werk. Dieses ist der Begriff des ästhetischen Gegenstands: die Einheit von Mimesis und Poiesis, Inhalt und Form, Reflexivität und Praxis. Das kompositorische Werk ist der Ort gegenständlicher kategorialer Synthesis, damit auch der Ort der Synthesis aller in der künstlerischen Tätigkeit - in Produktion wie Konsumtion - betätigten Potentiale. Es ist der übergreifende Aspekt zwischen den Gliedern des künstlerischen Prozesses, in der Relation also eines Objekts zu Subjekten; der Ort, an dem innerhalb des Prozesses künstlerischer Kommunikation die Synthesis divergierender Momente stattfindet. In ihm - und nur in ihm unter allem Geistigen - koexistieren Unbewusstes und Bewusstes, Gefühl und Begriff, Affekt und Erkenntnis, Phantasie und Verstand. Es vereint Opusphantasie mit Opusrationalität. Die unterschiedlichen menschlichen Vermögen treten hier in der Weise ihrer Vergegenständlichung zusammen. Auch kunstästhetische Modi zweiten und dritten Grades - so rein konstruktive, dekorative und operative Formen - partizipieren, sofern sie gelungene Kunstwerke sind, an seiner Struktur. Denn der Kern des Werkbegriffs ist die Form. Werk heißt Vergegenständlichung künstlerischer Tätigkeit im Modus ästhetischer Form.

4. Mit dem Begriff des kompositorischen Werks ist keine bestimmte Werkform gemeint, und auf keinen Fall die Form des autonomen bürgerlichen Kunstwerks. Diese ist Ergebnis der "heroischen" Phase der bürgerlichen Gesellschaft und verkam in deren Abstiegsphase zur Kunstreligion. "Kompositorisches Werk" ist Begriff des ästhetischen Gegenstands, wie er sich aus der Betrachtung der Weltkünste - der Künste aller Kulturen - von ihren frühesten Erscheinungen an erschließt. Der Begriff umgreift alle historisch auftretenden Formen zwischen Altamira und heute. Kunst ist seit ihren archaischen Anfängen die Formung gegenständlicher Materialien (ganz gleich, wie solche Tätigkeit verstanden und bezeichnet wurde). Sie war und ist ästhetische Gestaltung, ihre Grundkategorie ist die ästhetische Form. Ästhetische Gestaltung hat einen funktionalen Sinn. Sie verkörpert und kommuniziert eine Bedeutung, die ihrerseits aus der Dialektik von Inhalt und Form resultiert. So ist Kunst, wie wir sie aus ihrer gesamten Geschichte her kennen, sinnhaft gestaltete Form - im Begriff des kompositorischen Werks ist diese Bestimmung aufgehoben. Sie ist uns in einer quasi "unendlichen" (nämlich historisch bedingten und historisch variablen) Vielfalt von Werkformen und Formtypen überliefert, in einer Vielzahl zugleich von in diesen Formen artikulierten "Weltansichten" - Weltbildern, ästhetischen Weltanschauungen. Ist "Poiesis", das kompositorische "Machen", das erste Prinzip des Kunstästhetischen, so tritt "Mimesis", das Darstellen und Deuten von Welt, als zweites Prinzip hinzu. Alle Kunst nun, alle Kunst jedenfalls, die über das Niveau von "Strichmännchen" hinausgeht, ist durch eine Bedeutungskomplexität ausgezeichnet, die ihrerseits einen Spielraum von Rezeptionen möglich macht - wobei die Komplexitätsgrade von Kunst gleichfalls im höchsten Maße variieren. Es gibt einfache Bedeutungen wie es einfache Formen gibt (die in dieser Einfachheit im höchsten Maß welthaltig sein können), und es gibt hochkomplexe Bedeutungen wie es hochkomplexe Formen gibt - bis hin zu Mehrdeutigkeit und Widerspruch.

5. Die ästhetische Form ist Resultat eines Ensembles unterschiedlicher Momente, die als Faktoren der Gestaltkomposition und Bildung einer ästhetischen Welt wirksam sind. So ist in der Literatur Sprache erste Produktivkraft des Schriftstellers. Sie ist es in einem subjektiven wie objektiven Sinn: als sprachlich-kreatives Vermögen und als überlieferter, mit ästhetisch-semantischen Qualitäten ausgestatteter Sprachkörper, in dessen Medium sich literarische Produktion vollzieht. Alle Künste besitzen solche spezifischen Medien der Gestaltkomposition, ja die verschiedenen Kunstarten sind von einem jeweils dominierenden materialen Medium der Gestaltung her konstituiert. Auch in ihren stofflichen Formen (als Ton, Farbe, Stein, Holz usw.) legen diese den Charakter bloß physischer Materie ab und fungieren im Sinne ästhetischen Materials, sind damit Teil der ästhetischen Produktivkräfte. Zu diesen gehören auch spezifische, geschichtlich sich verändernde Techniken der Gestaltkomposition. Sie sind freilich an die elementaren ästhetischen Materialien gebunden.


Die Welthaftigkeit von Kunst

1. Jede Kunst ist formale Konstruktion. Von formal-konstruktivistischer Kunst im expliziten Sinn freilich (d. h. einer solchen, in der das formal-konstruktive Moment Dominanz hat) ist mimetische Kunst zu unterscheiden - in der Trinität von Darstellung, Ausdruck und Nachahmung. Mimesis ist, neben Poiesis, das zweite ästhetische Prinzip. Mimesis ist das Prinzip welthafter Kunst. Welthafte Kunst meint zweierlei: Sie bezieht sich, in der Modalität von Darstellung, Ausdruck und Nachahmung, auf eine vorgegebene gegenständliche Welt - ist in diesem Sinn gegenständlich-welthaft. Zugleich ist sie, als mimetische Form, die Konstitution einer ästhetischen Welt im Medium des kompositorischen Werks. Das meint: die ästhetische Form ist Trägerin von Weltbildern. Sie ist als konkrete Werkwelt inhaltlich geprägt. Form ist sedimentierter Inhalt, derart, dass Form/Inhalt als dialektisch und im dialektischen Sinn als identisch zu denken ist. Ja, die Dialektik von Inhalt und Form ist die Bedingung dafür, dass Kunstwerke die Form von Weltbildern und Weltanschauungen besitzen und damit auch als Ideologie - ideologische Formen - fungieren können. Authentische Kunstwerke freilich sind nie auf Ideologien oder überhaupt außer-ästhetische Weltanschauungen reduzierbar. Das ästhetische Weltbild ist ein Weltanschauungsmodus sui generis - Kunst eine eigenständige Form menschlichen Bewusstseins. Erst als besondere Bewusstseinsform vermag Kunst auch als ideologische Macht zu wirken und besondere ideologische Funktionen zu erfüllen. Im Gegenzug zu diesen enthält große Kunst das Potenzial emanzipatorischer, die Ideologien sprengender Bedeutung.

2. Als Werkwelt, Weltbild und Weltanschauungsform ist Kunst epistemisch verfasst. Kunst ist Weise des Erkennens und Wissens, sie ist eine epistemische Form. Erst als eine solche ist Kunst wahrheitsfähig. Der Begriff ästhetischer Wahrheit hat hier seinen systematischen Ort.

3. Kunst besitzt, in vergegenständlichter, d. h. werkhaft gestalteter Form, den Charakter von Reflexivität. Sie ist Widerspiegelungsform, und zwar im erkenntnistheoretischen wie ontologischen Sinn. Der Widerspiegelungscharakter von Kunst hat die Struktur des Selbstbezugs eines Subjekts zu einem Objekt als seinem Gegenstand: Er ist selbstreflexiv, und zwar in einem expliziten Sinn. In der Kunst ist die Selbstreflexivität des Ästhetischen den in ästhetischen Handlungen Befassten bewusst, wie undeutlich auch immer dieses Bewusstsein beschaffen sein mag. Die Struktur von Selbstreflexivität entwickelt und steigert sich im Zuge der Verweltlichung der Künste - ihrer Emanzipation vom Ritual -, wie sie für die neuzeitliche Kunstgeschichte (aber auch schon für die klassische griechische und römische Antike) charakteristisch wurde.


Die Geschichtlichkeit der Künste

1. Wie der künstlerische Prozess insgesamt sind alle seine zentralen Kategorien in ihrer Grundverfassung geschichtlich. Dies gilt im ausgezeichneten Sinn für das kompositorische Werk. Dieses ist geschichtlich nicht nur in "extrinsischer" Bedeutung - der unausweichlichen Tatsache, dass Kunst in historischen Kontexten produziert und rezipiert wird -, sondern in dem "intrinsischen", nämlich ontologisch-strukturellen Sinn einer Geschichtlichkeit, die alle seine Glieder wie den Prozess seiner Produktion und Vermittlung durchdringt - das kompositorische Werk in seiner ästhetischen Verfasstheit ist ein geschichtlich Besonderes. Seine ästhetische Individualität (= Singularität) ist durchgängig geschichtlich geprägt.

2. Geschichtlichkeit ist ein Begriff der Form-Inhalt-Dialektik. Das bedeutet aber auch, dass die universale Bedeutung eines Kunstwerks nur über den Weg seiner geschichtlichen Bedeutung voll zu erschließen ist. Hier gilt das ästhetische Gesetz der Identität in der Differenz, das den Zugang der simplen Aktualisierung verwehrt.

3. Geschichtlichkeit hat den Charakter einer Werksignatur. Ein Kunstwerk ist geschichtlich im Sinne einer doppelten Prägung und im Zusammenspiel beider: von der Seite der ästhetischen Form und von der Seite des mimetischen Gehalts. Beide bilden eine untrennbare Einheit, die in der Dialektik von Inhalt und Form ihren Ausdruck findet. Geschichtlichkeit ist so allen seinen Teilen eingeschrieben. Sie konstituiert seine ästhetische Singularität als kompositorisches Gebilde, erwächst aus dem Vorgang seiner Produktion. Auf diese Weise schlägt sie sich als Werksignatur nieder.

4. Im Kunstwerk wird das Besondere eines historischen Moments festgehalten, zugleich jedoch wächst diesem, wenn es sich denn um ein Werk von Rang handelt, eine Bedeutung (oder Bedeutungen) zu, die über diesen historischen Moment hinausgeht, die im idealen Fall den Charakter einer "universalen" Bedeutung besitzt, d. h. einer solchen, die seine gültige Rezeption in wechselnden historischen Zeiten gestattet. Ein Kunstwerk ist nie "zeitlos", aber es kann zu verschiedenen Zeiten seine Wirklichkeit neu entfalten: die Menschen ergreifen und bewegen, ihnen Einsicht und Erkenntnis vermitteln.

5. So wächst der universale Charakter eines Kunstwerks aus seiner historischen Singularität heraus - ohne freilich seinen geschichtlichen Charakter zu verlieren. Denn jede seiner Wirkungen, auch in geschichtlich grundverschiedenen Zeiten, ist ein historisch-kontextueller Akt; derart, dass eine Zeit sich in einer anderen wiedererkennt. Vielleicht lässt sich hier von Schichten geschichtlicher Bedeutung sprechen. Auf der ersten Ebene artikuliert ein Werk einen Bedeutungsraum, der im Besonderen einer Zeit wurzelt und mit dieser vergeht. Auf einer zweiten Ebene artikuliert es einen Spielraum von Bedeutungen, die über diese erste Zeit - die Zeit also seiner Entstehung - hinausreichen und auch in anderen, späteren Zeiten Gültigkeit und Geltung besitzen. Einem Werk, das solche Qualität im ausgezeichneten Sinn besitzt, kommt das Attribut des Klassischen zu.

6. Diese Einsicht hat Folgen für die Rezeption. Eine aktuelle Geltung ist, wenn sie dem Charakter authentischer Kunst Genüge tun soll, nur aus der historischen Differenz, nicht im Sinn einer unmittelbaren Aktualisierung zu gewinnen. Die Aktualität einer Bedeutung kann allein eine Schicht der gegebenen Werkbedeutung sein, die Fremdes und Vertrautes zu gleichen Stücken enthält. Aktualität ist also aus der historischen Distanz zu erschließen. Zu ihr gehört das Bewusstsein eines Anderen und Differenten, aus dem allein die Gegenwärtigkeit des überlieferten Werks als geschichtliche Erfahrung in ihrem ganzen Reichtum entspringt.


Kunst als gesellschaftliches Bewusstsein und ideologische Form

1. Im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie trifft Marx eine Reihe grundlegender kategorialer Unterscheidungen, die es gestatten, den Ideologiecharakter von Kunst des Näheren zu bestimmen. Er unterscheidet zwischen "ökonomischer Struktur" und "Überbau" sowie "bestimmten gesellschaftlichen Bewusstseinsformen", welche der ökonomischen Struktur "entsprechen", spricht weiter vom "sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess" wie den "juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen", in denen sich die Menschen des der ökonomischen Struktur entspringenden "Konflikts" "bewusst werden und ihn ausfechten".(7) Zu bemerken ist, dass die Begriffe der gesellschaftlichen Bewusstseinsform und der ideologischen Form hier synonym verwendet werden. "Ideologische Form" und "gesellschaftliche Bewusstseinsform" sind dem Komplex des "sozialen, politischen und geistigen Lebensprozesses" zugeordnet, und zwar als Formen, die eine doppelte Funktion erfüllen: eine epistemische und eine praktisch-funktionale. In ihnen werden sich Menschen gesellschaftlicher Konflikte bewusst, und in ihnen kämpfen sie diese Konflikte aus. Beide Aspekte des Ideologiebegriffs sind in den Begriff von Kunst als ideologischer Form zu übernehmen. Kunst also ist Bewusstseinsform ('epistemische Form'), und sie ist Funktion im Kontext ideologischer Verhältnisse. Die Schwierigkeit, diese doppelte Bedeutung des Begriffs ideologischer Form ästhetiktheoretisch zu fassen, besteht exakt darin, dass die Aspekte Bewusstseinsform und Funktion nicht als Seperata, sondern als Einheit zu denken sind: Kunst übt als Bewusstseinsform eine bestimmte Funktion (oder Funktionen) aus. Mit anderen Worten: die Bewusstseinsform ist funktional und die Funktion epistemisch zu fassen. Eine Trennung beider verfehlt die Komplexität des ideologischen Gegenstands. Gerechtfertigt ist sie allein in einem methodologischen Sinn.

2. Im funktionalen Sinn akzentuiert der Begriff von Kunst als ideologischer Form den Ort und die Wirkungsweise von Kunst innerhalb der Produktions- und Herrschaftsverhältnisse einer historischen Zeit. So ist Kunst in das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie steht und deren Teil sie ist, funktional eingebunden. In ihm erfüllt sie Funktionen im Spielraum zwischen Integration und Widerstand. Kunst hat so einen konkreten geschichtlichen Ort, von dem sie formal wie inhaltlich geprägt, oft deformiert ist. Und doch ist Kunst mehr als Reflex und Funktion, sie ist auch Agens im Zusammenhang gesellschaftlicher Konflikte, und zwar im doppelten Sinn eines Bewusstwerdens dieser Konflikte wie eines Handelns, das diese Konflikte zum Austrag bringt. Der Gesichtspunkt ist also durchaus in den Begriff der ideologischen Form aufgenommen.

3. Die Bestimmung einer ästhetischen Form als einer ideologischen besagt also, dass Kunst im Zusammenhang ihrer institutionellen Vermittlung wie ihrer Funktion und Wirkung als ideologische Praxis zu betrachten ist, dass sie als Werkform an der Dialektik von Wahrheit und Falschheit teilhat, die alles gesellschaftliche Bewusstseins auszeichnet. In diesem zweifachen Sinn steht Kunst in der Doppelfunktion ihres herrschaftsstabilisierenden, apologetischen Gebrauchs und der Möglichkeit ihrer kritisch-emanzipativen Verwendung.


Die Institution Kunst als ideologische Macht

1. Die Institution Kunst in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft bezeichnet die Instanz - genauer gesprochen: das Gesamt der sozialen Instanzen -, die die Distribution, Konsumtion und Deutung, weitgehend auch die Produktion von Kunst ökonomisch und ideologisch besorgt, regelt und kontrolliert.(8) In einem kunstsoziologischen Sinn ist die Institution Kunst die Vermittlungsstelle von Kunst und Gesellschaft. Zu ihr gehören Kunstmarkt, Presse (Feuilleton), Fernsehen, Funk, Internet, Schule, Universität, Akademien, Theater und Kino, Museen, Verlage, Agenturen, Messen, Ausstellungen, Galerien und vieles mehr. Teil der Institution Kunst bilden von ihr ausgearbeitete und verbreitete normative Orientierungen über Charakter, Bedeutung und Wert von Kunstwerken. Diese sind in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft mit Tauschwert und Marktkonformität so eng verbunden, dass beide Seiten in vielen Fällen zusammenfallen. Als "bestes" Kunstwerk gilt in der Regel das, welches den höchsten Preis erzielt. Gleiches gilt auch umgekehrt: das teuerste Werk, der höchstbezahlte Dirigent, die teuersten Festspiele, sie müssen auch die besten sein. Das Preiswerte ist auch ästhetisch schlecht. Kunst, die nichts kostet, muss Un-Kunst, Nichtkunst sein. Dies folgt der Logik einer Rationalität, in der Tauschwert und ästhetischer Wert zusammenfallen.

2. Der soziale Ort - im idealen Sinn - der Institution Kunst ist der zivilgesellschaftliche Bereich. Dies ist der Ort, an dem der Theorie nach diskursiv, im Idealfall "herrschaftsfrei", über Wert und Bedeutung von Kunst gerungen wird. In der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft jedoch ist dieser Bereich in einer solch starken Form von der Welt des Markts dominiert, dass im Falle der Künste die Eigenständigkeit der Zivilgesellschaft tendenziell auf Null geht. Wie ein Krebsgeschwür hat sich der Markt heute in den Kunstbereich eingefressen.

3. Der Unterwerfung der Institution Kunst unter den Markt steht in nur scheinbarem Widerspruch zu ihrer Transformation in einen gewaltigen Apparat ideologischer Meinungsbildung (angeführt von Presse, Fernsehen und Funk und den in ihnen verorteten Instanzen der Kunstkritik): zu ihrem Aufbau als ideologische Macht, die die Prozesse der Produktion, Distribution, Konsumtion und Deutung von Kunst prägt und kontrolliert. In Wahrheit werden Institution Kunst und Markt zunehmend miteinander verschmolzen. Hinter der Transformation der Institution Kunst zu einer ideologischen Macht verbirgt sich die Konformität mit dem Markt. Die so transformierte Institution Kunst legt fest, was gut und schlecht ist, was Kunst ist und was nicht. Dies geschieht weitgehend in einem kapitalkonformen Sinn: also affirmativ gegenüber den herrschenden Verhältnissen.


Dialektik des Schönen

1. In Differenz zu gängigen Auffassungen, die sich nicht zuletzt auch in sich marxistisch verstehenden Diskursen eingenistet haben, wird hier an dem ästhetischen Begriff des Schönen und dem Gegensatzpaar schön/hässlich als einem Kernkonzept materialistischer Ästhetik festgehalten. Der Begriff der Schönheit hat Geltung für alle Bereiche der Ästhetik (nicht zuletzt auch für die Ästhetik der Kultur). Er ist im Sinne von interner Selbstzweckhaftigkeit, sinnlicher Form und Gestalthaftigkeit zu erläutern. Er geht, so sehr er sich historisch different artikuliert, auf das ästhetische Vermögen des Menschen zurück, hat also den Charakter einer kulturellen Produktivkraft. Er ist in diesem Sinn anthropologisch verankert. Angesprochen ist mit ihm zugleich ein Form-Inhalt-Verhältnis. Schönheit akzentuiert das Moment der Harmonie: des Zusammenstimmens von Inhalt und Form. Im Harmoniebegriff tritt zum Gedanken formaler Kohärenz und intern-funktionaler Ganzheit der Begriff einer Synthesis divergierender Subjektkräfte. Schönheit ist: selbstzweckhaftes Spiel produktiver menschlicher Potenzen. Ihre Bestimmungen gelten in einem formalen Sinn auch für das Hässliche, freilich in der Weise der Negation. Hässlich ist die gestörte oder deformierte Form, das Zerbrechen der Kohärenz, sind Störung und Zerstörung des Spiels der Subjektkräfte - die Zerstörung menschlicher Potenz. Die Charakteristika des Hässlichen lauten: Disfunktionalität, Dissonanz, Deformation, Disharmonie. Kraft der dem ästhetischen Verhältnis zugrunde liegenden Dialektik von Inhalt und Form vermag eine materialistische Ästhetik, das Hässliche als geschichtlich vermittelt zu erklären: Ausdruck und Modus der gesellschaftlich verursachten Deformation von Menschen. In diesem Punkt übertritt die ästhetische Theorie die Grenzen zur Theorie der Kultur und des Kulturellen. Ist Schönheit Gestalt menschlicher Bildung, so ist deren Negation eine solche menschlicher Selbstentfremdung.

2. In der Fähigkeit des Schönen zur Synthesis der Subjektkräfte ist dessen produktiver Gehalt bestimmt. Nur kraft solcher Synthesis ist das Schöne Modus menschlicher Selbstverwirklichung, Akt gesellschaftlich-individueller Sinngebung, ja vermag es in seinen komplexesten künstlerischen Formen als eudaimonisches Kulturideal zu fungieren: antizipatives Symbol irdischer Glückseligkeit - Gedanke einer Welt, in der die harmonische Ausbildung seiner Kräfte jedem Menschen möglich sei.

3. Schönheit fungiert auch außerhalb der Kunst als Weltanschauungsform, Bewusstseinsform und Ideologie: positiv im Sinne einer Verkörperung schöpferischer Daseinserfüllung, negativ im Sinne integrativer Herrschaftspraxen und der Repräsentation sozialer Macht.

4. Wird Schönheit als symbolische Verkörperung von Möglichkeiten schöpferischer Daseinserfüllung verstanden, so hat eine solche Bestimmung ihren Ort im konzeptionellen Kontext kultureller Selbstproduktion, individuell-gesellschaftlicher Selbstverwirklichung und sinnlich-gegenständlicher Sinngebung. Zugleich legt sie den Weg frei, Schönheit als regulative Idee, antizipatives Symbol, kulturelles Ideal und Utopie zu denken - wie sie es auch möglich macht, Schönheit in den Zusammenhang ideologischer Verhältnisse zu stellen: in den Kontext sozialer Kämpfe, von Macht und Widerstand, schließlich auch als Teil einer Ästhetik der Befreiung zu begreifen.(9) Schönheit und Idealität sind verschwistert, und so falsch es wäre, das Schöne auf den Gesichtspunkt des Ideals festzulegen - die Affinität beider liegt auf der Hand.

5. Seit eh und je wird das Schöne als Ornament der Macht gebraucht, dient es als Mittel zur Integration der Beherrschten. Schönheit fungiert in diesem Gebrauch im Sinn von Herrschaftsästhetik: Sie ist Instrument der Integration von Menschen in existierende Verhältnisse der Unterdrückung und Herrschaft. Sie besitzt die Funktion eines Sinn-Surrogats, mit dessen Hilfe die Integration sich vollzieht. Schönheit wirkt so im Sinn einer De-Subjektivierung der Subjekte, einer Deformation ihres ästhetischen Vermögens. Sie wird Form einer gewaltlosen Gewalt.

6. Zur Dialektik des Schönen gehört also, dass dieses als Teil des ästhetischen Vermögens ein Moment kultureller Konstitution und gesellschaftlich-individueller Bildung, zum Vehikel der Unterwerfung, Entmündigung und Deformation der Menschen werden kann.


Thomas Metscher, Prof. Dr., Grafenau, Literaturwissenschaftler


Anmerkungen:

(1) Dieser Text wurde für ein Buch geschrieben, das unter dem Titel Logos und Wirklichkeit. Ein Beitrag zu einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins im Juni dieses Jahres bei Peter Lang, Frankfurt a. M. erscheint. Aus Platzgründen konnte er dann nicht in den Band aufgenommen werden, doch bildet er einen konzeptionellen Kern für einen für 2011 geplanten Folgeband zur ästhetischen Theorie. Der hier abgedruckte Text wurde um einige wesentliche Gesichtspunkte gekürzt. In Logos und Wirklichkeit werden die in ihm verwendeten anthropologisch-kulturtheoretischen und bewusstseins-theoretischen Konzepte des Näheren erörtert.

(2) Marx, K./Engels, F 1970 ff. Werke (MEW), 13, 13 f.

(3) Prawer, S. 5. 1976. Karl Marx and World Literature. Oxford, 404.

(4) Siehe Thomas Metscher, Materielle Reproduktion, menschliche Selbstproduktion und kultureller Prozess. Marxistische Blätter 4/2009, 44-53.

(5) MEW 3,5.

(6) Vgl. MEW 23, 192 ff; Logos und Wirklichkeit, passim.

(7) MEW 13,8 f.; des Näheren Logos und Wirklichkeit.

(8) Dazu des Näheren Metscher, T. 2009. Imperialismus und Moderne. Essen.

(9) Zu diesem Begriff: Metscher,T. 1992. Pariser Meditationen. Zu einer Ästhetik der Befreiung. Wien.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-10, 48. Jahrgang, S. 76-86
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2010