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MARXISTISCHE BLÄTTER/457: Spiel nicht mit Hartz-IV-Kindern ... - Die Unterschicht als "Andere"


Marxistische Blätter Heft 4-10

Spiel nicht mit Hartz-IV-Kindern ... - Die Unterschicht als "Andere"(1)

Von Friederike Habermann


"Unten" bezeichnet heute das Sammelbecken der Anderen in der Gesellschaft", schreibt Irina Vellay in ihrer Untersuchung "Die Parallelgesellschaft der Armut. "Die gesellschaftliche Konstruktion als moderne Pauper ermöglicht erst die Entrechtung der Menschen durch den Verlust wichtiger bürgerlicher Rechte" (2010: 40/39). Wie tiefgreifend diese gesellschaftliche Konstruktion bis hin zu biologisierenden Elementen zu verstehen ist, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Gleichzeitig ist auch der Begriff der "Anderen" hier durchaus in einem theoretischen Sinn zu verstehen: Das Konzept des "Othering" bedeutet, etwas aus der hegemonialen Identität heraus zu definieren, es zum Fremden, zum Anderen zu konzipieren.


Die Anderen sind dick, doof - und ansteckend(2)

Im Sommer 2007 titelten Medien von gmx über Men's Health bis hin zur Süddeutschen Zeitung wörtlich oder sinngemäß: "Übergewicht ist ansteckend!" Wer Freundschaften mit Dicken pflege, habe ein um 57 Prozent gesteigertes Risiko, selbst dick zu werden. Danach verändere sich durch Freundschaften mit Dicken die Wahrnehmung dessen, was "okay wäre", wodurch der eigene Körper aus den Fugen gerate.

Dieselbe Überschrift, "Übergewicht ist ansteckend!", war mit anderem Inhalt bereits früher öfter erschienen, so in Focus: "Ist Übergewicht ansteckend? Ein Virus könnte die Gewichtsprobleme von einem Drittel der Dicken verursachen". Danach sei ein Virus namens Ad36 bei Übergewichtigen dreimal so häufig anzutreffen wie bei Normalgewichtigen. Die FAZ gab den Rat von "einigen Wissenschaftlern" wieder: "Waschen Sie Ihre Hände!" Statt Freunden Diätvorschläge zu machen oder sich nach dem Körperkontakt mit Dicken zu waschen hilft aber natürlich noch eindeutiger, sie ganz zu meiden.

Wer die Medien verfolgt, weiß zudem, dass Dicke insbesondere in der Unterschicht zu finden sind. Die nationale Verzehrsstudie II besagt:(3) Mit steigendem Pro-Kopf-Nettoeinkommen zeige sich bei Männern und Frauen ein Absinken des Body-Mass-Index (also dem: Gewicht geteilt durch das Quadrat der Körpergröße). Ein Kommentator fasst die Hauptthese so zusammen: " Gewichtsgegensätze sind in Deutschland in erster Linie Klassengegensätze". Renate Künast rühmte sich als ehemalige Ernährungsministerin bei Anne Will, diese Studie noch selbst auf den Weg gebracht zu haben - um gleich hervorzuheben, wie schlecht das Verzehren bei den bildungsfernen Schichten laufe.

Den Kontakt mit diesen Schichten einzustellen ist tatsächlich ein Trend in der Gesellschaft und lässt sich nicht nur bei der zunehmenden Ausdifferenzierung von Stadtteilen und Schulen beobachten. Auch der Heiratsmarkt ist segregiert wie nie zuvor: Hat früher jeder zweite Mann "nach unten" geheiratet und jede zweite Frau "nach oben" (der Arzt die Krankenschwester, die Sekretärin den Chef), so wird dies heute zur Ausnahme. "Nur wer den richtigen Beruf, das richtige Einkommen, die richtige Herkunft hat, bekommt eine Chance und am Ende das Jawort", so stellt Die Zeit in ihrem Dossier vom 23. August 2007 das Ergebnis einer Untersuchung an der Universität Bamberg vor.

Doch damit nicht genug: Selbst Vornamen geben heute die Herkunft besser wieder, als es den allermeisten bewusst ist; sie werden zu Signalen, wer für etwas ausgewählt (oder eingestellt) wird - und wer nicht: Johannes ja, Jason nicht. "Das Ergebnis", zitiert Die Zeit weiter den daran forschenden Soziologen Jan Skopek, "ist eine Gesellschaft, die sich immer weiter aufspaltet". So werden, wie Ellen Bareis auf der Dortmunder Tagung zur Sozialen Frage berichtete, inzwischen Hüpfburgen aufgestellt, auf denen es zu Begegnungen zwischen armen und reichen Kindern kommen soll. Doch werden diese die Berührungsängste lösen können?

Die Angst vor Degeneration durch den Umgang mit den falschen Menschengruppen, die im 19. Jahrhundert unter Männern, Weißen und namentlich dem Bürgertum umging, scheint hier eine Wiederkehr zu erleben - und überhaupt hat das alles vielleicht mehr mit den Grundpfeilern unserer Gesellschaft zu tun, als es auf den ersten Blick scheint.


Der homo oeconomicus als Grundlage moderner Staatlichkeit - und seine "Anderen"

Für das 19. Jahrhundert analysiert Michel Foucault eine wichtige Transformation der Regierungstechniken, wobei der Staat nicht mehr parteiisch und potentiell despotisch auftrat, sondern als scheinbar neutral über und außerhalb der Gesellschaft mit ihren Konflikten stehend (vgl. Foucault 1979: 29; Lemke 1997:195). Zur gleichen Zeit trat an die Stelle der Kennzeichen, welche Standeszugehörigkeit und Privilegien sichtbar machten, ein System von Normalitätsgraden: Diese zeigten die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper an, wirkten dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend (vgl. Foucault 1975: 237). Dieser Selektionsprozess verbildlicht sich im survival of the fittest und manifestiert sich im Ideal des homo oeconomicus.

Der homo oeconomicus - das Subjekt in der Wirtschaftstheorie - nimmt dabei eine Schlüsselstellung ein, denn seine Identität wurde zum Inbegriff des Normalen. Er bildet als Grundlage der bürgerlichen Wirtschaftstheorie jedoch nicht einfach das Stereotyp des weißen, heterosexuellen, gesunden jungen (etc.) Mannes als Wirtschaftssubjekt ab, sondern es besteht ein diskursiver Zusammenhang zwischen diesem Entwurf und der Konstruktion der Subjekte im modernen bürgerlichen Staat. Als Ausschließungen damit verbunden sind die Konstruktionen der "Anderen" - traditionell Frauen und Kolonisierte bzw. people of colour. Heute bedeutet dies jedoch nicht mehr, dass alle oder nur weiße Männer Gewinner wären und dass Frauen, people of colour oder Homosexuelle keine Karriere machen könnten - im Gegenteil ist die hegemoniale Bedeutung des homo oeconomicus als Rollenmodell inzwischen so stark, dass er im Prinzip für alle Identitäten Gültigkeit erlangt hat. Zwar haben es die Anderen grundsätzlich schwerer, dem am Weißen und Männlichen ausgerichteten Ideal zu entsprechen, doch lässt sich eine neue Durchlässigkeit beobachten, wobei entscheidend wird, wer diesen Anforderungen am ehesten entspricht.

Hierbei kommt es zu Paradoxien: Obwohl inzwischen zum hegemonialen Ideal für alle geworden, werden nach wie vor und zunehmend wieder Menschengruppen als nicht fähig stigmatisiert, dem homo oeconomicus entsprechen zu können. Nicht zuletzt lässt sich dies im Diskurs über die Unterschicht - oder sagen wir das Wort ruhig: Unterklasse - feststellen.(4) Es wird die Idee des white trash wiederbelebt.

Foucault betrachtet den Prozess der langfristigen Herausbildung moderner Staatlichkeit im Zusammenhang mit moderner Subjektivität (vgl. Foucault 1978; 1979). Er prägt den Begriff der "Gouvernementalität", welcher Regieren (gouverner) und Denkweise (mentalité) semantisch miteinander verbindet, und ihm so ermöglicht, den Prozessen der Subjektivierung in der Verbindung von Technologien der Herrschaft und den Technologien des Selbst nachgehen zu können. Der moderne (westliche) Staat ist für ihn das Ergebnis einer komplexen Verbindung politischer und pastoraler Machttechniken - wobei er unter Pastoralmacht die Regierung der Seelen versteht, unter anderem durch moderne Strafmethoden, welche nicht mehr auf eine Bestrafung des Körpers, sondern auf die Formung der Seele zielen. So geht er davon aus, dass die pastoralen Führungstechniken Subjektivierungsformen hervorbrachten, auf denen der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft aufbauen. Damit ist Freiheit nicht mehr nur ein Recht der Individuen, sondern ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil von Regierung geworden, und der homo oeconomicus gibt die dazu Verhaltensmuster vor.

So wie Foucault gezeigt hat, dass Irre, Homosexuelle und andere Identitäten in und als Abgrenzung zur hegemonialen Identität entstanden, so lässt sich dieses dichotome Muster auch in Bezug auf Klassenidentitäten zeigen: Auf der einen Seite wurde Armut als gesellschaftliche Tatsache industriell-kapitalistischer Gesellschaften anerkannt, die unverhofft auch Tüchtige treffen konnte. Auf der anderen Seite bildete sich eine neue Figur heraus: Der Pauper bezeichnete eine Form der Armut, welche angeblich eine soziale Gefahr darstellte. Der Pauperismus wurde als nicht nur primitiv, sondern auch gefährlich angesehen, da Pauper angeblich instinktiv zu einer unzivilisierten Gesellschaft tendierten (vgl. Lemke 1997: 210).

Schon bei Adam Smith' Handlungsanweisungen - insbesondere in seiner Theorie der Ethischen Gefühle (1759/89) - lassen sich nicht nur scheinbar unüberwindbare Abgrenzungen seines impliziten Wirtschaftssubjekts - welches später homo oeconomicus genannt wird - zu Frauen und people of colour finden, sondern mit der gleichen Deutlichkeit auch in Bezug auf dass: zu Nicht-Bürgern. Dies wird unter anderem deutlich, wenn er schreibt, ein Mensch von niedrigem Stand könne sich nicht durch Eigenschaften auszeichnen, welche einem Manne höheren Standes dazu dienten, sich Autorität zu verschaffen - sei es das Aussehen, die Art oder das Betragen (vgl. Smith 1759/89: 79). Das erklärt auch, warum nach Smith bloße Armut wenig Erbarmen erwecke - im Gegenteil: "Wir verachten einen Bettler". Lediglich der Sturz aus Reichtum in die Armut verfehle es selten, das ernsteste Mitleid zu erwecken, einem solchen Elenden werde in der Regel geholfen (ebd.: 174f). Obwohl plötzlich verarmt, verliert ein Bürger damit noch nicht seine bürgerliche Identität.

Der bürgerliche Mann muss sich täglich neu konstituieren. Für Adam Smith führt dieser die Eigenschaft der "Mannhaftigkeit" aus als etwas, was ihm in beständiger Übung "vollkommen vertraut geworden" sei; und zwar nicht nur als Gewohnheit, sein äußeres Verhalten und Benehmen zu formen, sondern selbst seine inneren Empfindungen und Gefühle. Der damit verbundene innere Kampf ist für Smith wesentlich. Smith elaboriert seitenlang über sowohl die "Gerichtsbarkeit des 'inneren Menschen'" als auch die "Gerichtsbarkeit des 'äußeren Menschen'". Der Schöpfer der Natur, welcher immer noch die oberste Kontrollinstanz bleibe, habe den Menschen zu seinem Statthalter auf Erden bestellt, um das Benehmen seiner Brüder zu beaufsichtigen - dies stelle die Gerichtsbarkeit des äußeren Menschen dar (vgl. ebd.: 159 ff.). Ein weit höheres Tribunal aber bilde das Tribunal des eigenen Gewissens: die Gerichtsbarkeit des "inneren Menschen", jenes angenommenen unparteiischen und gut unterrichteten Beobachters in der eigenen Brust (vgl. ebd.: 160). "Es ist Vernunft, Grundsatz, Gewissen, der Bewohner unserer Brust, der 'innere' Mensch, der große Richter und Gebieter unseres Verhaltens" (ebd.: 167). Er heuchle nicht bloß die Empfindungen des unparteiischen Beobachters; er nehme sie tatsächlich an (vgl. ebd.: 178). Es sei "offenkundig, dass ich mich in allen derartigen Fällen gleichsam in zwei Personen teile" - in den Prüfer und Richter auf der einen Seite, sowie in den Geprüften und Handelnden auf der anderen (ebd.: 150). Diese Verinnerlichung äußerer Ansprüche ist für Smith die Grundlage seiner Theorie.

In Smith' Theorie der ethischen Gefühle und dem damit vorgestellten Identitätskonzept finden sich eine ganze Bandbreite von Implikationen sowohl für das als weiß, männlich und bürgerlich definierte Subjekt, als auch für die in sexistischer, rassistischer und klassistischer Abgrenzung dazu konstruierten "Anderen". Als erstrebenswert und damit hegemonial gilt ihm nur eine einzige Form der Männlichkeit. Das Ideal des weißen bürgerlichen Mannes wird gleichzeitig zum Ideal des Menschen, da diese als optimal dargestellten Eigenschaften angeblich durch diese verkörpert werden.

Smith' Ausführungen nehmen die Wirkung des Panoptikums vorweg - jener Gefängnisform, welche Foucault als paradigmatisch für die moderne Gesellschaft analysiert. Interessanterweise war der Erfinder des Panoptikums Jeremy Bentham, der Hauptbegründer des Utilitarismus. Dieser erhob die beständige Entscheidung zwischen Kosten und Nutzen zur Grundlage allen ökonomischen bzw. ethischen Denkens, weshalb Bentham als zweiter Vater des homo oeconomicus gilt. Im Panoptikum lässt sich vom Wachturm in der Mitte in alle Zellen schauen, doch können die Insassen die Wächter nicht sehen. Da sie auf diese Weise nicht wissen können, wann sie beobachtet werden, müssen sie die Disziplin als Verhaltenskodex in jedem Moment verinnerlichen. In seinen Gesetzesentwürfen hatte Bentham die Antwort auf das Problem der Vermittlung zwischen dem homo legalis (dem verständigen Rechtssubjekt) und dem homo oeconomicus gesucht: Wie nach den Regeln des Rechts ein Raum der Souveränität regiert werden könne, der von ökonomischen Subjekten bevölkert wird, welche gemäß der Theorie von Adam Smith in ihren rationalen Entscheidungen nicht beeinflusst werden dürfen, da nur so die unsichtbare Hand walten könne. Die bürgerliche Gesellschaft war die Antwort auf diese Frage (vgl. Lemke 1997: 176 ff.): Der Mechanismus des Gesetzes wurde Ende des 18. Jahrhunderts als Prinzip der Ökonomie im Strafwesen angenommen. Homo penalis, der strafbare Mensch, der dem Gesetz unterstellt ist und bestraft werden kann, dieser sei im strengen Sinne, so Foucault, ein homo oeconomicus (vgl. Foucault 1979: 344 ff.): Immer nach dem eigenen Nutzen strebend, erfüllt er die bürgerlichen Gesetze.

Nicht zuletzt durch Kämpfe um Emanzipation und damit um den Einschluss in als universal deklarierte Menschenrechte ist der homo oeconomicus heute zum hegemonialen Leitbild für alle geworden. Damit einher geht ein zunehmendes Verständnis von den dem homo oeconomicus zugeschriebenen Eigenschaften - insbesondere rational zu sein, aber auch autonom, flexibel etc. - als Beschreibungen für den Menschen schlechthin.(5) Da der homo oeconomicus aber in Interaktion mit der Konstruktion des weißen, männlichen Bürgers entstanden ist, bleibt es für Mitglieder dieser Identität leichter, erfolgreich zu sein. Letztlich allerdings schreibt er Verhaltensmuster vor, die zwar einige Identitäten begünstigt, jedoch im Grunde alle Subjekte "unterwirft".


Selbstmanagement als Grundlage des Neoliberalismus

Als "Selbstbestimmung" bilden die Technologien des Selbst im Neoliberalismus einen zentralen Produktionsfaktor. Neoliberaler Diskurs ist wesentlicher Bestandteil des Alltagsverstandes und der "Selbsttechnologien" geworden. Autonomie, Selbstbestimmung oder Verantwortlichkeit sind kaum hinterfragte Werte in der Gesellschaft und werden nicht nur als Selbstverwirklichung re-artikuliert, sondern auch als Konkurrenzfähigkeit von Individuen. Foucault nennt diese Einschreibung der Ökonomie durch die Disziplinierung der Körper eine unabdingbare Vorbedingung für die Entstehung des Kapitalismus.

Der Kapitalismus der freien Konkurrenz, wie er sich im 19. Jahrhundert zunehmend durchsetzt, erzeugt ein Klima der permanenten Bewertung, auch des bürgerlichen Subjekts sich selbst gegenüber. Ein Jahrhundert später, in den 1980er und 1990er Jahren, entsteht zunächst in den USA, dann auch in Europa ein neues soziales Leitbild: Körperliche Fitness, Jogging, natürliche Ernährung, der Kampf gegen das Rauchen und andere soziale Verhaltensmuster werden Ausdruck eines neuen Lebensstils - auch als get-rich-quick-Schema (Horst Dippel) bezeichnet. Nicht alle Charakteristika des get-rich-quick-Schemas ergeben sich zwingend oder direkt aus dem Modell des homo oeconomicus, aber es besteht eine durch die Globalisierung beförderte recht einheitliche Vorstellung davon, wie sie sich optimal zusammenfügen, und die entstehenden Bilder schließen deutlich an die beschriebenen Ideale der europäischen Mittelklasse an. Je näher ein Individuum diesem (jeweilig vergeschlechtlichten) Ideal kommt, desto höher sind die Chancen, in der Gesellschaft aufsteigen zu können.

Gleichzeitig entwickelt sich zunächst in den USA und in Großbritannien sowie um die Jahrtausendwende auch in Deutschland eine neue Diskussion über eine permanente, biologisierte Unterklasse - welche seit Generationen nur von staatlicher Unterstützung lebe und von der Anlage her bereits unfähig zur Aufnahme von Bildung oder geregeltem Arbeiten sei (vgl. Belina 2003: 94). In den USA und Großbritannien sei dieser neuen Unterklasse regelrecht der Krieg erklärt worden, so Anna Marie Smith: "These peoples are not only blamed for their own impoverishment; they are increasingly constructed as subhumans who, because of their anti-social cultural traditions and biological tendencies towards addiction, excessive sexuality, criminality and inferior intelligence, simply cannot be helped through education and skill training" (Smith 1998: 196).

Die innere und äußere Gerichtsbarkeit in Adam Smith' Theory of Moral Sentiments, wodurch die weiße, männliche und bürgerliche Identität ausgeformt wird, ist heute Verschiebungen unterworfen. Es handelt sich nicht länger um die Rationalität des freien Individuums als Grundlage der Gesellschaft, sondern Rationalität wird zunehmend unternehmerisch definiert. Michel Foucault nennt dies "eine Art permanentes ökonomisches Tribunal" (Foucault 1979: 342). Der Mensch, der einen Mangel an Initiative zeige, an Anpassungsfähigkeit, Dynamik, Mobilität und Flexibilität, beweise scheinbar objektiv seine oder ihre Unfähigkeit, ein freies und rationales Subjekt zu sein. Die Fähigkeit, sich im eigenen Lebensentwurf nach betriebswirtschaftlichen Kriterien wie Effektivität und Effizienz zu verhalten, gilt aber zunehmend als Grundlage der aus autonomen Individuen bestehenden Gesellschaft (vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 30). "Wer Erfolg hat, hat ihn verdient; wer keinen hat, hat etwas falsch gemacht. Alle Fehler wiederum reduzieren sich im Grunde auf den einen, sich nicht (hinreichend) am Markt orientiert zu haben. Empowerment und Demütigung gehen Hand in Hand. Wenn jeder erreichen kann, was er will, haben es jene, die auf der Strecke bleiben, nicht besser gewollt (und folglich ihr Schicksal verdient)", fasst Ulrich Bröckling dies zusammen und schlussfolgert mit der Abänderung eines Hegel-Zitats: "Der Weltmarkt ist das Weltgericht" (Bröckling 2000: 162).

Die Hegemonie des homo oeconomicus impliziert die Hegemonie der von Robert Connell ausgemachten Manager-Identität als hegemoniale Männlichkeit (vgl. Connell 1995). Trotz aller Verschiebungen im Laufe der Zeit spiegelt sich hierin erstaunlich viel von der durch Adam Smith beschriebenen Identität wieder - nur etwas weniger soldatisch und mit soft-skills angereichert, ersetzt sie das zwischenzeitliche Bild vom leicht trägen Kapitalisten. Diese Manager-Identität, welche alle Eigenschaften des homo oeconomicus verkörpert, gilt heute quer durch die Gesellschaft: Für Frauen ist sie ebenso gültig wie für ArbeiterInnen und Ich-AGs. Günther Voß und Hans G. Pongartz (1998) charakterisieren dies als "Arbeitskraftunternehmer". So fragt ein Selbstmanagement-Ratgeber heute: "Sind alle Ihre Persönlichkeitsteile voll im Einsatz? Arbeitet jeder Teil an der Stelle, wo er seinen Fähigkeiten entsprechend optimale Ergebnisse erzielen kann?"(6) Die Selbstverwaltung des individuellen Humankapitals greift dabei weit über das Berufsleben hinaus und kennt weder Feierabend noch Privatsphäre. Unternehmer seiner selbst bleibt das Individuum auch, wenn es seine Anstellung verlieren sollte: "Das Ich kann sich nicht entlassen; die Geschäftsführung des eigenen Lebens erlischt erst mit diesem selbst" (Bröckling 2000: 155). Ulrich Bröckling kommentiert weiter: "Als bloßes Rollenspiel würde das Selbstmarketing seine Wirkung verfehlen; der Einzelne muss sein, was er darstellen will." (ebd.: 160)

Eine der Konsequenzen des Liberalismus liegt für Foucault im Auftreten von Mechanismen innerhalb dieser neuen Regierungskunst, welche die Funktion haben, "Freiheiten herzustellen, einzuflößen und höher zu bewerten, ein Mehr an Freiheit durch ein Mehr an Kontrolle und Intervention einzuführen." (Foucault 1979: 103) Dafür entdecke die politische Ökonomie "nicht natürliche Rechte, die der Ausübung der Gouvernementalität vorhergehen, sondern eine bestimmte Natürlichkeit, die den Regierungspraktiken selbst eigentümlich ist" (ebd.: 33). Die liberale Regierungskunst orientiere sich am Modell des Marktes, wo beispielsweise davon ausgegangen werde, dass, wenn die Preise steigen, sie sich von selbst wieder einpendelten. Es gehe nicht länger darum, Praktiken im Hinblick auf ein moralisches Prinzip als gut oder schlecht zu beurteilen, sondern als wahr oder falsch (vgl. ebd.: 37).

Nicht zuletzt aber konditioniere der Liberalismus die Individuen darauf, ihre Situation, ihr Leben, ihre Gegenwart, ihre Zukunft usw. als Träger von Gefahren zu empfinden. Zum einen müssen in diesem Zusammenhang Verbrechen und Terror genannt werden, welche umso furchterregender wirken, je mehr sie aus der Mitte der Gesellschaft und unsichtbar erscheinen, wie es sich heute im Ausdruck "Schläfer" kristallisiert. Zum anderen aber beruhen hierauf nicht nur all die früheren verschiedenen Kampagnen, die sich um Krankheit und Hygiene oder Sexualität kümmerten, stets in Angst vor der Entartung des Individuums, der Familie, der Rasse und der ganzen Menschheit, sondern heute auch die Angst vor Ansteckung des Übergewichts und damit davor, vom Weg des homo oeconomicus - und damit zum Erfolg - abzukommen (vgl. Foucault 1979: 101 f.; Mosse 1978. 82 ff.; 1996: 111 ff.).


Zwischen Klassismus und Rassismus

Der Körper spielt heute eine nicht zu unterschätzende Rolle für Erfolg und Misserfolg. Nach wie vor sind Geschlecht und Hautfarbe wesentliche Aspekte beispielsweise bei Einstellungen, zunehmend aber auch Alter und Statur. Linda McDowell bemerkt bei der schon erwähnten Untersuchung von Bankern in London eine extreme körperliche Uniformität der frisch von der Uni kommenden Eingestellten: fast alle weiß, und dabei von durchschnittlicher Größe und entsprechendem Gewicht. Diese waren zumindest teilweise sich selber dessen bewusst: "Wir sind nicht alle Klons", betonte einer von ihnen dieses Phänomen, während ein älterer Kollege erwähnte: "Es ist schon seltsam - sie sehen alle absolut gleich aus, wenn sie mit 25 oder 26 ins Unternehmen kommen." Wer beginnt, von diesem Bild abzuweichen, wird von Ranghöheren darauf verwiesen, den Körper wieder zu "normalisieren" - durch exakte Kleidung, Diät, Sport etc. Es ist dieser normierte Normalitätsgrad, von dem Foucault spricht, der als das Natürliche gilt und das von ihm Abweichende ausschließt - und das hat sich im Äußeren zu spiegeln.

Gleichzeitig hört McDowell aus den ihr gegebenen Antworten zur Formbarkeit des Körpers eine Parallele heraus zu dem Glauben, dass sozialer Aufstieg möglich, wenn nicht grenzenlos sei. Damit erscheint als Grund für den Reichtum der einen und die Armut der anderen der individuell andere Gebrauch von Freiheit. Die Existenz von Armut führt scheinbar beständig vor Augen, wohin ein falscher Gebrauch der Freiheit führen kann.

Dabei besteht eine Doppel-Ethik. Im Sommer 2004 erreichte ein Reserveoffizier der Bundeswehr einige Aufmerksamkeit, als er dem Bundesverteidigungsministers Peter Struck die ihm verliehenen Orden zurückschickte und seinen Diensteid widerrief. Obwohl ausgestattet mit einem BWL-Diplom der Bundeswehruniversität, wurde ihm nach zwei Jahren Erwerbslosigkeit im Testlauf für "Hartz IV" eine sogenannte "Ein-Euro-Beschäftigung" als Reinigungskraft im örtlichen Hallenbad zugewiesen. Der Fall gewann gerade deshalb solche Aufmerksamkeit, weil der Betroffene eben nicht in das Bild "der Überflüssigen" passte. Damit aktivierte er genau jenes Mitgefühl, welches bereits Adam Smith beschrieben hatte: Während Bettler verachtet würden, verfehle der Sturz aus dem Reichtum in die Armut selten, das ernsteste Mitleid zu erwecken; einem solchen Elenden werde in der Regel geholfen.

Doch weist Irina Vellay zu Recht darauf, dass im Hartz-JV-Regime die Unterschiede der individuellen Lebensläufe (z. B. Sozialhilfedynastie oder Abstieg aus der Mittelschicht) in einer einzigen Kategorie verschwinden und es somit die Stigmatisierung der modernen Pauper (Trinker/drogenabhängig, arbeitsscheu, bildungsfern, Fast-Food-Junkie, Unterschichtenfernsehen, soziale Vernachlässigung etc.) auf alle Armen auszudehnen erlaubt (2010:39). Entscheidend ist vielleicht auch hier die Verkörperung: Was wird aus dem Mitleid, wenn dieser Reserveoffizier sich erst einmal anstecken lässt von der Disziplinlosigkeit seiner dicken Hartz-IV-KollegInnen? Aber hält, nein! Er wird sich nicht anstecken lassen, nicht wahr?

Der Sozialrassismus, wie er von Christoph Butterwege auf der Dortmunder Tagung benannt wurde, verläuft parallel zum von Etienne Balibar schon in den 1980ern analysierten "Rassismus ohne Rassen": Neorassismus argumentiert nicht mehr mit Hautfarbe, sondern es ist die Kultur, welche als das Problem gilt - und dies auch in der öffentlichen Diskussion -, da diese als unveränderlich dargestellt wird. Und gleichzeitig wird zunehmend die Kultur der Armen als Grund für deren Lage beschrieben; als lebten sie seit Generationen nur von Hartz IV, als pralle jeder Bildungsversuch von ihnen ab. Wie sehr hier Klassismus und Rassismus verschwimmen können, wurde mir vor einigen Jahren bei einer Untersuchung in Argentinien besonders deutlich, als die Mittelklasse immer von den negros en los barrios sprach, den Schwarzen in den Armenvierteln - ein Farbunterschied, der so sehr sozial konstruiert war, dass er mit den Augen nicht wahrzunehmen war.


Friederike Habermann, Dr., Berlin, Volkswirtin,, Historikerin


Anmerkungen:

(1) Teile dieses Artikels entstammen meinem Beitrag: "Ist Armut ansteckend? Von der Biologisierung der neuen Unterschicht und von Angst als liberaler Regierungsform", in: Von Neuer Unterschicht und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten, hrsg. v. Claudio Altenhain u.a., Bielefeld (transkript), S. 49-63.

(2) Obwohl die Beispiele dem nicht entnommen sind, spielt der Titel an auf die lesenswerte Untersuchung von Schorb (2009): Dick, doof und arm: Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert.

(3) Im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Die Erhebungen erfolgten 2005/06, die Veröffentlichung 2008: http://www. was-esse-ich.de/index.php?id=74.

(4) Dieser Artikel fokussiert auf die Abgrenzung zur Unterklasse. Über die Konstruktion von sex und race in diesem Zusammenhang vgl. Habermann 2008.

(5) So definiert das Fremdwörterbuch des Duden (2005) den homo oeconomicus 1. als den ausschließlich von wirtschaftlichen Zweckmäßigkeitserwägungen geleiteten Menschen, und 2. als gelegentliche "Bezeichnung des heutigen Menschen schlechthin".

(6) Cora Besser-Siegmund/Harry Siegmund (1991): Coach Yourself. Persönlichkeitsstruktur für Führungskräfte, Düsseldorf u.a.; S. 130; zit. na. Bröckling 2000: 159.


Literaturverzeichnis:

Balibar, Etienne (1988): "Gibt es einen 'Neo-Rassismus'?", in: ders./Immanuel Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg/Berlin 1990, S. 23-38.

Belina, Bernd (2003): "Kultur? Macht und Profit! - Zu Kultur, Ökonomie und Politik im öffentlichen Raum und in der Radical Geography", in: Hans Gebhardt! Paul Reuber! Günter Wolkersdorfer (Hg.), Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen, Heidelberg! Berlin, S. 83-97.

Bröckling, Ulrich (2000): "Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement", in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart - Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M., S. 131-167.

Connell, R. W. (1995): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 2000.

Foucault, Michel (1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1997.

Foucault, Michel (1978): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt/M. 2004.

Foucault, Michel (1979): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt/M. 2004.

Habermann, Friederike (2008): Der homo oeconomicus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation, Baden-Baden.

Habermann, Friederike (2008): "Ist Armut ansteckend? Von der Biologisierung der neuen Unterschicht und von Angst als liberaler Regierungsform", in: Von Neuer Unterschicht und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten, hrsg. v. Claudio Altenhain u. a., Bielefeld (transkript), S. 49-63.

Habermann, Friederike (2004): Aus der Not eine andere Welt. Gelebter Widerstand in Argentinien, edited by: Stiftung Fraueninitiative, Königstein: Ulrike Helmer-Verlag.

Lemke, Thomas (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin! Hamburg.

Lemke, Thomas/Susanne Krasmann/Ulrich Bröckling (2000): "Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung", in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M., S. 7-40.

Pongratz, Hans J./G. Günter Voß (2003): Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2004.Habermann, Friederike (2008): "Ist Armut ansteckend? Von der Biologisierung der neuen Unterschicht und von Angst als liberaler Regierungsform", in: Von Neuer Unterschicht und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten, hrsg. v. Claudio Altenhain u. a., Bielefeld (transkript), S. 49-63.

Schorb, Friedrich (2009): Dick, doof und arm: Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert, München (Droemer).

Smith, Adam (1759/89):Theorie der ethischen Gefühle, Frankfurt/M. 1949 (Übersetzung basierend auf überarb. 6. Aufl. v. 1789).

Smith, Anna-Marie (1994): "Das Unbehagen der Hegemonie. Die politischen Theorien von Judith Butler, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe", in: Oliver Marchart (Hg.), Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wien 1998, S. 225-237.

Vellay, Irina (2010): Die Parallelgesellschaft der Armut. Niedrigschwellige existenzunterstützende Angebote in Dortmund, hrsg. von der Forschungsgruppe "Der workfare state - Hausarbeit im öffentlichen Raum?" in der Reihe Workfare - Dienstpflicht - Hausarbeit, Heft 4, Dortmund.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-10, 48. Jahrgang, S. 47-54
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2010