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MARXISTISCHE BLÄTTER/518: Kurze Vollzeit für alle - Die 30-Stunden-Woche als politisches Projekt


Marxistische Blätter Heft 2-12

Kurze Vollzeit für alle
Die 30-Stunden-Woche als politisches Projekt

von Jörg Miehe



Beim Projekt einer weitreichenden Verkürzung der Arbeitszeit und ihrer Umverteilung auf alle Arbeitssuchenden handelt es sich um den Einstieg in eine Umorganisation der gesellschaftlichen Arbeit - mit weitreichenden Folgen für die Organisation der sozialen und stofflichen Reproduktion der Gesellschaften. Ein solches Projekt zielt auf die Aneignung der Ergebnisse der Produktivitätssteigerung der kapitalistisch organisierten Arbeit - nicht durch zusätzlichen Konsum, sondern in Form von mehr frei verfügbarer Zeit. Außerdem verbindet es damit die Beseitigung von Arbeitslosigkeit und der begleitenden Armut, sowie der aus beidem folgenden Desorientierung und Ohnmacht der arbeitenden Klassen.

Auf diese Weise sollen die wichtigsten Hebelwirkungen der ökonomischen Herrschaft des Kapitals über die Arbeitenden vermittels des Eigentumsmonopols, die Konkurrenz der Lohnarbeiter und daraus folgend die unbegrenzte Verfügung über deren Arbeitszeit und Mehrarbeit, drastisch begrenzt werden. Eine solche politische Veränderung der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit soll dazu führen, den Auflagepunkt des Hebels selber - das Monopol des Eigentums - in Frage zu stellen. Zu Ende geführt, würde dies der blinden, von der Verwertung der Einzelkapitale abhängigen privaten Organisierung der gesellschaftlichen Arbeit und der sozialen Reproduktion ein Ende setzen.

Ein neuer Standard eines Normalarbeitsverhältnisses mit 6-Stundentag und 30-Stundenwoche, auf Basis eines neuen gesicherten Normalarbeitsvertrages - Kurze Vollzeit für alle - wäre das nicht ein neuer "Sieg der politischen Ökonomie der arbeitenden Klassen" und der Beginn des Überwiegens der gesellschaftliche Vernunft? (vergl.: Marx, zur 10-Stunden-Bill in England, in: Inauguraladresse der IAA, MEW 16, S.11; 8-Stunden Tag mit der Novemberrevolution 1918 in Deutschland)


Überblick

Im Folgenden werden unter vier Gesichtspunkten die notwendigen Einzelheiten vorgestellt, die bei der Ausarbeitung eines politischen Projektes der Arbeitszeitverkürzung vorrangig berücksichtigt werden müssen:

I   Aspekte von Arbeitslosigkeit und Arbeitszeitverkürzung
II  Theoretische Überlegungen
III Strategischen Überlegungen
IV  Politisch-praktische Überlegungen


I Aspekte von Arbeitslosigkeit und Arbeitszeitverkürzung

In der Debatte zur Arbeitszeitverkürzung werden u. a. die folgenden Aspekte diskutiert:

Ursachen der Arbeitslosigkeit
Die seit 1975 in der BRD zunehmende Arbeitslosigkeit hat systemische und historische Gründe: Überakkumulation, Rückgang der Raten des Wachstums der Industrieproduktion in den entwickelten Ländern, Produktivitätssteigerungen durch die Einführung neuer Produktivkräfte; Anfang der 70er Auflösung des Weltwährungsregimes von Bretton Woods und seit den 80ern weltweit ein erneuertes neoliberales Wirtschaftsregime mit der Folge einer politischen und ökonomischen Schwächung der Gewerkschaften. Zunehmende, auch übernationale Finanzialisierung der Kapitalverwertung und zunehmende Einbeziehung von Drittweltländern in die Investitions- und Verwertungsregime der Weltkonzerne - eine neue Etappe der Internationalisierung, der Herstellung des Weltmarktes.

Politisch geförderte Rückwirkungen
Das Ergebnis war eine sukzessive ökonomische Auflösung des "Normalarbeitsverhältnisses" von seinen Rändern und von unten her, nicht nur in der BRD, und die massive politische Förderung dieser Prozesse mit der Übernahme und Verschärfung des neoliberalen Kurses gegen die Lohnarbeiter durch die Schröder-Regierung von SPD und Grünen: Unzureichende Löhne, erzwungene Teilzeit-Beschäftigungen, befristete Verträge, Leiharbeit mit Dumping-Löhnen, verbreiteter Zwang zu Überstunden, oft unbezahlt, Verdichtung der Arbeitstätigkeiten durch Reduzierung der Belegschaften.

Vergeudung durch Ausgrenzung
Die Nicht-Beschäftigung von Millionen potentieller Arbeitskräfte ist eine Vergeudung gesellschaftlicher Produktivkraft. Gleichzeitig wird damit ein sonst überflüssiger gesellschaftlicher Aufwand erforderlich - die Finanzierung des Unterhalts der arbeitslosen Mitbürger, ob aus den Beiträgen für die Kassen der Sozialversicherungen oder aus staatlichen Haushalten.

Das wird dann zum willkommenen Vorwand genommen, um die Arbeitslosen demagogisch aus gesellschaftlichen Opfern der Kapitalverhältnisse zu Schuldigen ihrer Lage und verantwortlich für diese Ausgaben zu machen:

Kürzungen der Ausgaben und Kujonierung der Arbeitslosen werden daher auch von Teilen der Lohnarbeiter befürwortet - das Ergebnis ist eine mentale und politische Spaltung der Lohnarbeiterschaft.

Erosion der Lebensverhältnisse
- Arbeitslosigkeit ist, besonders unter den Bedingungen der Hartz-IV Regelungen, für die Betroffenen und ihre soziale Umgebung belastend bis unerträglich.

- Bei dürftigem Wachstum oder Krise von Industrie und Dienstleistungen grassiert die Angst vor Entlassung, vor der Schuriegelung durch das Hartz-IV-Regime, vor Verlust von Erspartem.

- Diese Angst zehrt die Bereitschaft zur Gegenwehr der Lohnabhängigen in Betrieben und bei Tarifauseinandersetzungen aus.

- Sie zersetzt sowohl ihre soziale Integration, wie auch ihre durch Arbeit vermittelte Identität - mit dramatisch negativen Folgen für Gesundheit und Lebensführung, sowie für die Betreuung und Sozialisierung der Kinder.

- Druck und Stress entstehen, abgestuft aber zunehmend, zunächst in Betrieben und sekundär in Familien. Die Sicherheit der ökonomischen Basis des Lebens für Lohnabhängige verschwindet, mit der Möglichkeit des Entzuges dieser Basis selber.

- Überarbeitung und Leistungsdruck erzeugen eine Zunahme psychischer Überlastungen und entsprechender Krankheiten, nicht nur in profitorientierten Unternehmen, sondern auch in spargeschrumpften sozialen Diensten.

Interessen und Perspektiven
Das objektive Interesse von lohnabhängig Arbeitenden und Arbeitslosen besteht also in einer Verkürzung der Arbeitszeit und ihrer Umverteilung auf alle - kurze Vollzeit für alle:

• für die Einen: Abbau von Überstunden und Stress, Sicherung der Arbeitsverträge, Aufstockung erzwungener Kurzarbeit, Wieder-Durchsetzung von existenzsichernden Löhnen und Befreiung von der Angst vor der Zukunft; Abbau der Konkurrenz um die Arbeitplätze;

• für die Anderen: heraus aus der Arbeits- und Erwerbslosigkeit, der Ärmlichkeit und entwürdigenden Abhängigkeit vom Hartz-IV-Regime und Wieder-Gewinnung von Selbständigkeit, Beseitigung der Nötigung sich unter Wert gegen Beschäftigte und andere Arbeitslose in Stellung bringen zu lassen, weg vom Medienpranger als nutzlose Kostgänger der Gesellschaft.

• für Frauen und Männer: Die traditionellen, teils ökonomisch erzwungenen und politisch geförderten Arbeitsteilungen zwischen Männern und Frauen innerhalb der Lohnarbeit, zwischen dieser, privatem Haushalt und Familie sind inzwischen grundlegend dysfunktional und nicht länger akzeptabel. Für die meisten Frauen zu kurze Arbeitszeiten mit zu wenig Verdienst, um ein selbständiges Leben auch mit Kindern führen zu können, für Männer zu kurze oder zu lange Arbeitszeiten, für einen zunehmenden Teil mit zu wenig Lohn, um mit Frauen und mit Kindern in verständiger Arbeitsteilung Haushalt und Kinderbetreuung abwickeln und noch leben zu können. Ausgrenzung und Diskriminierung hier und Überlastung dort treffen vorrangig Frauen und dadurch auch die Kinder.

Das objektive Interesse nicht nur der Frauen liegt in der kurzen Vollzeit (mit "Voll"verdienst und sicherem Arbeitsvertrag). Damit entstünde eine eigene ökonomisch-finanzielle Basis und eine soziale, wie zeitliche Grundlage für eine selbständige gesellschaftliche Lebensführung und Emanzipation, ohne oder mit Kindern. Die Nötigung zur ökonomischen Zwangspartnerschaft entfiele. Die Besserstellung der Frauen im Beruf ist also Voraussetzung für eine Verbesserung der Entwicklungsbedingungen für die Kinder. Und das sollte zu einer ausgewogenen privaten Arbeitsteilung von Männern und Frauen im Haushalt, sowie bei der Kinderver- und Umsorgung führen.

Kurze Vollzeit ist daher auch eine dringende Notwendigkeit für die gesellschaftliche Entwicklung der sozialen Reproduktion. Dies auch zur praktischen Motivation werden zu lassen, das ist die Aufgabe eines politischen Projektes zur Arbeitszeitverkürzung.

• Bremsung der Umsetzung von Produktivitätsfortschritten in zusätzlichen Lohn für zusätzlichen Konsum, also in zusätzliche Produkte, mit zusätzlichem Durchsatz von Stoffen und Energien.

• Stattdessen: Gewinnung von Zeit für die Besorgung der persönlichen Erfordernisse, für Muße, Genuß und Selbstentfaltung.

• Stärkung der ökologischen Orientierung der Produktions- und Arbeitsprozesse in der Gesellschaft!

• Zurückdrängung der Armut und Stopp der Verarmung;

• Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung durch Abbau von Stress, Angst und Überarbeitung bei allen Lohnarbeitern und daher auch bei Klienten und Personal der Gesundheitsdienste; Verringerung der Unfallhäufigkeit;


II Theoretische Überlegungen

1. Woher kommt die Arbeitslosigkeit?
Diese Frage muss in zwei andere Fragen übersetzt werden:

- wie kommt es zur Nachfrage und Beschäftigung von Lohnarbeit in der kapitalistischen Produktionsweise?

- woher kommt das Angebot an Lohnarbeitskräften in der historischen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften?

a) Nachfrage des Kapitals nach Lohnarbeitern und ihre Beschäftigung
Die kapitalistische industrielle Produktionsweise hat zwei zunächst gegenläufige Tendenzen.

Zum einen erspart sie durch Technisierung der Produktion und später auch der Produkte die für eine gegebene Menge an Produkten erforderliche Arbeitszeit. Bei gegebener Menge der Produkte bedeutet dies, dass die vorhandenen Arbeitskräfte kürzer arbeiten können oder dass einzelne Arbeitskräfte überflüssig werden.

Zum anderen weiten die Besitzer des Produktionskapitals bei seiner Verwertung unter Konkurrenz das Feld der industriellen Produktion aus: Sie vergrößern vorhandene Fabriken und gründen neue, ersetzen mit billigeren oder Ersatz-Produkten die alten traditionellen Produktionsweisen, oder lassen damit neue Produkte auf Basis neuer Produktionsverfahren herstellen. Dafür können sie die Arbeitszeiten der vorhandenen Arbeitskräfte begrenzt verlängern, tendenziell müssen sie aber neue Arbeitskräfte einstellen.

Das Verhältnis der Einsparung von Arbeitskräften und der Ausdehnung ihrer Zahl beim industriellen Kapital ist einerseits bedingt durch die Schnelligkeit und Tiefe der technischen Umstellungen - und andererseits durch die Ausdehnung der industriellen Produktionsweise innerhalb von jeweiligen Wirtschaftsgebieten.

Die Schnelligkeit der technischen Erneuerung und dabei die Änderung des Verhältnisses der Menge der lebendigen Arbeit zum Umfang der Maschinen und Anlagen, eingeschlossenen die Anwendungen der Wissenschaften - aber auch die Schnelligkeit der Ausdehnung der industriellen Produktionen hängen von jeweils unterschiedlichen historischen Umständen für die Akkumulation der einzelnen Kapitale ab.

Ein Wirtschaftsgebiet mit seinen Produktionsstandorten ist gleichzeitig der Lebensraum der Arbeitskräfte und daher ein Absatzmarkt für die hier produzierenden und auch die auswärtigen Konsumgüterindustrien. Ähnliches gilt für die Rohstoff- und die Investitionsgüterindustrien. Die Gesamtheit dieser von den einzelnen Kapitalen erzeugten Umstände bildet - zurückwirkend - wiederum die ökonomische Umwelt für die einzelnen Kapitale in den jeweiligen Wirtschaftsgebieten und Staaten.

b) Woher kommt das Angebot an Lohnarbeitern?
Da kapitalistische Fabriken und Unternehmen immer in einem bestimmten historischen Milieu entstehen und existieren, speist sich das Potential an Lohnarbeitskräften aus Freisetzungen aus älteren Produktionsweisen und zweigen, aus Zuwanderungen und dann hauptsächlich aus der Reproduktion der schon in kapitalistischen Verhältnissen lebenden Lohnarbeiter.

Letztlich ist damit das Angebot an Lohnarbeitern abhängig vom Umfang der Lohnarbeiterschaft, relativ zur gesamten Erwerbstätigkeit, und von deren Reproduktionsrate - d.h. vom Verhältnis ihrer Geburten - zu ihrer Sterberate.

Zur Illustration sei an das historische Beispiel in England erinnert, das wir von Marx aus dem I. Band des "Kapital" kennen. Zunächst sind da die "Überflüssigen" aus der Kapitalisierung der Landwirtschaft; dann aus den durch Spinn- und Webfabriken auskonkurrierten, bisher für Verlage produzierenden ländlichen Heimarbeitern. Für die verelendeten Familien aus beiden Quellen war es überlebensnotwendig, dass die Frauen ihre Arbeitskraft ebenfalls in die Lohnarbeit an die Fabriken verkaufen konnten und die Kinder gleich mitgeliefert wurden. Dazu kam die Zuwanderung aus Irland.

Alle drei Quellen des Angebots an Lohnarbeitern sind historisch unterschiedlich. Sie sind entweder direkt, oder vermittelt oder gar nicht von der Akkumulation des inländischen Kapitals abhängig. Ihr Fluß ändert sich und damit auch ihre Summe.

Die jeweiligen Zahlen der eingestellten (abhängig von Reproduktion und Akkumulation des Kapitals) und der potentiellen Arbeitskräfte (abhängig von Reproduktionsrate und Migration) sind beides keine konstanten Größen. Außerdem dauern die geforderten Qualifizierungen (und sei es nur die Fabrikdisziplin) einige Zeit und sind kostenträchtig. Es gibt also kein automatisches gesellschaftliches und historisches "Gleichgewicht" zwischen den beiden von der Kapitalakkumulation in Gang gesetzten Tendenzen der Einsparung und der Ausdehnung von gesellschaftlich geforderter Arbeitszeit und daher des Bedarfs an Arbeitskräften.

c) Weltmarktverhältnisse
Diese Prozesse der Weltmarktkonkurrenz und der Weltmarktintegration, eingeschlossen der nachholenden Industrialisierung, sind zunehmend wirksam. Bisher und absehbar führen die gegenläufigen Tendenzen zu einem seit Jahrzehnten sich verringernden Bedarf an industriellen Arbeitskräften in den alten Industriezentren.

So kann es kommen, dass die laufende Einsparung von Arbeitskräften in den schon etablierten Produktionen - von der Zunahme von Arbeitskräften bei der Ausdehnung und Neueinrichtung von anderen Produktionen wieder aufgewogen oder zeitweilig sogar überholt wird. Das ist typisch für sich schnell und nachholend industrialisierende Gesellschaften und die Einführung tief greifender neuer Produktlinien oder Infrastruktureinrichtungen (z.B. Eisenbahnen, Energieversorgungsnetze, Digitalisierung der Telekommunikation, usw.). Umgekehrt kann die laufende Einsparung von Arbeitskräften durch Technisierung und durch den Import von billiger produzierten Waren aus dem Ausland die Neueinstellungen bei neuen heimischen Produktionen oder Dienstleistungen übersteigen, selbst wenn eine große Exportproduktion für Industrieerzeugnisse existiert.

Letzteres ist seit 1975 in der BRD der Fall und allgemein bei den entwickelten kapitalistischen Ländern - in den USA schon etwa zehn Jahren früher mit der Einrichtung von Billigproduktionen zunächst in Mexiko und der Karibik.

Wir finden also immer mehr Länder mit zunehmend mehr Lohnarbeitern (Südeuropa, Mittelmeeranrainer, Osteuropa, Japan, ...) die zunächst relativ einfache Teile der bisherigen Inlandsproduktion der entwickelten kapitalistischen Industrieländer, etwa der BRD, für den Export auf die Weltmärkte (einschließlich des Inlandsbedarfs) mit geringeren Löhnen und sonstigen Kosten übernehmen können.

• Die sich ergebenden Industrialisierungsprozesse in diesen Ländern (früher in Japan, Südkorea und Taiwan, heute in Brasilien, China usw.), treiben mit den Produktionsfähigkeiten auch das Lebensniveau und damit die Löhne so nach oben, dass der Konkurrenzvorteil durch geringe Löhne nach und nach entfällt. Wenn allerdings die Industrien erst einmal ausgewandert sind, dann kommen sie in der Regel, auch bei ähnlichen Arbeitskosten, nicht mehr zurück - bleibende De-Industrialisierung ist die Folge: wie in England, in großen Teilen der USA und bei einigen Industrien in der BRD (Kameras, Ferngläser, HiFi-Ausrüstungen, Radio- und Fernsehgeräte, Büromaschinen aller Art, ...).

• Die BRD-Ausrüstungsindustrie kann nicht nur Maschinen und ganze Produktionsanlagen und -komplexe neu verkaufen, sondern auch den laufenden Service und die spätere laufenden Erneuerung bedienen - und dieses Feld dehnt sich mit der Industrialisierung in der Welt ebenfalls aus. Allerdings kann das Riesenland China mit dem gezielten, politisch gesteuerten Prozess des technologischen Aufholens in mittlerer Frist durchaus auch das Niveau und die Differenzierungen der BRD-Ausrüstungsindustrie erreichen.


III Strategische Überlegungen

Bei den Überlegungen zur Durchsetzung einer Arbeitszeitverkürzung sind sehr unterschiedliche Seiten des Problems zu betrachten: zeitliche Form; Bestimmungsart, Länge; Regelungsart; objektive Interessen von Gruppen; Hebel der Durchsetzung:

- die zeitliche Form: täglich, wöchentlich, jährlich, nach Lebensverlauf, oder nach individuellen Bedarfen, Maß und Art einer Flexibilisierung; - die absolute Größe der Verkürzung z. B. 1 oder 2 Stunden pro Tag, 5 oder 10 Stunden pro Woche;

- die zeitliche Streckung: in Jahresschritten oder in zwei großen Schüben;

- die Bestimmungsart: nach individueller Wahl oder aufgrund kollektiver Regelungen;

- die Art der kollektiven Regelung: per Tarifverträgen oder per Arbeitszeit-Gesetz;

- die möglichen Hebel für die Durchsetzung: Streiks in Gewerben und Tarifgebieten, oder politische Kampagnen für ein Gesetz und eine Mehrheit im Parlament, mit entsprechendem Druck;

- Gruppen mit objektivem Interesse an Arbeitszeitverkürzung und ihre Interessen an bestimmten Formen und Inhalten;

- Umwandlung der objektiven Interessen in die Motivierung für den Kampf um die Durchsetzung; - Sicherung der bestehenden Lohnhöhe der Beschäftigten als Sicherung des Lebensstandards; - Sicherung gegen Verdichtung und Intensivierung der Arbeit;

- Sicherung eines Mindestlebensstandards durch einen gesetzlichen Mindestlohn;

Alle Momente müssen unter den Gesichtspunkten ihrer ökonomischen und sozialen Wirkungen einerseits, sowie der Mobilisierbarkeit und Entwicklung von gesellschaftlich-politischer Kraft andererseits betrachtet werden.

Form, Größenordnung und Kontrolle einer Arbeitszeitverkürzung
Eine ökonomisch relevante Größenordnung der Umverteilung und Verkürzung von Arbeitszeit, die Aufsaugung der Arbeitslosigkeit und eine drastische Verbesserung der Lohnquote können nur mit einer kollektiven Regelung für alle, mit einem neuen Arbeitszeitstandard erreicht werden. Eine individuelle Flexibilisierung könnte dann zusätzlich zur kollektiven Regelung stattfinden.

Eine gesellschaftlich relevante Größenordnung und normative Kraft der Arbeitszeitregelung für die Lebensführung im Alltag kann nur erreicht werden, wenn sie durchgreifend, öffentlich sichtbar und sozial verpflichtend für alle ist: Das war, und ist z.T. immer noch, mit den bisherigen Regelungen der Fall: Sonntag und Samstag und Mittwoch nachmittags ohne Produktion, Dienstleistungen und Verwaltung, Ladenschluß bei 18 Uhr. Aber die normative Kraft war begrenzt. Verkehr und andere Dienstleistungen waren und sind davon ausgenommen, beim Einzelhandel wurden sogar die bisherigen Grenzen des Ladenschlusses geschleift. Die Einrichtung eines zusätzlichen freien Tagesanteils, etwa am Freitagnachmittag oder eines ganzen Tages, würde die gegebene Aufteilung der Lohnarbeiter entlang ihrer Arbeitszeitregelung eher noch ausdehnen und verschärfen.

Dass alle Lohnabhängigen gemeinsam von einer neuen Regelung profitieren, kann nur durch eine kräftige tägliche Verkürzung zu einem neuen Normalarbeitstag erreicht werden: Sechs-Stunden-Tag - kurze Vollzeit für alle! (für die kontinuierliche Produktion mit Nachtarbeit bedeutet dies: zwei verkürzte Nachtschichten).

Für die Absicherung gegen eine Verdichtung der Arbeit und für die Einstellung der Arbeitslosen ist eine kurzfristige Umstellungs- und Durchsetzungsphase unabdingbar: Denn beides kann nur über zusätzliche und spezifische Kontrollen und Sanktionen in den Betrieben und Unternehmen durchgesetzt werden. Diese müssen die kleinteiligen betrieblichen und unternehmensinternen, höchst wirksamen Rationalisierungsvorgänge für eine Übergangszeit eindämmen. Solche konzentrierten, flächendeckenden praktischen Kontrollen sind nur kurzfristig als Ausnahmeregelungen aufrecht zu erhalten.

Form der Durchsetzung
Eine Durchsetzung über den Hebel der geltenden Manteltarifverträge kommt nicht in Betracht. Diese beziehen sich auf die Besonderheiten der Branchen und nicht auf das Gemeinsame aller Branchen. Für einen gesamtwirtschaftlichen Manteltarifvertrag stünde der DGB als Tarifpartei zur Verfügung. Die "Arbeitgeber" würden aber wohl mit Obstruktion antworten, was auch mit einem flächendeckenden Erzwingungsstreik nicht verhindert werden könnte.

Es bleibt also als Form der Durchsetzung nur ein Gesetz übrig. Darin und in seinen Umsetzungsverordnungen könnten die Übergangsregelungen und Kontrollen detailliert festgelegt und mit strafrechtlichen Sanktionen belegt werden. Daher dürfte man die Ausarbeitung der Verordnungen nicht der Ministerialbürokratie und ihren Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden überlassen.

Der richtige und notwendige politische Weg ist daher ein Gesetz (eine Arbeitszeit-Charta). Dafür ist eine langfristig angelegte politische Kampagne erforderlich, zur Meinungs- und politischen Lagerbildung und für entsprechende Wahlentscheidungen der Lohnabhängigen.

Zentral für ein solches Gesetz wäre die Beibehaltung der bisherigen Lohnzahlung als Garantie für den Lebensstandard: Der Lohn als Entgelt für die Verfügbarkeit der Arbeitskraft im neuen Normalarbeitstag - und nicht für eine bestimmte individuelle Arbeitsleistung, ob mit oder ohne Zeitangabe.

Das würde unmittelbar eine Veränderung bei der Aneignung der Wertschöpfung herbeiführen ("Verteilung" zwischen Kapital und Arbeit) eine Reduktion der Kapitaleinkommen und der Renditen und damit eine Erhöhung der Lohnquote.

Interessenlagen - Gegner
Daher werden nicht nur die Unternehmer und Aktienbesitzer sondern alle Bezieher von Kapitaleinkommen heftig bis erbittert Widerstand leisten. Die höheren und besser bezahlten Angestellten, die ein kleines Vermögen angespart haben oder dies erhoffen, die allzeit bereit sind für ihren weiteren Aufstieg unbezahlte Mehrarbeit, meist auf Kosten ihrer Gesundheit und ihrer Familien zu leisten, gehören daher mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu den Gegnern.

Ein besonderes Problem stellen die kleinen Praxen, Büros und Werkstätten der Selbstständigen und der kleinen Betriebe dar, mit bis zu fünf, zehn oder auch 20 Lohnabhängigen. Da kann es leicht geschehen, dass Abhängige gemeinsam mit ihren Chefs gegen eine solche Initiative auftreten und eine Umsetzung boykottieren. Hier finden sich nicht nur die rund vier Millionen Selbständigen und Gewerbetreibenden, sondern auch ihr etliche weitere Millionen zählendes Personal. Bei diesen "Arbeitgebern" handelt es sich um in die Breite der Gesellschaft wirkende Meinungsführer und Multiplikatoren des sozialen Alltags.

Die Selbständigen ohne Lohnabhängige bilden ein weiteres Problem. Sie haben schon jetzt keine übergreifende Arbeitszeitregelung. Ein Teil war bisher über die gesetzlichen Öffnungszeiten von Ladenlokalen etwas gebunden. Insgesamt haben sie keine absehbaren Vorteile von einer Verkürzung der Arbeitszeit.

Interessenlagen - Befürworter
Die Lohnarbeiter mit erzwungener Teilzeitarbeit gehören ebenso wie die Arbeitslosen zu den Hauptinteressenten für eine Arbeitsumverteilung.

Aber für die Durchsetzung einer Arbeitszeitverkürzung und einer damit einhergehenden Arbeitsumverteilung ist natürlich die Mehrheit der beschäftigten Lohnarbeiter zentral. Bei ihnen muß die Werbung fruchten - sie müssen das zu ihrer eigenen Angelegenheit machen.

Es geht also z.B. in der Metallindustrie auch um all jene, die schon tariflich nahe der 35-Stunden-Woche angekommen sind. Eventuell arbeiten sie praktisch rund 40 Stunden (einschließlich Überstunden), wie die meisten anderen in tariflicher Normalarbeitszeit Beschäftigten und dies bei einigermaßen gesicherten Arbeitsverhältnissen und eher mittlerem Verdienst. Sie alle sehen bisher keinen Grund, dies durch eine komplizierte neue Regelung in Frage stellen zu lassen:

Daher muß die Absicherung ihrer Besitzstände, die Auflösung ihrer Besorgnisse, vor allem aber die Ausmalung ihrer künftigen besseren Lebensverhältnisse in das Zentrum einer Kampagne rücken - und nicht der Appell an ihr Erbarmen mit den Arbeitslosen und den Teilzeitlern.

Praktikabilität und Kontrollen
Eine praktikable Regelung der Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte für die verkürzte individuelle Arbeitszeit der bisherigen Betriebsangehörigen ist für die gesellschaftsweite Unterstützung und Duldung der Kampagne unabdingbar.

Unter anderem müssten die Betriebsräte, aber auch die Gewerbeämter und Unfallversicherungsorgane mit besonderen Kontrollbefugnissen ausgestattet werden. Bei der überbetrieblichen Interessenvertretung müsste den Gewerkschaften eine besondere Rolle eingeräumt werden. Wahrscheinlich wäre die zeitweilige Einrichtung einer Art Schiedsgericht aller Beteiligten erforderlich, das unmittelbar ohne Fristen und Instanzenweg aktuelle Streitfragen sofort entscheidet, um Verschleppungen durch Verfahren zu verhindern.

Es gibt sehr viele Arbeitsverhältnisse mit völlig unzureichenden Löhnen. Dort sind die Versuchung und der Zwang Überstunden zu machen, um den Lohn aufzubessern, sehr groß. Dem kann nur durch einen gesetzlichen Mindestlohn begegnet werden, der gleichzeitig mit der Verkürzung eingeführt und ebenso durchgesetzt und kontrolliert wird.


IV Politisch-praktische Überlegungen

1. Das bessere Leben als Motiv zur Durchsetzung der objektiven Interessen
Die Ziele eines Projektes von Arbeitszeitverkürzung bestehen erstens in einem besseren Leben mit weniger Arbeit und mehr Eigenzeit, zweitens in der Befreiung von bisherigem Ungemach. Beides, in dieser Reihenfolge, muß mit der Werbung zum bewegenden Motiv für die Durchsetzung der Arbeitszeitverkürzung werden.

In vielen Bereichen gibt es eine "Kultur" der Leistung auch bei den Beschäftigten. Das sollte aufgegriffen werden: Aus der Verantwortung für die Arbeitsergebnisse und für die Aufrechterhaltung der eigenen dauerhaften Leistungsfähigkeit kann ein starkes Motiv für die Arbeitszeitverkürzung entstehen - gegen Überforderung und Selbstausbeutung.

2. Organisationsprozesse und Organisationen
Bisher gibt es keine Organisation von Lohnabhängigen, die die Arbeitszeitfrage ins Zentrum ihrer Tätigkeit gestellt hat.

In den Manteltarifen sind die Gewerkschaften direkt mit den Arbeitszeiten befasst. Zwar hat Verdi einen eigenen Arbeitsbereich für die Arbeitszeitverkürzung eingerichtet und diese leistet Hervorragendes - aber über Nebenforderungen sind Arbeitszeitfragen in Tarifforderungen bisher nicht hinaus gekommen. Von einer Konzeption der Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung mittels Arbeitszeitverkürzung sind sie anscheinend alle weit entfernt.

Gleichwohl sind die Gewerkschaften natürlich die wichtigsten Organisationen, deren Mitglieder, ehrenamtliche Funktionäre und Führungen für ein solches Projekt gewonnen werden müssen. Ihre Fähigkeit zur Interessenformulierung und ihre organisierende Kraft sind bei der Entwicklung von Aktivitäten letztlich unverzichtbar.

Allerdings sind von den 20 Millionen Angestellten aller Bereiche nur wenige Prozent organisiert und nur Teile davon haben zumindest gewerkschaftliches Bewusstsein.

Die Sozialorganisationen müssten für ihre Beschäftigten im Pflege- und Krankenbereich ein Interesse für kürzere Arbeitszeiten entwickeln. Dem steht die Knappheit der Mittel entgegen. Daher ist die Zusicherung einer besseren Finanzierung unabdingbar für deren Unterstützung. Das wiederum steht in keinem direkten Zusammenhang mit einer Arbeitszeitverkürzung, sondern hängt mit der Primärverteilung der Einkommen und der stärkeren Besteuerung von Kapitaleinkommen zusammen. Ein Programm der Ausweitung der Einnahmen der öffentlichen Hände wäre als politische Einbettung des Projektes notwendig und hilfreich.

Sozialverbände und Kirchen wären als Vertreter allgemeiner Humanisierungsvorstellungen wohl ebenfalls für ein Projekt zur Arbeitszeitverkürzung und der Arbeitsumverteilung zu gewinnen:

- zur Entlastung von Alltagsstress und mehr verfügbarer Zeit, für ihre Klientel und die Allgemeinheit;
- zur Eindämmung der Verarmung durch Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne;
- Für eine Entkommerzialisierung der allgemeinen Lebensverhältnisse.

Die Verbände von Eltern, Lehrern, für Kultur und Sport wären wohl ebenfalls für eine Begrenzung der Arbeitszeit und Arbeitsbelastung sowie die Vergrößerung der frei verfügbaren Zeit zu gewinnen.

Die Aufzählung könnte fortgesetzt werden.

3. Zeithorizonte von Forderung und Umsetzung
Die ökonomische und organisatorische Umsetzung von Arbeitszeitverkürzungen sollte man vorläufig mit jeweils einem Jahr für die erste Etappe von 40 auf 35 Stunden und für die zweite von 35 auf 30 Stunden ansetzen. Ein Jahr Pause dazwischen für Nacharbeiten und Konsolidierung wäre wohl das Mindeste.

Bevor ein solches Projekt zu einer auch öffentlich wahrgenommenen Kampagne werden kann, bedürfte es einer breiten und intensiven Information der Aktivisten und Organisationen, ihrer Verständigung auf gemeinsame Sichtweisen und ihrer Vernetzung. Das erfordert ganz sicher mehr als nur ein Jahr. Danach stünde die langwierige Überzeugungsarbeit der bisher passiven Hauptadressaten an, und erst dann kann es eine Entfaltung von politischem Druck durch öffentliche Aktivitäten geben. Für das alles ist die erforderliche Zeit von heute aus nicht zu kalkulieren. Aber wie die bei den Bankenrettungen zeigt, kann es mitunter rasend schnell gehen. Das hängt von der relativen Stärke der Bewegung und der Wahrnehmung der Bourgeoisie und ihrer Trabanten über eine Gefährdung ihrer Interessen ab. Der Kern der Frage ist also die Entwicklung der Selbstbewegung.

Jörg Miehe, Göttingen, Sozialwissenschaftler

*


Hinweis der Schattenblick-Redaktion: Im folgende finden Sie eine Übersicht zu Initiativen und Literatur zum Thema Arbeitszeitverkürzung, als Vorabinformation zusammengestellt von Jörg Miehe für eine Tagung des Arbeitskreises "Betrieb und Gewerkschaften" des DKP-Partei-Vorstandes, auf der er das Einführungsreferat gehalten hat:


Arbeitszeitverkürzung altes Thema, neue Debatte und neue Initiativen - eine kleine Übersicht

J. Miehe - August 2011

"Zweitens: Die Geschichte der Reglung des Arbeitstags in einigen Produktionsweisen, in andren der noch fortdauernde Kampf um diese Reglung, beweisen handgreiflich, daß der vereinzelte Arbeiter, der Arbeiter als "freier" Verkäufer seiner Arbeitskraft, auf gewisser Reifestufe der kapitalistischen Produktion, widerstandslos xunterliegt. Die Schöpfung eines Normalarbeitstags ist daher das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse. Wie der Kampf eröffnet wird im Umkreis der modernen Industrie, so spielt er zuerst in ihrem Heimatland, England."

K. Marx - Das Kapital I, 3. Abschnitt: Die Produktion des absoluten Mehrwertes, 8. Kapitel: Der Arbeitstag; 7. Der Kampf um den Normalarbeitstag, Rückwirkung der englischen Fabrikgesetzgebung auf andre Länder. (MEW Bd 23, S. 315-320)

"Mehrarbeit überhaupt, als Arbeit über das Maß der gegebnen Bedürfnisse hinaus, muß immer bleiben. Im kapitalistischen wie im Sklavensystem usw. hat sie nur eine antagonistische Form und wird ergänzt durch reinen Müßiggang eines Teils der Gesellschaft. Ein bestimmtes Quantum Mehrarbeit ist erheischt durch die Assekuranz gegen Zufälle, durch die notwendige, der Entwicklung der Bedürfnisse und dem Fortschritt der Bevölkerung entsprechende, progressive Ausdehnung des Reproduktionsprozesses, was vom kapitalistischen Standpunkt aus Akkumulation heißt. Es ist eine der zivilisatorischen Seiten des Kapitals, daß es diese Mehrarbeit in einer Weise und unter Bedingungen erzwingt, die der Entwicklung der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Schöpfung der Elemente für eine höhere Neubildung vorteilhafter sind als unter den frühern Formen der Sklaverei, Leibeigenschaft usw. Es führt so einerseits eine Stufe herbei, wo der Zwang und die Monopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung (einschließlich ihrer materiellen und intellektuellen Vorteile) durch einen Teil der Gesellschaft auf Kosten des andern wegfällt; andrerseits schafft sie die materiellen Mittel und den Keim zu Verhältnissen, die in einer höhern Form der Gesellschaft erlauben, diese Mehrarbeit zu verbinden mit einer größern Beschränkung der der materiellen Arbeit überhaupt gewidmeten Zeit.

Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft und die Möglichkeit beständiger Erweiterung ihres Reproduktionsprozesses hängt also nicht ab von der Länge der Mehrarbeit, sondern von ihrer Produktivität und von den mehr oder minder reichhaltigen Produktionsbedingungen, worin sie sich vollzieht. Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung."(Hvhbg JM)

Marx, K - Das Kapital III - 48. Kapitel - Die Trinitarische Formel - III - Verkürzung des Arbeitstages - MEW Bd 25, S. 826-828


I Einige Literatur zur aktuellen Frage der Arbeitszeitverkürzung

Einige Leser werden sich an die Kampagne und die Auseinandersetzungen um die 35-Stunden-Woche in den 80er Jahren, inzwischen schon des vergangenen Jahrhunderts, erinnern. Wenn heute das Thema einer durchgreifenden Arbeitszeitverkürzung wieder auf die Tagesordnung kommt, dann ist es sinnvoll, sich diese Geschichte noch einmal kurz zu vergegenwärtigen.

Es gab im Vorfeld der Tarifauseinandersetzung und im Nachgang eine unübersehbare Fülle von Publikationen aus den Gewerkschaften, aus politischen Parteien, Verbänden, wiss. Instituten usw.. Das kann hier nicht vorgestellt und nicht einmal zusammengefasst werden. Der Auszug aus einer nachträglichen Analyse eines mit den Gewerkschaften sympathisierenden Wissenschaftlers (Peter Bartelheimer) skizziert den Kontext und die Entstehung der Forderung nach einer 35 Stunden Woche in den Zusammenhängen der Gewerkschaften IG Metall und IG Druck und Papier im Vorfeld der tariflichen Streikaktionen.

1. 35 Stunden sind genug. Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung von Peter Bartelheimer und Jakob Moneta (Vorwort) Taschenbuch - Frankfurt/Main: ISP, Internationale sozialistische Publikationen, 1982. 
http://www.google.de/search?client=opera&rls=de&q=peter+Bartelheimer+35+Stunden&sourceid=opera&ie=utf-8&oe=utf-8

Eine gute zusammenfassende und gewissermaßen typische Argumentation der wissenschaftlichen Verfechter einer 35 Stunden-Woche ist ein Abschnitt aus dem Jahresgutachten 1983 der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, dem "Memorandum *83" mit dem Titel 35 Stunden sind genug. Dieser Abschnitt ist auch als gesondertes Büchlein erschienen:

2. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: 35 Stunden sind genug, Pahl-Rugenstein, Köln 1984; und 1987 mit den Erfahrungen nach 1984 überarbeitet, noch einmal:
http://www2.alternative-wirtschaftspolitik.de/uploads/memo_klassiker_35_stunden_sind_genug.pdf

Die Diskussion um eine gesellschaftsweite Verkürzung der Arbeitszeit ist dann in der BRD zunächst erst wieder mit den Berichten über die Entwicklung in Frankreich in Gang gekommen. Dort wurden, mit dem Regierungswechsel 1997 zu einer sozialistischen Regierung unter L. Jospin, Gesetze für die Einführung einer 35 Stunden Woche verabschiedet, die 2000 in Kraft traten (Aubry-Gesetze, nach der zuständigen Arbeitsministerin). Steffen Lehndorf hat dies in einem Aufsatz und einem Buch beschrieben und diskutiert:

3. Steffen Lehndorff - Die Einführung der gesetzlichen 35-Stunden-Woche in Frankreich - Ein Zwischenbericht
http://www.memo.uni-bremen.de/docs/m0401.pdf

"Am 1. Februar 2000 wurde in Frankreich die gesetzliche Arbeitszeit für alle Privatbetriebe mit mehr als 20 Beschäftigten von 39 auf 35 Stunden pro Woche verkürzt. Kleinere Betriebe werden erst 2002 in die neue gesetzliche Regelung einbezogen. Arbeitszeiten oberhalb der gesetzlichen Arbeitszeit gelten als zuschlagpflichtige Überstunden, sofern keine abweichenden Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene - etwa in Form von Jahresarbeitszeiten - getroffen wurden. Die zulässige Höchstarbeitszeit wurde von 48 auf 44 Wochenstunden (im Durchschnitt von 12 Wochen) gesenkt, Ausnahmen von dieser Obergrenze definiert das Gesetz. Erklärter Sinn dieses - nach der Arbeitsministerin benannten - Aubry-Gesetzes ist eine spürbare Beschleunigung des Beschäftigungswachstums und des Abbaus der Arbeitslosigkeit."

4. Steffen Lehndorff; Weniger ist mehr: Arbeitszeitverkürzung als Gesellschaftspolitik. Hamburg; VSA, Hamburg 2001:

Dieses Buch ist von mir in der UZ ausführlich besprochen worden: unsere zeit - Zeitung der DKP; 17. Januar 2003; Marxistische Theorie und Geschichte:

5. Jörg Miehe - Arbeitszeitverkürzung - Hebel im Klassenkampf oder weiße Salbe für die Lohnabhängigen?
Buchbesprechung: "Weniger ist mehr - Arbeitszeitverkürzung als Gesellschaftspolitik" http://www.dkp-online.de/uz/3503/s1501.htm

Das allgemeine Thema einer Arbeitszeitverkürzung um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis durchgreifend zu verändern habe ich im Zusammenhang der Entwicklungen in Frankreich aufgegriffen und in einem Aufsatz, ebenfalls in der UZ, diskutiert:

6. Jörg Miehe - Arbeitsplätze für alle sind möglich - 30 Stunden sind genug!
unsere zeit - Zeitung der DKP; 22. November 2002:
http://www.dkp-online.de/uz/3447/s0901.htm

In der Partei sind diese Anstöße über längere Zeit nicht aufgegriffen worden, parallel zu einem ähnlichen Verhalten in den Gewerkschaften - die Kollegen waren zu skeptisch oder gar abwehrend.

Allerdings wurde in der UZ am 2. August 2002 unter der Überschrift Weniger ist mehr - Arbeitszeitverkürzung jetzt! über die Forderungen der Gewerkschaftsjugend verschiedener Verbände aus Anlaß des Aktionstages am 14.9. in Köln "Her mit dem schönen Leben" zur Arbeitszeitverkürzung von LOG berichtet. Am 7. November 2003 berichtet Stefan Heinrich in der UZ unter der Überschrift Arbeitszeitverkürzung mit Gewinnausgleich, Der "Beschäftigungspakt" Telekom will Arbeitszeiten, Löhne und Beschäftigung senken; von den Plänen der Telekom, Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich zu kürzen, ähnlich, wie es schon VW getan hatte.

Nach längeren internen Debatten hat Verdi eine
7. Neue arbeitszeitpolitische Initiative mit einer - Auftaktkonferenz - Berlin, 25. Juni 2003: Wem gehört die Zeit

http://arbeitszeit.verdi.de/arbeitszeitpolitische_initiative
eingeleitet. Sie wurde offenbar gründlich vorbereitet und mit einer längerfristigen Perspektive versehen. Viele Materialien dazu sind unter der obigen Internet-Adresse abzurufen. Eine sowohl allgemeine, also auch konkrete tarifpolitische Begründung liefert die zuständige stellv. Verdi-Vorsitzende Margret Möhnig-Raane in folgendem Beitrag:

8. Wem gehört die Zeit? Koordinaten einer anderen Zeitverteilung - Aktueller Handlungsrahmen

http://arbeitszeit.verdi.de/material/data/logbuch_margret_moenig-raane.pdf

Dort bezieht sie sich vor allem auf drei wichtige, damals neuere empirische soziologische Untersuchungen zum Thema.

Bauer, Frank / Groß, Hermann / Lehmann, Klaudia / Munz, Eva (2004): Arbeitszeit 2003; Arbeitszeitgestaltung, Arbeitsorganisation und Tätigkeitsprofile, Köln

Kratzer, Nick / Fuchs, Tatjana / Wagner, Alexandra (2004): Zeitmuster - Zeitverwendung im Kontext von Erwerbsarbeit und Haushalt, in: SOFI / IAB / INIFES / ISF (Hrsg.): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung: Arbeit und Lebensweisen, Wiesbaden (im Erscheinen)

Lehndorff, Steffen / Wagner, Alexandra (2004): Arbeitszeiten und Arbeitszeitregulierung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, in diesem Band

Lehndorff, Steffen (2003): Politische Voraussetzungen einer individuellen Gestaltung der Lebensarbeitszeit, in: ver.di Bundesverwaltung (Hrsg.): Immer flexibler - immer mehr! Auf dem Weg zur Zeitsouveränität? (Tagungsdokumentation)

Seitdem und bis heute regt Verdi immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen und Bereichen gemeinsame Aktivitäten zum Thema Arbeitszeitverkürzung an und organisiert sie mit. Im Frühjahr 2004 haben Attac und Verdi in Berlin einen Perspektivenkongress "Es geht auch anders!" abgehalten, auf dem die Forderung nach der 30 Stunden-Woche und einem Mindestlohn von (damals) 10 Euro im Vordergrund standen. Die Beiträge wurden veröffentlicht in:

9. Internationaler deutschsprachiger Rundbrief der ATTAC-Bewegung (21.06.2004) Sand im Getriebe 34
http://attacberlin.de/fileadmin/SiG/SiG34.pdf

Schon damals sind einige der Autoren, die auch in den neuesten Initiativen eine Rolle spielen dabei, so unter anderem Mohsen Masserat.

2007 veröffentlicht Werner Sauerborn, Verdi Baden-Würtemberg einen Aufsatz in Verdi Publik 06-07

Im Jahr 2007 veröffentlichen drei Autoren, darunter HJ Bontrup eine kleines Bändchen zur Arbeitszeitverkürzung als Attac-Basis-Text, darin ein Aufruf etlicher Gewerkschafter und fortschrittlicher Wissenschaftler.

10. Heinz-J. Bontrup/Lars Niggemeyer/Jörg Melz Arbeit-fair-teilen - Massenarbeitslosigkeit überwinden; Attac Basis Texte 27, VSA, Hamburg, 2007

Die Einleitung und der Aufruf sind hier nachzulesen:
http://www.vsa-verlag.de/pdf_downloads/VSA_AttacBasisTexte27.pdf

Dieser kleine Band, der Stand der Arbeitszeitverkürzung, der Debatte und die Notwendigkeit einer erneuten Kampagne wurde von mir 2008 in zwei Artikeln in der UZ vorgestellt und diskutiert:

11. Jörg Miehe Arbeitsumverteilung - Dauerbrenner auf kleiner Flamme Zur Entwicklung und Notwendigkeit des Kampfes um die Arbeitszeitverkürzung - Teil I - UZ - 11. April 2008
http://www.dkp-online.de/uz/4015/s1201.htm
(zu: Arbeit fair teilen, Massenarbeitslosigkeit überwinden - Bontrup, Niggemeyer, Melz - Attak Basis Texte Nr. 27, VSA, Hamburg 2007, 94 Seiten, 6,50 Euro)

Arbeitsumverteilung - Dauerbrenner auf kleiner Flamme - Zur Entwicklung und Notwendigkeit des Kampfes um die Arbeitszeitverkürzung Teil II - 18. April 2008
http://www.dkp-online.de/uz/4016/0901

Dort wurden nicht nur die Aktualität des Problems und der Forderung, sondern auch der Hintergrund der kapitalistischen Akkumulationsgeschichte in der BRD angesprochen.

12. Neustart Arbeitszeitpolitik
Wenn in Folge der Krise die Massenarbeitslosigkeit steigt, sollten die Gewerkschaften die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten wieder auf die Tagesordnung setzen. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Ein Beitrag zur Debatte

http://publik.verdi.de/2009/ausgabe_06_07/gesellschaft/zukunft/seite_16/A0

2005 hat Verdi in Bremen eine örtliche/regionale Bremer Arbeitszeitinitiative in Gang gesetzt:
13. "Bremer Arbeitszeitinitiative - Wir fordern menschen- und zukunftsgerechte Arbeitszeiten, Arbeitsumverteilung statt Arbeitszeitverlängerung..."

"Im Frühjahr 2005 gründeten Arbeitnehmerkammer, Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (KDA), der DGB und seine Einzelgewerkschaften, attac, die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB) und das Forum Zeiten der Stadt die Bremer Arbeitszeitinitiative. Sie will der von Arbeitgebern, Medien und Wirtschaftswissenschaften verbreiteten Propaganda, Arbeitszeitverlängerung sei die Lösung der deutschen Standort- und Arbeitsmarktprobleme, argumentativ und praktisch etwas entgegensetzen. Im Sommer 2005 trat die Bremer Arbeitszeitinitiative erstmals mit ihrem Aufruf "Arbeit für alle - mehr Zeit zum Leben " an die Öffentlichkeit."
http://www.bremer-arbeitszeitinitiative.de/cms/index.php

Am 23.5.2011 hat Verdi im Rahmen der Bremer Initiative eine Fachkonferenz abgehalten, mit dem Titel Jetzt ist Zeit
Der Flyer zu den Konferenz ist hier abzurufen
http://www.bremer-arbeitszeitinitiative.de/cms/index.php?menuid=11&downloadid=133&reporeid=0

Eingeleitet wurde die Veranstaltung mit einem Vortrag von Steffen Lehndorff

14. Steffen Lehndorff: "Arbeitszeitpolitik im Betrieb: Interessenvertretung mit gesellschaftlichem Rückenwind" http://www.bremer-arbeitszeitinitiative.de/cms/dokumente/upload/verdi%20Bremen%2011-05-23%20Lehndorff.pdf

Außerdem wurde dort das

15. ABC der Arbeitszeitverkürzung öffentlich vorgestellt:

56 Vortragsseiten im Präsentationsformat! Damit kann jeder einen Vortrag über Arbeitszeitverkürzung halten!
http://www.bremer-arbeitszeitinitiative.de/cms/dokumente/upload/ABC-Postkartenbuch%200511.pdf

Am 30. Juni und 1. Juli 2011 haben in Hannover die - Memo-Gruppe, die Rosa-Luxemburg-Stiftung Nds und Verdi Landesbezirk Niedersachsen und ATTAC-AG Arbeit-FAIR-Teilen - eine Konferenz zum Thema:

16. Wege zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit - Arbeitszeitverkürzung auf die Tagesordnung ?!
abgehalten. Der Einladungsflyer ist unter
http://www2.alternative-wirtschaftspolitik.de/uploads/konferenz_arbeitszeitverkuerzung.pdf abzurufen.

Der Hauptbeitrag war die Vorstellung eines Manifestes Arbeitszeitverkürzung jetzt durch J Bontrup

17. Arbeitszeitverkürzung und Ausbau der öffentlichen Beschäftigung jetzt! Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit
von Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup und Prof. Dr. Mohssen Massarrat - im Mai 2011
http://www2.alternative-wirtschaftspolitik.de/uploads/m1611.pdf

Eine Art Kurzfassung findet man in dem Aufsatz
18. Produktivitätszuwachs - für wen? Heinz-J. Bontrup - erschienen in Ossietzky 13/2011
http://www.sopos.org/aufsaetze/4e05ae02031dd/1.phtml

Die Konferenz war insoweit wichtig, als verschiedene Positionen dort öffentlich vorgestellt wurden und ihre Vertreter miteinander diskutiert haben: So u.a auch Lehndorff, Margarete Steinrücke, Frigga Haug u.a.

Eine Besprechung der Konferenz findet man unter 19. Arbeitszeitverkürzung für gutes Leben - Gewerkschafter und soziale Bewegung diskutierten in Hannover über Wege aus der Massenarbeitslosigkeit
Stephan Krull, Hannover - Junge Welt 05.07.2011 / Inland / Seite 5
http://www.jungewelt.de/2011/07-05/003.php

Arbeitszeitverkürzung für gutes Leben

Gewerkschafter und soziale Bewegung diskutierten in Hannover über Wege aus der Massenarbeitslosigkeit Stephan Krull, Hannover

Wege zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit - Arbeitszeitverkürzung auf die Tagesordnung« war der Titel einer Konferenz am Wochenende in Hannover. Rund 100 Gewerkschafter, darunter viele Betriebs- und Personalräte, waren zu der gemeinsamen Veranstaltung von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen, ver.di Niedersachsen, der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und der ATTAC-AG ArbeitFairTeilen gekommen.

Die Diskusionsbeiträge, ergänzt von Wissenschaftlern, Feministinnen, Vertretern des BUND und der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, drehten sich um den Anspruch auf gutes Leben, Glück, Freiheit, Selbstbestimmung, Partizipation und intakte Umwelt als Ausgangspunkt für die Forderung nach radikaler Arbeitszeitverkürzung.

Im Jahr 2010 wurden offiziell 3,2 Millionen Arbeitslose gemeldet. Hinzu kommen rund 1,7 Millionen verdeckte und sich in der stillen Reserve befindliche Arbeitslose sowie mehrere Millionen Menschen in unfreiwilliger und schlecht bezahlter Teilzeitarbeit. Damit fehlen rund sieben Millionen Arbeitsplätze, wie Norbert Reuter vom verdi-Bundesvorstand vorrechnete. Mohssen Massarrat von ArbeitFairTeilen kritisierte: »Vor diesem Hintergrund sind die jüngsten Verlautbarungen aus der Politik, die von einem 'Beschäftigungswunder' sprechen, zynisch.« Ursächlich für die in der Krise nicht weiter angestiegene Massenarbeitslosigkeit waren die Konjunkturprogramme und die Arbeitszeitverkürzung. Heinz Bontrup von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschafspolitik erklärte, »ohne Arbeitszeitverkürzungen wäre die Arbeitslosigkeit um über eine Million gestiegen«. Durch den Abbau von Überstunden und Arbeitszeitkonten, eine massive Förderung der Kurzarbeit sowie einen weiteren Anstieg von Teilzeitbeschäftigung seien bei gleichzeitigem Rückgang von Vollzeitbeschäftigung Arbeitsplätze gerettet worden. In der Krise sei für alle sichtbar bewiesen worden, daß Arbeitszeitverkürzung ein wichtiges Instrument zur Verringerung der Arbeitslosigkeit ist.

»Zwei Jahre nach dem Tiefpunkt der Krise wollen Politik und Arbeitgeber nichts mehr vom Erfolg der Arbeitszeitverkürzung wissen - heute steht wieder die völlig kontraproduktive Arbeitszeitverlängerung auf der Tagesordnung«, stellte Detlef Ahting von ver.di Niedersachsen-Bremen fest. Die Situation werde durch verlängerte Arbeitszeiten und zusätzlich durch 2,5 Milliarden Überstunden jährlich in vielen Betrieben erschwert. »Wenn in einigen Branchen, wie zum Beispiel in der Pflege, durchschnittlich weit über 40 Stunden gearbeitet wird, dann ist das nicht in Ordnung«, so der Gewerkschafter. »Wir brauchen eine neue gesellschaftliche Debatte um die gerechte Verteilung von Arbeit.«

Die in Hannover begonnene Zusammenarbeit soll bei weiteren Regionalkonferenzen vertieft werden, ein Aktionsaufruf soll den Schritt von der Diskussion zur gesellschaftlichen Aktion vorbereiten.

Aktuelles Material zur Arbeitszeitfrage findet man im IAQ-Report - 2010-07

20. IAQ-Arbeitszeit-Monitor 2010

Christine Franz und Steffen Lehndorff
Arbeitszeitentwicklung und Krise - eine Zwischenbilanz

Auf den Punkt...
In den Krisenjahren 2008/2009 haben Arbeitszeitverkürzungen in Deutschland wesentlich zur Sicherung von Arbeitsplätzen beigetragen. Bis zum Tiefpunkt der Krise im zweiten Quartal 2009 war die tatsächliche Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten um fast 1,4 Wochenstunden gegenüber dem Vorjahresquartal zurückgegangen. In exportorientierten Branchen wie der Metallindustrie betrug die Arbeitszeitverkürzung im selben Zeitraum sogar drei Stunden. Im Durchschnitt der EU war dieser Verkürzungseffekt wesentlich geringer. Dies zeigt eine Auswertung von Daten der Europäischen Arbeitskräftestichprobe durch das IAQ.

• Kurzarbeit war dabei nur eines von mehreren Instrumenten der Arbeitszeitverkürzung. Formen individueller Arbeitszeitverkürzung wie der Abbau von Überstunden und von Guthaben auf Arbeitszeitkonten leisteten zusammengenommen sogar einen noch größeren Beitrag. Diese "Puffer-Funktion" von Arbeitszeitkonten mag einerseits hilfreich erscheinen, doch andererseits darf nicht übersehen werden, dass die Zeit-Guthaben zu einem beträchtlichen Teil im vorausgegangenen Aufschwung zu Lasten der Schaffung zusätzlicher Beschäftigung angesammelt wurden.

• Der Trend zu längeren Arbeitszeiten von Vollzeitbeschäftigten (bis auf 40,4 Stunden in 2008) ist zwar durch die Krise zunächst jäh unterbrochen worden. Doch seit dem dritten Quartal 2009 haben sich die durchschnittlichen Arbeitszeiten bis zum ersten Quartal 2010 wieder bis auf 0,5 Stunden an das Vorkrisenniveau angenähert.

• In diesem neuerlichen Anstieg der Arbeitszeiten drückt sich nicht allein der Rückgang der Kurzarbeit aus. Es deutet sich auch ein Rückfall in die Praxis der Überstundenarbeit und des Aufbaus von Guthaben auf Arbeitszeitkonten an, die bereits in den Jahren vor der Krise den Beschäftigungsaufbau erkennbar gebremst hatte. Sollte sich diese Tendenz verfestigen, droht dies die Beschäftigungswirksamkeit des beginnenden Aufschwungs ernsthaft zu behindern.

http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2010/report2010-07.pdf


II Was soll man zur Kenntnis nehmen, lesen oder studieren?

Der Einstieg ergibt sich wohl am günstigsten mit meinem Artikel in der UZ aus 2008. Er steht hier unter 11. mit den Links zur UZ. Außerdem ist er als PDF-Datei im Anhang dieser mail zu lesen. Wer ein wenig weiter ausholen will, einerseits zum französischen Versuch einer gesetzlichen Regelung und andererseits zu den grundsätzlichen Zahlenüberlegungen sollte meine beiden vorherigen Aufsätze von 2002 und 2003 aus der UZ lesen. Sie stehen unter 5. und 6. der obigen Liste mit den entsprechenden Links.

Wer sehr weit zurückgreifen will, sollte sich bei Marx im ersten Band des Kapital, 3. Abschnitt: Die Produktion des absoluten Mehrwertes, 8. Kapitel: Der Arbeitstag; 7. Der Kampf um den Normalarbeitstag, Rückwirkung der englischen Fabrikgesetzgebung auf andre Länder; ansehen. (MEW Bd 23, S. 315-320)

Sehr viel näher liegt die Schilderung der Entstehung der tariflichen Forderungen nach der 35-Stunden Woche durch Peter Bartelheimer von 1982, Nr. 1 auf dieser Liste.

In die aktuelle Debatte führt der Aufsatz von H-J Bontrup - Produktivitätszuwachs - für wen? ein, der in Ossietzky 13/2011 erschienen ist. Nr 16. der obigen Liste. Dort findet man schon eine Kurzfassung der ökonomischen Rechnungen zur Sache. Für eine ausführliche Diskussion gerade auch der ökonomischen Überlegungen für einen vollständigen "Lohnausgleich" (Beibehaltung des vorhandenen Lohnniveaus) ist die Lektüre des Manifestes von Bontrup und Masserat hilfreich, Nr. 17 auf der Liste.

Wer sich möglichst gleich vorstellen können möchte, wie man selber ausführlich zu dem Thema selber Stellung nehmen kann, der sollte sich das ABC der Arbeitszeitverkürzung durchsehen - und dabei auch gleich selber noch viel lernen.


III Welche Fragen stellen sich, müssten diskutiert und beantwortet werden?

1. Die Arbeitszeit als Moment des individuellen Arbeitsverhältnisses (Arbeitsvertrages); Rolle der kollektiven Regulierung: EU-AZ-Richtlinie, BRD: ArbZG 94; Tarife; BetrVG;

2. Die Arbeitszeit als volkswirtschaftliche Größe, ihre Bewegung und Bedeutung

3. Der Normalarbeitstag als eine Bestimmungsgröße der alltäglichen Lebensverhältnisse

4. Der Normalarbeitstag als Moment des Normalarbeitsverhältnisses

5. Sind drastische Arbeitszeitverkürzungen im hiesigen Kapitalismus ökonomisch möglich?

6. Welche Art der Arbeitszeitverkürzungen sollte das Ziel politischer Programmatik sein? (indiv.-koll.; tägl., wöch., jährl. (Urlaub), biogr., lebenszeitl. (Sabbat, (gleitender Einstieg) Rentenalter)

7. Eine Kampagne zur Arbeitszeitverkürzung: Ziele; Zielgruppen; Argumente Bündnisse; Organisierung - Perspektive

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-12, 50. Jahrgang, S. 43-50
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2012