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MARXISTISCHE BLÄTTER/534: Frankreich nach sechs Monaten Hollande


Marxistische Blätter Heft 6-12

Frankreich nach sechs Monaten Hollande

von Georg Polikeit



"Langsam, aber sicher sinkt die Vertrauensquote des Präsidenten immer mehr ab, besonders unter den Anhängern der Linken", schrieb die bürgerliche Tageszeitung "Le Monde" Anfang Oktober zu den jüngsten Umfrageergebnissen für den im Frühjahr gewählten "sozialistischen" (sozialdemokratischen) Staatspräsidenten François Holland.(1) Nur noch 42 Prozent der Befragten bejahten, dass sie Hollande zutrauen, "die wichtigsten Probleme wirkungsvoll anzugehen", gegenüber 55 Prozent, die das Gegenteil bekundeten.

Am 6. Mai 2012 war Hollande im zweiten Wahlgang mit 51,6 Prozent gewählt worden. Also faktisch eine Einbuße von 10 Prozent innerhalb von fünf Monaten. Einen so schnellen Einbruch der Zustimmung für die neue französische Staatsspitze hatten viele nicht erwartet.

Das kann nur ein Signal dafür sein, dass sich unter denen, die im Frühjahr ihre Stimme für die Abwahl des vormaligen rechten Staatschefs Sarkozy abgegeben hatten, bereits beträchtliche Enttäuschung darüber ausbreitet, was Hollande und seine Regierung seitdem getan haben. Ein Signal unerfüllter Erwartungen.

Die Mehrheit der französischen Bevölkerung hatte die Absage an den Sarkozy-Kurs mit der Hoffnung verbunden, dass Hollande und die hinter ihm stehende "Parti Socialiste" (PS) eine Kurswende zu einer mehr auf soziale Gerechtigkeit ausgerichteten Politik einleiten werde. Hollande hatte diese Hoffnung durch "linke" Aussagen im Wahlkampf kräftig geschürt. Er präsentierte sich als der Kandidat, der eine Wende ("changement") in der französischen Politik durchsetzen werde. Sechs Monate später haben viele offenbar das Gefühl, dass das "changement" auf sich warten lässt.


Schwierige Wirtschaftslage

Das hat natürlich auch objektive Ursachen. Dazu gehören vor allem die großen ökonomischen Probleme, mit denen die französische Wirtschaft im Schatten der anhaltenden Euro- und Weltwirtschaftskrise konfrontiert ist. Anders als Deutschland ist Frankreich erheblich stärker davon betroffen.

Laut der französischen Statistikbehörde INSEE(2) verzeichnete die französische Wirtschaft im dritten Quartal 2012 in ununterbrochener Folge ein Nullwachstum. Für den französische Export sagte INSEE einen Einbruch um -0,3 Prozent vorher. Nach amtlicher Schätzungen sollte sich an diesem Dahinschlittern am Rand der Rezession bis zum Jahresende nichts ändern.

Die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit lag Ende Juli 2012 bei 10,2 Prozent. Nach den Prognosen von INSEE sollte sie im dritten Quartal auf 10,4 und im vierten Quartal sogar auf 10,6 Prozent steigen ein Höchststand, wie er seit Jahren nicht mehr zu verzeichnen war. Die Armutsquote (60 Prozent unter dem Durchschnittseinkommen) lag 2012 bei 15,4 Prozent (ca. 8,6 Millionen Menschen). Die Staatsverschuldung Frankreichs belief sich Ende 2011 auf 86 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Die Wirtschaftsprobleme, die sich in diesen Zahlen widerspiegeln, sind natürlich nicht in erster Linie durch das Regierungshandeln seit dem Amtsantritt Hollandes verursacht. Den hohen Schuldenstand haben die Sozialisten vom rechten Amtsvorgänger Sarkozy geerbt. Für den Exportrückgang ist vor allem die anhaltende Euro-Krise verantwortlich.


Eine Regierungspolitik voller Widersprüche

Quelle der Unzufriedenheit in der Bevölkerung sind aber nicht nur diese objektiven Schwierigkeiten, die sich im täglichen Leben vieler Franzosen nicht nur mit Arbeitslosigkeit und Armut, mit zunehmend prekären Arbeitsverhältnissen, aber auch mit Angst vor Jobverlust und fehlenden Zukunftsaussichten für viele Jugendliche bemerkbar machen. Hinzu kommt das Gefühl, dass die neue Staatsspitze seit ihrem Amtsantritt auch nichts Wirksames dagegen unternommen oder wenigstens eingeleitet hat.

Der Nationalsekretär der französische Kommunisten, Pierre Laurent, hat im Oktober auf einer Führungstagung der PCF zur Einberufung ihres 36. Parteitag im Februar nächsten Jahres hervorgehoben, dass Rechte und Unternehmerverbände sofort nach den Wahlniederlagen der Sarkozy-Partei UMP einen massiven Gegenangriff gestartet haben, "um das demokratische Urteil der Urnen auszulöschen".(3) In der Tat haben sie, obwohl die UMP nach dem Wahldebakel noch in internen Führungsquerelen steckt, mit den ihnen immer noch zur Verfügung stehenden ökonomischen und finanziellen Mitteln, vor allem über die Medien, begonnen, massiven Druck auf die neue Staatsspitze, die linke Mehrheit im Parlament und die Bevölkerung insgesamt auszuüben. Sie "feuern aus allen Rohren", um die demokratische Entscheidung der Wählermehrheit für eine politische Wende zu blockieren und jede Maßnahme in diese Richtung zu verhindern.

Gegenüber diesem rachelüsternen Druck der Rechten und des Kapitals lassen die sozialdemokratisch geführte Regierung und ihr präsidialer Chef unverkennbar eine Tendenz zu Ausweichmanövern, Rückzügen und Konzessionen an die Unternehmerverbände erkennen. In mancher Hinsicht sind sie bereits dabei, die von Kapital und Rechten verfochtenen neoliberalen Glaubenssätze zu übernehmen und auch zu praktizieren.

So ergibt sich eine Regierungspolitik voller Widersprüche. Da werden Entlassungspläne von Konzerndirektionen als "inakzeptabel" verurteilt, um sie einige Tage später dann doch als "unvermeidlich" hinzunehmen. Da werden einige Maßnahmen zu mehr Steuergerechtigkeit durch die Abschaffung von Steuerprivilegien und eine gewisse Anhebung von Steuersätzen für die Reichen beschlossen, aber die positive Wirkung dieser Mehreinnahmen sogleich wieder zunichte gemacht durch die Beibehaltung der von Sarkozy verkündeten, von der EU diktierten Sparziele im Staatshaushalt. Aus dem im Wahlkampf verkündigten "Krieg gegen die Finanzwirtschaft" ist die Realität einer staatlichen Einsparpolitik geworden, die mit der Hoffnung auf ein neues Wirtschaftswachstum ab 2014 die Menschen ruhig zu stellen versucht. Es verfestigt sich der Eindruck, dass die Wahlversprechen der Sozialisten von einer grundlegenden Kurswende nur wahltaktisches Getöse waren und sie jetzt zunehmend davon abrücken.


Eine hilflos erscheinende Regierung

Seit der Wahl Hollandes sind von den Konzerndirektionen Entlassungen und Betriebsschließungen in beängstigender Dichte bekanntgegeben worden. Es wird sogar vermutet, dass viele dieser "Umstrukturierungsmaßnahmen" schon früher geplant waren, aber von den Unternehmern vor der Wahl bewusst zurückgestellt worden sind, um die Wahlchancen des "wirtschaftsfreundlichen", Ex-Staatschefs Sarkozy nicht zu belasten.

Besonders von der Krise betroffen ist die französische Autoindustrie. Als die Direktion des zweitgrößten französischen Autokonzerns PSA (Peugeot/Citroen) am 12. Juli, zwei Monate nach dem Amtsantritt der neuen Regierung, bekannt gab, dass sie weitere 8000 Arbeitsplätze an den französischen Standorten abbauen werde, wirkte das wie ein Paukenschlag.(4) Das Werk Aulnay-sous-Bois (Region Paris) soll ganz stillgelegt, im Werk Rennes sollen 1200 Stellen gestrichen werden. Hollande und sein Industrieminister Montebourg gaben sich empört, aber wenige Tage später schwenkten sie mit der Erklärung um, dass es nun darum gehen müsse, das Ausmaß des Stellenabbaus möglichst gering zu halten. Kein Wunder, dass sich bei den Betroffenen das Gefühl einstellte, von der sozialistischen Regierung im Stich gelassen worden zu sein.

Inzwischen gibt es eine Vereinbarung, wonach PSA eine staatliche Garantiezusage bis zu 7 Milliarden Euro bekommt. Als Gegenleistung werden zwei Plätze im Aufsichtsrat für einen Regierungsvertreter und einen Vertreter der Beschäftigten eingeräumt. Die Rettung soll nun in einer Kooperation mit General Motors (GM) und dessen gleichfalls angeschlagener deutscher Tochter Opel liegen. Inzwischen gibt es auch Verhandlungen über Sozialpläne, die die Umbaumaßnahmen "begleiten" sollen.(5) Doch an der Werkschließung und den Stellenkürzungen wurde festgehalten. Noch unklar ist, ob im Gefolge der "Kooperation" mit GM-Opel nicht ein weiterer Arbeitsplatzabbau sowohl in Frankreich wie in Deutschland droht.

Arbeitsplatzabbau und Betriebsschließungen gab es aber nicht nur in der Autobranche. So die Stillegung des Stahlwerks ArcelorMittal in Florange (Mosel), die Abbaupläne des Pharmakonzerns Sanofi um 1000 bis 2000 Stellen, obwohl letztes Jahr 4,4 Milliarden Euro Dividenden an die Aktionäre ausgezahlt worden sind, die Schließung von Filialen bei der Handelskette "Carrefour", die Stillegung der Ölraffinerie Petrobas und viele andere mehr.

In allen diesen Fällen erweckte die sozialdemokratische Regierung den Eindruck, dass sie diesen Vorgängen ziemlich hilflos gegenübersteht, die Kapitalentscheidungen fast widerspruchslos hinnimmt, sich aber nicht traut, mit den Kapitalbesitzern und ihren Managern in Konflikt zu treten.


Widerspruchsvolle Halbjahresbilanz

Es gibt in den sechs Monaten seit der Amtsübernahme zweifellos eine Reihe von Maßnahmen, die in der Bevölkerung positiv aufgenommen wurden. So die Wiederanhebung der Erbschafts- und Vermögenssteuer (+2 Prozent zunächst bis Ende 2013), die Besteuerung der Ausgabe von Gratisaktien, die Einführung einer befristeten Sonderabgabe für große Vermögen ab 800.000 Euro, die Anhebung der in Frankreich bereits eingeführten Finanztransaktionssteuer von 0,1 auf 0,2 Prozent, die Wiederaufhebung der von Sarkozy in letzter Minute vor seiner Abwahl durchgesetzten "TVA sociale" ("soziale Mehrwertsteuer", 1,6 Prozent Zuschlag auf die normale MWSt zur Finanzierung der Krankenversicherung). Auch die Senkung des Benzin- und Dieselpreises im August um 6 Cent/Liter durch einen zeitweiligen Verzicht des Staates auf einige Cent Treibstoffsteuer oder die im Oktober beschlossene 100-prozentige Übernahme der Kosten der Empfängnisverhütung für Mädchen von 15-18 Jahren (Pille kostenlos) und für einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch durch die Krankenkassen gehört dazu.

Mittlerweile ist auch die 75-prozentige Besteuerung der Einkommen über einer Million Euro, deren Ankündigung im Wahlkampf hohe Wellen geschlagen hatte, im Rahmen des Haushalts 2013 beschlossen worden, wenn auch nur begrenzt auf zwei Jahre. Da jedoch nur die reinen Einkommen "aus beruflicher Tätigkeit" von mehr als einer Million pro Jahr unter diese Steuer fallen, andere Einkommensarten aber nicht berücksichtigt werden, steht inzwischen fest, dass nur etwa 1500 Personen davon betroffen sein werden, was gerade mal etwas mehr als 200 Millionen Euro einbringen wird - also eine rein "symbolische" Maßnahme.(6)

Bei anderen Maßnahmen war das Echo erheblich "durchwachsener". So deutete die noch vor der Sommerpause verordnete Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC) zwar in die richtige Richtung, aber die Anhebung um nur magere 2 Prozent (0,6 Prozent bei Berücksichtigung der Inflationsrate) hatte bei den Betroffenen eher Enttäuschung ausgelöst.

Ähnlich die angebliche "Wiedereinführung der Rente mit 60", die sich als Mogelpackung erwies. Denn wieder eingeführt wurde der Rentenbezug ab 60 nur für einen kleinen Teil der Betroffenen, nämlich für diejenigen, die mindestens 41,5 Beitragsjahre aufzuweisen haben, also schon mit 18 Jahren und seitdem ununterbrochen abhängig beschäftigt waren. Für die große Masse der Rentenbezieher blieb die von Sarkozy gegen starke Gewerkschaftsproteste durchgesetzte Verschlechterung ungeschmälert in Kraft.


Ja zum EU-Fiskalpakt mit institutionalisiertem Sparzwang

Zu den gravierenden Negativpunkten der Halbjahresbilanz gehört die inzwischen vollzogene Ratifizierung des EU-Fiskalpaktes mit seiner "Schuldenregel". Obwohl Hollande im Wahlkampf erklärt hatte, dass dieser "Merkel-Sarkozy"-Pakt nicht annehmbar sei und neu verhandelt werden müsse, wurde er im Oktober von der sozialdemokratischen Mehrheit bis auf das Komma genau in der ursprünglichen Fassung gebilligt, ohne dass es Neuverhandlungen gegeben hätte. Die Kommunisten und die mit ihnen in der "Linksfront" verbündeten anderen Linkskräfte hatten mit einer landesweiten Kampagne entschieden dagegen Front gemacht. Doch eine von ihnen geforderte Volksabstimmung über den Vertrag war von Hollande verweigert worden.

Bei der Abstimmung in der Nationalversammlung am 9. Oktober stimmten allerdings 12 von 17 Abgeordneten der Grünen (also die große Mehrheit der grünen Fraktion) und immerhin 22 Abgeordnete der Sozialisten zusammen mit der "Linksfront" gegen den Vertrag. Dafür stimmten ziemlich geschlossen auch die Abgeordneten der Rechten außer der rechtsextremistischen "Front National" (FN). Erstmals seit den Wahlen im Frühjahr wurde so eine bemerkenswerte "große Koalition" zwischen Sozialisten und Rechtsparteien sichtbar, obwohl sie sich im Wahlkampf heftig bekämpft hatten. Im Senat wurde der Vertrag nur dank der Zustimmung der Rechten angenommen, eine eigene Mehrheit hatte die Regierung nicht erreicht.(7)


Haushalt 2013

Die Entscheidung Hollandes, an der von Sarkozy im Namen der Einhaltung der EU-Kriterien eingeleiteten Politik zum Abbau des französischen Staatsdefizits festzuhalten und bis 2017 einen ausgeglichenen Haushalt gemäß der "Schuldenregel" des Fiskalpakts zu erreichen, hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Haushaltsplanung für 2013.

Laut dem am 23. Oktober im Parlament mehrheitlich angenommenen Plan soll das französische Haushaltsdefizit bereits 2013 von derzeit 4,5 Prozent auf die EU-zulässige Norm von 3 Prozent, das heißt um insgesamt 36,9 Milliarden Euro zurückgefahren werden. Zwei Drittel davon sollen über Steuererhöhungen hereingeholt werden, von denen laut Regierung angeblich nur die reichsten zehn Prozent und die Großunternehmen betroffen sein werden. Mehr als 10 Milliarden sollen jedoch über Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben erreicht werden.(8)

Viele befürchten aber, dass auch Teile des Mittelstands und die oberen bis mittleren Kategorien der Lohnabhängigen von höheren Steuerzahlungen betroffen sein werden. Eine Steuererhöhung von 0,3 Prozent für steuerpflichtige Rentner, von der etwa die Hälfte aller Rentner betroffen sein wird, und eine Erhöhung der Bier- und Tabaksteuer gehört jedenfalls auch zu dem Paket.

Erheblich stärker negativ ins Gewicht fallen jedoch die Ausgabenkürzungen. Alle Ministerien mit Ausnahme des Bildungs-, Justiz- und Innenministeriums haben von Premierminister Ayrault offizielle Briefe ("lettres de cadrage") mit festen Rahmenvorgaben für die Reduzierung ihrer Etats um durchschnittlich 15 Prozent erhalten. Nur im Bereich Bildung, Justiz und Polizei ("Innere Sicherheit"), die als vorrangig eingestuft wurden, sollen die Zahl der Beschäftigten um 11.000 Stellen vergrößert und die Budgets entsprechend erhöht werden: Was Wir die prioritären Aufgaben" zusätzlich ausgegeben wird, soll jedoch in anderen Stellen wieder hereingeholt werden. Der von Sarkozy eingeleitete Stellenabbau in den öffentlichen Diensten wird damit weitergeführt.

Zu den Kürzungen gehört auch eine drastische Reduzierung der staatlichen Zuweisungen an die territorialen Gebietskörperschaften, in erster Linie die Kommunen.(9) Auch bei den Ausgaben Wir das Gesundheitswesen ist im kommenden Jahr eine Reduzierung um 2,5-2,7 Prozent in Anschlag gebracht.


Welche Strategie der Linken?

Unter den Kräften links von den "Sozialisten" hat sich angesichts des "Rechtsschwenks" von Hollande im Vergleich zu seinen Wahlkampfaussagen eine Diskussion um die Frage nach der weiteren Strategie entwickelt. Soll man angesichts der Widersprüchlichkeit des Kurses der Sozialisten und ihrer Neigung, sich dem Druck des Kapitals zu beugen, auf frontalen Oppositionskurs umschalten? Oder muss man versuchen, die derzeitige Situation umzukehren, das heißt den Kampf um die tatsächliche Durchsetzung der von Hollande versprochenen "Wende" weiterführen, indem die positiven Ansätze in der Regierungspolitik unterstützt und gleichzeitig gegen ihre Anpassungsneigung und Übernahme von Kapitalforderungen entschieden Front gemacht wird?

Auf der erwähnten Tagung des Nationalrats der PCF betonte Pierre Laurent, dass die gegenwärtige Situation sowohl "die Möglichkeit einer breiten Volkseinheit für Ziele der gesellschaftlichen Transformation" biete, aber auch "Blockaden der politischen Situation" vorhanden sind, "die den Durchbruch der Kräfte der Veränderung verhindern". Deshalb komme es darauf an, in die politische Offensive zu gehen. Denn wenn es nicht gelingt, die Hindernisse für die Kurswende zu überwinden, könnte dies "starke Schübe von Verunsicherung und politischen Rückzügen, sogar starke Schübe hin zu den Ultrarechten" zur Folge haben.

Die Gefahr, dass von den Entlassungswellen betroffene und verängstigte, ins Abseits gedrängte und von der Regierung enttäuschte Menschen nach rechts "kanalisiert" werden und sogar ins Lager des rechtsextremistischen FN übergehen, ist unübersehbar. Die FN ist dabei, ihre Kräfte vor allem auf die Kommunalwahlen 2014 zu konzentrieren.

Von den Führungskreisen der PCF wird betont, dass sich die Kräfte links von den Sozialdemokraten in dieser Situation weder auf eine Rolle als reine Zuschauer des Regierungshandelns beschränken noch auf das Scheitern dieser Regierung setzen können. Vielmehr komme es darauf an, mit all jenen, die im Frühjahr gegen Sarkozy stimmten, weil sie das "changement" wollten, eine breite Bewegung und Allianz zu entwickeln, die den Kampf um die Durchsetzung dieses Ziels, das den Wahlkampf beherrschte, weiterführen. Dabei wurde auch darauf verwiesen, dass eine Bewegung innerhalb der sozialistischen und linken Wählerschaft in Richtung Ablehnung der Sparzwangpolitik und für eine andere Politik durchaus möglich sei, selbst unter einem Teil der Führungskreisen. Deshalb müsse es darum gehen, die Entfaltung der Linkskräfte weiter voran zu treiben, die bisherigen Grenzen der "Linksfront" zu überschreiten, eine "neue kulturelle Hegemonie" zu erreichen und mit einer "Volksfront neuen Typs" die Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse voran zu bringen.


Große Probleme

Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass die tatsächliche Realisierung dieser Orientierung noch mit großen Schwierigkeiten konfrontiert sein wird.

Die linke Kritik an den Widersprüchen der sozialdemokratischen Regierungspolitik ist derzeit in der öffentlichen Meinung noch eine Minderheitenposition. Bei vielen Anhängern und Wählern der PS herrscht trotz mancher Punkte der Unzufriedenheit und Kritik noch die Meinung vor, dass die Regierung trotz allem bereits eine Reihe positiver Veränderungen vorgenommen habe, eigentlich auf dem richtigen Weg sei und für die Bewältigung der von Sarkozy hinterlassenen wirtschaftlichen Probleme eben noch mehr Zeit brauche.

Problematisch ist auch die Situation bei den Gewerkschaften. Die fünf größten Gewerkschaftsbünde hatten zwar Ende Oktober erstmals seit dem Amtsantritt Hollandes wieder zu einem gemeinsamen Aktions- und Solidaritätstag gegen die Sparzwangpolitik am 14. November unter dem Dach des "Europäischen Gewerkschaftsbundes" (EGB) aufgerufen. Dennoch bleibt deutlich, dass es in der Herangehensweise und im Verhältnis zur Regierung zwischen den beiden größten Bänden, der sozialpartnerschaftlich orientierten CFDT und der stärker kämpferisch eingestellten CGT, erhebliche Differenzen gibt. Im Unterschied zur Situation unter Sarkozy fehlt heute ein verbindendes Ziel und Konzept. Das hat zur Folge, dass sich gewerkschaftliche Kämpfe in Frankreich derzeit vorwiegend als relativ vereinzelte Abwehrkämpfe gegen Betriebsschließungen und Arbeitsplatzabbau entwickeln, die bestenfalls in die schlimmsten Folgen abmildernde Sozialpläne einmünden.

Es wird sich also erst noch zeigen müssen, ob es gelingen kann, aus dem Kampf gegen die Sparzwangpolitik mit schwerwiegenden negativen Folgen eine Massenbewegung zu entwickeln, die tatsächlich zur Durchsetzung einer grundlegenden "Linkswende" in der französischen Politik führen kann. Die Möglichkeiten dazu scheinen gegeben, aber der Hauptteil des Kampfes steht noch bevor.


Anmerkungen

(1) "Le Monde" online, 7.10. u. 8.10.2012.
(2) siehe www.insee.fr, croissance économique, comptes nationaux trimestriels und verschiedene weitere Angaben in diesem Portal, sowie "Humanité" online, 5.10.2012.
(3) http://www.pcf.fr/29609
(4) "Le Monde" online, 12.7.2012, und zahlreiche weitere Presseartikel in den folgenden Tagen in der gleichen Zeitung, ebenso in der "Humanité".
(5) "Le Monde" online, 24. u. 25.10.2012
(6) "Libération" online, 19.10.2012
(7) "Humanité" online, 9.10.2012 und 11.10.2012
(8) "Humanité" online, 29.9.2012
(9) "Le Monde" online, 27.9.2012

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-12, 50. Jahrgang, S. 25-29
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2013