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MARXISTISCHE BLÄTTER/536: Wie die Glocken von Basel verstummten ...


Marxistische Blätter Heft 6-12

Wie die Glocken von Basel verstummten ...
­... oder wie den Sozialdemokraten der Marxismus abhanden kam

von Robert Steigerwald



Die Periode der Geschichte der Arbeiterbewegung, die Gegenstand unserer Tagung ist, war eine der dramatischsten, eine heroische und tragische, eine solche wichtiger Massenaktivitäten und schmählichsten Verrats. Es war dies die Zeit, in welcher sich scheinbar abseits vom immer tieferen Eindringen des Marxismus in breite Teile der Arbeiterklasse zugleich Reformismus und - vor allem - Revisionismus entfalten konnten. So sehr, dass man hin und wieder sagen hört, es sei die Zeit der Internationale des Revisionismus gewesen. Ja, es war die Zeit, in der aus August Bebels "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!" wurde: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!" Und in der dem Kaiser nicht nur das Blutgeld, sondern auch die Männer, Brüder und Söhne für das Gemetzel gegeben wurden. Die Zeit, in der die grundlegende Idee des Proletariats, der proletarische Internationalismus, der grundlegenden Idee des Kapitalismus, dem Nationalismus, preisgegeben wurde.

Aber war es nicht auch die Zeit der Internationale August Bebels, Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts, Clara Zetkins und Franz Mehrings? Und es war die Zeit der Internationale Lenins!

Nein, wir lassen uns die Internationale dieser Epoche trotz des Wirkens ihrer Gegner nicht nehmen, wir müssen nur die erforderlichen Lehren aus ihr ziehen. Zu fragen ist, ob einige die Periode bestimmende Themen einen Zusammenhang haben zum Kampf gegen imperialistischen Krieg und für Völkerfrieden? Man muss feststellen, dass diese Periode zugleich jene ist, in der die SPD und die von ihr geprägte Internationale im Sommer 1914 als sozialistische starben, weil sie bereits ihren Marxismus, die Staats-, die Macht-, die Klassenfrage aus Kopf und Herz verbannt hatten.


Eine neue Zeit beginnt: Der Imperialismus

Um 1900 endete die relativ friedliche Periode der Entwicklung der sozialistischen Arbeiterbewegung, es waren in vielen Ländern sozialistische Parteien entstanden. Abgelöst wurde diese Zeit durch eine Etappe, in der es zu Wettrüsten, Kriegen, revolutionären, antikolonialen Ausbrüchen, schließlich zum imperialistischen Weltkrieg und zur Oktoberrevolution, zur Gründung der III. Internationale als Beginn einer anderen Zeit kommen sollte, in der sich die Konturen einer neuen Welt herauszubilden begannen. In dieser Zeit verlagerte sich das Zentrum der internationalen revolutionären Bewegung nach Russland. Gleichzeitig gab es wichtige Veränderungen in der Arbeiterbewegung des Westens, vor allem Deutschlands.

Die SPD wurde als Vorbild einer starken Arbeiterbewegung verstanden. Zugleich wuchs die Gewerkschaft. Erfasste sie 1892 232.000 Mitglieder, waren es 1900 fast 700.000 und sechs Jahre später knapp zwei Millionen! Finanziell war sie ein Machtfaktor geworden, besaß ein Mehrfaches dessen, was der SPD zur Verfügung stand. Die Partei konnte mit ihrem Apparat und Funktionärsstamm mit der Gewerkschaft nicht konkurrieren. Zugleich ging in der SPD die Führung immer mehr auf die Leitung der Reichstagsfraktion über. De facto bildeten sich so zwei Strömungen in der SPD, deren Wesen die Auflösung der inneren Zusammenhänge von ideologischem, politischem und ökonomischem Klassenkampf bedeutete. Der ökonomische und gewerkschaftliche Klassenkampf löste sich vom politischen, nahm zentralere Positionen im Parteigeschehen ein. Der politische verlagerte sich auf das parlamentarische Feld, den Kampf um gesetzliche Regelungen innerhalb des bestehenden Systems. Schon seit Lassalle bildete sich die Wahlrechtsfrage zum Schwerpunkt der politischen Aktion der SPD-Führung heraus.(1) Das ging so weit, dass man sich für das bloße Versprechen der kaiserlichen Regierung, das Wahlrecht zu ändern, die Bereitschaft zum Kampf gegen den Krieg abkaufen ließ.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts betraten der deutsche Imperialismus und Militarismus mit Brutalität und Grausamkeit die Weltbühne. Zusammen mit jenen anderer imperialistischer "Kulturnationen" taten sich die Truppen des Kaisers, jener berüchtigten Hunnen-Rede folgend, hervor, die Wilhelm II. am 27.7.1900 in Bremerhaven hielt: "Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor 1000 Jahren Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, (...) möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen."(2) Im Bericht des Oberbefehlshabers Graf Waldersee heißt es, die Soldaten hätten noch nach der Niederwerfung des Boxeraufstands gemordet, geplündert, vergewaltigt.(3)

Der Imperialismus hat sich in diesen Jahren auch anderswo hervorgetan, in Südafrika gegen die Völker der Herero und Nama, in Ostafrika gegen die Mau-Mau Bewegung. Grausam wurde gewütet: Nicht nur die Kämpfer der Hereros, auch Frauen und Kinder wurden in die Namibia-Wüste getrieben, wo sie qualvoll verdursteten. Der Welt wurde vorgeführt, was zu erwarten hat, wer sich gegen Imperialismus, Militarismus und Kolonialismus zu wehren versuchte.

Am 31.12.1905 schrieb Kaiser Wilhelm an Reichskanzler Bülow, man solle sich besser auf den Krieg vorbereiten, die Rüstung verstärken und mehr Verbündete, vor allem "alle arabischen Herrscher", gewinnen. Ihre Länder lagen auf dem Weg, der von Berlin nach Bagdad führen sollte, dicht an die britische Kronkolonie Indien!

"Zudem kann ich in einem solchen Augenblick wie jetzt; wo die Sozialisten offen Aufruhr predigen und vorbereiten, keinen Mann aus dem Land ziehen ohne äußerste Gefahr für Leben und Besitz seiner Bürger. Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen - wenn nötig per Blutbad - und dann Krieg nach außen!"(4) Das war die eindeutige, auf Vernichtung des Sozialismus zielende Stimme der junkerlich-bourgeoisen Klassenmacht. Doch am 4. August 1914 starb die. sozialistische, "den Aufruhr vorbereitende" SPD und mit ihr die II. Internationale, wenige Jahre nach dem Außerordentlichen Kongress "Gegen den Krieg" von 1912 in Basel.


Der Imperialismus und die Spaltung der Arbeiterbewegung

Die russische Revolution von 1905 war die erste im Imperialismus, der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in seinen Bann zwingen sollte. Dies trat sofort zutage durch neue Kampf- und Organisationsfragen. In Russland bildeten sich, konfrontiert mit dem Revolutionsproblem, die beiden Strömungen Bolschewiki und Menschewiki. Ihre Positionen zur Revolution konnten verschiedener nicht sein: Die Menschewiki meinten, dies sei eine bürgerliche Revolution. Also habe sie unter bürgerlicher Führung stattzufinden. Das Proletariat könne die bürgerlichen Kräfte nicht vorantreiben. Die Bolschewiki erklärten: Die Bourgeoisie wird aus Angst vor der Arbeiterklasse die Revolution verraten, Frieden mit den zaristisch-feudalen Kräften suchen.

Der Imperialismus stellte das Revolutionsproblem, die Fragen der Strategie und Taktik des Klassenkampfes und der Organisation der Arbeiterklasse, auf neue Weise. Diese Probleme führten in allen entwickelten kapitalistischen Staaten zu gleichartigen Erscheinungen in Politik und Organisation der Arbeiterklasse. Das galt auch für die SPD, in der sich in Gestalt der revolutionären Linken dem Bolschewismus verwandte Kräfte ebenso wie Opportunismus und Revisionismus als deutscher Menschewismus entwickelten Zwischen beide schob sich eine Strömung, die unter der Losung "In der Einheit liegt unsere Stärke" wirkte, ausgiebig marxistische Termini gebrauchte und als Zentrum erschien. Eine der ersten großen Auseinandersetzungen, in denen sich diese Spaltung zeigen sollte, war die Massenstreik-Debatte, die zur Trennung des sozial-ökonomischen vom politischen Klassenkampf führte.

Die russische Revolution hatte eine neue revolutionäre Kampfform hervorgebracht, den politischen Massenstreik. Die deutsche Gewerkschaftsführung bezeichnete ihn als anarchistische Kampfform. Unter die bedeutsamen Ereignisse des Jenaer Parteitags von 1905 gehört daher der Beschluss über die Notwendigkeit des politischen Massenstreiks. Die Linken hatten ihn durchgesetzt und sich damit gegen die Position des 5. Kongresses der deutschen Gewerkschaften gestellt, der sogar die Propagierung des politischen Massenstreiks abgelehnt hatte. Doch der folgende Parteitag beerdigte de facto den Jenaer Beschluss.

Der Jenaer Parteitag hatte mit großer Mehrheit festgestellt, der politische Massenstreik sei nötig zur Erringung von Grundrechten und Abwehr von Angriffen auf die Gewerkschaftsfreiheit. Dies lehnte die Gewerkschaftsführung prinzipiell ab! Wie aber sollte es ohne Mitarbeit der Gewerkschaft möglich sein, Millionen Arbeiter in den Streik zu führen? Die Gewerkschaftsführung hatte sich das "Recht erworben", maßgebend auf die Wahl der Kampfformen einzuwirken! Dies lief auf die Kastration der Partei als Organisation für den politischen Kampf hinaus. Da Kautsky "im Namen der Einheit" gute Miene zu bösem Spiel machte, kam es zum Bruch zwischen ihm und Rosa Luxemburg, dem Zentrismus und den revolutionären Linken. Die Entscheidung in der Frage des Massenstreiks bewirkte die Trennung von Partei und Gewerkschaft, von Politik und Ökonomie, die faktische Verwandlung von Gewerkschaftsführern in Führer der Arbeiterbewegung. Denn im politischen Massenstreik ging es nicht um den Groschen und die Arbeitszeit, sondern um politische Fragen, wie Grundrechte, Vereinigungsfreiheit, Wahlrecht. Diese Kampfform hat über ihren eigenen Wert hinaus große bewusstseinsbildende politisch mobilisierende Wirkung, trägt zur Klarheit in der Staatsfrage bei.

Der Kampf um das Wahlrecht führte darüber hinaus zur Verabsolutierung der parlamentarischen Kampfform, zu einem regelrechten Gesetzesfetischismus und zur faktischen Ausschaltung der Massen aus der aktiven Politik.

In den Jahren des beginnenden Imperialismus bildete sich in der SPD eine ökonomische Reduktion des Klassenkampfes auf den Kampf um soziale, demokratische Reformen einerseits, ein parlamentarisch reduziertes Politikverständnis andererseits, ein bürgerlich-gesetzliches, heraus, dessen Grundlage ein seit Lassalle ungeklärtes, den Marxismus revidierendes Macht- und Staatsverständnis war.(5) Zwischen diesen beiden Flügeln der Partei wuchs ein revolutionärer, marxistischer Kern um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Franz Mehring, Wilhelm Pieck, Leo Jogiches und Julian Marchlewski, der den Kampf gegen die Preisgabe marxistischer Grundpositionen richtete: Gegen die Anbetung des Kampfes um Reformen, gegen Revisionismus, gegen Wettrüsten und Militarismus. Stützte sich der Reformismus auf die Positionen der Sozialdemokratie in den Gewerkschaften, Kommunen und der Reichstagsfraktion, entfaltete sich die Gruppe der revolutionären Linken. Und zwischen beiden stand das um Kautsky, Hilferding wirkende Zentrum, das sich vorwiegend rekrutierte aus in die Arbeiterklasse hinabgeworfenen Intellektuellen und durch Verbreitung der Meinung, das wachsende sozialdemokratische Potential werde eine gewaltsame Revolution überflüssig machen. Das machte die Partei aktionsunfähig. So verhinderten die Zentristen die Scheidung von Revolutionären und Reformisten und leisteten damit zum Untergang der Partei Beihilfe.


Stuttgart 1907 bis Magdeburg 1910

Das Problem eines aufkommenden Krieges wurde ab 1905 das beherrschende Thema in der II. Internationale. Zwar hatte man das Problem des Krieges schon seit der Gründung in unterschiedlichen Resolutionen vermerkt, es wurde aber eher am Rande behandelt. Eine Ausnahme bildete der Kongress in Stuttgart 1907.

Er wurde von 884 Delegierten aus 25 Ländern besucht. Seine Tagesordnung sah vor Militarismus und internationale Konflikte, die Beziehungen zwischen den proletarischen Parteien und den Gewerkschaften, die koloniale Frage und das Frauenstimmrecht.

Am meisten in Erinnerung ist dieser Kongress wegen der zur Kriegs- und Friedensfrage beschlossenen Orientierung. Bebels Resolution befasste sich hiermit, doch da sie keinen Hinweis auf aktives Handeln enthielt, brachten Lenin, Luxemburg und Martow Zusätze ein, die angenommen wurden und in die Schlussformulierung mündeten: "Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des internationalen Büros" (in Brüssel) "alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen."(6)

Der Kongress lehnte die Neutralität der Gewerkschaft ebenso ab, wie er die imperialistische Kolonialpolitik verurteilte. Er forderte für die Frauen das allgemeine Stimmrecht. Da in den meisten Themen die Wortführer des Opportunismus Deutsche waren, erklärte Clara Zetkin, die deutschen Sozialisten hätten im eigenen Land eine unschätzbare Lehre erhalten: Die Vertreter der internationalen Arbeiterklasse hätten den Deutschen gezeigt, "dass eine Partei nur insofern und so lange Anspruch auf die Führerschaft (...) des Weltproletariats erheben darf, als sie auch in ihrer Auffassung die entschlossenste, prinzipienfesteste Kampfmethode vertritt. Nicht durch die reichsten Kassen, nicht durch die zahlreichsten Wählermassen, nicht durch die stärksten Organisationen allein (...) behält man die Stellung des Vortrupps im internationalen Sozialismus: die klarste, revolutionärste Position im großen Meinungskampf der Gegenwart gehört unbedingt dazu."(7)

Zu dieser Zeit wirkte Karl Kautsky mit der Broschüre "Der Weg zur Macht" noch marxistisch. Er zeigte die Verschärfung der Klassenkämpfe, sprach von der Epoche der Kriege und Revolutionen, formulierte als nächstes Ziel Erringung der Demokratie und forderte den Kampf gegen Imperialismus und Militarismus, betonte die Methode des Massenstreiks als neues Kampfmittel, doch auf konkrete Wege ging er nicht ein.

Wenige Jahre später polemisierte er in "Die Neue Zeit" gegen Rosa Luxemburg, sich vom Massenstreik abwendend, hielt die Zeit nicht reif für außerparlamentarische Kämpfe und orientierte auf eine Ermattungsstrategie durch Kämpfe um das allgemeine Wahlrecht, für Vereins-, Presse- und Koalitionsfreiheit.

Am 1.7.1911 lief das deutsche Kanonenboot "Panther" in den südmarokkanischen Hafen Agadir ein. Damit wurde der Konflikt um Marokko zwischen den deutschen und französischen Imperialisten auf die Spitze getrieben. Gegen diese Kriegsgefahr entstand eine gewaltige Protestbewegung. In Städten wie Augsburg, Brandenburg, Bremen, Erfurt, Essen, Forst in der Lausitz, Frankfurt an der Oder, Görlitz, Hagen, Halle, Hamburg, Jena, Mannheim, München, Potsdam, Schwerin, Stralsund, kamen Zehntausende zu Demonstrationen zusammen.

Hier trat die Wirkung der Revisionisten und Zentristen zutage: Sie lenkten von den materiellgesellschaftlichen Gründen für die gefährliche Situation ab, indem sie "verdeutlichten", es gehe um Moral, Vernunft und die angebliche Missachtung der Gleichberechtigung Deutschlands. Diese Argumentation und moralisierende Hirnweberei traten an die Stelle einer historisch-materialistischen Analyse.

Die ideologischen Wurzeln der Divergenzen traten auf dem Magdeburger Parteitag 1910 hervor. Teile der SPD billigten den kapitalistischen Staatshaushalt, also dem Staat der Bourgeoisie die materiellen Mittel, mit denen er Politik gegen das arbeitende Volk vollzog.

Lenin kommentierte, die beiden Klassenlinien in der SPD seien deutlich geworden, doch wurden sie "zweifellos noch bei viel ernsteren, tiefergehenden und wichtigeren Anlässen in Erscheinung treten (...), jetzt, da in Deutschland (...) ein großer revolutionärer Sturm herannaht."(8) Die Bourgeoisie empfand Gesetze und Regelungen, die sie zur Eindämmung der SPD geschaffen hatte, nun als Hindernis für den weiteren Kampf gegen sie. Nicht die Arbeiterklasse, nicht die SPD, die Bourgeoisie stehe vor der Notwendigkeit, ihre eigene Gesetzlichkeit zu brechen. "Schießen Sie zuerst, meine Herren!", rief Bebel der Bourgeoisie entgegen. Und wenn es zu diesem Sturm komme, werde die SPD auf einer ganz anderen Position stehen als der des Revisionismus.


Die Glocken von Basel

In den Novembertagen 1912 versammelten sich im Münster der Stadt Basel zum Außerordentlichen Internationalen Friedenskongress 555 Delegierte aus 23 Ländern, unter ihnen Bebel, Lenin, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Viktor Adler und Hermann Greulich. Aus Deutschland waren 75 Delegierte angereist. Ein machvoller Demonstrationszug durch die Stadt zeigte aller Welt die Bereitschaft der II. Internationale, den Kriegstreibern in den Arm zu fallen. Die II. Internationale stellte sich als einige, den Frieden verteidigende Kraft dar.

Anlass des Kongresses war der im Oktober 1911 ausgebrochene erste Balkankrieg, der sich leicht zu einem Flächenbrand ausweiten konnte, denn alle imperialistischen Großmächte hatten ihre Hände im Spiel. Die internationale Arbeiterbewegung hatte sofort mit Aktionen begonnen, im Treptower Park z. B. demonstrierten 250.000 Berliner. In allen europäischen Großstädten fanden Großkundgebungen statt, auf denen Genossen anderer Ländern sprachen: in Berlin Jean Jaurès und Karl Renner, Karl Liebknecht in Budapest, Molkenbuhr in Amsterdam, Scheidemann in Paris. Überall wurde die Notwendigkeit des einheitlichen Vorgehens der Arbeiterklasse beschworen. Die Protestwelle mündete in den Baseler Kongress, den das Internationale Büro einberufen hatte.

Ins Zentrum des Kongresses rückte der Kampf gegen die Kriegsgefahr. Jaurès: "Die Regierungen sollten daran denken, wenn sie die Kriegsgefahr heraufbeschwören, wie leicht die Völker die einfache Rechnung aufstellen könnten, dass ihre eigene Revolution weniger Opfer kosten würde als der Krieg der anderen!" Vailant ergänzte: "Ausgeschlossen ist weder der Aufstand gegen den Krieg noch der Generalsstreik!"

Im "Manifest" wurden die Beschlüsse der vorherigen Sozialistenkongresse für Frieden und gegen Krieg bestätigt, das Proletariat aufgefordert, alle Mittel zur Verhinderung eines Krieges einzusetzen und ihn zu nutzen, den Kapitalismus zu stürzen, wobei der Arbeiterklasse Deutschlands, Frankreichs und Englands die Hauptverantwortung obliege.

Der Baseler Kongress stellt den Höhepunkt in der Geschichte der II. Internationale dar, doch kurze Zeit später brach diese Internationale schmählich zusammen mit Folgen, die weit in die Zukunft reichen sollten. Eine Katastrophe, vergleichbar mit 1918/19, 1933 oder 1989/90.


Der "Sommer" 1914

Als am 24.7.1914 bekannt wurde, dass der Krieg vor der Tür steht, rüttelte dies die Volksmassen auf Der Parteivorstand nahm noch eine Resolution Clara Zetkins gegen den Krieg an. Man beachte, dass zur gleichen Zeit führende Vertreter der Reichstagsfraktion der Regierung signalisierten, die Sozialdemokratie werde den Kriegstreiben nicht in den Arm fallen. Ab 26.7.19 14 protestierten Tausende in deutschen Städten. In Berlin fanden am 28.7.1914 riesige Versammlungen mit Zehntausenden Besuchern statt.

Zu lesen ist: "Diese Katastrophe mit aller Kraft zu verhindern, erachtet das klassenbewusste Proletariat aller beteiligten Länder eingedenk der Beschlüsse der internationalen Kongresse in Stuttgart, Kopenhagen und Basel, im gegenwärtigen Augenblick als eine dringendste heilige Aufgabe.

Heldenhaft hat das russische Proletariat dem blutrünstigen Zarismus das drohende Menetekel vor Augen geführt. (...)

Durch flammenden Protest haben das deutsche wie das französische Proletariat den Abscheu vor dem verbrecherischen Treiben der Kriegshetzer zum energischen Ausdruck gebracht.

Auch das nächstbeteiligte österreichische Proletariat hat mit Entschlossenheit jede Verantwortung für das Verhalten seiner Regierung abgelehnt.

Es ist also nicht wahr, dass die großen Massen dieser Länder sich in kriegerischer Stimmung befinden. Sie wollen vielmehr allen Chauvinisten zum Trotz den Frieden der Welt.

Die Kriegshetzer sollen wissen, dass, wenn der Weltkrieg ausbricht mit allen seinen Leiden und Gräueln, die durch ihn verursachten politischen und wirtschaftlichen Krisen mit unerbittlicher Logik dahin führen, die durch den Imperialismus verblendeten Volksschichten aufzurütteln und der Sozialdemokratie in die Arme zu führen, die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zum Sozialismus mächtig zu beschleunigen.

Trotzdem setzt das Proletariat im Namen der Menschlichkeit und Kultur seinen Friedenswillen mit Leidenschaft allen Kriegshetzern entgegen."(9)

Oder: "Gegen drohenden Krieg hatte die Berliner Sozialdemokratie in allen Stadtbezirken in vielen Sälen öffentliche Versammlungen einberufen. (...) 'Mann der Arbeit, aufgewacht, und erkenne deine Macht! Nieder mit dem Krieg! Es lebe der Frieden und die internationale völkerbefreiende Sozialdemokratie!' So schallte es immer wieder durch die Straßen bis zu den Linden. (...) Wir waren stolz und siegesbewusst. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei waren in vollem Gange. Kriegslüsterne Gegendemonstranten bezogen tüchtig Prügel. Die Arbeiterfäuste packten hart zu." In weiteren Versammlungen seien die Auseinandersetzungen immer schärfer geworden, habe sich die Spaltung als unvermeidlich herausgestellt.(10)

Im Manifest des Parteivorstands vom 25.7.1914 hieß es noch: "Die herrschenden Klassen, die euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter missbrauchen. Überall muss den Gewalthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!"(11)

Doch nur wenige Tage danach geschah das Unvorstellbare: Die Parteiführung, die Parlamentsfraktion stimmten am 4.8.1914 den Kriegskrediten für den deutschen Imperialismus und Militarismus zu! In der Staats- und Machtfrage haften Opportunismus und Revisionismus den Rubikon(*1) überschritten, war man Imperialismus und Militarismus an die Seite getreten! Und die Zentristen sollten ihnen folgen. Das war der Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung: Ihre politische Führung verabschiedete sich von allem, was das Wesen einer sozialistischen Klassenpartei ausmachte, und begrub damit nicht nur die sozialistische SPD, sondern zugleich die II. Internationale.

Dies erforderte eine chauvinistische Hetzwelle. Die Gehirnwäsche wurde mit Geschichtslügen ausgebaut: Alle Staaten seien in diesen Krieg, den doch niemand gewollt habe, hineingeschlittert. Als ob es für ihn keine Vorbereitung gegeben hätte. Oder es hieß, Deutschland hätte sich gegen den Zarismus zu verteidigen, sei national bedroht. Man verschwieg, dass im Imperialismus neue nationale und internationale Bedingungen entstanden sind, der Zarismus nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert, das Bollwerk der europäischen Reaktion gegen den gesellschaftlichen Fortschritt, durch einen verlorenen Krieg und eine Revolution schwer angeschlagen war. Die Zentristen gaben den Krieg als Verteidigungskrieg aus, den sie zwar in Worten verurteilten, jedoch für so lange nötig hielten, bis die deutschen Grenzen gesichert seien. Und Kautsky, das Haupt der Zentristen, erklärte: Die Internationale sei ein Instrument für den Frieden, für eine Tätigkeit im Krieg nicht geeignet.(12)

Von der Rechtfertigung des Krieges gingen sie zur direkten Unterstützung über. Die opportunistischen Gewerkschaftsführer fragten beim Sicherheitsapparat an, wie es den Gewerkschaften im Krieg ergehen werde. Ihnen wurde geantwortet. "Wir denken nicht daran, Ihnen zu Leibe zu gehen, falls Sie uns keine Schwierigkeiten machen, denn wir sind froh, große Organisationen der Arbeiterklasse zu haben, auf die sich die Regierung bei den notwendigen Hilfsaktionen stützen kann."(13)

Die Generalkommission der Gewerkschaften bot den Arbeitgeberverbänden Zusammenarbeit im Interesse der "wirtschaftlichen Rüstung" an!(14)

Zahlreiche Belege dokumentieren die Zusammenarbeit der SPD-Reichstagsfraktion mit der kaiserlichen Regierung. Der SPD-Abgeordnete Eduard David vermerkte in seinem Tagebuch über eine Besprechung mit Staatsekretär von Dellbrück, in dem er die Kriegsziele der reformistischen SPD-Führer nannte: "Wegnahme des Kongo-Staates und Bildung eines großen deutschen Kolonialreichs durch das äquatoriale Afrika hindurch. Frankreich müsse das französische Kongoland dreingeben, Tanger als deutscher Flottenstützpunkt. Deutschland erhält damit ein Feld für seine expansiven Kräfte. Für Belgien und Frankreich bedeuten diese Verluste keinen nationalen Eingriff. Die Eingeborenen der betroffenen Länder gewinnen nur durch den Übergang in die deutsche Verwaltung. Die Kollegen sind der gleichen Meinung, glauben auch, dass man damit bei der großen Mehrheit der Partei keinen Widerstand fände. (...) Und da sei es mit kleinen Dingen nicht getan. Hier gebe es nur eine Gabe, die groß genug sei: die preußische Wahlreform im demokratischen Sinne. (...)

Ich lasse keinen Zweifel darüber, dass, falls (...) (keine Wahlrechtsreform) eintrete, die Partei geschlossen die radikale Taktik aufnehmen wird. Auch vom Standpunkt der Männer, die auf der rechten Seite der Partei stehen, gebe es dann keinen anderen Ausweg mehr zur Durchsetzung einer demokratischen Umgestaltung in Preußen. Ich für meine Person würde diese Wendung tief bedauern, denn sie vernichte jede Hoffnung, auf dem Wege, den ich von je als den richtigen (...) angesehen habe, nämlich auf dem Wege der reformistischen Taktik zum Ziele zu gelangen."(15)

Am 29.7.1914 informierte Albert Südekum den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, "dass (...) keinerlei wie immer geartete Aktion (...) geplant oder auch nur zu befürchten sei. (...) Endlich darf ich aber noch der (...) Überzeugung Ausdruck verleihen, dass der von Eurer Exzellenz unternommene Schritt gelegentlich weiterer direkter Mitteilung in kritischen Momenten dankbar begrüßt und auf volles und sympathisches Verständnis gestoßen ist."(16)

Als Hitler zur ersten Sitzung seines Kabinetts die Sorge äußerte, die SPD könne dem Aufruf der KPD zum gemeinsamen Generalstreik zustimmen, informierte Göring, SPD-Reichstagspräsidenten Paul Löbe habe signalisiert, die SPD werde nicht dem Aufruf der KPD folgen, wenn sie die Gewissheit erlange, es komme bald zu neuen Reichstagswahlen. Wahlen waren das Linsengericht(*2), das die SPD-Führer 1914 und 1933 fraßen.


Schluss

Die Preisgabe des Marxismus wurde eingeleitet durch Aufhebung der Einheit der drei Seiten des Klassenkampfes, des ökonomischen, politischen und ideellen. Der sozialökonomische Kampf wurde der alleinigen Führung der Gewerkschaft überlassen, zwar der politische Kampf der Partei "reserviert", ihr aber die Waffen des politischen Streiks genommen. Faktisch bedeutete das, den politischen Kampf dem parlamentarischen Wirken zu überlassen und die Masse der Parteimitglieder in Abwartehaltung zu versetzen. Immer mehr konzentrierten sich diese auf das Wahlrecht. Bebels Wort "diesem System keinen Mann und keinen Groschen" wurde zurückgedrängt zugunsten der Bewilligung der Etats der bürgerlichen Staatsmacht. Auf ideologischem Gebiet wurde der Marxismus durch idealistisches Geschwafel ersetzt, aus der Sozialdemokratie verdrängt. Er musste sich eine andere Heimat suchen - in der revolutionären Linken. Doch damit beginnt ein neuer Abschnitt in der Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung.


Anmerkungen

(1) Die Auseinandersetzung um das Wahlrecht hatte zwei Seiten. Frauen und den Männern unter 25 wurde kein Stimmrecht zugebilligt. Und das Mehrklassen-Wahlrecht legte fest, dass Großgrundbesitzer, Professoren oder Offiziere ein mehrfaches Stimmrecht als ein Arbeiter hatten. Bei der Wahl zum Preußischen Abgeordneten Haus am 3.6.1913 erhielt die SPD für 775.171 Stimmen 10 Sitze, die Freikonservative Partei für 54.583 Stimmen 54 Sitze! Insofern war der Kampf um freie, gleiche und geheime Wahlen ein undemokratisches Thema. Nur die Tendenz, das Macht- und Staatsthema auf das Wahlrecht zu reduzieren, erreichte nicht die Einsichten und Erkenntnisse des Marxismus.

(2) Hunnen-Rede des Kaisers. in: Deutsche Geschichte, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1964, Band 2, 688 f.

(3) Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden, Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentalkomitee der SED, Dietz Berlin 1966, Band 2, S. 334.

(4) Wilhelm II. am 31. Dezember 1905 an Reichskanzler Fürst Bülow, in: Deutsche Geschichte, Berlin/DDR, 1965, Band 1, S. 727.

(5) Lassalle war der Auffassung, für seine Idee der Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe Bismarck gewinnen zu können.

(6) Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, a.a.O., Band 1, S. 235.

(7) Ebd., S. 239.

(8) W.I. Lenin, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Band 2, S. 295.

(9) Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, a.a.O., Band 2, S. 428 f.

(10) Ebd., S. 429 f.

(11) "Manifest" des Parteivorstands der SPD vom 25.7.1914, in: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Chronik, Band 1, S. 286.

(12) Karl Kautsky, in: "Die Neue Zeit", 33. Jahrgang 1914/15, Erster Band, S. 248.

(13) Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, a.a.O., Band 2, S. 216.

(14) Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Chronik, a.a.O., Band 1, S. 295.

(15) Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, a.a.O., Band 2, S. 248.

(16) Ebd., S. 430 f.

(*1) Der Rubikon ist ein Grenzfluss zwischen Italien und der römischen Provinz Gallien. Als der römische Feldherr Gaius Julius Cäsar 49 v. u. Z. mit seinen Truppen den Rubikon überquerte und gegen Rom marschierte, begann der römische Bürgerkrieg.

(*2) Altes Testament: Esau, der erstgeborene Sohn Abrahams, verkaufte sein Erstgeburtsrecht an seinen Bruder Jakob für ein Linsengericht. AT, Buch Mose, Genesis 25, 18-33.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-12, 50. Jahrgang, S. 41-47
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2013