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MARXISTISCHE BLÄTTER/560: Wie es mit den Marxistischen Blättern begann


Marxistische Blätter Heft 6-13

Wie es mit den Marxistischen Blättern begann

Von Robert Steigerwald



Einige Jahre ist es her (1999), dass BBC London eine Umfrage startete, nach der bedeutendsten Persönlichkeit der neueren Zeit fragte und die Briten Karl Marx an die erste Stelle der Antworten setzten. Doch als kurze Zeit danach das Zweite Deutsche Fernsehen die Briten nachahmen wollte, die gleiche Frage stellte, lautete die Antwort des "Volks der Dichter und Denker" nicht etwa Schiller oder Goethe, sondern Konrad Adenauer. Ausgerechnet der! Eigentlich hätte eine Art kollektiver Scham die demokratische Intelligenz unseres Volkes heimsuchen müssen, aber das Ergebnis verwundert dennoch nicht. Dass in einer solchen Umfrage in Deutschland - im Gegensatz zu Großbritannien - Karl Marx außen vor blieb, hat System, war doch seit 1933 - mit Ausnahme der kurzen Unterbrechung zwischen 1945 und 1956 - der positive Umgang mit Marx unter Verfolgung gesetzt. Die Partei und ihre Mitstreiter wurden verfolgt, eingesperrt und unter Hitler hingerichtet. Stets wurde jede Menge ideellen oder ideologisch-politischen Unrats über Marx und den Marxismus durch die verschiedenartigsten Medien ausgeschüttet. Marxens Anhängern hatte man schon mittels des KPD-Verbots von 1956 - und schon Jahre zuvor - die Möglichkeiten genommen, dagegen aufzubegehren: Die Häuser, die Druckereien, der Fahrzeugpark, die Finanzmittel hatte man ihnen gestohlen. Es gab noch einige Persönlichkeiten aus dem akademischen Bereich, etwa aus der sogenannten Frankfurter Schule, die sich nicht völlig hatten gleichschalten lassen und auf dem einen oder anderen Gebiet Beiträge im Umfeld des Marxismus anboten, das war aber auch alles. Denn was aus der DDR hätte herüberkommen können, wurde namens der "Freiheit der Meinungsäußerung" eingezogen. Und das im Ursprungsland des Marxismus, in dem Land, aus dem Marx und Engels gekommen waren. Ein kultureller Skandal ohnegleichen, wenn man bedenkt, dass die UNESCO inzwischen Marxens "Das Kapitel" und "Das Manifest der kommunistischen Partei" von Marx und Engels zum Weltkulturerbe erklärt hat.

Dies war die Ausgangslage, als einige von uns - allen voran Prof. Dr. Josef Schleifstein (im Genossen-Kreis Jupp genannt) - darüber nachdachten, wie man diesen schändlichen und erbärmlichen Zustand würde unterlaufen können. Zwar hatte die im Untergrund arbeitende KPD ihr theoretisches Organ "Wissen und Tat" aufrechterhalten. Es wurde bereits 1945 in der sowjetischen Besatzungszone gegründet, aber noch nicht als KPD-Organ. Seine Aufgabe war, möglichst rasch die in 13 Jahren faschistischer Diktatur eingetretenen Verluste an Orientierung und Wissen über kommunistische Positionen und wichtige Ereignisse wie den VII. Weltkongress der Komintern oder die beiden illegalen KPD-Tagungen von Brüssel und Bern auszugleichen. Referate, Reden und Beschlüsse von ZK-Tagungen der KPD wurden veröffentlicht. Genossen aus allen Besatzungszonen schrieben in diesem Theorieorgan zu aktuellen Fragen, vielfach auch unter Pseudonym. Ich möchte stellvertretend nur an Jupp Angenforth, Fritz Rische, Max Schäfer, Max Reimann, Kurt Hager, Paul Verner erinnern. "Wissen und Tat" erschien bis zur Neukonstituierung der DKP 1968 parallel zu den Marxistischen Blättern. Aber seine nur in gründlichster Illegalität erfolgende Verbreitung konnte kein geeignetes Kampfmittel gegen die herrschende "freiheitlich-demokratische" Kulturbarbarei sein. Kommunisten war es verboten, gemeinsam gegenzusteuern, das wurde mit polizeilichen und juristischen Methoden erledigt.

Was aber, fragte Jupp Schleifstein, wenn es nicht (bzw. nicht nur Kommunisten) wären, die sich dagegen zu Wort meldeten und den Marxismus zu verbreiten versuchten? Wenn etwa aus einer der im Land vorhandenen marxistischen Bildungsgemeinschaften, in denen sich Kommunisten, Sozialdemokraten, Sozialisten anderer Farbe oder auch Parteilose trafen, um sich Kenntnisse in Sachen Marxismus anzueignen, die Initiative hervorginge, Materialien der eigenen Bildungs-Veranstaltungen zu publizieren? Das konnten die "Verfassungsschützer" doch nicht als Fortsetzung der Tätigkeit der verbotenen KPD deklarieren und verfolgen?

Jupp Schleifstein hat dies nicht nur gefragt, sondern auch eine Idee, die Frage zu beantworten. Zu seiner Zeit als Professor und Prorektor der Leipziger Universität befand sich unter seinen Studenten auch Heinz Jung aus Frankfurt a. M., der nach Abschluss des Studiums nach Frankfurt heimgekehrt war. Dort arbeitete er in einem Metallbetrieb und war gleichzeitig in der Marxistischen Bildungsgemeinschaft Frankfurts am Main aktiv - der August-Bebel-Gesellschaft. Mit ihm wurde also Kontakt aufgenommen. Sie konnten sozialdemokratische Genossen finden, die bei einem solchen Unternehmen mitmachen wollten. Aus der Praxis, in Aktionseinheit von Kommunisten und Sozialdemokraten betriebener marxistischer Bildungsarbeit, war die organisatorische Ausgangsbasis für die Bildung einer Zeitschrift gefunden worden, die dann Ende 1963 als "Marxistische Blätter" das Licht der Welt erblicken sollte, im tiefsten Kalten Krieg und fünf Jahre bevor die DKP als legale kommunistische Partei einen Neuanfang wagen konnte.

Jupp Schleifstein, der als junger Kommunist nach Zuchthausjahren vor den Nazis nach England emigrierte und dort - wie auch andere deutsche Genossen - für den baldigen Sieg über Nazi-Deutschland in einer Fabrik arbeitete, die Flugzeugmotoren für Bomber erzeugte, konnte in seiner Emigrationszeit zahlreiche Kontakte zu führenden britischen marxistischen Wissenschaftlern knüpfen: Zu John Desmond Bernal, Eric Hobsbawm, Maurice Cornforth und Jon Lewis, zu Kurt Hager und dem ebenfalls nach England emigrierten österreichischen Genossen Walter Hollitscher. Diese Kontakte konnte er nutzen, um marxistische wissenschaftliche Beiträge ausländischer Kommunisten und Marxisten, die nicht dem Zugriff deutscher Rechtsorgane ausgesetzt waren, für die im Gründungsprozess befindlichen Marxistischen Blätter zu organisieren.

Die Gründung der Marxistischen Blätter wurde also gewagt, obwohl wir uns keineswegs sicher waren, wie die so genannten Staatsschützer sich dazu verhalten würden. Jupp Schleifstein beispielsweise schrieb auch hier zunächst unter Pseudonym, genauso wie Max Schäfer, Heinz Jung und ich. Wenn ich heute alte Hefte der Zeitschrift anschaue, weiß ich auch nicht mehr immer, welcher Klarnamen sich hinter manchem Pseudonym verbirgt.

Der Ruf der Zeitschrift ging bald über das Verbreitungsgebiet Frankfurts hinaus, erreichte die damals steigende Zahl an marxistischen Bildungsgemeinschaften und sollte während der Zeit ihres Höhepunkts 6000 Bezieher haben. Sie war damit die in Deutschlands "Wildem Westen" am weitesten verbreitete regelmäßig erscheinende, marxistische theoretisch-politische Zeitschrift unserer Sprache. Es waren nicht nur Rücksichtnahmen auf die rechtlichen Bedingungen unseres Landes, die uns dazu veranlassten, zwar Marxismus ohne Wenn und Aber anzubieten, doch nicht zugleich als eine politisch-vordergründige Kampf-Zeitschrift zu wirken oder uns in die auch damals vorhandenen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Kräften, Gruppen, "Führern" einzuschalten. Wir wollten die gewisse Breite unseres möglichen Wirkens nicht preisgeben.

Zunächst erregten wir kein großes Aufsehen - doch sollte sich das bald ändern. Die antikommunistischen Wadenbeißer vom Stile eines Günther Zehm oder Hans-Dietrich Sander meldeten sich in gewohnter antikommunistischer Art und Weise vor allem in Springers "Die Welt" zu Wort. Das geschah, nachdem wir begonnen hatten, Bücher zu produzieren und in Frankfurt politisch-ideologische Tagungen abzuhalten. Im April 1967 fand im Haus Gallus die Tagung "Machtstrukturen des heutigen Kapitalismus" mit national und international repräsentativen Referenten statt. Anlässlich der 150. Wiederkehr von Marx' Geburtstag wurde die Tagung zum Thema "Klasse und Klassenkampf heute" (vom 25. bis 27. Mai 1968) gehalten. Es nahmen nicht nur Marxisten aus beiden deutschen Staaten teil, sondern auch solche aus der Sowjetunion, Finnland, Österreich, Ungarn, Chile und Frankreich. Dann, zwei Jahre später (am 21. und 22. Februar 1970), fand eine zweitägige Tagung anlässlich des 100. Geburtstags Lenins mit dem Titel "Die 'Frankfurter Schule' im Lichte des Marxismus. Zur Kritik der Philosophie und Soziologie von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Habermas" statt. An der Tagung nahmen auch Wissenschaftler der kritisierten "Frankfurter Schule" teil: Oskar Negt, Alfred Schmid, Alfred Sohn-Rethel, Ernst Theodor Mohl. Als Einfügung hier eine kleine Geschichte, die uns zu großer Heiterkeit Anlass gab.

Ich schrieb damals für das theoretische Organ der SED, die "Einheit", einen Konferenzbericht. Den las auch ein Korrespondent der BBC London und formulierte in seinem Bericht, der am 25.11.1970 um 20.15 Uhr ausgestrahlt wurde: "In Frankfurt am Main besteht seit dem vorigen Jahr ein Institut für marxistische Studien, an dem unter der Leitung von Prof. Dr. J. Schleifstein führende Philosophen und Soziologen, wie die Professoren Th. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse die Lehren von Marx, Engels und Lenin zu erforschen suchen ..." Im weiteren machte er mich zum "Delegierten der SED" dieser Tagung und "SED-Ideologen", fabulierte unsäglichen Blödsinn über meinen Bericht zusammen und endete mit dem Satz: "Die Quintessenz von Steigerwalds Beurteilung des Frankfurter Marxismus-Instituts heißt also mit anderen Worten: Zusammenarbeit, aber nur wenn damit Einfluss gewonnen werden kann." Dass die von Brecht ironisch genannten "Frankfurtisten" der "Frankfurter Schule" und das DKP-nahe Frankfurter Institut für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF) zwei paar Stiefel waren, dass die Horkheimer/Adorno-Schule Gegenstand der Kritik durch das IMSF war, blieb dem BBC-Kommentator - von wegen Qualitätsjoumalismus - gänzlich verschlossen. Als ich Max Horkheimer den Bericht schickte, schrieb er mir "in der Hoffnung auf ein Wiedersehen": "Vielen Dank für die wahrlich unterhaltsamen Durchschläge. Leider kann ich Ihnen jetzt nicht wirklich schreiben, denn meine Überlastung ist allzu groß. Umso angenehmer sind heitere Unterbrechungen." Soweit meine kleine Einfügung.

Wir veröffentlichten die Materialien zu allen Tagungen. Damit begann denn auch die Buchproduktion der Bildungsgemeinschaft durch den Verlag "Marxistische Blätter" - der Verlag war geboren. Unter seinen Büchern befand sich beispielsweise die Popper-Kritik des englischen Marxisten Maurice Cornforth mit dem Titel "Marxistische Wissenschaft und antimarxistisches Dogma" (1970). Bald auch gingen wir dazu über "Marxistische Lehrbriefe" zu veröffentlichen - und das in mehreren Serien zur Philosophie, Ökonomie, Geschichte sowie zur Kultur. Zeitweilig konnten monatlich mehr als 1000 solcher Hefte abgesetzt werden.

Anfangs wurden die erforderlichen Arbeiten von Genossen in ihren Wohnungen verrichtet, doch bald war das nicht mehr möglich. Wir suchten und fanden Räume in Frankfurt - im Keller der Kurfürstenstraße 8. Wir setzten also nun unsere marxistische "Wühl"-Arbeit tief unten, unter dem Boden der Gesellschaft, als richtige Keller-Unterwanderer und Untergrund-Marxisten fort. Allen voran ist dabei unser Genosse Heinz Jung zu nennen. Er hatte Kontakte in die Frankfurter Universität, auch zur Frankfurter Schule hergestellt, und so geschah es, dass sich zu uns "Untergrundlern" auch von der Universität als Lehrer bestellte Personen einfanden.

Doch auch das ging nur eine Reihe von Jahren, dann musste umgezogen werden. Die Leitung von Redaktion und Verlag war unterdessen in die Hände von Max Schäfer übergegangen - dem einst jüngsten Politischen Kommissar der Internationalen Brigaden Spaniens, dem Kommissar des legendären Thälmann-Bataillons. Denn inzwischen hatte Jupp Schleifstein mit anderen Freunden und Genossen - vor allem mit Heinz Jung - ebenfalls in Frankfurt am Main das Institut für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF) ins Leben gerufen, welches später durch seine wissenschaftlichen Leistungen Aufsehen erregte. Wir waren also wieder auf Raumsuche und entdeckten direkt hinter der Frankfurter Börse - hinter dem Geldtempel - in der Meisengasse 11 passende Räume. Aber was weder wir noch der Vermieter damals wussten: Vor 1933 vermutete man noch unbekanntes Material von Marx und Engels oder anderen bedeutenden Marxisten aus der Frühzeit des Marxismus. Es gab damals Formen der Zusammenarbeit zwischen dem Marx-Engels-Lenin-Institut in Moskau und dem Frankfurter Institut für Sozialforschung (der späteren Frankfurter Schule). Die Einrichtungen ließen durch zwei Frankfurter KPD-Genossen nach solchem noch unbekanntem oder unveröffentlichtem Material suchen. Und wo hatten die ihren Arbeitsraum? In der Meisengasse 11. Wir waren an einen unserer Ursprungsorte zurückgekehrt und wenn wir einst gesiegt haben sollten, werden wir dort eine würdige Erinnerungsplakette anbringen lassen.


Dr. Robert Steigerwald, Eschborn, Philosoph, MB-Redaktion

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-13, 51. Jahrgang, S. 7-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2014