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MARXISTISCHE BLÄTTER/577: Das Internet zwischen Fortschrittspotentialen und Destruktivkraft


Marxistische Blätter Heft 5-14

Das Internet zwischen Fortschrittspotentialen und Destruktivkraft

Von Thomas Hagenhofer



Eine Debatte zur Entwicklung des Internets aus marxistischer Sicht steckt noch immer in den Kinderschuhen. Die Diskussion unter fortschrittlichen Kräften ist oftmals viel zu stark geprägt von einer Verklärung des Netzes auf der einen und einer Mischung aus Ablehnung und Abstinenz auf der anderen Seite. Wie aus jüngsten Äußerungen, insbesondere der Debatte um Sascha Lobos Bekenntnis zu einer zu blauäugigen Sicht auf das Netz, zu entnehmen ist, scheint sich dies gerade zu ändern - zumindest, was die eine Seite angeht.

Sascha Lobo bekennt, sich geirrt zu haben: "Das Internet ist nicht das, wofür ich es gehalten habe", schreibt Lobo in einem Beitrag für das Feuilleton der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung".[1] Bislang habe er geglaubt und verkündet, dass das Internet das ideale Medium der Demokratie, der Freiheit und der Emanzipation sei. Nach der Spähaffäre um die NSA und den neuen Erkenntnissen über Wirtschaftsspionage und den Kontrollwahn der Konzerne kommt Lobo zu dem Schluss: "Das Internet ist kaputt."[2]

Nun überrollen uns teilweise diese Entwicklungen, verhindern geradezu eine dialektische Aufarbeitung. Fatal dabei ist, dass bei den meisten Kommentaren, z.B. zu Sascha Lobos Beitrag, wie selbstverständlich postuliert wird: Das Internet könne ja nicht besser sein als die gesamte Gesellschaft. Aufgrund der weitgehenden Einflusslosigkeit marxistischer Kräfte in dieser Debatte, kommt man eben nicht auf die Idee, dass das Internet im Gegenteil eine Technologie ist, die in seiner Grundanlage nicht zu diesem kapitalistischen Gesellschaftssystem passt, sondern weit darüber hinausweist. Globale Wissensspeicherung und -weitergabe, kollaboratives Arbeiten an gesellschaftlich nützlichen Projekten, demokratische Planung und Kontrolle, schnelle Entscheidungsfindung über einen gemeinsamen Diskussions- und Entscheidungsprozess wurde über diese Technologie möglich. Diese Potenziale können sich aber unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen nicht entfalten, sondern führen allenfalls ein immer bedrohtes Nischendasein.

Das Internet wird mehr und mehr durch die darin agierenden Monopole Google, Facebook und Amazon bestimmt. Hierbei wirkt sich vor allen Dingen die dynamisch voranschreitende Vernetzung über Angebote mit Alleinstellungscharakter, wie Facebook oder WhatsApp, verheerend aus. Der Nutzen eines Netzes für den Einzelnen hängt stark von der Anzahl und dem Aktivitätsgrad der miteinander vernetzten Personen ab. Facebook und Co. stellen daher ihren Nutzern kinderleicht zu bedienende Plattformen scheinbar kostenlos zur Verfügung. Die Daten, die sie als Gegengeschäft erhalten, aufbereiten und vermarkten, sind sowohl automatisch erhobene Nutzungsdaten als auch die Informationen, die die Vernetzten untereinander weitergeben. Google verweist in seiner Suchmaschine auf 30 Billionen Adressen in 230 Millionen Webdomains. Im Monat werden 100 Milliarden Suchanfragen über Google vorgenommen, das sind 76,6 Prozent aller Rechercheanfragen weltweit (Stand: 2013). Auf der ebenfalls zu Google gehörenden Videoplattform Youtube werden täglich 300 Millionen Stunden Videomaterial abgerufen. Facebook zählte im ersten Quartal 2014 1,276 Milliarden monatlich aktive Nutzer bei einem Jahreswachstum von 14,96 Prozent. Das schnellste Wachstum findet nicht mehr in Nordamerika und Europa, sondern in Asien und dem Rest der Welt statt. 2013 erzielte Facebook einen Umsatz von 7,9 Milliarden Dollar und einen Gewinn von 1,5 Milliarden Dollar. Im Jahr 2013 erreichte Amazon einen Nettoumsatz von insgesamt 74,4 Milliarden US-Dollar (+22 Prozent gegenüber 2012) bei einem Nettogewinn von 274 Millionen Dollar. Der Konzernumsatz in Deutschland betrug 10,3 Milliarden Dollar (+21 Prozent zum Vorjahr).[3]

Auf dieser Basis können diese Konzerne nicht nur ihre Werbeanteile weiter steigern, sie kennen Käufer und Märkte wie keine sonstige Organisation. Durch ihren direkten Zugriff auf Nutzungsdaten und -verhalten können sie personalisierte Werbeformen anbieten. Wer auf Google nach Ferienwohnungen in Südfrankreich sucht, dem werden wenig später entsprechende Anzeigen auf anderen Webseiten geschaltet.

Ein nicht kommerzialisiertes Internet passt nicht in eine kapitalistische Gesellschaft mit Warenproduktion und Verwertungsinteressen. In eine Gesellschaft, in der sich Konzerne Extraprofite durch Wissensvorsprung gegenüber ihren Wettbewerbern sichern. Statt einer technologisch möglichen Wissensgesellschaft mit freiem Zugang zu allen Informationsressourcen geht es um exklusive Nutzung von Wissensvorsprüngen durch Patentrecht und andere Normen. Und weil das alles nicht mehr zusammenpasst, weil die Entwicklung der Produktivkräfte gerade das Teilen von Wissen unter den Produzenten erfordert, versuchen Konzerne mit Konzepten, wie Enterprise 2.0, die innerorganisatorische Freiheit des Wissensaustausches zu ermöglichen. Wie viel mehr wäre möglich, wenn dieser Prozess frei von kapitalistischen Einzelinteressen organisiert werden könnte, wenn nicht Konkurrenz, sondern Kooperation die Verfasstheit einer Gesellschaft darstellen würde?

Eines macht das Konzept Enterprise 2.0 ganz deutlich: Die Vergesellschaftung der Produktion (und Information) hat durch die Web 2.0-Technologien wieder ein neues Niveau erreicht. Ohne Zugang zu communities of practice, also teils international aufgestellte Austausch- und Diskussionsplattformen, wären Software-Entwickler in Windeseile von aktuellen Trends oder Problemlösungen abgeschnitten, Weiterbildungen und Literatur zum sogenannten "social media marketing" schießen wie Pilze aus dem Boden.

Hier sei an Friedrich Engels "Grundzüge des Kommunismus" erinnert, in denen er folgendes zu einer künftigen neuen Gesellschaft schrieb:

"Der gemeinsame Betrieb der Produktion kann nicht durch Menschen geschehen wie die heutigen, deren jeder einem einzigen Produktionszweig untergeordnet, an ihn gekettet, von ihm ausgebeutet ist, deren jeder nur eine seiner Anlagen auf Kosten aller anderen entwickelt hat, nur einen Zweig oder nur den Zweig eines Zweiges der Gesamtproduktion kennt.

Schon die jetzige Industrie kann solche Menschen immer weniger gebrauchen. Die gemeinsam und planmäßig von der ganzen Gesellschaft betriebene Industrie setzt vollends Menschen voraus, deren Anlagen nach allen Seiten hin entwickelt sind, die imstande sind, das gesamte System der Produktion zu überschauen. Die durch die Maschinen schon jetzt untergrabene Teilung der Arbeit, die den einen zum Bauern, den anderen zum Schuster, den dritten zum Fabrikarbeiter, den vierten zum Börsenspekulanten macht, wird also gänzlich verschwinden. Die Erziehung wird die jungen Leute das ganze System der Produktion rasch durchmachen lassen können, sie wird sie in Stand setzen, der Reihe nach von einem zum andern Produktionszweig überzugehen, je nachdem die Bedürfnisse der Gesellschaft oder ihre eigenen Neigungen sie dazu veranlassen. Sie wird ihnen also den einseitigen Charakter nehmen, den die jetzige Teilung der Arbeit jedem einzelnen aufdrückt. Auf diese Weise wird die kommunistisch organisierte Gesellschaft ihren Mitgliedern Gelegenheit geben, ihre allseitig entwickelten Anlagen allseitig zu betätigen. Damit aber verschwinden notwendig auch die verschiedenen Klassen. So dass die kommunistisch organisierte Gesellschaft einerseits mit dem Bestand der Klassen unverträglich ist und andrerseits die Herstellung dieser Gesellschaft selbst die Mittel bietet, diese Klassenunterschiede aufzuheben".[4]

Wie sieht nun das Spannungsverhältnis zwischen Fortschrittspotentialen und Destruktivkraft bezogen auf das Internet aus? Ich versuche im Folgenden in fünf Punkten diese Fragen zu beantworten. Vor allem deshalb, weil mir eine Diskussion dieser einzelnen Aspekte dringend notwendig erscheint.


Punkt 1: Das Internet ist wesentlicher Teil einer technologischen Modernisierungswelle, die sich durch Integration verschiedenster Technologien und eine zunehmende Dynamik auszeichnet.

Die hier abgebildete Grafik versucht, einige Bereiche darzustellen, die der momentanen Technikentwicklung eine zunehmende Dynamik verleihen. Fast allen diesen Sektoren ist gemeinsam, dass sie Internetkommunikation als Basistechnologie nutzen. Gleichzeitig wird erkennbar, dass sie sich gegenseitig antreiben. Zunehmend autonom agierende Roboter werden über das Konzept des Internets der Dinge, also der Verbindung aller computergesteuerten Geräte über das Netz, mit ihrer Umwelt verbunden. Mobile Anwendungen und Konzepte der Smart Machines machen autonom fahrende Fahrzeuge möglich. Und - wie gerade enthüllt - liefert die NSA Handy-Daten zur Ortung von vermeintlichen Terroristen für die Drohneneinsätze. Wir werden in den nächsten Jahren überschwemmt werden mit neuen Geschäftsmodellen und neuen Produkten, die sich vor allem durch die Integration verschiedener Technologien auszeichnen. So kommen derzeit sogenannte "Pay as you drive"-Tarife von Autoversicherern auf den Markt, bei denen eine Blackbox im Fahrzeug nicht nur das Verhalten der Autofahrer überwacht, sondern auch wo und wann gefahren wird. Ab 2015 wird laut ACE jedes Neufahrzeug mit dem E-Call-System, einem automatischen Notfallretter, ausgestattet sein. Ähnliche Angebote der Krankenkassen werden nicht lange auf sich warten lassen.[5]

2. Dekade: Zunehmende Dynamik und Integration von Internet-Technologie




Autonom fahrende Fahrzeuge sind ein gutes Beispiel für die Bedeutung integrativer Ansätze. Derzeit, so schätzt ACE-Experte Hack, bewegt sich das Volumen der Daten, die ein Auto durch den Äther schickt, auf dem Niveau einiger Megabyte pro Minute. "Wenn wir von autonomem Fahren reden, dann geht es jedoch darum, dass ein Fahrzeug jede Sekunde Datensätze im Umfang von vielleicht einem Gigabyte austauscht".[6] Der Speicher eines Smartphones - wie dem aktuell leistungsfähigsten iPhone 5 mit 64 GB - wäre also theoretisch durch den Datenverkehr eines einzelnen Automobils nach nur einer Minute bis zum Rand gefüllt. Ohne BigData-Technologie sind diese Datenmengen nicht sinnvoll auswertbar. Und so wird klar, dass dies eigentlich ein IT-Projekt ist und, warum Google der erste Konzern war, der 2012 in Nevada eine Zulassung für Roboterautos erhielt und nun den bis vor wenigen Wochen amtierenden ehemaligen Chef von Ford, Alan Mulally, verpflichtet hat.

Gleichzeitig entstehen immer neue Formen der personalisierten Werbung im Internet, die nicht mehr nur mit gerade getätigten Suchen, sondern mit ausgefeilten Nutzerprofilen arbeiten werden.

Mit der sogenannten Industrie 4.0, einem der technischen Förderschwerpunkte in Deutschland, soll die gesamte Produktion über alle Stufen durch vernetzte autonome Minisysteme in Echtzeit mit Marktdaten gefüttert und gleichzeitig kontrolliert werden. Allein Bosch will hierfür in den kommenden Jahren jährlich 500 Millionen Euro investieren.[7] Durch die durchgehende integrierte Vernetzung und Steuerung aller Produktionsschritte können die Produktionsanforderungen durch informationstragende Elemente auf das Einzelprodukt übertragen werden. Die Merkmale und Ausstattungskomponenten eines zu erstellenden Produktes werden - ausgelöst durch eine einzelne Bestellung - direkt in die Produktion übertragen. Die einzelnen Produktbestandteile selbst erhalten bereits zu Beginn die Information darüber, wie sie bearbeitet werden sollen, und übergeben diese Daten an die ausführenden Maschinen. Dabei geht es um nicht weniger als den Bruch mit dem Gesetz der Massenfertigung. Insbesondere im Maschinenbau, aber auch in anderen Sektoren, ist heute noch die zu fertigende Stückzahl eines bestimmten Produktes entscheidend für den Automatisierungsgrad der Produktion. Die Anschaffung von Industrierobotern zu Kosten eines Einfamilienhauses lohnt sich für die Unternehmen erst ab einer entsprechenden Produktionsmenge. Wird diese nicht erreicht, bleibt die halbautomatische manuelle Fertigung lukrativer. Mit diesem neuen Konzept soll es möglich werden, hoch individuelle Unikate automatisiert zu produzieren.

Internettechnologie ist das Scharnier zwischen diesen Entwicklungen, erst mit der Durchsetzung dieser Technologie als Kommunikationsstandard für alle technischen und gesellschaftlichen Bereiche kann ein solcher Grad an Integration verschiedenster Systeme erreicht werden.


Punkt 2: Je mehr das Internet in seinen Einsatzmöglichkeiten ins materielle Leben eingreift, umso destruktiver sind seine Wirkungen unter kapitalistischen Verwertungsbedingungen.

Internettechnologie ist heute eben nicht mehr nur der Kommunikation zwischen einzelnen Rechnernetzen vorbehalten. Vernetzt werden nahezu alle computergesteuerten Geräte vom Auto, über die Heizungsanlage bis zu modularen industriellen Produktionseinheiten. Das bedeutet unter kapitalistischen Bedingungen eine Komplettüberwachung sowohl der Produktion und damit der Produzenten in Echtzeit, wie auch der Konsumption, bedeutet den gläsernen Autofahrer, den gläsernen Mieter, den gläsernen Lerner, etc. Unter diesen Vorzeichen einer Totalüberwachung muss eine fortschrittliche Forderung lauten: Nehmt sowohl den Geheimdiensten als auch den Privatkonzernen den Zugriff auf unsere Daten.

Besonders perfide ist in dieser neuen schönen Datenwelt die angebliche Freiwilligkeit dieser Angebote. Nein, niemand zwingt uns, unser Facebook-Profil oder den WhatsApp-Account mit Daten zu füttern - aber was ist mit dem gesellschaftlichen Druck gerade unter Jugendlichen, diese Angebote zu nutzen. Niemand wird uns dazu zwingen, den günstigeren Versicherungstarif mitsamt Totalüberwachung zu nutzen, außer unserem schmaler werdenden Geldbeutel. Niemand wird uns dazu nötigen, den "intelligenten Kühlschrank", der automatisch fehlende Waren ordert, zu bestellen, außer unserer Bequemlichkeit oder der Faszination von Technik.

Der Verkauf der Privatsphäre, von individuellen Rechten hat längst begonnen. Wo wird er enden? Beim Genscreening für Lebensversicherer? Beim Ankauf von Wählerstimmen gegen Beteiligung an Konzernprofiten, z.B. bei der Durchsetzung von Fracking?

Noch nie war es so einfach wie heute, sich eine neue Stufe kapitalistischer Herrschaft vorzustellen, in der die letzten Bürgerrechte in einer marktkonformen Demokratie beseitigt werden.


Punkt 3: Die globale Überwachung des Internets ist die bislang erste weithin sichtbare Stufe des "cyber war", der sowohl im gemeinsamen Interesse der imperialistischen Staaten ("Krieg gegen den Terror") als auch in Konkurrenz zueinander (Wirtschaftsspionage) geführt wird. Durch die Integration mit anderen Komponenten (Drohnenkrieg, Regime-change-Strategien, Aufstandsbekämpfung) entsteht eine neue Qualität militärischer Auseinandersetzungen.

Globale Tötungsfähigkeit und globale Überwachungsfähigkeit sind zwei Seiten einer Medaille, die unvereinbar sind mit völkerrechtlichen Standards. Sie zeugen von einer zunehmend barbarischeren Lösung von globalen Widersprüchen und Krisen, wie Verteilung von Reichtum und Ressourcen, die ja erst durch die imperialistischen neokolonialen Ausbeutungsverhältnisse hervorgerufen werden. Wirtschaftsmanager sehen eine der größten Bedrohungen für die Stabilität ihres Systems in der Verteilung des Reichtums. Im Welt-Risiko-Bericht 2014, einer Studie des Weltwirtschaftsforums (WEF),[8] wird ausgeführt: Als Gefahren mit potenziell verheerenden Folgen sehen die Experten auch (neben der nicht ausgestandenen Finanzkrise d. V.) die hohe Arbeitslosigkeit in vielen Ländern - besonders unter Jugendlichen -, die weiter wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sowie den Klimawandel und den Missbrauch des Internets durch Verbrecher und Spione an. Von allen Risikoszenarien sei das weitere Anwachsen des Wohlstandsgefälles als unmittelbare Folge der Finanzkrise jene Gefahr, die am wahrscheinlichsten eintreten werde, heißt es in der Studie, zu der mehr als 700 Manager und Wirtschaftswissenschaftler befragt wurden. Sie müssen es wissen. Zur Absicherung der globalen und nationalen Ausbeutungsverhältnisse, zum Schutz der sogenannten Wohlstandsinseln (sei es lokal ein Stadtteil oder regional die EU) wird Überwachungstechnologie jeder Art in den kommenden Jahren mit Macht perfektioniert werden. Mit aller Macht soll jetzt wieder das schon tot geglaubte Projekt Euro-Hawk reaktiviert werden, mit dem Hinweis, dass dafür ja schon 700 Millionen Euro investiert wurden. Diese Drohne fliegt 20 Kilometer hoch, wenn nötig 3.000 Kilometer vom Heimatstützpunkt entfernt, macht Luftbilder und erfasst Mobilfunkdaten und anderes. Besonders praktisch dabei ist, dass die Verschlüsselungstechnologie für die erfassten Daten von der NSA geliefert wurde. Da lässt sich zukünftig die Zweitverwertung durch US-amerikanische Behörden technologisch einfach realisieren.

Ein viel zu wenig beachteter Aspekt der Snowden-Enthüllungen ist die weitreichende Privatisierung der Schnüffeltätigkeit.

Spiegel online berichtete am 11.06.2013 im Zusammenhang mit den Snowden-Enthüllungen: "Fast ein Viertel aller Personen, die 2012 eine staatliche Sicherheitsstufe hielten, waren solche Leihspione. Michael Hayden, der frühere CIA- und NSA-Direktor, vergleicht das mit ähnlichen Arrangements des Pentagons: 'Wie wär's mit einem digitalen Blackwater?', sagte er schon im Juli 2011 auf einer Konferenz in Aspen in Anspielung auf die Sicherheitsfirma, die sich als Söldnertruppe im Irak einen unrühmlichen Namen machte".[9]

Führend ist dabei das Unternehmen Booz Allen, das 2012 5,8 Milliarden Dollar Umsatz machte. Fast 99 Prozent stammten aus Regierungsaufträgen, 23 Prozent aus der Arbeit für die Geheimdienste. 70 Prozent der Anteile hält heute der Finanzinvestor Carlyle - eine der weltgrößten Private-Equity-Firmen mit besten Verbindungen in Washington. Aber auch die Großen des MIK in den USA, wie Boeing, General Dynamics, Northrop Grumman, mischen mit. Der letztgenannte Rüstungskonzern hat sogar eine direkte "Outsourcing-Partnerschaft" mit der NSA. So klappt dann auch die Wirtschaftsspionage viel reibungsloser, sozusagen als B2B-Lösung.


Punkt 4: Das Internet stellt technologisch eine gesellschaftliche Kommunikationsbasis dar, deren Potentiale durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse (Eigentumsverhältnisse) gehemmt werden. Statt freier Kommunikation, demokratische Willensbildung und Wissensgesellschaft geht es um globale Überwachung, Geschäftsmodelle und Urheberschutz.

Im Sinne der Brechtschen Radiotheorie[10] wäre das Internet als technische Basis geeignet, völlig neue, demokratische Kommunikationsstrukturen zu verwirklichen. Hier hat sich in den letzten Jahren einiges getan unter dem Stichwort Liquid Democracy. Tatsache ist jedoch, dass vom Internet zunehmend geschlossene Segmente (Intranets, Extranets) abgetrennt werden, die vom allgemeinen Informationsaustausch ausgeschlossen sind. Dies ist vor dem Hintergrund der Analyse des Warencharakters von Information unter kapitalistischen Bedingungen gar nicht anders möglich. Diese Ware muss unter allen Umständen mit allen zu Verfügung stehenden rechtlichen und technischen Mitteln (Firewalls, Verschlüsselungssysteme) geschützt werden und im Gegenzug wird sie von der Konkurrenz mit aller Konsequenz ausgespäht. Die sogenannte Wissensgesellschaft entpuppt sich unter kapitalistischen, imperialistischen Bedingungen als Wissensgeheimhaltungsgesellschaft. Nicht die möglichst schnelle Weitergabe von neuen Erkenntnissen, sondern der Schutz und die Neuerschließung von Extraprofiten stehen im Vordergrund.

Noch dominiert die technische Entwicklung diese hemmenden Tendenzen, aber die negativen Wirkungen des Kampfes der Monopole um die Marktbeherrschung wurden in den letzten Jahren sichtbarer. Da ist der fortdauernde Kampf der Branchengrößen Apple und Microsoft, die ständig versuchen, ihre eigenen Standards statt offener durchzusetzen. Wer wissen will, wie sehr dies z. B. kreative Entwicklungen hemmt, muss sich nur mit seinem Webdesigner um die Ecke unterhalten. Da ist Google mit seinen Manipulationsmöglichkeiten im Bereich der Suchmaschinen. Und mit Facebook die Datenkrake schlechthin, die aus dem kommerziellen Gebrauch von Nutzerprofilen Kapital schlägt.

Eine eindrucksvolle Geschichte hat die OpenSource-Bewegung geschrieben. Anfangs von Microsoft, Apple und Co. belächelt und als Spielerei abgetan, zeigen Softwareprodukte, wie das Computer-Betriebssystem Linux, der Internetbrowser Firefox oder openOffice, welche Dynamik heute durch das Zusammenwirken tausender Programmierer entstehen kann. Diese Produkte werden in weltweit organisierten virtuellen Gemeinschaften auf Grundlage einer gemeinsamen Datenbasis immer weiterentwickelt. Diese Bewegung ist ein fortschrittlicher Reflex auf die Macht der Softwareriesen, wie Microsoft und Apple. Wissen - in diesem Fall der Programmiercode von Software - soll nicht länger Machtinstrument von Konzernen bleiben. Jeder Entwickler weltweit soll in der Lage sein, für eine bestimmte Software ein neues Programm zu entwickeln, und auf der bestehenden Basis aufbauen können.

Viele sahen in OpenSource den Anfang vom Ende des Kapitalismus. Schließlich ist diese Software kostenlos im Internet verfügbar und kann ohne Lizenzgebühren genutzt werden. Trotz aller Errungenschaften wird dabei ausgeblendet, dass Software zwar eine mächtige, aber bei weitem nicht die allein entscheidende Produktivkraft ist. Und: Solange auch Computerentwickler - ob abhängig beschäftigt oder nicht - ihre Arbeitskraft an kapitalistische Unternehmen verkaufen müssen, werden diese auch bestimmen, was und wofür auf welche Weise produziert wird.

Dennoch erhalten wir auch hier ein weiteres schlagendes Argument, wie die Produktivkraftentwicklung gegen die Produktionsverhältnisse rebelliert, durch sie gehemmt wird. Viele gegenwärtige Krisen rühren aus diesem Widerspruch. Wo wären wir in Sachen erneuerbare oder alternative Energien heute schon technologisch angelangt, wenn nicht seit Jahrzehnten die Profitinteressen der Energieriesen und der Atommafia bestimmten, wo es lang geht? Welche enormen Fortschritte hätten die Länder des Südens machen können, wenn sie nicht durch den kapitalistischen Weltmarkt weiterhin in totaler Abhängigkeit der transnationalen Konzerne gehalten würden?

Konzepte, wie Enterprise 2.0, setzen dabei einen Teilaspekt dieser Frage auf die Tagesordnung: Wer besitzt eigentlich die Verfügungsgewalt über das im Arbeitsprozess im Bewusstsein der Arbeitenden entstehende Wissen?

Die utopische Vision des Kapitals in dieser Frage ist eindeutig: Je mehr Wissen aus den Köpfen der Menschen herausgepresst werden kann, umso absoluter liegt diese Gewalt in den privaten Händen der Unternehmer.

Aber auch schon heute fühlen sich die arbeitenden Menschen mehr und mehr gegängelt von Informationssystemen, denen sie zuarbeiten müssen. Können wir an diese Situation nicht positiv mit alternativen gesellschaftlichen Ansätzen anknüpfen?

Warum hört Demokratie eigentlich am Werkstor auf, obwohl immer mehr Kollektivität von den Belegschaften in der Produktion gefordert wird?

Wenn ständig betont wird, dass die Entwicklung des Wissens der Mitarbeiter und Innovation Grundsteine für den Unternehmenserfolg sind, warum gehört uns dann eigentlich das Unternehmen nicht?

Erst wenn die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass der Mehrwert aus im Kollektiv erarbeitetem Wissen auch dem Kollektiv zugutekommt, kann Wissen geteilt werden, ohne dass die kapitalistische Ausbeutung auch noch die letzte Gehirnregion erreicht.

Ähnliche Entwicklungen finden sich im Bereich der Freizeit. Facebook möchte, dass unser gesamtes Leben in Verbindung mit ihren Angeboten, seien es Spiele oder politische Debatten, stattfindet. Google versucht mit dem Projekt Google Glass den direkten Blick durch die Brille der Nutzer zu erhalten. Und die beliebte Kommunikationsanwendung WhatsApp nimmt gleich den Komplettzugriff auf alles, was mit dem SmartPhone überhaupt aufgezeichnet werden kann. Es geht um den Zugriff auf den ganzen Menschen und um die daraus mögliche Vermarktung eines Wissens, das wir nicht einmal selbst über uns haben.


Punkt 5: In einer sozialistischen Gesellschaft wird das Internet Grundlage für eine flexible Steuerung der gesamtgesellschaftlich organisierten Produktion und für Elemente direkter Demokratie sein. Dabei werden Datenschutz (grundsätzliche Anonymisierung aller erhobenen Daten bereits an der Quelle) sowie Datensicherheit eine wesentliche Rolle spielen.

Zu der Bedeutung der IKT auf heutigem Entwicklungsniveau für ein planmäßiges Voranschreiten der Produktion in einer sozialistischen Gesellschaft findet sich in diesem Heft ein eigener Beitrag. Daher will ich an dieser Stelle auf einen anderen Aspekt der aktuellen Debatte hinweisen. Mit der Veröffentlichung der Geheimdienstskandale durch Edward Snowden und vor allem durch die Reaktionen der USA und GBs ist für alle offensichtlich geworden, dass die Führungen der imperialistischen Staaten nicht im Traum daran denken, dieses Instrumentarium in irgend einer Weise einschränken zu lassen. Im Gegenteil deutet alles darauf hin, dass im Rahmen der Kooperation der Geheimdienste auch BND und andere in den Genuss dieser Technologie gelangen werden. Die NSA hat mit Quantenrechnern und anderen Projekten genug Vorsprung, um sich diesbezüglich im gemeinsamen Interesse großzügig zu geben und dennoch den Vorteil in Sachen Wirtschaftsspionage auf ihrer Seite zu haben.

Der Berliner Piratenabgeordnete Christopher Lauer sagte in einem Podcast, er frage sich "inzwischen ernsthaft, ob es tatsächlich eine sinnvolle Anwendung für das Internet überhaupt gibt, oder ob der gesamtgesellschaftliche Schaden nicht größer ist als der Nutzen".[11]

Glenn Greenwald, der Journalist und Snowden-Vertraute, stellte jüngst fest, dass noch nicht entschieden sei, ob sich das Internet zum "schlimmsten Werkzeug der Repression in der Menschheitsgeschichte" entwickeln werde.[12]

Dies bedeutet umgekehrt, dass die Kritik an Totalüberwachung und anderen Destruktionen ein wichtiges Feld für gesellschaftliche Alternativen werden kann. Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, die diese Potentiale nicht gegen die individuellen Rechte der Menschen einsetzt? Welche Technologien sind - in Analogie zur Kernenergie - mit einer fortschrittlichen menschenwürdigen Gesellschaft unvereinbar und daher zu ächten? Wie können zweifellos vorhandene Widerstandspotentiale aktiviert und zusammengeführt werden?

Ein Teil der Antwort liegt meiner Meinung nach in der gleichen Richtung wie die Beantwortung der Frage, warum sich angesichts des NSA-, GCHQ-, BND-Skandals nicht mehr Protest regt. Dieser Skandal rüttelt objektiv derart stark an der Identifikation mit diesem System, dass hier Weltbilder ins Wanken kommen. Ist mein Staat gut oder böse? Leben wir in einem Rechtsstaat?

Nun wechselt man aber eine Weltsicht nicht wie ein Hemd, so etwas bedeutet für ernsthaft denkende Menschen eine tiefe Krise. Ich meine, wir müssen viel stärker von marxistischer Seite aus mithelfen, dass die positive Grundeinstellung zu dieser kapitalistischen Gesellschaft nicht nur ins Wanken gerät, sondern tiefer erschüttert wird. Dabei wäre es hilfreich, wenn wir viel intensiver als bisher an einer marxistischen Netzpolitik arbeiten und Analysen zu den oben beschriebenen Entwicklungen einbringen könnten.

Hier bieten sich Herausforderungen und Chancen, dem moralischen Niedergang der kapitalistischen Gesellschaft eine menschenwürdige Alternative entgegenzustellen.


Anmerkungen

[1] www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/abschied-von-der-utopie-die-digitale-kraenkung-des-menschen-12747258.html (06.08.2014)

[2] www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/sascha-lobo-das-internet-ist-nicht-das-wofuer-ich-es-gehalten-habe-12747989.html (06.08.2014)

[3] www.handelsdaten.de/themen/897/amazon (06.08.2014)

[4] Friedrich Engels: Grundsätze des Kommunismus, in: MEW Bd. 4, S. 361-380

[5] ACE-Lenkrad 2/2014, www.mielco.de/uf/ACE-Lenkrad-2014-02-15.pdf

[6] www.ace-online.de/ace-lenkrad/verkehr-und-umwelt/geteilte-geheimnisse-1215.html (06.08.2014)

[7] www.bosch-presse.de/presseforum/details.htm?txtID=6681&tk_id=107 (06.08.2014)

[8] Global Risks 2014 - Ninth Edition,
www3.weforum.org/docs/WEF_GlobalRisks_Report_2014.pdf

[9] www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/prism-private-vertragsfirmen-spionieren-fuer-us-geheimdienst-a-904930.html (06.08.2014)

[10] Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, Rede über die Funktion des Rundfunks,
www.annamelano.com/wp-content/uploads/2013/03/Brecht_-_Der_Rundfunk_als_Kommunikationsapparat.pdf

[11] www.faz.net/aktuell/feuilleton/appelbaum-zur-spaehaffaere-der-feind-in-meinem-router-12734449.html (06.08.2014)

[12] 29. Chaos Communication Congress,
www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/glenn-greenwald-beim-ccc-auf-in-den-kampf-gegen-die-abschaffung-der-privatsphaere-12729155.html (06.08.2014)

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-14, 52. Jahrgang, S. 30-40
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2015


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