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MARXISTISCHE BLÄTTER/591: Friedensforschung und Friedensbewegung


Marxistische Blätter Heft 2-15

Friedensforschung und Friedensbewegung

Von Werner Ruf


Die Anfänge der Friedensforschung in der BRD

1968 hat sich die "Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK)" gegründet. Ihr Ziel war es, Friedensforschung als eigenständige akademische Disziplin zu etablieren. Bis zu einem gewissen Grade war sie dominiert von der Politikwissenschaft, vor allem von deren Teildisziplin der Internationalen Beziehungen. Doch waren auch Philosophie, Rechtswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Ökonomie, Kulturwissenschaften und vor allem die Soziologie tragende Fächer dieser neuen Disziplin, die bewusst auf die lange Tradition friedenswissenschaftlicher Ansätze von Thomas von Aquin oder die Grundlegung des modernen Völkerrechts etwa durch Hugo Grotius und vor allem auf die Arbeiten Immanuel Kants zurückgreifen konnte. Die AFK hat derzeit rund 270 Mitglieder. Innerhalb der Vereinigung arbeiten zahlreiche Arbeitskreise. Personelle Verflechtungen bestehen auch zu dem 1984 gegründeten Arbeitskreis Historische Friedensforschung, dessen Mitglieder disziplinspezifische Forschungen betreiben.

Die Etablierung der Friedensforschung in der alten BRD kann nur verstanden werden im Kontext der politischen Umbrüche des Jahres 1968: Nach der Bundestagswahl vom 28. September 1969 bildete Willy Brandt gemeinsam mit der FDP die erste sozialdemokratisch geführte Regierung, schon am 5. März desselben Jahres war Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt worden. Der Spiegel vom 18. August 1969 präsentierte ihn mit den folgenden Worten: "Im Bonner Bundestag stellte sich ein Lobbyist vor. Bundespräsident Gustav Heinemann warb in seiner Antrittsrede am 1. Juli um Unterstützung für eine neue Wissenschaft: die Friedensforschung." Im November 1969 wurde die Gründung einer "Deutschen Gesellschaft zur Förderung der Friedensforschung" beschlossen.[1] Anlässlich der Gründung dieser Gesellschaft, der, alimentiert durch den Bund und die Länder, die Finanzierung der neu etablierten Disziplin obliegen sollte, umriss Heinemann die Schwierigkeiten, denen sich die neue Disziplin (und er selbst) ausgesetzt sahen:

"Der Vorschlag (Friedensforschung zu fördern, WR) hat in der Öffentlichkeit viel Zustimmung gefunden, mir aber hier und da auch den Vorwurf eingetragen, mich für etwas einzusetzen, das als Wissenschaft umstritten sei und für die praktische Politik nie Bedeutung erlangen werde. Wenn ich diese Kritiker nach dem Grund ihrer ablehnenden Haltung fragte, dann stellte sich meist heraus, dass sie Friedensforschung nicht mit streng wissenschaftlicher Arbeit in Verbindung bringen, sondern mit Propaganda für den Frieden. Andere halten sie gar für ein von Kommunisten erdachtes Tarnmanöver, mit dem die westliche Welt in Sicherheit gewiegt werden soll ... Wir dürfen es nicht zulassen, dass eine wissenschaftliche Disziplin, von der viel für die Zukunft abhängen kann, von solchen in Acht und Bann getan wird, denen sie einfach nicht in ihr Weltbild passt."[2]

Eine zentrale Forderung der in der AFK zusammengeschlossenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler war die Finanzierung der Friedensforschung außerhalb des etablierten autoritären Systems der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), war diese und ihr Gutachtersystem doch von den alten Ordinarien besetzt, also gerade jenen, die der Friedensforschung Ideologiehaftigkeit und (verwerflichen) Pazifismus unterstellten und ihr wegen ihrer Orientierung auf den normativen Begriff Frieden jede Wissenschaftlichkeit absprachen. Die Initiative Heinemanns führte zur Schaffung einer DFG-unabhängigen Finanzierungsinstitution, der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK); sie wurde von 1972 bis zu ihrer Auflösung vom späteren Vorsitzenden der deutschen Sektion von Pax Christi, Karlheinz Koppe, geleitet.[3]

Die Institutionalisierung der Friedensforschung zeigte sich aber nicht nur in der Existenz der AFK, Friedensforschung war auch an zahlreichen Universitäten verankert, so vor allem an der FU Berlin, aber auch in Tübingen, Kassel, Osnabrück und andernorts. Zu Beginn der 70er Jahre erfolgte auch die Gründung einer Reihe von Instituten, die entweder an Universitäten angesiedelt oder ihnen personell verbunden waren. Hierzu gehören das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebens- und Umweltbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, die Forschungsgemeinschaft der Evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg (FEST, deren Anfänge schon in den Jahren 1957/58 liegen), die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (ISFH) und das Bonn International Center for Conversion (BICC).[4]

Die AFK und z.T. auch die genannten Institute waren in ihren Anfängen mehrheitlich einer "kritischen Friedensforschung" verpflichtet. Diese Richtung war stark beeinflusst von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung, der 1973 auf die neu eingerichtete Carl-von-Ossietzky-Gastprofessur für Friedens- und Konfliktforschung in Bonn berufen und wegen seiner Arbeiten zur "strukturellen Gewalt" von konservativen Kreisen in der BRD in die Nähe der Roten Armee-Fraktion gerückt wurde. "Kritische Friedensforschung" wurde in Anlehnung an die Frankfurter Schule als eine Disziplin verstanden, die die Ursachen von Gewalt in den Gesellschaften selbst verortet und untersucht, also per se gesellschaftskritisch ist. In Abgrenzung zur traditionellen Friedensforschung (auch "Befriedungsforschung" genannt) definierten die "kritischen Friedensforschem auf einer wissenschaftlichen Tagung in Wannsee (24. und 25. April 1971) in der "Wannsee-Erklärung" ihr Selbstverständnis:

"Kritische Friedensforscher lehnen eine am Status quo orientierte Befriedungsforschung ab. ... Kritische Friedensforscher begreifen sich als wissenschaftliche Parteigänger von Menschen, die durch die ungleiche Verteilung sozialer und ökonomischer Lebenschancen in und zwischen Nationen (d.h. durch strukturelle Gewalt) betrafen sind: von Ausgebeuteten, von sozial Diskriminierten und von unmittelbar in ihrer physischen Existenz Bedrohten."[5]

Der hier zugrunde gelegte Friedensbegriff geht weit über das traditionelle Verständnis der Untersuchung von Fragen der zwischenstaatlichen Verhältnisse hinaus und lieferte so den konservativen Kritikern die von ihnen gern bemühten Argumente: Hier handele es sich nicht um Friedensforschung, sondern um ideologisch motivierten Willen zur Subversion.

Friedensforschung als Kapitalismuskritik?

Eine Friedensforschung, die sich nicht auf Kriege in Form zwischenstaatlicher bewaffneter Auseinandersetzung beschränkt, muss die Frage nach dem Ursprung und den Ursachen von Gewalt stellen. Damit stellt sich als Bezugsgröße zwangsläufig die Frage der Gewaltfreiheit: Gandhi war ebenso Forschungsobjekt wie die Pugwash-Bewegung, die auf dem Russell-Einstein-Manifest fußte. Gandhi wurde zum Idol einer Richtung der Friedensforschung, die stark von dem Berliner Politologen Theodor Ebert beeinflusst war.

Was 1968 begonnen hatte, führte 1970 und danach zu einer Vielzahl von Publikationen, die teilweise Ansätze in den USA erschienener, aber stärker auf Krieg und Frieden ausgerichteter Arbeiten aufgriffen.[6] Auch hier ist der zeitliche Kontext zu betrachten: Viele US-amerikanische Forscherinnen und Forscher, die später vom "kritischen" wieder ins "bürgerliche" Lager zurück wechselten, waren politisiert durch den Vietnamkrieg, der zu jener Zeit seinen Höhepunkt erlebte und die US-amerikanische Gesellschaft, vor allem deren Intellektuelle, teilweise radikalisierte. Entscheidenderen Einfluss auf das Selbstverständnis vieler Friedensforscherinnen und Friedensforscher hierzulande aber hatte die Kritische Theorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos.

In der Bundesrepublik zeigte der Vietnamkrieg ebenso Wirkung wie die sozialistische Regierungsbildung in Chile und der darauf folgenden Putsch vom 11. September 1973. Zunehmend wurde explizit der Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Ausbeutung, Gewalt und Krieg hergestellt: in den Analysen über strukturelle Gewalt von Johan Galtung wie in Arbeiten etwa von Vilmar.[7] Auch die weit verbreiteten Publikationen von Dieter Senghaas[8] nahmen das Ausbeutungsverhältnis zwischen kapitalistischem Norden und unterentwickeltem Süden ins Visier: Dort kamen neben Vertretern der lateinamerikanischen Dependenz-Theorie auch erklärte Marxisten wie etwa Samir Amin zu Wort. Die als Ausformung eines ausbeuterischen strukturellen Gewaltverhältnisses begriffenen Nord-Süd-Beziehungen wurden zu einem zentralen Strang friedensforscherischer Hypothesenbildung und empirischer Forschungen, die folgerichtig eine neue und intensive Beschäftigung mit Imperialismus-Theorien nach sich zogen. Dieser Strang der Friedensforschung prägte in hohem Maße die Entwicklungsländerforschung im Allgemeinen und wirkte zurück auf die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen im Besonderen.[9]

Kritische Friedensforschung ade?

Bis zum Ende der 1980er Jahre verstanden sich weite Teile der Friedensforschung als wissenschaftlicher Arm der Friedensbewegung und sahen es (auch) als ihre Aufgabe, die Anliegen der Friedensbewegung durch wissenschaftliche Expertise zu unterfüttern. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler engagierten sich selbst in der Friedensbewegung. Die AFK und ihr Vorstand bezogen regelmäßig öffentlich politische Position und gaben Erklärungen zu aktuellen Konflikten ab. Ein Ergebnis dieser alles in allem progressiven Phase ist die Quartalszeitschrift "Wissenschaft und Frieden", die 1983 auf Initiative des Bundes demokratischer Wissenschaftler (BdWi) gegründet wurde. In ihr leben bis heute die Ansätze der Kritischen Friedensforschung fort. Dabei versucht die Zeitschrift, die noch immer mit Mitgliedern der AFK eng verbunden ist, den interdisziplinären Charakter, den die AFK angestrebt hatte, fortzusetzen, indem dort außer Politologen auch Psychologen, Historiker, Naturwissenschaftler und Philosophen publizieren. Noch immer versteht sich die Zeitschrift als Brücke zur Friedensbewegung.

Selbst innerhalb der AFK jedoch war der Streit zwischen "traditioneller" und "kritischer" Friedensforschung nie ganz zu Ende gegangen. Schon die Zerschlagung der DGFK und der damit verbundene weitgehende Wegfall der öffentlichen Finanzierung begünstigte eine Tendenz, die sich, verstärkt durch einen Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften selbst, im letzten Vierteljahrhundert zunehmend durchsetzte.

Eine Mehrzahl von Faktoren veränderten die politischen Rahmenbedingungen der Fortentwicklung einer das Adjektiv "kritisch" verdienenden Friedensforschung in Deutschland:

1. Folgenreich war zunächst die Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland, markiert durch die unter konservativem und neoliberalem Vorzeichen vollzogene deutsche Vereinigung. Diese ideologische Wende hatte sich bereits angekündigt in der Regierungsübernahme durch die CDU, sie kulminierte in Wandlungsprozessen innerhalb der SPD, die symbolisiert wurden durch die Kanzlerschaft Schröders, der gemeinsam mit dem grünen Außenminister Fischer Deutschland 1999 in seinen ersten und dazu noch völkerrechtswidrigen Krieg führte, wie auch im Rücktritt Oskar Lafontaines von den Ämtern des Finanzministers und des Parteivorsitzenden im März 1999.

2. Etwa zeitgleich nahm der mainstream der Sozialwissenschaften Abschied von einem Selbstverständnis, das sich bis dahin mehrheitlich von "konservativ" bis "kritisch" stets normativ definiert hatte. Das inzwischen dominierende Paradigma des Konstruktivismus nimmt die Postulate der Positivisten wieder auf, indem es Wissenschaft als wertfrei versteht. Dass ein solcher Ansatz, der sich vordergründig auf die Erklärung empirischer Befunde beschränkt, selbst voll in die Falle der den Sozialwissenschaften immer inhärenten Normativität tappt, ist den Vertretern dieser Richtung nicht bewusst, bzw. wird negiert. Getreu dem positivistischen Selbstverständnis eines Auguste Comte oder Henri de Saint-Simon transportiert dieses Selbstverständnis auch den Anspruch der wissenschaftlichen Beratung für die politische Praxis. Die "Expertokratie" beansprucht damit zugleich gesellschaftliche Anerkennung und die Kompetenz der Verwissenschaftlichung wie der Steuerbarkeit von Politik.

3. Damit ist nichts Anderes gemeint als die Optimierung des Systemerhalts durch wissenschaftliche Beratung. Genau an diesem Punkt trifft sich der Konstruktivismus mit konservativen Vorstellungen, deren politische Zielvorstellungen allerdings auf dem normativen Wertekanon des von den Konstruktivisten abgelehnten Realismus fußten: Mit der Fokussierung auf Sprache als eine Form sozialen Handelns, die soziale Strukturen - also auch Herrschaft - (re)produziert, wird die Frage nach den diese Herrschaft konstituierenden gesellschaftlichen Kräften und Interessen aus dem Blickfeld wissenschaftlicher Analyse verdrängt.

Ohne hier die wissenschaftstheoretische Debatte weiterführen zu können, sei diese Art der Politikberatung am Beispiel des neuen "friedensforscherischen" Selbstverständnisses exemplarisch illustriert: Ausgehend von einem modisch gewordenen Menschenrechtsdiskurs, der nicht mehr nach den Ursachen der Gefährdung menschlichen Lebens fragt, sondern das Elend als gegebenes (und möglicherweise bedrohliches) Gegenwartsproblem begreift, befürwortet die etablierte Friedensforschung beispielsweise sicherheitspolitische Konzepte wie die Zivil-Militärische Zusammenarbeit (CIMIC) oder die so genannte Schutzverantwortung (responsibility to protect), in dem sie ihre Expertise für die Optimierung dieser Konzepte anbietet: Heraus kommen dabei Politikempfehlungen wie beispielsweise des den "Grünen" nahe stehenden Instituts für Entwicklung und Frieden (Universität Duisburg/Essen):

"Das Bundesministerium für Verteidigung (BMVg) sollte sich stärker als bislang an diesem Austausch (über krisenrelevante Entwicklungen in den Ländern der ehemaligen 'Dritten Welt' - WR) beteiligen und seine Erfahrungen zum Beispiel mit peace-keeping-Einsätzen einbringen, damit künftige Einsatzmandate realitätsnäher formuliert und in besserer Abstimmung mit den Aktivitäten der Zivilgesellschaft vorbereitet werden können."[10]

Ein besonderes Dokument des Übergangs der Friedensforschung zum puren Bellizismus lieferte der (damalige) Direktor der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung Harald Müller anlässlich des Krieges der NATO gegen Libyen (2011), in dem er unter vordergründigem Verweis auf das Menschenrechtsargument mit Schärfe die Zurückhaltung der Bundesregierung im Falle dieses Krieges geißelte:

"Die Haltung der Bundesregierung im Fall Libyen ist ein moralischer und politischer Fehler. ... Scharf formuliert, gab es eine Allparteienkoalition gegen den Schutz der Menschen in Bengasi, geführt von der Linken mit ihrer kohärenten Anti-Interventions-Leitkultur, im Schlepptau die Regierungsparteien, die dem Motto des Wiener Chansonniers Georg Kreisler folgten "mir gfallts, aber i bin dagegen", die SPD, zugleich schwammig und zerrissen, und ganz zuletzt die Grünen, halb protestierend und mit schlechtem Gewissen, aber durch Untätigkeit die deutsche Politik stillschweigend tolerierend. ... Die deutsche Reputation ist schwer beschädigt."[11]

4. Die Verschiebung der Paradigmen innerhalb der Sozialwissenschaften hatte unmittelbare Auswirkungen auch auf die Friedensforschung, wo die (nie dominante, aber vorhandene) politische Ökonomie verdrängt wurde durch die konstruktivistischen Ansätze, die in positivistischer Tradition letztlich auch Friedens- und Konfliktforschung vom Standpunkt der Machbarkeit aus betrachten. Damit begibt sich die Friedensforschung ihres in der "Kritischen Friedensforschung" hochgehaltenen Anspruchs einer gesellschaftskritischen Analyse der strukturellen Konfliktursachen und ihrer Bekämpfung, bei der die Sozialwissenschaften selbst sich als Partei der Unterdrückten verstanden. So wird seit einigen Jahren auch in der AFK darüber debattiert, ob Friedensforschung denn überhaupt eine normative Wissenschaft sein könne und dürfe. Friedens- und Konfliktforschung wird von den Vertretern dieser Richtung verstanden als eine eher technizistische Disziplin, die gerade im Bereich der Friedenssicherung, ggf. auch der "Friedensschaffung", den Werkzeugkasten bereit zu stellen hat (und vermag), der Gewalt in den seit Ende der Bipolarität zunehmend innerstaatlichen Konflikten zu reduzieren oder zu beenden helfen könne.[12]

5. Wissenschaft zieht sich so - wie Strutynski[13] treffend argumentiert in jenen Elfenbeinturm zurück, in dem sie Wissen in erster Linie für andere Wissenschaftler produziert. Doch nicht nur: Zunehmend versteht auch die Friedenswissenschaft ihre Produktion als auf "den Markt" gerichtet, der für ihre Produkte Verwendung hat. Damit ist die Friedenswissenschaft im Begriff, dorthin zurückzukehren, wo die Kritiker im wissenschaftlichen Establishment (verkörpert vor allem durch die DFG) sie schon in ihrer Gründungsphase haben wollten: Die Besetzung von Professuren erfolgt nach den Kriterien der (inzwischen wieder) etablierten, scheinbar unpolitischen Wissenschaft und (re)produziert sich in den Zwängen akademischer Karriereleitern selbst. Diese These wird belegt durch die Berufungspolitik seit der Jahrtausendwende, wo zahlreiche vakant gewordene Professuren in den Sozialwissenschaften gestrichen, viele aber mit Vertreterinnen und Vertretern des konstruktivistischen Paradigmas neu besetzt wurden.

6. Vor allem in den 70er Jahren hatte sich Friedensforschung als eigenständige Disziplin zu etablieren vermocht: Hiervon zeugen nicht nur das Leben der AFK als Vereinigung von Wissenschaftler/innen, sondern auch die Präsenz der Disziplin an zahlreichen Universitäten und die Gründung der Friedensforschungsinstitute. Diese existieren aber vor allem als "An-Institute", heißt: Sie sind an Universitäten angegliedert, erhalten aber keine Mittel aus deren Etat, müssen also für ihre Finanzierung selbst sorgen. Der einzige Weg hierzu sind die "Drittmittel": Zeitlich befristete und in ihrer Zielsetzung vom Auftraggeber formulierte Forschungsprojekte werden bei privaten, meist aber staatlichen Einrichtungen eingeworben. Hierfür kommen in Frage die klassischen Ministerien, die mit Fragen der Konfliktbearbeitung befasst sind: das Bundesministerium für Verteidigung, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Die Leiter der Institute, meist bestallte Universitätsprofessor/innen, stehen gegenüber ihren Mitarbeiter/innen, die in der Regel auf befristeten Projektstellen sitzen, in der sozialen Pflicht, deren materielle Existenz durch Anschlussprojekte zu sichern. Nur (im Sinne der Auftraggeber) erfolgreich abgeschlossene Projekte eröffnen die Chance, ein Folgeprojekt einzuwerben. "Der Markt" - und dieser ist überdies eng und von der Konkurrenz der Auftragnehmer geprägt - bestimmt Art und Inhalt der wissenschaftlichen Produktion. Hier ergibt sich ein Teufelskreis, der nicht nur Wissenschaft in den Dienst der Herrschenden stellt, sondern auch das Bewusstsein der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler prägt: Dies reicht von der Übernahme der durch den offiziellen Sicherheitsdiskurs vorgegebenen Begrifflichkeiten (peace keeping, peace enforcement, securitization usw.) bis zur Nichthinterfragung beispielsweise jener "Petersberg-Prinzipien"[14], die in der postbipolaren Welt dem Interventionswillen der EU- und NATO-Staaten Tür und Tor öffneten.

7. Eine weitere Folge der so eingeleiteten "Entpolitisierung" der Friedensforschung, die im Kern nichts anderes als eine Indienstnahme darstellt, ist das Auseinanderdriften der Friedenswissenschaft und der Friedensbewegung, worauf Strutynski[15] schon 2002 hingewiesen hatte: Während die Friedensforschung sich in den 70er und 80er Jahren als Mit- und Vordenker der Friedensbewegung verstand und von dieser gefordert wurde, hat der Rückzug in den "Elfenbeinturm" die fruchtbare Interaktion zwischen beiden beendet. Mit den Produkten der etablierten Friedensforschung weiß die Friedensbewegung nichts mehr anzufangen - und die Friedensforschung bedarf der Friedensbewegung nicht mehr, kommt diese doch als "Drittmittelgeber" nicht in Frage.

Fazit

Die "Wende" in der Ausrichtung der Friedensforschung korreliert zeitlich mit dem Ende des bipolaren Systems und der dadurch bedingten Aufwertung der Rolle des vereinigten Deutschlands in der Weltpolitik. Trotz der einschlägigen und konsequent friedensorientierten Bestimmungen des 2+4-Vertrags, der das Regime von Potsdam beendete und sich wie ein Friedensdokument liest, brachte die Vereinigung der Stellung Deutschlands im internationalen System eine neue Stellung ein, die hervorragend mit der von Joachim Gauck geprägten und auf die Militarisierung der deutschen Außenpolitik zielenden Formel zusammenfällt, Deutschland müsse "mehr Verantwortung übernehmen". Die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien an den Hochschulen und in der Forschung hat die Wissenschaft nachhaltig verändert, ihre - auch kritische - Unabhängigkeit in Frage gestellt. Heute erhält Wissenschaft Ansehen, wenn sie am Markt erfolgreich ist, den jene beherrschen, die über finanzielle Mittel verfügen. Das neoliberale Prinzip des Marktes als Maßstab von Erfolg kulminiert schließlich in der Verleihung des Etiketts der "Exzellenzforschung".

Scheinbar unbemerkt wird so ein neuer Sozialisationstyp des Wissenschaftlers/der Wissenschaftlerin produziert, der/die sich und seine/ihre Qualität selbst am Erreichten misst: Sitz in Kommissionen und Beratungsgremien, Zahl der Drittmittelprojekte und der dort (auf Zeit!) beschäftigten Mitarbeiter/innen. So wird die Wissenschaft, die vorgibt unpolitisch zu sein, in höchstem Maße politisch: Sie betreibt nach wie vor Sinnproduktion - aber nicht mehr im Sinne von Herrschaftskritik, sondern als Legitimation jener Strukturen, die zu kritisieren und zu bekämpfen zumindest die Kritische Friedensforschung einmal angetreten war. Das neue Verständnis von wissenschaftlicher Leistung passt sich wie in einem Räderwerk in die hegemonial vorgegebenen politischen und ökonomischen Strukturen ein.

Die herrschende Friedensforschung hat, wie auch die Entwicklung der seit 1987 jährlich erscheinenden "Friedensgutachten" zeigt, ganz im Gegensatz zu den Unkenrufen der Kritiker Heinemanns inzwischen sehr wohl beachtliche Bedeutung für die praktische Politik erlangt, wenn auch ganz anders als diese meinten: Nicht kritisch hinterfragend, sondern systemkonform optimierend geriert sich der mainstream der heutigen Friedensforschung. So stellt sich auch in diesem Zusammenhang in eminenter Weise die Demokratiefrage: Der herrschende Diskurs in den Sozialwissenschaften fragt nicht mehr danach, wem die Produktion von Wissenschaft nützt, auf wessen Seite sie sich - konfliktanalysierend und -bekämpfend - engagieren muss, sondern danach, ob und wo sie Anerkennung durch jene findet, die ohne demokratische Legitimation die Geschicke der Welt zu ihrem vordergründigen und kurzfristigen Nutzen lenken. Die kurze Geschichte der deutschen Friedensforschung könnte und sollte dennoch ein Lehrstück dafür sein, dass Wissenschaft einen gesellschaftlich verantwortlichen Beitrag zu einer friedlicheren Welt leiste muss - und kann.


Werner Ruf, Prof. em. Dr., Edermünde, Politologe und Friedensforscher


Anmerkungen

[1] Die beste und ausführlichste Darstellung der Gründung und Entwicklung der DGFK und der Anfänge der AFK findet sich in der Autobiografie von Karlheinz Koppe: Dreimal getauft und Mensch geblieben. Berlin 2004.

[2] Zit. n. Wasmuht, Ulrike, C.: Geschichte der deutschen Friedensforschung, Münster 1998. S. 207.

[3] Zur Gründungsgeschichte und den politischen Ränkespielen in der Folge s. Koppe, a.a.O., vor allem S. 189ff. Karlheinz Koppe war Geschäftsführer und Vorstand der DGFK in einer Person.

[4] Die vier letztgenannten Institute geben derzeit das seit 1987 jährlich erscheinende "Friedensgutachten" heraus. Die Herausgeberschaft hat dabei im genannten Zeitraum variiert.

[5] Zit. n. Wasmuht S. 177.

[6] S. exemplarisch: Krippendorff, Ekkehart (Hrsg): Friedensforschung. Frankfurt/Main 1970, sowie Senghaas, Dieter (Hrsg.): Kritische Friedensforschung, Frankfurt/Main 1971.

[7] Vilmar, Fritz: Sozio-ökonomische Grundlagen Kritischer Friedensforschung. In: Futurum 3 (§), S. 356-372. Ders.: Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus. Eine sozioökonomische Analyse des Militarismus unserer Gesellschaft, Frankfurt/Main 1973.

[8] S. Senghaas, Dieter: Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung, Frankfurt/Main 1974.

[9] S. exemplarisch die vor allem von Nachwuchswissenschaftlern formulierten "Tutzinger Thesen" der Sektion Internationale Politik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft vom September 1972, die feststellten, dass "... die Analyse der internationalen Gesellschaft als einer komplexen Klassengesellschaft" geleistet werden müsse. Demzufolge (ist) "Außenpolitik heute staatlich vermittelte Politik des Krisenmanagements von jeweils herrschenden Klassen, deren Interesse zur Systemstabilisierung ableitbar ist von ihrer Stellung im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess, insbesondere ihrer Verflechtung im militärisch-industriellen Komplex." Veröffentlicht in: Krippendorff, Ekkehart (Hrsg.): Internationale Beziehungen, Köln 1972, S. 364-368.

[10] Debiel, Tobias/Fischer, Martina/Matthies, Volker/Ropers, Norbert: Effektive Krisenprävention. INEF Policy Paper Nr. 23, Juni 1999, S. 7.

[11] Müller, Harald: Ein Desaster. Deutschland und der Fall Libyen. HSFK-Standpunkte Nr. 2/2011.
http://www.hsfk.de/fileadmin/downloads/standpunkt0211_02.pdf [26-01-15].

[12] Ruf, Werner: Quo Vadis Friedensforschung? In: Baumann, Marcel et al. (Hrsg.): Friedensforschung und Friedenspraxis. Frankfurt/Main 2009, S. 42-56.

[13] Strutynski, Peter: Friedens- und Konfliktforschung politisieren. In: Wissenschaft und Frieden 2/2002, S. 52-55.

[14] Diese 1992 im Zusammenhang mit dem Abschluss des Maastricht-Vertrags beschlossenen Einsatzbegründungen für die Streitkräfte der EU-Staaten beinhalten:
1. humanitäre Aufgaben,
2. Rettungseinsätze,
3. friedenserhaltende Aufgaben sowie
4. Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen.

[15] Strutynski, a.a.O.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-15, 53. Jahrgang, S. 75-84
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2015

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