Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


MARXISTISCHE BLÄTTER/626: Die Dialektik von Reform und Revolution


Marxistische Blätter Heft 5-16

Die Dialektik von Reform und Revolution [1]
Eine Kernfrage revolutionärer Strategie in nichtrevolutionären Zeiten

Von Willi Gerns


Gegenstand meiner Ausführungen ist das Ende 2015 im Neue Impulse Verlag erschienene Buch "Revolutionäre Strategie in nichtrevolutionären Zeiten". Darum zunächst eine kurze Antwort auf die Frage, was wir Kommunisten unter einer solchen Strategie verstehen. Wir verstehen darunter eine Programmatik und Politik für Zeiten wie die gegenwärtigen, in denen in unserem Land und den entwickelten kapitalistischen Ländern überhaupt, mit dem hohen Entwicklungsstand der Produktivkräfte zwar die notwendigen materiellen Voraussetzungen für die Überwindung der kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse durch eine auf Gemeineigentum an den entscheidenden Produktionsmitteln und echte Volksmacht basierende Gesellschaftsordnung, also den Sozialismus, längst gegeben sind. Von den zugleich ebenso unverzichtbaren subjektiven Voraussetzungen für einen erfolgreichen revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus, das heißt der Erkenntnis in der Masse der Arbeiterklasse und anderer gesellschaftlicher Kräfte, dass dieser Bruch notwendig ist und der Bereitschaft dafür zu kämpfen, kann jedoch keine Rede sein.

Unter diesen Bedingungen bedeutet eine revolutionäre Strategie für Kommunisten unbeirrbar am sozialistischen Ziel festzuhalten und zugleich hier und heute als Teil des arbeitenden Volkes und der fortschrittlichen Bewegungen für die gemeinsamen unmittelbaren Anliegen und fortschrittliche Reformen zu wirken. Nur in diesen Kämpfen und Bewegungen können anhand der eigenen Erfahrungen der Menschen weitergehende Erkenntnisse über die Grenzen des Kapitalismus und die Notwendigkeit grundlegender gesellschaftlicher Umwälzungen wachsen und so die dafür notwendigen Kräfteverhältnisse entstehen.

Bei dem neuen Buch aus dem Neue Impulse Verlag handelt es sich um eine Auswahl von Artikeln und Vorträgen, die von mir zwischen 1971 und 2012 zu diesem Generalthema veröffentlicht wurden. Es waren dies vier Jahrzehnte, in denen sich tiefgehende Veränderungen mit gravierenden Folgen für die Kampfbedingungen der revolutionären Arbeiterbewegung vollzogen haben. Das gilt besonders für die Niederlage des realen Sozialismus, die auf dessen zu Beginn dieses Zeitraums zunächst noch scheinbar erfolgreiche, große Hoffnungen weckende Entwicklung folgte.

Hier liegt auch ein Grund für aus heutiger Sicht zu optimistische Einschätzungen, die die Leserinnen und Leser in manchem Text finden werden, der vor dieser Zäsur geschrieben wurde. In Übereinstimmung von Autor und Verlag wurde an den entsprechenden Texten jedoch nichts geändert und selbst Wiederholungen nicht eliminiert. Wichtiger war uns, durch diese Beiträge ebenso wie die in den späteren Texten unternommenen Bemühungen, Fehleinschätzungen aufzuarbeiten, ein ehrliches, ungeschminktes Bild meiner Positionen und damit auch weitgehend der der DKP in diesen Jahrzehnten zu vermitteln.

An dieser Stelle ist es unmöglich ausführlich auf alle vier Kapitel einzugehen. Ich will darum nur ihre Überschriften nennen und dann mehr über das erste Kapitel "Die Dialektik von Reform und Revolution" sagen, dessen Thematik mehr oder weniger in allen Kapiteln von Bedeutung ist. Die Überschriften der drei anderen Kapitel lauten: "Die Strategie des Kampfes um antimonopolistische Übergänge", "Zum sozialistischen Ziel" und "Zur Parteitheorie".


Was ist eine Reform? Was ist eine Revolution?

Wenn man heute über Reform und Revolution spricht, ist es unumgänglich, sich zunächst darüber zu verständigen, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist. Haben wir es doch gegenwärtig mit einem Missbrauch dieser Begriffe zu tun, der nicht mehr zu übertreffen ist. Das gilt besonders für das Wort Reform, das im Sprachgebrauch der Herrschenden und der tonangebenden Medien zum Synonym für sozialen Kahlschlag und Demokratieabbau und damit für Antireform geworden ist. Reform im eigentlichen Sinne steht dagegen für Veränderungen, die Verbesserung und Fortschritt bedeuten - dies allerdings als evolutionäre Veränderungen, die sich im Rahmen einer gegebenen Qualität bewegen und deren Grenzen nicht überspringen. In diesem Sinne wurden und werden von der Arbeiterbewegung unter Reformen Maßnahmen verstanden, die zur Verbesserung der Lebens-, Arbeits- und Kampfbedingungen der arbeitenden Menschen führen, jedoch im Rahmen des Kapitalismus verbleiben.

Schindluder wird auch mit dem Begriff Revolution getrieben. So wird Revolution von bürgerlichen Ideologen von je her mit Bürgerkrieg, Blutvergießen und Anarchie gleichgesetzt. In Wirklichkeit bedeutet Revolution - im Unterschied zur Reform - das über die Schwelle der gegebenen Qualität Hinaustreten, die grundlegende Umwälzung der bestehenden Zustände, die Herausbildung einer neuen Qualität. Auf die Gesellschaft angewandt geht es um die Überwindung einer Gesellschaftsformation durch eine neue, höhere. Ob sich diese Umwälzung auf relativ friedlichem Wege vollziehen kann oder mit Bürgerkrieg und Blutvergießen einhergeht, hängt von den konkreten Bedingungen ab, unter der sie sich vollzieht, vor allem von den gegebenen Kräfteverhältnissen und davon, ob der alten herrschenden Klasse die Möglichkeit verbleibt, ihre Macht und Privilegien durch bewaffnete Gewalt zu verteidigen oder nicht. Wo sie diese Möglichkeit hat, wird sie diese skrupellos gegen das Volk einsetzen, davon zeugt die Geschichte unmissverständlich.

Die Fragestellung nach dem Verhältnis von Reform und Revolution ist nicht neu. Ihre unterschiedliche Beantwortung wurde bekanntlich zu einem der wesentlichen Gründe für die Spaltung der Arbeiterbewegung in einen reformistischen und einen revolutionären Flügel. Allerdings scheiden sich an dieser Frage auch innerhalb der revolutionären Arbeiterbewegung immer wieder die Geister und dies vor allem auch in Zeiten wie den jetzigen, in denen - zumindest in unseren Breiten - die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft angesichts der gegebenen Kräfteverhältnisse leider keine aktuell zu lösende Aufgabe ist. In einer solchen Situation besteht auf der einen Seite die Gefahr, den notwendigen langen Atem zu verlieren, die Mühen des Tageskampfes zu scheuen und sich auf ein abstraktes Propagieren des sozialistischen Zieles zurückzuziehen. Die Folge davon kann ein sich Abwenden von den unmittelbaren Anliegen, die die Menschen bewegen, und ein Abgleiten in Sektierertum sein. Auf der anderen Seite kann die zeitliche Distanz zur Verwirklichung des sozialistischen Ziels dazu führen, dass dieses mehr und mehr in den Hintergrund des Denkens und Handelns gerät, dass die Tagesaufgaben und der Reformkampf vom Ziel gelöst und mehr und mehr verabsolutiert oder die Grenzen zwischen Kapitalismus und Sozialismus verwischt werden. Das kann zum Versinken im Reformismus führen. Gerade in nichtrevolutionären Zeiten ist es deshalb für Revolutionäre unverzichtbar, sich immer wieder die Dialektik des marxistischen Verständnisses von Reform und Revolution vor Augen zu führen und zur Richtschnur sowohl der Programmatik wie des praktischen Handelns zu machen.

Bei den Auseinandersetzungen in der deutschen Sozialdemokratie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat Rosa Luxemburg den Kern des Streits und die marxistische Position zum Verhältnis von Reform und Revolution auf den Punkt gebracht. In ihrer 1898/99 erschienenen Schrift "Sozialreform oder Revolution" schreibt sie: "Für die Sozialdemokratie bildet der alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel, auf die Ergreifung der politischen Macht und die Aufhebung des Lohnsystems hinzuarbeiten. Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist."

Weiter heißt es: "Eine Entgegenstellung dieser beiden Momente der Arbeiterbewegung finden wir erst in der Theorie von Ed. Bernstein. (...) Diese ganze Theorie läuft praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung, das Endziel der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des Klassenkampfes zu seinem Zwecke zu machen. Bernstein selbst hat am treffendsten und am schärfsten seine Ansichten formuliert, indem er schrieb: 'Das Endziel, was es immer sei, ist mir Nichts, die Bewegung alles'. Da aber das sozialistische Endziel das einzige entscheidende Moment ist, das die sozialdemokratische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen Radikalismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, so ist die Frage 'Sozialreform oder Revolution?' im Bernsteinschen Sinne für die Sozialdemokratie zugleich die Frage: Sein oder Nichtsein?"[2]

In ähnlicher Weise hat auch Lenin die Dialektik von Reform und Revolution gesehen. Er betonte, dass Reformen im Kampf um das sozialistische Ziel eine wichtige Funktion erfüllen können, als "Stützpunkte der auf dem Wege zur vollen Emanzipation des Proletariats voranschreitenden Arbeiterbewegung",[3] dass die Marxisten "jedwede Reformen" nutzen,"um das revolutionäre Bewusstsein der Massen und den revolutionären Kampf der Massen zu entwickeln".[4]

Worauf es vor allem ankommt, und wodurch sich Revolutionäre von Reformisten unterscheiden ist, dass sie im Kampf um Reformen niemals das sozialistische Ziel aus dem Auge verlieren. Darum beachten Kommunisten den Hinweis Lenins, dass, "wie der Teil dem Ganzen ... der Kampf um Reformen dem revolutionären Kampf für Freiheit und Sozialismus"eingeordnet werden muss. Ebenso übersehen wir nicht, dass - von reaktionären Antireformen einmal abgesehen, die nur Etikettenschwindel mit dem Begriff Reform betreiben und uneingeschränkt negativ zu sehen sind - jede wirkliche Reform in der kapitalistischen Gesellschaft einen doppelten Charakter hat.[5] Sie kann sowohl die Lage und die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse verbessern, als auch von den Herrschenden zur verstärkten Bindung der arbeitenden Menschen an das kapitalistische System genutzt werden. Welche dieser beiden Seiten stärker zum Tragen kommt, hängt dabei stets vor allem davon ab, ob es gelingt - wie Lenin sagt - "die Massen in den selbständigen ökonomischen und politischen Massenkampf einzubeziehen, der allein den Arbeitern wirkliche Errungenschaften zu geben ... vermag".[6]


Voraussetzungen für die Durchsetzung von Reformen im letzten Jahrhundert

Im zurückliegenden 20. Jahrhundert hat die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung in den entwickelten kapitalistischen Ländern bedeutende soziale und demokratische Reformen durchsetzen können, die zu wesentlichen Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse geführt haben. Ich will in Stichworten die wichtigsten nennen: Auf sozialem Gebiet konnten Löhne und Gehälter erkämpft werden, die für die große Masse der abhängig Beschäftigten und ihre Familien zumindest ein erträgliches Leben sichern. Es wurden solche für uns heute selbstverständlichen Errungenschaften durchgesetzt wie bezahlter Urlaub, eine bedeutende Verkürzung der Arbeitszeit, Kündigungs- und Arbeitsschutz, das System der gesetzlichen Sozialversicherungen. Zu den Errungenschaften gehören die Betriebs- und Personalräte als Interessenvertretungen der Belegschaften und - so begrenzt und widersprüchlich sie auch sein mögen - bestimmte Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte. Wichtige Reformen hat es auch auf politischem Feld gegeben. Dazu gehören die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, Koalitions- und Versammlungsfreiheit und andere sogenannte politische Menschenrechte und anderes mehr. Es sind dies wichtige Errungenschaften, die die Arbeiterklasse braucht wie die Luft zum Atmen - wie Friedrich Engels es einmal ausgedrückt hat.

Die genannten sozialen und politischen Errungenschaften stellen ungeachtet ihrer Begrenztheit und ihres häufig formalen Charakters gewaltige Fortschritte im Vergleich zur sozialen Situation und zu den Kampfbedingungen der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert dar. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass es im 20. Jahrhundert zugleich die tiefen Rückschläge der beiden verheerenden imperialistischen Weltkriege und des Faschismus gegeben hat. Das macht deutlich, dass die Ergebnisse sozialer und demokratischer Reformen im Kapitalismus immer gefährdet sind.

Die Fortschritte bei der Verbesserung der Arbeits-, Lebens- und Kampfbedingungen der arbeitenden Menschen, die im vorigen Jahrhundert erreicht wurden, sind nicht vom Himmel gefallen. Sie beruhten auf ökonomischen und politischen Voraussetzungen. Auf ökonomischem Gebiet sind dabei vor allem folgende Faktoren zu nennen: Der rasche technische Fortschritt, der eine schnell steigende Arbeitsproduktivität und eine Massenproduktion zum Gefolge hatte. Die Massenproduktion verlangte aber nach einem Massenabsatz der erzeugten Waren. Dafür war kaufkräftige Nachfrage erforderlich. Wobei unter den damaligen Bedingungen der Binnenmarkt für den Absatz und das Akkumulationsmodell eine wesentlich größere Rolle spielte als unter den heutigen Verhältnissen. Auf dem Binnenmarkt ist aber die kaufkräftige Nachfrage der Arbeiter und Angestellten ein ganz maßgeblicher Faktor. Die steigende Arbeitsproduktivität ermöglichte beachtliche Einkommenszuwächse für die Arbeiterklasse bei gleichzeitig hohen und steigenden Profiten für die Kapitalisten. Wobei den einzelnen Kapitalisten natürlich volkswirtschaftliche Erfordernisse nicht besonders interessieren. Ihn interessieren betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte, das heißt das Streben nach möglichst hohen Profiten und das nicht nur aus persönlicher Profitgier, sondern auch unter den Zwängen des kapitalistischen Konkurrenzkampfes. Darum waren auch unter den damaligen Bedingungen die Kapitalisten natürlich nicht freiwillig zu Zugeständnissen an die Arbeiter und Angestellten bereit. Sie mussten erkämpft werden.

Dafür bestanden jedoch günstige politische Voraussetzungen. Dabei sind vor allem zwei Faktoren zu nennen: die Herausbildung starker Gewerkschaften und politischer Organisationen der Arbeiterklasse sowie die Existenz des realen Sozialismus als Systemalternative zum Kapitalismus. Beide Faktoren waren in ihrer Wirkung eng miteinander verbunden. Der Druck der sozialistischen Systemalternative zwang die Kapitalisten und ihre Regierungen im Interesse der Erhaltung des kapitalistischen Systems zu Zugeständnissen gegenüber den Forderungen der Gewerkschaften. Je unmittelbarer der Druck der Systemalternative war, umso günstiger die Bedingungen für die Gewerkschaften. Das erklärt, warum nach dem Zweiten Weltkrieg von den Gewerkschaften in der Bundesrepublik oft am Verhandlungstisch größere Erfolge erzielt werden konnten als in Ländern wie Frankreich und Italien in harten und langwierigen Streikkämpfen. Das Wort von der DDR als unsichtbarem drittem Verhandlungspartner bei Lohnkämpfen und anderen Tarifauseinandersetzungen in der Bundesrepublik bringt die Sache auf den Punkt.


Möglichkeiten des Reformkampfes heute

Die Voraussetzungen für den Kampf um Reformen haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. Worin bestehen die wichtigsten Veränderungen? Auf ökonomischem Gebiet müssen vor allem der mit dem Begriff Globalisierung bezeichnete neue Schub der kapitalistischen Internationalisierung und die damit verbundenen Entwicklungen genannt werden. Ich kann sie hier nur in Stichworten andeuten. Die Bedeutung des Binnenmarktes für das kapitalistische Akkumulationsmodell wird zurückgedrängt. Zum entscheidenden Aktionsfeld ist der Weltmarkt geworden. Die herrschenden Kapitalien auf dem Weltmarkt sind die Transnationalen Konzerne, die nicht nur ihren Absatz, sondern auch Produktion und Forschung über den ganzen Globus hinweg nach den günstigsten Profitbedingungen vernetzen. Dazu gehört die Transnationalisierung der Arbeit. Mit der Globalisierung geht eine neue Stufe der Macht des Finanzkapitals einher. Unter diesen Bedingungen ist kein Platz für "Sozialklimbim", wie soziale Errungenschaften heute von Unternehmervertretern bezeichnet werden. Schließlich und nicht zuletzt ist mit der Niederlage des Sozialismus und der damit verbundenen Schwächung der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung die wichtigste politische Voraussetzung für die erfolgreichen Kämpfe um soziale und demokratische Reformen in den Jahrzehnten zuvor weggefallen.

Unter den neuen Bedingungen hat sich die Hegemonie des Neoliberalismus durchgesetzt. Sie findet ihren Ausdruck in der Politik der Deregulierung und des massiven Abbaus der im vergangenen Jahrhundert durchgesetzten Errungenschaften. Die Folgen sind uns allen bekannt. Ich brauche sie nicht näher zu benennen. Unter diesen Bedingungen erfordert selbst die Verteidigung des Erreichten heute entschiedenen Klassenkampf - und das gilt natürlich erst recht, wenn Reformen durchgesetzt werden sollen, die diesen Namen verdienen, und mögen sie noch so bescheiden sein.

Zu ihrer Durchsetzung sind darum grundlegende Veränderungen in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen unverzichtbar. Diese entstehen jedoch nicht am grünen Tisch, sondern in praktischen Kämpfen und demokratischen Bewegungen. Ausgangspunkt werden dabei in der Regel die nächsten Anliegen sein, die unmittelbar auf den Nägeln brennen. In solchen Auseinandersetzungen kann sich Solidarität entwickeln, kann die Erfahrung gewonnen werden, dass man gemeinsam handeln muss, wenn man Erfolg haben will, kann sich die für weitergehende Schritte notwendige Dynamik entwickeln. Zugleich werden in solchen Kämpfen aber auch die Grenzen sichtbar für das, was im Rahmen der kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnisse zu erreichen ist. Die Beseitigung der Grundübel des kapitalistischen Systems ist innerhalb der durch das Privateigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln und den darauf beruhenden politischen Machtverhältnissen gesetzten Schranken nicht möglich. Notwendig ist die Überwindung dieser Schranken durch eine auf Gemeineigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln und wirkliche Volksmacht bauende Gesellschaft.


Die Notwendigkeit der revolutionären Perspektive

Ob die neue Gesellschaft, die Marxisten in ihrem ersten Entwicklungsstadium als Sozialismus bezeichnen, allein durch kontinuierliche Reformpolitik, sozusagen auf dem Wege des Hineinwachsens in den Sozialismus zu erreichen ist, oder ob für das Überschreiten der Schwelle zur neuen Gesellschaftsformation ein Bruch in den Macht- und Eigentumsverhältnissen - anders ausgedrückt: eine Revolution - unverzichtbar ist, darüber wurde zu Luxemburgs und Bernsteins Zeiten gestritten, und daran scheiden sich auch heute die Geister in der linken Bewegung.

Theoretiker der Partei Die Linke wie Dieter Klein, André Brie und andere vertreten unter der Devise einer "Transformation des Kapitalismus"die Konzeption eines evolutionären Entwicklungsprozesses, der durch die Anhäufung allmählicher Veränderungen schließlich zum "demokratischen Sozialismus" führen soll. Was unter der allmählichen "Transformation des Kapitalismus" zu verstehen ist, das formulieren heutige Theoretiker, aber auch Politiker der Partei Die Linke und andere Anhänger dieser Konzeption häufig so verschnörkelt und weitschweifig, dass es Mühe macht des Pudels Kern herauszuschälen. Den reformistischen Kern dieser Konzeption haben dagegen bereits Ende der 1980er Jahre die Wortführer der damaligen innerparteilichen Opposition in der DKP klar und unmissverständlich formuliert. Dies gilt besonders für die unter der Federführung des damaligen Hamburger Bezirksvorsitzenden und Präsidiumsmitglieds der DKP und heutigen Außenpolitikers der Partei Die Linke Wolfgang Gehrcke formulierte Plattform "Marxismus und moderne kommunistische Partei - Befreiungstheorie und Befreiungsbewegung".

Darin heißt es unter anderem: "In der Konzeption der Reformalternative führen durchgehaltene und schrittweise erweiterte demokratische Reformen zunächst zu einer anderen, für das Leben der Menschen günstigeren Entwicklungsrichtung des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Sie öffnen zugleich die Tore für weitere Veränderungen. Im Durchschreiten dieser Tore werden die formationsbedingten Ausbeutungs- und Unterdrückungsmerkmale zurückgedrängt, gleichzeitig wesentliche Elemente eines modernen Sozialismus herausgebildet. Das heißt, es wird der Weg des realen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus beschritten." Weiter heißt es, dass durch diese "Reformalternative" "bestimmte wesentliche Strukturmerkmale des Kapitalismus durch demokratische Bewegungen erst etwas, dann mehr und schließlich so weit eingeschränkt werden, dass sie real nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, während gleichzeitig durch demokratische Reformen Momente des Sozialismus zunächst nur wenig, dann mehr und schließlich so weit durchgesetzt werden, dass sie zu dominanten Momenten der Struktur und Entwicklung der Gesellschaft werden." Soweit Wolfgang Gehrckes "Plattform". Unmissverständlicher kann im Grunde die Konzeption der allmählichen Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus oder, anders ausgedrückt, des allmählichen Hineinwachsens in den Sozialismus nicht beschrieben werden.

Der Pferdefuß dieser Strategie liegt aber vor allem darin, dass hier die Rechnung ohne den Wirt, das heißt ohne das herrschende Großkapital, seine politischen Vertretungen und deren Machtapparate gemacht wird. Es ist doch eine naive Illusion zu glauben, die kapitalistischen Besitzer der entscheidenden Produktionsmittel würden den arbeitenden Menschen ihre Eigentumstitel quasi auf dem silbernen Tablett servieren. Vielmehr wird sich ihr Widerstand gegen demokratische Reformen unvermeidlich in dem Maße verschärfen, wie diese tiefer in die Macht- und Eigentumsverhältnisse eingreifen. Dabei wird ein Punkt eintreten, wo der Fortschritt blockiert wird oder bei unzureichenden Kräfteverhältnissen auf Seiten der zum Sozialismus strebenden Kräfte sogar zurückgezerrt werden kann.

Die Durchsetzung weitergehender Veränderungen erfordert in jedem Fall eine neue Qualität des außerparlamentarischen Kampfes, veränderte Kräfteverhältnisse im Parlament oder anderen Institutionen der Volksvertretung, neue Regierungskonstellationen. Ein qualitativer Bruch mit den alten Macht- und Eigentumsverhältnissen wird notwendig. Ob sich dies in einem einzigen revolutionären Bruch oder über mehrere qualitative Brüche in Form von Zwischenetappen vollzieht, das hängt ebenso wie die Formen der Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Fortschritts und denen der Reaktion von den konkreten Bedingungen des Klassenkampfes und vor allem von den dann gegebenen nationalen und internationalen Kräfteverhältnissen ab, die heute nicht vorhersehbar sind.

Wenn ich die Vorstellungen eines kontinuierlichen Hineinwachsens in den Sozialismus als reformistisch charakterisiert habe, so nicht um deren Anhänger zu diffamieren. Kommunisten und Reformisten im Sinne des traditionellen sozialdemokratischen Reformismus, der heute von großen Teilen der Partei Die Linke vertreten wird, verbindet vieles im Kampf um die Zurückweisung der neoliberalen Attacken auf soziale und demokratische Errungenschaften, um demokratische, soziale und ökologische Reformen, im antifaschistischen und Friedenskampf wie auch im Kampf für die Bewältigung anderer heute und in der absehbar nächsten Zeit im Vordergrund stehenden Aufgaben.

Zugleich dürfen aber die Unterschiede in der weitergehenden Strategie nicht verwischt werden. Die Kommunistische Partei in Deutschland wurde ja von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gerade durch die Trennung von der damals noch reformistischen Sozialdemokratie geschaffen. Darum lässt meine Partei, die DKP, keinen Zweifel daran, dass die reformistischen Vorstellungen einer allmählichen Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus nicht die der Kommunistischen Partei sein können.


Willi Gerns, Bremen, Mitherausgeber der Marxistischen Blätter


Anmerkungen

[1] Vortrag im MASCH-Forum des UZ-Pressefestes, 1.7.2016.
[2] Luxemburg, Rosa: Gesammelte Werke, Bd. 1, Erster Halbband, Dietz Verlag, Berlin, S. 369ff.
[3] Lenin: Werke, Bd. 15, S. 444.
[4] Lenin: Werke, Bd. 20, S. 511.
[5] Lenin: Werke, Bd. 12, S. 353.
[6] Lenin: Werke, Bd. 15, 5.443.

*

Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-16, 54. Jahrgang, S. 86-92
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Telefon: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: redaktion@marxistische-blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de
 
Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 9,50 Euro, Jahresabonnement 48,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang